Rauhnacht von Puria ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel I -------------------- »Hier, nimm den gleich mit.« Myra drückte ihr etwas in die Hand, als Regina bereits ein Bein aus dem Auto herausgestreckt hatte. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie den Eiskratzer. Das grelle Neonpink reflektierte das Licht, was die Photonen hergaben, und trug so noch mehr dazu bei, wie Billigplastik auszusehen. Dieses Modell konnte nur frisch aus dem Ein-Euro-Laden stammen, was überhaupt nicht zu Myras Stil oder gar ihrem Hexendasein passte. Myra lehnte sich über die Mittelkonsole und stupste sie mit ihren Ellbogen an. »Was ist los? Gefällt dir die Farbe nicht? Ich gebe dir auch gern meinen.« Sie hielt ihr ein graues Modell unter die Nase. Regina drückte das pinke Ungetüm gegen ihre gefütterte Winterjacke. »Oh nein, das ist meiner. Allerdings bin ich schon etwas enttäuscht.« Myra richtete sich kerzengerade auf. »Was? Wieso?« »Seit Monaten beobachte ich, wie du nur die feinsten oder handgefertigten Utensilien nutzt und jetzt kommst du tatsächlich mit so einem Plastikteil.« Myra verdrehte die Augen. »Du nun wieder. Manchmal genügt eben auch etwas Polymer.« Regina steckte den Eisschaber in ihre Jackentasche. »Wofür brauchen wir die? Du willst mir doch nicht so durch die Blume sagen, dass das Haus nicht isoliert ist, oder?« »Ich erkläre alles später und jetzt komm, du hast dich auf die Überraschungsfahrt eingelassen. Also lass dich auch überraschen.« Myra grinste sie übertrieben an, stieg aus und trat zum hinteren Ende ihres gelben Käfers. »Komm, wir bringen unsere Sachen erst einmal rein.« Hinter Regina schnappte der Kofferraum auf, während ihr Blick beim Herrenhof verweilte. Sie parkten in der Mitte des Innenhofs, der sie mit alten Pflastersteinen, restauriertem Fachwerk und bis zu den Dächern reichende, blattlose Weinranken willkommen hieß. Seltsamerweise konnte Regina noch immer nicht glauben, dass sie sich auf eine solche spontane Aktion eingelassen hatte. Nicht nur, dass Myra Übernatürliches vorhatte, auch würden sie beide Weihnachten bis Neujahr auf einem alten Herrenhof verbringen, der für Gäste nicht einmal geöffnet war. Nun, wenn man einem magischen Zirkel angehörte brachte das so seine Vorteile. Oder wie in Reginas Fall, bedurfte es nur einer guten Freundin, die sich der Hexenkunst verschworen hatte. »Regina? Hilfst du nun oder nicht?«, rief diese, als der erste Koffer rumpelnd zu Boden ging. Regina riss sich von dem Anblick los und half, das Gepäck ins Haus zu tragen. Die Dorfromantik des Innenhofs floss nahtlos in die Zimmer des Haupthauses über. Der große Raum, der sie zuerst begrüßte, besaß neben der Sitzgarnitur und dem etwas moderneren Sitzbereich, der einer Bar recht nahe kam, auch einen dunkelgrünen Kachelofen, der die Dezemberkälte nach draußen verbannte. »Sehr gut, Jannes hat Wort gehalten.« Myra setzte die Tasche ab und ließ ihren Koffer stehen. Entzückt trat sie zum Ofen und streckte ihre Hände aus, um sie in der Wärme zu baden. Regina horchte auf. »Jannes?«, fragte sie nur und sah sich langsam weiter um und hoffte, dass Myra ihr ein paar Brotkrumen zuwarf und sie nicht zu sehr im Dunklen tappen ließ. »Ihm gehört der Hof. Und da er zu Weihnachten zu seinen Eltern fährt, war er ganz glücklich ein paar Haushüter zu finden.« »Ach, das sind wir also. Und zu unserem Dienst gehört es, die denkmalgeschützten Fenster von Eis und Frost freizukratzen?