Kintsukuroi von Zaizen ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Kuroganes Muskeln spannten sich an, wie eine Bogensehne kurz vor dem Abschuss eines Pfeiles, als er den blonden, schlaksigen Mann gegen die Hauswand drückte und ihm mit seinem massigen Unterarm die Luft an der Kehle abschnürte. Normalerweise hätte er nicht eine Sekunde gezögert und jegliches Leben aus dem Körper vor ihm herausgepresst. Nicht nur, dass der Kerl ihn bei einem Einbruch gestört hatte, die blonden Haare und die eisblauen Augen, die ihn nun anstarrten, hatten sich schon vor dieser Begegnung in sein Gedächtnis eingebrannt. Doch irgendwas schien nicht zu stimmen. Nicht nur, dass der Mann unter seinem Griff beinahe entspannt wirkte, auch der Ausdruck in seinen Augen passte nicht zu dem aus Kuroganes Erinnerungen. Statt kalter Apathie sahen ihn diese Augen mit einer Neugier und Erwartung an, die so gar nicht zu dem Bild aus der Vergangenheit passte. Unschlüssig verharrten die beiden Männer in ihrer Position. Um sie herum war es still in dem Herrenhaus, in dem sie sich befanden. “Ah, ich sehe, du hast Bekanntschaft mit meinem Bruder gemacht”, krächzte der Mann unter Kuroganes Griff, während sich seine Mimik in ein falsches Lächeln verzog und sein Bauchgefühl bestätigte. Das hier war nicht der Mann, dem er Rache geschworen hatte, sondern nur eine beängstigend nahe Kopie. Weiterhin wachsam, ließ er vorsichtig von dem anderen ab. “Was suchst du hier?”, fragte Kurogane wirsch, ohne die Distanz zwischen ihnen zu verringern oder Fragen zu der Bruder-Sache zu stellen. Auch wenn er nicht der Mann war, den er jagte, war dessen Auftauchen weiterhin äußerst fragwürdig. Gemessen an der schwarzen, engen Kleidung und den Lederhandschuhen war er kein Angestellter des Hauses, sondern vielmehr ein Dieb - vermutlich auf der Suche nach magischen Artefakten, welche eine hohe Nachfrage auf dem Schwarzmarkt innehatten. Seitdem die aktuelle Regierung die Produktion von magischen Gegenständen stark eingeschränkt hatte und die Zahl der freien Magier immer weiter schwand, konnten sich nur noch die Adeligen und andere äußerst betuchte Bürger diese leisten. Jene verwendeten die Artefakte nur für ihr eigenes Amusement und als Ausstellung ihres Prestiges, anstelle sie Bedürftigen auszuhändigen, um Wunden zu heilen oder Katastrophen zu verhindern. Ähnlich sah es auch mit den noch verbliebenen, magisch-begabten Menschen aus. Entweder wurden sie direkt in den Staatsdienst gestellt oder arbeiten unter strenger Bewachung für die Höchstbietenden. Wer sich gegen dieses System auflehnte, landete im Gefängnis - wenn er Glück hatte. “Wenn du hier etwas stehlen willst, bist du zu spät. Jemand war vor uns beiden hier”, sagte Kurogane, als er keine Antwort seines Gegenübers erhielt. Dies wusste er aus eigener Erfahrung, da der Grund seines Einbruches lange vorher schon entwendet wurde. Dabei handelte es sich um ein magisches Buch, welches sich im Tresor dieses Herrenhauses befinden sollte. Anscheinend hatte sein Informant die Info über einen lukrativen Beutezug an mehrere verkauft. Mit ihm würde Kurogane später ein paar klare Worte wechseln müssen. Der blonde Vermutlich-Dieb schüttelte nur den Kopf, sein Lächeln weiterhin wie angeklebt.. “Das, was hier war, habe ich schon vor zwei Tagen geholt. Nein, ich habe dich gesucht. Oder vielmehr euch”, sagte der Mann. Bevor Kurogane etwas erwidern konnte, fuhr der andere Mann fort: “” Ich will mich der Hexe anschließen.” - Kurogane hatte das arrogante Blondchen eigentlich zum Teufel jagen wollen, als der sein Beitrittsgesuch formuliert hatte. Er wollte ihm sagen, dass Yuuko nicht jeden dahergelaufenen Fatzken bei sich aufnahm. Erst recht nicht, wenn dieser einem ihrer Offiziere bei einer Mission auflauerte und auch noch so aussah wie einer ihrer größten Widersacher. Doch ehe er auch nur ein Wort herausbekam, flog ein kleiner magischer Schmetterling an seinem Kopf vorbei und setzte sich auf den behandschuhten Finger des anderen. Yuuko hatte gesprochen und somit blieb Kurogane nichts anderes übrig als ein “Komm” zu knurren, bevor er sich zum Gehen wandte. - Auch, wenn es ihm ganz und gar nicht gefiel. Missmutig stapfte er mit schnellen Schritten über den kleinen Trampelpfad, der sie aus der Stadt hinein in den angrenzenden Wald führte. Dabei nutzte Kurogane eine kleine Laterne, um nicht in vollkommener Dunkelheit den Weg finden zu müssen. Er schlug dabei ein unbarmherziges Tempo an, mit dem sein langbeiniger Begleiter jedoch kein Problem haben zu schien. “Ich freue mich auf einen schönen heißen Tee mit Honig, wenn wir endlich angekommen sind”, plapperte sein Weggefährte munter