«, fragte Regina und ließ ihre Finger über das Holz des Tresens tanzen. Den Kerben nach zu urteilen, war es hier schon ordentlich feucht fröhlich zugegangen. Myra tauchte an ihrer Seite auf. »So in etwa.« Ihre Augen funkelten, was immer ein Zeichen dafür war, dass ihr etwas auf der Zunge brannte. »Moment, wirklich?« Als ihre Freundin den Mund für vermutlich eine weitere Vertröstung öffnete, hob Regina mahnend den Zeigefinger. »Oh nein, die Taschen können warten, raus mit der Sprache.« »Okay, okay.« Myra schwang sich auf einen der gepolsterten Hocker mit kleiner Lehne. »Aber im Grunde liegst du nicht falsch. Nur würde ich es weniger als Kratzen bezeichnen. Unsereins nennt es Eisblumen ernten.« Regina konnte ihr Gegenüber einen langen Moment nur anstarren. Das ›Ist das dein Ernst‹, das ihr trotz der letzten Monate noch immer durch den Verstand fegte, blieb diesmal hinter verschlossenen Lippen. Sie wusste, dass Myra sich hier keinen Spaß erlaubte. »Aber …« Die hübschen Eismuster, die sich manchmal im Winter an Fenstern bildeten, schwebten vor ihrem inneren Auge. »… wie?« Myra zuckte mit den Schultern. »Man schabt sie ab und bewahrt sie auf.« Plötzlich erschien Regina der Billigkratzer noch mehr aus dem Rahmen gefallen. Sie zog das Plastikteil aus der Jackentasche. »Meine Enttäuschung kennt keine Grenzen. Du erzählst mir, wir gehen Eisblumen ernten und nehmen dafür kein … keinen selbst geschnitzten Holzspatel aus, ich weiß nicht …, Eichenholz?« Myra verzog das Gesicht, bevor sie sich über den Tresen beugte und nach kurzer Suche zwei Gläser und eine Flasche Wasser hervorholte. »Eichenholz? Viel zu bedeutungsschwanger, das würde nur alles verderben.« »Du weißt was ich meine«, erwiderte Regina. »Und diesmal habe ich keine zufriedenstellende Antwort, da es hier, so wahr wie ich hier sitze, auch ein simpler Plastikkratzer tut.« Regina drehte den Eiskratzer in der Hand. »Manchmal ist deine Hexenkunst wirklich ernüchternd.« »Wenn es dich beruhigt: Dafür ist die morgige Nacht wichtig.« Was war am 21. Dezember so besonders? «Hilf mir auf die Sprünge, was ist übermorgen?« »Nur die längste Nacht des Jahres und dank der Wettervorhersage auch eine der kältesten. Mit ein wenig Glück und bis dahin etwas geheizten Zimmern, haben wir eine erntereiche Nacht vor uns.« Myra strahlte sie an, schenkte ihnen aus und schob ihr das Wasserglas zu. »Huh … weiß denn dein Jannes, was wir hier … ernten?« Myra schnaufte. »Mein Jannes? Er ist ein Jannes, Freund eines Freundes.« Reginas Augenbrauen sprangen nach oben. Die Wortwahl war Myras Art, ihr durch die Blume eine Verbindung in besondere Kreise zu verraten. »Ah, also ist er auch ein … Mitglied?« »Berufsgeheimnis. Aber solltest du dich doch noch entscheiden beizutreten, sind meine Lippen ein offenes Buch!« Myra blinzelte sie mit ihren grünen Augen überschwänglich an und strich mit Schwung den geflochtenen Zopf auf ihren Rücken. Sie wusste bereits, wie Reginas Antwort ausfallen würde. »Danke, aber nein danke. Mir genügt die Verantwortung ein kleiner Steuerzahler zu sein. Mehr vertragen meine gebeutelten Schultern nicht.« »Das Angebot bleibt dennoch.