los, sobald sie weit genug von der Hauptstraße entfernt waren und sich einen Weg durch das immer dichter werdende Unterholz bahnten. “Ich habe einen ganzen Tag lang darauf gewartet, dass du auftauchst. Du hast ja keine Ahnung, wie langweilig das war. Bis auf ein paar alte Lexika gab es nicht mal was zum Lesen in diesem alten Haus. Womit beschäftigen sich die Adeligen heutzutage? Nicht mal Tee hatten sie in der Küche! Welcher Mensch lässt seinen Einbrechern nicht mal ein paar kleine Blätter Tee da? Die Leute von heute haben einfach keinen Respekt mehr vor dem Diebesgeschäft.” Krachend schlugen Kuroganes Zähne aufeinander, als er genervt den Kiefer anspannte und jedes bisschen Zurückhaltung aufbringen musste, den anderen nicht zu erwürgen oder ihm irgendwas in den Mund zu stopfen, damit er endlich aufhörte, zu reden. Stattdessen zählte er innerlich langsam von hundert runter, wie es ihm seine Mutter beigebracht hatte. Er war noch nicht ganz bei 30 angekommen, als das Plappermaul von selbst verstummte. Verwirrt, aber nicht gerade unglücklich über diese Wendung, drehte er sich zu dem anderen herum, der konzentriert durch das dichte Gestrüpp schielte. Wenige Sekunden später vernahm auch Kurogane das leise Geräusch von schnellen Hufen, welche durch zerbrechende Äste zu erkennen waren. Ganz natürlich nahmen die beiden Männer eine geduckte Haltung an. Kurogane löschte das Licht der Laterne und legte die Hand auf den Knauf des Dolches an seiner Seite. Die Hufschläge wurden immer lauter. Langsam aber stetig vernahmen sie das Schnaufen der angestrengten Tiere. Neben sich hörte er seinen Begleiter leise etwas murmeln und spürte, wie ein leichter Schauer über seine Arme und seinen Rücken kroch. Kurogane war zwar selbst nicht magiebegabt, hatte aber genug Zauberer und Hexen kennengelernt, um die arkanen Künste zu erkennen, wenn er sie spürte. Anscheinend war der Dieb neben ihm mehr, als er vorgaukelte. Warum stahl er magische Artefakte, wenn er sie selbst gar nicht brauchte? Ehe Kurogane länger mit dem Gedanken beschäftigen konnte, erhellte ein schwacher Lichtschein die schmale Straße, die sich etwa 20 Meter vor ihnen befand und parallel zu ihrem Trampelpfad verlief. Das veranlasste sie dazu, sich noch tiefer in das Gebüsch zu drücken und regungslos zu verharren, sodass die drei Reiter, die um die schmale Biegung jagten, keine Chance hatten, sie außerhalb ihres magischen Lichtkegels zu entdecken. Leise vernahm Kurogane, wie der Atem des Diebes ins Stocken geriet, als er sein Ebenbild auf einem der Pferde erkannte. Der blonde Reiter hatte im Gegensatz zu seinem Gegenstück neben Kurogane die blonden Haare zu einem kurzen Zopf gebunden. Die eisblauen Augen waren zu Schlitzen verengt, um dem Wind zu trotzen, der ihm durch das hohe Reittempo ins Gesicht schlug. Beim Anblick des Mannes geriet Kuroganes Blut in Wallung und er musste sich zurückhalten, nicht aus dem Gebüsch zu springen, um dem Mann seinen Dolch in den Körper zu rammen. Vor seinem inneren Auge spielte sich erneut die Verhaftung des Jungen Shaolan und seiner Freundin Sakura ab, welche unter Yuui de Fluorites Befehl abgeführt wurden und seitdem nicht mehr auffindbar sindt. Entweder fristeten sie ein elendes Dasein in einem der vielen magischen Hochsicherheitsgefängnisse, oder sie hatte bereits etwas Schlimmeres ereilt. Kurogane ballte seine Fäuste so fest zusammen, dass seine Finger sich schmerzhaft verkrampften. Wäre er damals nur schneller und stärker gewesen … “Ich denke, die Luft ist rein”, riss ihn der Yuui-Doppelgänger leise aus seinen Erinnerungen. Seine Stimme war papierdünn und rau. Kurogane richtete sich auf, zündete jedoch die Lampe nicht wieder an. Er war noch nicht bereit, wieder in das Abbild des Gesichts zu schauen, welches ihm seine engsten Vertrauten genommen hatte. Vorsichtig bahnten sie sich einen Weg durch das Gebüsch an der Straße entlang. “Was hast du da eben gemacht?”, wollte Kurogane von dem Blonden nach einigen Minuten des Schweigens wissen. Er rieb sich über die noch immer kalten Arme. “Ein Schutzzauber. Yuui hätte uns sonst entdeckt", erklärte der Magier knapp. Anscheinend hatte auch ihn die Begegnung ordentlich durchgerüttelt. “Wir hatten Glück, dass ich ihn zuerst wahrgenommen habe.” Kurogane wollte sich nicht ausmalen, was passiert wäre, hätte man sie entdeckt. Bisher hatte er die direkte Konfrontation mit dem blonden Bastard bewusst vermieden. Gegen Magier zu kämpfen, war schon so schwer genug. Aber sich mit einem der mächtigsten Zauberer des Landes anzulegen, war zum jetzigen Zeitpunkt glatter Selbstmord. “Was macht er überhaupt hier in dieser Gegend?”, sprach Kurogane seine Frage laut aus. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie sein Begleiter den Kopf abwandte und sein Körper sich verkrampfte. “Er sucht nach mir”, antwortete der Magier kaum vernehmlich und äußerte auch keine weitere Erklärung dazu. Kurogane hakte nicht weiter nach, da er vermutete, dass er auch nicht mehr von dem anderen Mann dazu erfahren würde. Den Rest des Weges verbrachten schweigend. Selbst als Kurogane wieder die Laterne anzündete, war anscheinend die Redelust seines Gefährten verflogen und so hingen sie ihrem eigenen Gedanken nach, bis sie schlussendlich am Eingang einer niedrigen Höhle ankamen. In gebückter Haltung schoben sich die beiden Männer durch den kurzen, engen Gang, der nach wenigen Minuten endlich in eine geräumige Höhle überging und sie die ersten Wachposten sahen. “Ah, Hauptmann Suwa! Ich sehe, du hast jemanden mitgebracht”, begrüßte der sommersprossige Sorata ihn freundlich mit seinem alten Dienstgrad und erntete einen genervten Blick von Kurogane und einen schlecht klingenden Pfiff von seinem Begleiter ein. “Hauptmann! Dass ich von solch hochrangigen Personal abgeholt und eskortiert wurde, habe ich ja gar nicht geahnt!”, scherzte d Magier, bekam von Kurogane jedoch keine Antwort und von Sorata nur ein verwirrtes Lächeln. “Wo ist die Hexe?”, brummte Kurogane stattdessen und ging an dem Wachposten vorbei in den nächsten Tunnel. “Im Empfangszimmer. Anscheinend hat sie schon auf euch gewartet”, antwortete die Wache hilfsbereit, folgte dem ungleichen Duo aber nicht weiter. “Ihr habt ein Empfangszimmer? Ich wusste ja schon immer, dass der Widerstand gut organisiert ist. Aber so gut organisiert?” “Das ist eine Höhle wie jede andere.” Yuuko hatte sich nur in den Kopf gesetzt, ihren Unterschlupf so heimelig wie möglich zu gestalten. Kurogane hatte wochenlang Teppiche und Schränke hierher transportieren müssen. Na na, Kurogane. Ich möchte schon meinen, dass wir uns von anderen Organisationen unterscheiden. Im Stil und in der Effizienz, vernahm er Yuukos samtweiche Stimme in seinem Kopf. Ein Blick zu seinen interessiert umschauenden Begleiter verriet ihm, dass die Dimensionshexe wohl auch zu ihm gesprochen hatte. Kurogane führte sie um eine Ecke und durch einen schimmernden Samtvorhang hindurch in eine weitere Höhle. Diese war jedoch wesentlich kleiner als die vorherige, dafür aber mit allen Annehmlichkeiten ausgestattet, die man sich wünschen konnte. Der Boden war mit einem großen Teppich ausgelegt. In der Mitte stand ein kleiner, eleganter Kaffeetisch zwischen einem gemütlichen Sofa und einer Chaiselongue, auf der sich eine Frau um die dreißig wie eine Katze in der Sonne räkelte. Ihr halb heruntergerutschter Kimono entblößte einen drahtigen und schlanken Körper. Mit manikürten Fingern hielt sie elegant eine lange Pfeife. Kurogane kannte Yuukos Masche der Einschüchterung bereits zur Genüge und stieß nur innerlich einen Seufzer aus. Es überraschte ihn jedoch, dass auch sein Begleiter sich kein bisschen über das extravagante Auftreten der Frau beeinflussen ließ. In der Regel wirkte diese vor allem bei Männern ganz hervorragend und gehörte zu Yuukos breitem Repertoire der psychologischen Kriegsführung. Stattdessen verbeugte sich der Blonde nur leicht vor der Hexe. “Es freut mich, endlich eure Bekanntschaft in Person machen zu können”, begrüßte er die Hexe und suggerierte eine Nähe, die Kurogane befremdlich fand. Yuuko verließ nie diese Höhle und hielt sich auch in magischer Hinsicht äußerst bedeckt. Woher kannten die beiden sich dann? “Die Freude ist ganz meinerseits, Fye. Ich hoffe, mein Mitarbeiter hat dich auf dem Weg hierher gut behandelt? Er ist nicht der Gesprächigste, aber äußerst kompetent”, antwortete die Hexe und ließ Kurogane mit der Frage zurück, ob das nun ein Kompliment oder eine Beleidigung gewesen war. “Ich kann mich nicht beklagen, obwohl Kuro-Pon wirklich so gesprächig wie ein Stein ist. Ich hatte kurzzeitig Angst, dass ich einer Illusion unterlegen bin und nur mit mir selbst rede”, scherzte Fye und ignorierte das gereizte “Wie hast du mich gerade genannt”, seines Begleiters, woraufhin Yuuko amüsiert die Mundwinkel nach oben zog. Dann wurde sie allerdings wieder ernst: “Lass uns zum Geschäft kommen. Du bist hier, weil du einen Wunsch hast und etwas zum Tausch anbietest”. Fyes falsches Lächeln verschwand nicht aus seiner Mundpartie, doch Kurogane konnte sehen, wie die blauen Augen hart wie Stahl wurden. “So ist es. Ich wünsche mir eure Hilfe bei der Rettung meines Bruders”, erklärte Fye neutral, was ihm einen erneuten Ausbruchs Kurogane bescherte: “Du willst WAS?!” Unter allen noch existierenden Magiern gehörte Yuui de Fluorite zu den