« »Und ich weiß es zu schätzen, wirklich«, sagte Regina und meinte es auch so. Dabei wäre es eine Lüge, zu behaupten, sie würde nicht dann und wann darüber nachdenken, seit Myra ihr dieses Angebot im Frühling gemacht hatte. Der Beitritt in einen Zirkel, der ihr eine neue Welt offenbaren würde. Die Wahrwerdung der eigenen Fantasie in solch einer greifbaren Nähe hätte Regina damals beinahe zustimmen lassen. Doch eine Nacht Schlaf hatte die Angelegenheit in ein anderes Licht gerückt. Solch eine Macht zog ebenso viel Verantwortung nach sich. Und es war diese bestimmte Art Verantwortung, die Regina den Magen umdrehte, wenn sie nur daran dachte, was alles passieren könnte … Ein Riss in eine Zwischenwelt wäre noch ihr geringstes Problem. An derlei wollte sie selbst mit einem zehn Meter Stab nicht rütteln. Tatsächlich genügte es ihr, an den Grenzen dieser anderen Welt zu bleiben und dank Myra ein paar Blicke hinein zu erhaschen, ohne Gefahr zu laufen, in alle nur möglichen, magischen Fettnäpfe zu treten. »Nun gut. Wie ist also unser Schlachtplan? Da du mir einen Kratzer in die Hand gedrückt hast, nehme ich an, ich darf mitmachen?« »Ich hatte gehofft, dass ich dich dafür begeistern kann. Es ist nicht viel dabei. Zumal wir sowieso drauf warten müssen, dass überhaupt welche wachsen.« »Macht es denn einen Unterschied, ob du oder ich die Blumen sammeln?« »Du meinst wie bei den Keksen?« Regina summte ein zustimmenden Laut. »Ich weiß es nicht. In den Schriften gab es keinen Hinweis darauf. Ich werde es erst erfahren, wenn ich die Eisblumen weiterverarbeite oder anwende.« Regina seufzte. Es wäre wohl zu viel verlangt, wenn ihr Name überall eine Zauberzutat wäre. Wie von allein blubberte die Erinnerung an den letzten Winter nach oben, als sie gemeinsam eine Ladung Kekse backten und ihre Freundin sich ihr anvertraute. »Backen wir dieses Jahr eigentlich wieder? Also die Erinner-Dein-Kekse?«, fragte Regina, nachdem sie aus ihren Gedanken zurückgefunden hatte. Als hätte sie Myra bei etwas ertappt, sah diese auf ihre Hände. »Ich war mir nicht sicher, ob du …« Sie schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Ich hab die Zutaten mit, wollte aber nicht einfach annehmen, dass du Lust dazu hast. Es gibt für dich ja nicht viel zu tun.« Aufregung sammelte sich in Reginas Brust. Sie hatte gehofft, dass sie daraus eine kleine Tradition machen könnten. »Als würde ich mich um klebrige Hände reißen. Mit dem Ausstechen bin ich völlig zufrieden.« Myras Lächeln steckte an. »Dann können die Rauhnächte ja kommen.« Kapitel 2: Kapitel II --------------------- Der kürzeste Tag des Jahres hielt keine acht Stunden durch. Am späten Nachmittag dämmerte es bereits und machte Platz für die Nacht, die mit einem wolkenlosen Himmel über sie hereinbrach. Regina raffte ihre Jacke noch fester um sich, als sie die Holzscheite, die sie unter der Überdachung vor der einstigen Scheune kleingeschlagen hatte, in eine Tragetasche packte. Bereits der Tag hatte mit eisigen Temperaturen aufgewartet, bei der heutigen sternenklaren Nacht, die bereits die neunte Stunde überschritten hatte, schien die Kälte selbst zum Leben zu erwachen. Mit einem heiden Spaß kniff sie jeden Flecken Haut, der nicht von Stoff bedeckt war. Mit dichten Dunstwolken vor Mund und Nase, eilte Regina zurück in das Haupthaus. Der große Gemeinschaftsraum mit Kachelofen hieß sie mit seiner Wärme willkommen, die sie durch die Nacht bringen würde. Reginas Ziel war jedoch ein anderes. Nachdem sie die Stiefel ausgezogen hatte, folgte sie dem schmalen Flur, der an der Küche und einem Bad vorbeiführte und vor den Treppen endete, die in die nächste Etage führte. Dort lagen zu beiden Seiten je drei Räume, die gemütlich eingerichtete Schlafzimmer waren. Zwei davon hatten sie sich geschnappt und eines sah aus, als würde es von Jannes bewohnt. Zumindest ging Regina davon aus, da es neben dem moderneren Flair auch mit einem Fernseher, Büchern und einer Blue-raysammlung aufwartete. Regina bog in das erste Zimmer zu ihrer rechten ein, wo Myra gebannt eines der beiden Fenster betrachtete, die zum Innenhof zeigten. »Und? Wächst inzwischen etwas?