mächtigsten und tödlichsten. Nach allem, was er den Menschen dieses Landes und Kurogane höchstpersönlich angetan hatte, wollte er ihn am liebsten tot sehen. “Dir ist der zu zahlende Preis bekannt?”, fragte Yuuko, ohne sich auch nur ansatzweise auf den unmöglichen Wunsch oder Kuroganes Ausbruch zu reagieren. “Ja”, bestätigte Fye, woraufhin die Hexe nickte und Kurogane sich wunderte, was um alles in der Welt dieser Mann besitzen konnte, das den Gegenwert dieses Wunsches aufwog. Doch keiner der beiden Magier ging weiter darauf ein. “Dann sind wir im Geschäft.” - “Wenn du so weiter grübelst, läufst du irgendwann gegen eine Wand”, scherzte Fye und riss Kurogane zum dritten Mal in wenigen Minuten aus seinen Gedanken, als dieser ihren Neuzugang zu seinem Quartier führte. Normalerweise mussten neue Rekruten der Organisation in Gemeinschaftszimmern schlafen. Doch anscheinend verschaffte Fyes Vertrautheit mit Yuuko ihm einige Sonderrechte, sodass er direkt eines der besseren Quartiere beziehen durfte. Ihr ganzes Hauptquartier bestand aus einem Geflecht aus natürlichen Höhlen, die sich vor vielen Jahrhunderten durch unterirdische Seen gebildet haben und ihnen jetzt als sicherer Hafen gegen ihre Feinde dienten. Kurogane führte Fye sich windende Gänge entlang, bis sie schlussendlich in einem kleinen Raum ankamen. Anders als beim Empfangszimmer erschien die Einrichtung rustikaler. Neben einem schmalen Holzbett und einem Tisch mit einer Waschschale gab es nur einen winzigen Spiegel und einen schlichten Holzstuhl. “Das ist bis auf Weiteres dein Zimmer. Meines befindet sich den Gang entlang auf der rechten Seite, solltest du noch irgendetwas brauchen.”, damit ließ er den Neuzugang in sein Zimmer. Der drehte sich einmal kurz im Kreis und lächelte Kurogane dann mit diesem falschen Grinsen an, dass den anderen schon seit ihrer ersten Begegnung nervte. “Lass das”, grummelte Kurogane und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Fye legte mit gespielter Verwirrtheit den Kopf schief. “Du kannst dir dein albernes falsches Lachen sonst wohin schieben. Ich habe dich hierher gebracht, wie Yuuko es verlangt hat, damit ist der Auftrag erfüllt und wir müssen nicht mehr Zeit als nötig miteinander verbringen”, antwortete er auf die stumme Frage, schnaubte genervt und wandte sich zum Gehen um. “Ich erinnere dich an Yuui. Das tut mir leid”, entschuldigte Fye sich sachte. Es war nicht die Aussage per se, die Kurogane abrupt stoppen ließ, sondern der Ton, den Fye angeschlagen hatte. In seiner Stimme lag Schmerz, die das Gegenteil des unbeschwerten und immerzu lächelnden Diebes war, den er in der kurzen Zeit kennengelernt hatte. “Du kannst nichts dafür, dass du dir mit diesem Schwein ein Gesicht teilst. Also hör auf, dich für Dinge zu entschuldigen, die du nicht beeinflussen kannst. Ich verstehe nicht, wie oder warum du diesen Mistkerl retten willst. Aber sei versichert, dass ich alles dransetzen werde, ihn zur Strecke zu bringen”, erwiderte Kurogane auf die Entschuldigung harsch, ohne sich umzudrehen. Als keine Antwort mehr kam, verließ er endlich Fyes Zimmer und schlug den Weg zu seinem eigenen ein. Die Worte verfolgten ihn jedoch weiterhin. Es gab hunderte Fragen, die er gerne gestellt hätte. Etwa, warum sein Bruder ihn jagte, warum er ihn trotz allem retten wollte oder was er Yuuko im Tausch gegen diesen Wunsch angeboten hatte. Doch Neugier hatte noch nie zu etwas Gutem geführt. Der Letzte, der ihm das schmerzlich bewiesen hatte, war Shaloan gewesen. Wirsch versuchte Kurogane die Fragen und Gedanken rund um den Magier aus seinem Kopf zu verbannen und sich auf die essenziellen Dinge wie Schlafen zu konzentrieren. Als er sich jedoch nur unruhig hin und her drehte für Stunden,, gab er es schlussendlich vollends auf. Angezogen fand er sich wie von selbst im Trainingsraum wieder. Mit einem der Holzschwerter in der Hand kam sein Körper und sein Geist endlich zur Ruhe. Die Übungsschläge und Manöver, die er seit seiner Kindheit immer wieder übte, erdeten ihn und gaben seinem Kopf die wohlverdiente Pause, indem er sich nur auf seine Haltung und seine Bewegungen fokussierte. Nach einer halben Stunde nahm Kurogane den ersten langen Atemzug seit Tagen. “Irgendwann lasse ich dir ein Bett hier reinstellen”, drang Yuukos Stimme von der Seite an sein Ohr und Kurogane fragte sich, wie lange die Hexe ihn wohl schon beobachtet hatte. Sie war die einzige, die sich unbemerkt an ihn heranschleichen konnte. “Was willst du?”, fragte er genervt. “Wie, darf ich etwa nicht schauen, wie es meinem liebsten Grummelbären geht?”, neckte sie ihn. “Letzte Woche hatte Kamui diesen Titel noch inne”, bemerkte er trocken