«, erkundigte sich Regina und kniete sich vor dem kleinen Ofen, auf dem man einen Teekessel erhitzen konnte. Das Feuer darin glomm nur noch unter einem Häufchen Asche, sodass sie vorsichtig zwei Scheite darauf bettete und nach ein paar Mal sachte Pusten zusehen konnte, wie die Flammenzungen nach dem neuen Mahl leckten. Myra stieß ein Seufzen aus. »Leider nichts. Und sehr viel kälter wird es auch nicht.« »Vielleicht sollten wir doch ordentlich einheizen? Unten habe ich auch eine Sprühflasche für die Pflanzen gesehen. Vielleicht fehlt Wasser?« »Das ist alles vorhanden. Das Eis hat wohl einfach seinen eigenen Sinn. Mehr als Warten können wir nicht.« Myra warf ihr ein schmales Lächeln über die Schulter zu, bevor sie wieder zum Fenster sah, als würde ihr Blick genügen, um die Eisblumen zum Keimen anzuspornen. Regina kannte das Lächeln, das bemüht versuchte, eine Enttäuschung zu verbergen. Sie sah es zur Genüge, wenn Myra von ihrem bürokratischen Brotjob erzählte. »Okay, dann schaff ich noch ein paar Ladungen Holz ins Haus, damit wir über die Nacht kommen.« »Legst du dann in dem anderen Zimmer noch nach? Das Feuer ist dort auch fast niedergebrannt.« »Wird gemacht.« Draußen – diesmal mit einem dicken Schal um den Hals gewickelt – verbrachte Regina gute zehn Minuten mit Holzhacken, bis zwischen ihr und dem Spaltblock ein stattlicher Haufen lag. Vornüber gebeugt packte sie die Tragetasche so voll wie möglich, während sie ihren vor Kälte kribbelnden Fingern in Gedanken versprach, dass sie bald wieder im Warmen wären. »Grüß dich!« Regina fuhr mit einem Aufschrei so rasch herum, dass der Schwindel sie packte und kleine Funken am Rande ihres Augenfelds aufglühten. Keine vier Schritte vor ihr stand wie aus dem Boden gesprungen eine alte Frau, eingehüllt in einem alten Pelzmantel mit plüschig umrandeter Kapuze, die beinahe das zierliche Gesicht verschlang. Eine Handvoll weiße Haarsträhnen lugten unter dem Fell hervor und umrahmten die von der Kälte rotgezwickten Wangen. Eine Hand presste gegen ihre Brust, die andere stak noch immer verborgen in … war das ein Muff? »Himmel, Kindchen, ich wollte dir keinen Schrecken einjagen. Gehts dir gut?« Mit einem kräftigen Atemzug und ein paar Mal Blinzeln fiel die Welt wieder in den gewohnten Winkel zurück. Regina winkte ab, nun da der Schreck sich gelegt hatte. »Geht wieder«, sagte sie und bemerkte jetzt erst den vierbeinigen Begleiter, der halb versteckt hinter den Beinen der alten Frau stand und trotz der gut verpackten Pfoten verdrießlich die Nase in die Luft reckte. Hatte sich die Dame verlaufen? »Kann ich Ihnen helfen?« »Oh gewiss, ich wollte eigentlich zum guten Jannes, aber ich sehe sein Auto nicht … er ist wohl gar nicht da?« »Nein, leider nicht. Kann ich was ausrichten? Oder wenn es wichtig ist, könnte ich ein Handy holen und ihn anrufen?« »Das ist sehr nett, aber nicht nötig. Der Gute geht mir manchmal zur Hand und der Wasserhahn kann das Tropfen nicht sein lassen. Ich wollte nur fragen, ob er sich das ansehen könnte, aber das hat Zeit.« »Er kommt jedoch erst Neujahr zurück, glaube ich«, merkte Regina an. »Ich würde ja anbieten, es mir anzusehen, aber von solchen Armaturen verstehe ich nichts.« Die Dame lächelte verschwörerisch. »Da haben wir etwas gemeinsam.« Der Hund, so flauschig wie er aussah vielleicht ein kleiner Spitz, schmiegte sich an die Wade der alten Frau und fiepte, als er erwartungsvoll hechelnd zu seinem Frauchen nach oben sah. »Schon gut, Stupsi, sind dann ja gleich wieder daheim. Deine Näpfe sind schon nicht über alle Berge«, sagte die Frau und hüstelte trocken in ihren Muff, sodass sie Regina gleich noch zehn Jahre älter erschien. Hoffentlich wohnte sie nicht zu weit entfernt. »Wollen sie sich vielleicht kurz aufwärmen?«, fragte Regina und würde es sich selbst übel nehmen, wenn sie es nicht zumindest angeboten hätte. »Vielleicht auch etwas Wasser für Sie und Stupsi? Hundfutter haben wir leider nicht da.« »Oh, ich wollte nicht fragen, aber ein paar Minuten in der Wärme kann ich nicht ablehnen. Die Hüfte macht schon so genug Ärger, bei so einer Kälte ist es besonders schlimm.« Regina lächelte, griff die Tragetasche und deutete zur Haustür. Sie hoffte, dass mit einem spontanen Besucher nichts verdarb. »Dann kommen Sie rein. Ich bin Regina. Wie war ihr Name noch gleich?« »Holda, freut mich Kindchen.« Kapitel 3: Kapitel III ---------------------- Regina ging voran und war froh, dass die alte Dame ihr Gesicht nicht sehen konnte. Holda, das klang beinahe wie– »Ich weiß, ich weiß. Das klingt fast wie Holle.« Regina stolperte heftig über ihre eigenen Füße, fing sich jedoch rechtzeitig und sah Holda mit großen Augen an, die sie besorgt musterte. »Nun, Kindchen, du bist wahrlich nicht die erste, die das vermutlich denkt.« Sie tätschelte Reginas Schulter. Sie bat die alte Dame herein, bevor sie kräftig in die nächste Etage rief, und Myra mitteilte, dass sie einen Gast hatten. Holda stieß ein wohliges Seufzen aus und pilgerte mit Stupsi sogleich zum Kachelofen. Den Mantel behielt sie an, aber schlug die Kapuze zurück. Ihr Haar war hier im Licht silbrig weiß, ein Hauch violett glomm in den Enden, die im Nacken zu einem luftigen Dutt zusammengefasst waren. Der Muff baumelte vor ihrem Bauch, während sie ihre grazilen Finger in die Aura des Ofen hielt. »Jannes hat wahrlich eine gute Entscheidung getroffen, als er das gute Stück hier restauriert hat«, meinte Holda, als Regina aus dem Schrank eine Schale und eine Tasse holte. Tafelwasser für Holda und Leitungswasser für Stupsi. »Wie lange kennen sie Jannes und Sie sich eigentlich?« »Schon ewig. Hab ihn aufwachsen sehen. Und als er sich in seinen jungen Jahren dann in diesen Herrenhof verliebt hat … Da freut es das zerknitterte Herz, wenn solche alten Dinge Wertschätzung finden«, sagte Holda und setzte sich auf die Bank vor dem Ofen, presste den Rücken wohlig gegen die erhitzten Kacheln. Hätte sie nicht den Mantel an, würde sie sich eine ordentliche Verbrennung einfangen. Regina stellte die Schale vor dem Hund, der sofort gierig daraus trank, und reichte ihrem Gast das Glas. »Dank dir, Kindchen. Weißt du, es ist schön zu sehen, dass Jannes Freunde hat, die hier nach dem Rechten sehen.« »Um ehrlich zu sein, hab ich ihn noch ni–« Re – na? Regina verlor den Gesprächsfaden und drehte sich um. Hatte Myra sie gerufen? Sie trat zwei Schritt zurück, um in den dunklen Flur zu spähen, und lauschte. »Ist was?