und schlug auf eine der Strohpuppen ein. “Okay, ich wollte nachsehen, ob du deinen neuen Freund schon erwürgt hast”, stichelte die Hexe weiter. “Er ist nicht mein Freund”, knurrte Kurogane als Antwort, sehr wohl in dem Wissen, wie kindisch das klang. “Oh, was nicht ist, kann noch werden. Vor allem, wenn ihr ab morgen einige Spezialaufträge für mich absolviert.” Jetzt hatte sie ihn endlich so weit. Wie ein Wirbelwind drehte Kurogane sich entgeistert um. “Wir tun WAS? Yuuko, das kann nicht dein Ernst sein!” Die Hexe blieb von dem Ausbruch jedoch unbeeindruckt und lächelte lediglich verschmitzt. “Vergiss nicht, dass er dir das letzte Artefakt vor der Nase weggeschnappt hat. Fye ist ein ebenbürtiger Partner für dich und genau die Sorte von magischer Unterstützung, die du für die nächste Mission brauchst. Außerdem”, fing sie an, ehe Kurogane zum Protest ansetzen konnte,” willst du doch wissen, warum Fye seinen Bruder retten will und was sein Preis ist. Du willst diesen Mann verstehen, der das Gesicht des Menschen trägt, den du am meisten hasst.” Ertappt wandte Kurogane den Blick ab, worauf die Hexe zufrieden lächelte wie eine dicke Katze nach dem Mittagessen. “Ihr brecht morgen Mittag auf. Sieh zu, dass du noch etwas Schlaf bekommst.” - Die Sonne stand hoch am Himmel, als das ungleiche Duo ein letztes Mal ihr Reisegepäck überprüfte. Kuroganes Kopf pochte schmerzhaft vom Schlafmangel und dem ewigen belanglosen Geplapper des Blonden. Fort war diese zerbrechliche Stimme von gestern. An ihrer Stelle saß wieder die fast perfekte Maske der oberflächlichen Freundlichkeit des anderen, bei der sich jedes Haar auf Kuroganes Körper sträubte. “Kannst du endlich mit diesem Gehabe aufhören?”, schnauzte er Fye an, der in gespielter Verwunderung den Kopf schief legte. “Was meinst du, Kuro-Tan? Ich will mich doch nur etwas unterhalten und freundlich sein”, log sein Gegenüber und zog das falsche Lächeln noch etwas mehr in die Breite, sodass Kurogane Angst haben musste, die weißen Zähne würden ihn blenden. “Hör auf, meinen Namen zu verunstalten. Ich heiße Kurogane. Wenn du schon nichts Sinnvolles zu sagen hast, halt wenigstens die Klappe”, gab der Größere zurück und schnaubte nur abfällig, als Fye kicherte. “Wie wäre es dann mit schwarzem Hündchen? So wie du knurrst, machst du mir ja fast Angst!” Anstatt erneut auf das Geplänkel einzugehen, zog Kurogane nur die Gurte seines Rucksacks enger, überprüfte seinen Pistolenhalfter und schaute auf den magischen Kompass hinunter, den Yuuko ihm gegeben hatte. Ihr Ziel war eine Tagesreise vom Versteck entfernt und führte sie auf ein größeres Gehöft. Die Tagelöhner hatten die Arbeit bereits niedergelegt, als die beiden Diebe in Sichtweite kamen. Dafür war das prunkvolle Bauernhaus am Rand der Felder und Stallungen hell erleuchtet und sah wie ein Glühwürmchen in der immer dunkler werdenden Umgebung aus. Kurogane schlich am Waldrand entlang und konsultierte den Kompass, der jedoch eindeutig auf das Bauernhaus zeigte. Grimmig zog er einen Mundwinkel hoch. Natürlich befanden sich die Artefakte nicht irgendwo im Stall oder im Werkzeugschuppen, dann wäre es ja zu einfach gewesen. “Wir müssen näher an das Gebäude heran und einen geeigneten Einstiegspunkt finden. Vermutlich befinden sich die Artefakte im oberen Teil oder im Keller”, analysierte Kurogane, drehte sich jedoch genervt um, als Fye nichts dazu sagte. Der Magier hatte die Augen geschlossen und wirkte konzentriert, sodass Kurogane ihn erstmal in Ruhe ließ. Nach etwa einer halben Minute schlug er endlich wieder die Augen auf. “Sie sind im obersten Stockwerk. Wo genau kann ich nicht ganz sagen.” Es war nicht das erste Mal, dass Kurogane mit Magiern zusammenarbeitete. Aber es war ungewöhnlich, dass Fye bereits auf diese Distanz mit Sicherheit sagen konnte, wo genau sich die magischen Gegenstände befanden. Der Blonde schien mächtiger zu sein, als es den Anschein hatte. “Dann gehen wir von oben rein, sobald es komplett dunkel ist”, entschied Kurogane und beäugte die unebene Hausfassade aus Backsteinen und opulenten Verzierungen. Die Kletterpartie war vermutlich kein Spaß, sollte aber schaffbar sein. Zudem schienen außerhalb des Gebäudes keine Wachen zu patrouillieren.Vermutlich musste man auf dem Landwenig Angst vor Räubern, Banditen und Menschen wie Kurogane und Fye haben. Sobald die Nacht sich komplett über die idyllisch wirkende Landschaft gesenkt hatte, schlichen sich die beiden Diebe näher an das Gebäude heran und wählten eine der beiden schmaleren Hauswände, an der nur insgesamt zwei Fenster eingelassen waren. In beiden war kein Licht zu sehen. Ohne zu Zögern begann Kurogane mit dem Aufstieg, indem