«, erkundigte sich Holda. Sie nippte an ihrem Wasser und tätschelte Stupis Kopf, der bei ihren Beinen saß. »Ich … Moment.« Regina betrat den Flur. »Hast du gerufen?« Warten. Nichts. »Myra?« Stille. Das war nicht richtig. War etwas passiert? »Myra, hörst du mich?«, versuchte sie es noch einmal. Als ihre Freundin wieder keine Antwort gab, sickerte Sorge durch Regina. Sie trat zurück zu Holda. »Ich bin gleich wieder zurück, ich seh nur kurz–« »Regina!«, erscholl panisch hinter ihr. Regina fuhr herum, als Myra in den Raum stürzte und bei Holdas Anblick wie von einer unsichtbaren Faust getroffen zurück gegen die Kommode taumelte. Bilderrahmen und Tand klapperten durcheinander, als Myra sich an der Kante des Möbelstücks festklammerte. Ihr Gesicht plötzlich so bleich wie Schnee, ihre grünen Augen angstvoll aufgerissen. Regina stellte sich an, zu ihr zu gehen, doch als sie sich für den ersten Schritt nach vorn neigte, stieß sich Myra ab und stand mit aufeinandergepressten Lippen bei ihr. Reginas Atem stockte, als sich bei Myras Anblick Furcht in ihrem Inneren zusammenballte. Etwas stimmte nicht. Mit Holda stimmte etwas nicht, dämmerte es ihr in der selben Sekunde. Myras klamme Finger packten Reginas Hand, ihre grünen Augen sahen flehend zu ihr hoch. »Hast du ihr deinen Namen genannt?«, hauchte Myra so entsetzt, dass Reginas Stimme versagte. Holda lächelte. »Hat sie, Liebchen«, sagte sie und sah über das halbleere Wasserglas hinweg. Myra hielt Reginas Blick noch immer mit ihrem gefangen und plötzlich zupfte etwas an Reginas Körpermitte, direkt in ihrer Brust. Sie runzelte irritiert die Stirn, als aus dem Zupfen ein magenumdrehender Ruck wurde, der sie blindlinks durch die Bodendielen zerren wollte. Nun war es Regina, die sich an Myras Händen festhielt. Nur mit Mühe schaffte sie einen Atemzug nach dem anderen, während ihre Knie darum kämpften, unter der Kraft nicht einzuknicken. Hilflos sah sie Myra an, deren schmale Lippen unter kaum erkennbaren Regungen heißer flüsternde Worte formten. Als raunte es jemand Regina von weit entfernt zu, begriff sie die Magie, die durch ihren Körper floss und sie nicht erstarren ließ, sondern im Hier … verankerte. Regina schaffte ein ängstliches »Myra?« zwischen den Zähnen hervorzupressen. Myra sah sie wild entschlossen an. »Alles wird gut.« Ein Schnalzen zog ihrer beider Aufmerksamkeit zu Holda. »Du übertreibst ein wenig, Liebchen.« Myra drehte sich zu der alten Frau, begegnete deren Blick, als starrte sie das personifizierte Unheil nieder. »Der Besuch ist eine Ehre, aber nun bitte ich Euch zu gehen.« Holda trank ihr Glas leer, stellte es auf die Bank und stand mit einem Lächeln auf. »Ich muss sagen, deine Freundin versteht mehr von Gastfreundschaft.« Die vorher noch blassgrauen Augen von Holda glommen nun wie flüssiges Silber, als sie Regina mit einem freundlichen Blick bedachte. Myra schob sich vor ihr, lockerte ihren Griff nicht für eine Sekunde. »Ein Trunk und Wärme wurden Euch zu teil, der Gastfreundschaft ist genüge getan. Ich bitte Euch erneut zu gehen«, erwiderte Myra unbeirrt, ihre Schultern bebten unter jedem Wort, als floss durch sie dieselbe Magie wie bei Regina. Holda schob die Hand, die auch die Hundeleine hielt zurück in den Muff. Mit langsamen Schritten, die das Holz unter ihren Füßen zu einem qualvollen Knarzen brachten, trat sie auf