er Halt an den steinernen Verzierungen an der Hausecke suchte. Die Grifffläche war nicht gerade groß, sodass er seine Finger verkrampfen musste, um sich dann aus reiner Körperkraft heraus an der Fassade hochzuziehen. Im ersten Stock angekommen, nutzte er das breite Fensterbrett als Halt, damiter mit einem kräftigen Sprung an den Fenstersims des Fensters im zweiten Stock kam und sich an diesem hochziehen konnte. Von dort war es nur noch ein kurzer Weg bis zum spitz zulaufenden Dach. Schwer atmend und schwitzend drehte er sich zur Dachkante um, um Fye ein Seil zuzuwerfen, dessen Körper derartige Strapazen vermutlich nicht dulden würde, ohne irgendwo abzustürzen. Gerade, als er in seinem Gepäck nach dem Seil suchte, spürte er eine unnatürliche Kälte in der Luft und er sah, wie der Magier eisige Stufen an der Hauswand erschuf und elegant die Eistreppe hochstieg. Als er oben ankam, hätte Kurogane ihn am liebsten wieder herunterbefördert. “Wieso machst du das nicht gleich?!”, zischte der schwitzende Mann wütend, woraufhin Fye nur entschuldigend lächelte. “Kuro-Sama schien so erpicht auf diesen kleinen Kletterausflug zu sein, dass ich ihm nicht den Spaß verderben wollte.” “Und was, wenn jemand im Inneren deine Magie gespürt hat?” “Keine Sorge, ich bin gut darin, meine Kräfte zu verschleiern. Außerdem befindet sich kein magisches Lebewesen in diesem Haus. Oder es versteckt sich ebenfalls gut.” Leise vor sich hin grummelnd zog Kurogane ein schmales Messer aus dem Gürtel und machte sich behände daran, das Dachfenster vorsichtig aufzuhebeln. Es gab den Blick auf ein Dachgeschoss frei. Im Dunkeln war es schwer zu erkennen, ob dort irgendetwas auf sie wartete. Mit einem zufriedenen Klicken hatte Kurogane das Fenster so weit herausgehebelt, dass er es aufdrücken konnte. Jetzt zog er eine kleine Taschenlampe aus dem Gepäck, knipste sie an und begann, vorsichtig den Raum im Schein der Lampe zu untersuchen. Stets darauf bedacht, den Schein nicht in die Nähe der einzigen geschlossenen Tür zu lassen, falls sich doch jemand davor aufhielt. Der Dachboden war geräumig und außergewöhnlich sauber. Anscheinend wurde das Lager, bestehend aus gestapelten Kisten und aneinandergereihten Regalen regelmäßig frequentiert. Der Ex-Soldat konnte Munitionskisten und diverse Waffen neben Lebensmitteln und einzelnen Wertgegenständen von geringerer Qualität ausmachen. Gemessen daran, dass sie sich auf einem abgelegenen Bauernhof befanden, war die schiere Masse an Vorräten bemerkenswert. Vorsichtig kletterte Kurogane mit der Taschenlampe zwischen den Zähnen durch das Fenster und ging in eine geduckte Position. Wenn er eines in seinem Leben gelernt hatte, dann war es die Tatsache, dass auf Ruhe immer ein Sturm folgte. Während der andere Mann ebenfalls lautlos durch das Fenster einstieg, schlich er sich bereits an die Waffenkisten heran. Die dort liegenden Pistolen und Gewehre waren neuere Modelle und kein Vergleich zu den antiquierten Geschützen, mit denen sie sich meistens im Widerstand behelfen mussten. “Das hier scheint eine Art Lager zu sein”, fasste Kurogane den Fund zusammen. “Aber warum sollte die Regierung so weit ab vom Schuss so viele Ressourcen lagern?” Als Antwort erhielt er nur ein Schulterzucken seines Begleiters. Der war währenddessen bereits zur Tür geschlichen. Doch anstatt sie ausführlich zu untersuchen, griff er einfach nach der Klinke und drückte sie herunter. Kurogane konnte durch den Schein seiner Taschenlampe gerade noch etwas blitzen sehen. “Vorsicht!”, warnte Kurogane den Magier noch, doch der schrie bereits schmerzerfüllt auf. Er sah noch, wie die glitzernden Partikel des Blendpuders zu Boden rieselten und wie heiße Tränen zwischen den zugekniffenen Lidern des anderen hervorquollen, ehe er ihn zurückriss. Fye prallte taumelnd gegen seine Brust und rieb wie ein Wilder an seinen Augen herum. Kurogane packte die Handgelenke des anderen Mannes und drehte ihn zu sich herum. “Lass das, das macht es nur schlimmer”, blaffte er ihn an, “Wir müssen jetzt improvisieren.” Fyes Schrei und das Öffnen der Tür hatten einen Alarm ausgelöst. Kurogane hörte die schnellen Schritte schwerer Stiefel auf den Dielenbrettern des Hauses. Kurz überlegte er, ob eine Flucht aus dem Fenster noch möglich wäre, doch das Dach war zu hoch zum Springen und Fye nicht in der Lage, sie sicher mit Magie auf den Boden zu bringen. “Ich kann nicht zaubern, wenn ich nichts sehe”, beschwerte sich Fye, während sein tränennasses Gesicht im Schein der Lampe zu ihm aufsah. Für einen Moment fühlte sich Kurogane eher wie ein Kindergärtner, der sich um seinen tollpatschigen Schützling kümmern musste, anstatt wie eine 2-Mann-Spezialeinheit. Kuroganes Gedanken rasten, als er ihre Gegner immer näher kommen hörte. Der Dachboden war zwar eine Einbahnstraße, dadurch aber auch einfacher zu verteidigen als offenes Gelände. Vor der nun offenstehenden Tür führte ein kleiner Flur um die Ecke, ehe es die Treppe hinunterging. Das war die ideale Deckung. In seinem Kopf formte sich ein Plan. “Du musst auch nichts sehen können, wenn ich dir sage, wohin du zielen sollst”, erklärte er und zerrte den blonden Mann aus dem Dachboden heraus bis zur Ecke und dem Treppenabsatz. Von unten kamen ihre Gegner heraufgestürmt. Um sie herum zischten Stahlkugeln, aber keine magischen Geschosse durch die Luft. Gut. Trotzdem würde es nicht lange dauern, bis sie ihre Position stürmten. Er ließ Fye für einen kurzen Moment los, nur um ihn umzudrehen, sodass der blonde Mann jetzt mit dem Rücken zu ihm stand. Dann umfasste er erneut die Handgelenke des anderen und zog ihn an seine Brust. Der Blinde schnappte kurz verwirrt nach Luft, ehe es ihm dämmerte. “Gar keine schlechte Idee, Kuro-Puu.” “Wenn du mich noch einmal so nennst, stoße ich dich die Treppe hinunter”, knurrte Kurogane, ehe er tief durchatmen und sich über den leichten Parfümduft wunderte, der die stickige und metallisch riechende Luft für einen Moment durchbrach. Der kam anscheinend von den blonden Haaren vor ihm, in die er seine Nase durch den engen Körperkontakt fast vergraben hatte. Er blinzelte kurz und schob den Gedanken wirsch beiseite. Jetzt waren andere Dinge wichtiger. “Wenn ich dir das Kommando gebe, feuerst du einfach drauflos”, wisperte er in das Ohr des anderen, der angespannt nickte. “Ich vertraue dir”, sagte Fye mit so ruhiger und entschlossener Stimme, dass Kurogane keine Zweifel mehr an seinem Plan hegte. Kraftvoll stieß er sich und Fye um die Ecke herum und bis zum Treppenabsatz. Sein Partner brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um sich an die neue Fortbewegung zu gewöhnen. Wie fließendes Wasser schmiegte er sich an den Körper des Größeren und ließ sich von ihm leiten. Der hatte bereits den ersten Gegner ins Visier gefasst und richtete das umklammerte Handgelenk auf die dunkle Gestalt. “Jetzt”, gab er den Befehl. Kurogane würde als Nichtmagier niemals verstehen können, wie es war, Arcanae zu wirken. Was er aber sehr wohl begriff, war die Kraft, die dabei entstand und gebündelt wurde. Er spürte förmlich, wie die Macht sich in Fye bildete und in seinem Arm gebündelt wurde, um sich dann in einem gleißenden, eisblauen Strahl pfeilgerade die Treppe hinunter zu entladen. Im Gegensatz zu Schussfeuerwaffen gab es keinen Rückstoß und keinen Geruch von Schwarzpulver. Dafür war die Luft um sie herum eiskalt, als der Körper ihres Gegners am unteren Ende erst zu Eis erstarrte und dann unter dem Druck der Magie zersplitterte. Ihren Widersachern blieb nur einen Augenblick Zeit, den Plan von Kurogane und Fye zu begreifen, ehe Kurogane auch schon reflexartig auf den nächsten Gegner zielte und Fye das Kommando gab. Spätestens beim vierten Angriff musste der Ex-Soldat keine verbalen Befehle mehr erteilen, denn sein Partner spürte bereits, wann er zaubern sollte. Langsam bahnten sie sich eng aneinander geschmiegt einen Weg die Treppe hinunter und durch die darunterliegenden Stockwerke. Als der letzte Gegner fiel, atmete das ungleiche Duo schwer vor Anspannung und Erschöpfung. Endlich ließ Kurogane die fragilen Handgelenke los, die nun feuerrot aufblühten. Er hatte fester zugepackt als beabsichtigt. Sie schwiegen noch für eine Weile, während sich ihr Herzschlag normalisierte und das Adrenalin in ihren Adern langsam abebbte. Um sie herum war es eisig. Überall lagen gesplitterte Eisbrocken und an den Fenstern hatten sich zarte Eisblumen gebildet, die durch das von außen herein scheinende Mondlicht beinahe schon silbrig glühten. Nach einer gefühlten Ewigkeit wandte Fye sich zu ihm herum. Er hatte die Augen noch immer geschlossen, während sich auf seinen Lippen ein schwaches Lächeln abzeichnete. “Anscheinend kann ich doch zaubern, wenn ich blind bin”, brach er die Stille, was Kurogane immerhin ein kurzes Auflachen entlockte. “Manchmal ist Improvisation die beste Waffe”, sagte er. Obwohl Kurogane es niemals offen zugeben würde, musste er sich eingestehen, dass diese Zwei-Mann-Kombo doch nicht vollkommener Blödsinn war, wie zuerst angenommen. Diese verdammte Hexe hatte gewusst, dass sie ein gutes Team bilden würden. Er konnte ihr wissendes Lächeln und das Ich-Habe-Es-Dir-Doch-Gesagt-Funkeln in ihren Augen schon vor sich sehen. “Lass uns nach den Artefakten suchen und dann abhauen”, schlug Kurogane vor, während Fye es sich auf einem noch