sie zu und blieb vor ihnen stehen. Funken stoben plötzlich über den Rand von Reginas Sichtfeld und sie schluckte den nächsten Atemzug, als sich die Luft um sie herum dick wie übersättigter Nebel an sie schmiegte. Langsam setzte Holda ihre Kapuze wieder auf, ließ das schmale Gesicht einer alten Frau im pelzigen Schatten verschwinden, bis das Silber ihrer Augen zu leuchten schien. Die Präsenz von etwas Uraltem drückte gegen sie, drängte sich zwischen Myra und Regina, zupfte prüfend an ihren Händen, die schlohweiß miteinander verschränkt waren. »Verwehrst du mir wirklich, was sich mir angeboten hat, Liebchen?«, grollte es rau aus Holdas Kehle, die jedoch im gleichen Moment an ihnen vorbeitrat und die Türe öffnete. Mit dem treuen Hund an der Seite blieb sie im Türrahmen stehen, die Nacht dahinter formte einen Rahmen aus absoluter Dunkelheit. Weder der Hof, noch Laternenlicht waren zu erkennen. Nur Schwärze. »Es ist kein Angebot, wenn es unwissend geschieht«, presste Myra hervor, ließ Holda nicht aus den Augen. »Ich bitte Euch, zu Ehren der Drei. Geht.« Das glühende Paar Augen starrte sie an und Regina glaubte im Schatten der Kapuze ein verdrießlich gekräuseltem Mund zu sehen, als Holda die andere Hand in den Muff stopfte. »Mut hast du, Tochter der Töchter. Doch wie steht es um dein Geschick?« Die Tür flog von einem zerstörerischen Wind gepackt zu und sog sämtliches Licht und Wärme im Zimmer mit sich. Der Anker in Regina zersprang. Etwas riss sie von den Füßen, riss sie nach vorn mit sich. Regina heulte qualvoll auf, Myras Schrei erschallte im selben Herzschlag. Reginas griff ins Leere – Myras Hand lag nicht mehr in ihrer. Hilflos wirbelte sie durch die Luft, bevor all ihre Sinne in eisiger Dunkelheit ertranken . Kapitel 4: Kapitel IV --------------------- Ein Beben riss Regina ins Bewusstsein. Sie schnappte nach Luft, spürte nach und nach ihre Glieder, die unter tausend Nadelstichen kribbelten und … Kein Beben, rollte die Erkenntnis träge durch ihren Verstand, als sie spürte, wie sie am ganzen Leib zitterte. »Regina?«, krächzte Myra irgendwo in der Nähe, was sie aufschluchzen ließ. Sie war nicht allein. Myra war hier. »Hie’. I- -n hier«, sagte sie mit klappernden Zähnen, die die Hälfte der Worte fraßen. Sie lag auf dem Rücken und mit einem Ächzen drehte sie sich auf die Seite, nur um ihre Stirn sofort gegen das Holz zu pressen, als sie sich kaum mit einem Arm aufstützen konnte. Sie wollte ihre Augen öffnen, doch ihre tonnenschweren Lider beließen sie vehement in der Dunkelheit. Fahrig tastet sie über ihr Gesicht, spürte es kaum, wie ihre Fingerspitzen auf ihre taube Haut trafen und auf … Eis. Ihre Lider waren nicht schwer … sie waren vereist. »Myra … Myra?! Ich … meine Augen«, japste sie, als ihr mehr und mehr die Luft für Worte fehlte. Hände tasteten sich plötzlich zu Reginas Schultern, die Wärme so intensiv wie Brandeisen. »Ich bin da«, sagte Myra und drehte sie wieder auf den Rücken. Brennende Fingerspitzen legten sich an ihr Kinn. Regina zischte. »Heiß!« Sie suchte und fand Myras Handgelenke, zog an ihnen. »Warte, warte. Lass mich helfen.« Es kostete Regina jeden Fetzen Überwindung für die nächsten Momente stillzuhalten, während Myra behutsam das Eis von ihren Wimpern löste. »Was ist passiert?«, fragte sie, als das Zittern in ihrem Leib mehr und mehr abebbte. »Ich weiß es nicht … Gut, das müsste alles sein. Kannst du die Augen öffnen?« Tatsächlich spürte sie, wie sich ihre Lider anhoben, an der Schwärze änderte es jedoch nichts. »Ist es noch dunkel?«, fragte Regina schwach, woraufhin Myra einen Fluch ausstieß. »Moment!« Sie löste ihre Handgelenke aus Reginas Griff und einen Augenblick später ergoss sich kühles Licht vom Boden zur Decke. Die Taschenlampe von Myras Handy. Ihr besorgtes Gesicht tauchte wieder über Regina auf. »Bist du irgendwo verletzt?« Regina schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, mir ist nur verdammt kalt.« »Das ist gut.« Myra griff nach ihren Händen, und zog sie in eine sitzende Position, bevor sie zum Sofa eilte. Mit einer dicken Decke tauchte sie wieder an ihrer Seite auf und warf sie über Reginas Schultern. »Hier, wir müssen dich wieder warm bekommen.« Regina zog die Decke fest an sich und rieb darunter ihre Arme übereinander. »Was ist mit dem Ofen?« »Sie hat Licht und Feuer mitgenommen. Kann sein, dass der noch eine Weile ausbleibt«, sagte Myra und griff nach dem Handy, auf dem sie etwas tippte. Im schroffen Licht sah sie noch immer so blass wie vorhin aus. Sorge stand in Myras Zügen. Die Geschehnisse der letzten Minuten – oder waren es Stunden? – drängten sich Regina wieder auf, ihr Verstand haderte mit dem Erlebten. Dennoch kam sie um eine Frage nicht herum. »Myra, wer war das gewesen?« Ihr Freundin starrte einen langen Moment wie durch das Display hindurch. »Ich glaube, du kennst die Antwort.« Sie hatte recht, Regina kannte die Antwort, seit sie den Namen der alten Frau gehört hatte. »Im Märchen ist sie aber viel netter.« »Das sind sie immer.« »Und was wollte sie?«, schaffte Regina mit dünner Stimme zu fragen. »Was für ein Angebot meinte sie …« Myra senkte das Handy, schüttelte den Kopf. »Ich dachte nicht, dass sie sich so zeitig zeigen könnte. Holdas Auftauchen war kein gutes Zeichen. Sie ist Vorbotin für die Geister, die in den Rauhnächten wandeln können. Aber dass sie dich beinahe mitgenommen hätte … das passt nicht.« »Sie hätte mich–« Regina nah einen zittrigen Atemzug. »Du bist hier.« Myra legte über der Decke ihre Hände an ihre Arme, drückte sie, als wollte sie nun auf diese Art an Ort und Stelle halten. »Sie kann dich nicht mehr mitziehen.« Regina nickte, blickte an Myra vorbei und verstand im ersten Moment nicht, was sie sah. Myra strich sich eine lose Strähne hinters Ohr. »Vielleicht lag es am Herrenhaus, die Energien sind hier kräftiger oder es war eine überzogene Warnung …« Regina blinzelte. Nein, das bildete sie sich nicht ein. »Myra?«, unterbrach sie leise, was ihr dennoch sofort alle Aufmerksamkeit einbrachte. »Dort, am Fenster.« Regina nickte in die Richtung des Ofens. Als Myra sich umdrehte, gab sie die Sicht darauf gänzlich frei und Regina stockte der Atem. Wo vorher noch eine liebliche Gardine hing, prangte nun ein wie Kristall funkelnder Rosenstrauch, der das gesamte Fenster bedeckte. Drei wie frisch gefallener Schnee glimmende Blüten standen in voller Pracht, die Dornen an den Stängeln so klar wie Gletschereis. Hilflos wanderte Reginas Blick zu den beiden anderen Fenstern im Raum, die von den gleichen Eisrosen vereinnahmt waren. »Das sind nicht zufällig unsere Eisblumen, auf die wir gewartet haben, oder?« Myra sackte neben ihr auf den Boden zusammen. »Nein, leider nicht.« Unglauben spiegelte sich in ihren Augen, als sie zu Regina sah. »Das hier? Das sind Omen.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)