halbwegs unbeschadeten Sofa bequem machte. “Du schaffst das schon, Kuro-Tan. Hierbei kann ich dir nun wirklich nicht helfen, wenn ich nichts sehe”, flötete der faule Magier und trieb den gerade wieder im Normalbereich angekommenen Puls des anderen wieder in die Höhe. Schlussendlich entschied sich Kurogane aber doch dazu, allein nach den Artefakten zu suchen, anstatt seine Zeit damit zu verschwenden, Fye durch die Gegend zu schleifen. - “Hör auf so zu zappeln”, schnauzte er Fye an, als sie endlich wieder zurück in ihrem Quartier waren. Kurogane hatte den blinden Magier den halben Weg auf seinem Rücken zurückgetragen, weil dieser ständig über irgendwelche Wurzeln oder Sträucher gefallen war. Kurogane war sich fast sicher, dass der Blinde das mit Absicht getan hatte, wollte sich aber auch keiner Diskussion aussetzen und hatte klein beigegeben. Jetzt versuchte er ihm, die entzündeten Augen zu reinigen, was jedoch die nächste Hürde mit sich brachte. Der blonde Idiot wollte einfach nicht still halten. Ruppig nahm er dessen Kopf zwischen beide Hände und hielt ihn still. Mit Argusaugen betrachtete er das Gesicht des anderen. Es wunderte ihn, dass bei diesen langen Wimpern überhaupt irgendetwas an das empfindliche Organ gekommen war. Er griff nach einem der feuchten Tücher und fing vorsichtig an, über die von Tränenflüssigkeit und Staub verklebten Partien zu wischen. Dabei spürte er immer wieder Fyes Atem sanft über sein Handgelenk streichen und wunderte sich über die Gänsehaut, die das in ihm auslöste. “Wir waren ein gutes Team heute”, merkte Fye in leisem Ton an, als Kurogane mit der Arbeit fortfuhr. “Mhm”, machte der andere, vertieft in seine Arbeit. “Normalerweise arbeite ich allein. Gewöhn’ dich nicht dran”, lautete die automatische Antwort seitens Kurogane, ehe er darüber reflektieren konnte. Fye zog einen Mundwinkel leicht in die Höhe. “Allein gibt es niemanden, den man noch verlieren kann”, sagte Fye, mit einem Schmerz in der Stimme, den Kurogane nicht ganz zuordnen konnte. “Warum willst du deinen Bruder retten?”, fragte er stattdessen und erwartete erneut keine Antwort. Für eine ganze Weile blieb es auch ruhig, sodass er das Gespräch schon für beendet erklärt hatte, als Fye doch noch zaghaft sagte: “Weil er das einzige ist, was ich noch habe. Auch, wenn er mich jagt, um mich zu töten, gebe ich ihn noch nicht auf.” Die Ehrlichkeit in Fyes Stimme und der Schmerz trafen Kurogane ins Herz und weckten Erinnerungen, die er selbst längst verdrängt hatte. Für einen Moment hielt er in seiner Arbeit inne und erinnerte sich an Shaolans entschlossenen Blick, als er Kurogane aufmerksam dabei zuhörte, wie er ein Schwert zu führen habe. Er erinnerte sich an Sakuras helle Stimme und ihren Enthusiasmus, den selbst Kurogane nicht kaltließ. Seitdem er die beiden verloren hatte, zog er die Einsamkeit vor. Als er sich wieder in die Gegenwart riss, blickte er in die blauen Iriden Fyes, die ihn aufmerksam beobachteten, den Schmerz und die Rötung fast vergessen. “Ich verstehe”, sagte er, ohne es wirklich so zu meinen. Kurogane konnte nicht verstehen, was Fye in seinem grausamen Zwillingsbruder sah. Aber er konnte nachvollziehen, warum der Gedanke der vollkommenen Einsamkeit schlimmer war als die Hoffnung, diesen Menschen doch noch irgendwie zu retten. Fye quittierte Kuroganes Aussage mit einem freudlosen Lachen. “Nein, tust du nicht, aber ich danke dir dafür, dass du mich bisher noch nicht umgebracht hast”, sagte er singsang-haft und Kurogane konnte sehen, wie er wieder anfing, sich hinter seiner Maske zu verstecken. Aus Panik und einem Gefühl, das Kurogane noch nicht ganz in sich identifiziert hatte, packte er den Blonden wirsch bei den Schultern. “Wenn du damit anfangen würdest, öfters ehrlich zu mir zu sein, gäbe es vielleicht eine Chance darauf, dass ich kapiere, was in deinem bescheuerten Kopf vorgeht. Vielleicht helfe ich dir sogar irgendwann bei deinem Unterfangen”, blaffte er und war sich nicht ganz sicher, woher dieser Ausbruch jetzt kam. Fye starrte ihn fassungslos an, was das Blut ihm in den Kopf schießen ließ und er nicht ganz wusste, warum ihm die ganze Situation auf einmal furchtbar peinlich war. Dann breitete sich auf den blassen Lippen vor ihm ein zaghaftes Lächeln aus. Es war so dünn und zerbrechlich wie die Eisblumen an den Fenstern des Bauernhauses nach dem Kampf. Kurogane war sich nicht sicher, ob Fye es mit Magie belegt hatte, aber er würde alles dafür geben, es noch einmal zu sehen. “Das klingt ja fast so, als hättest du mich lieb gewonnen, Kuro-Tan”, scherzte Fye, konnte aber die echte Freude nicht ganz hinter seinen schlechten Scherzen verbergen. “Nenn mich nicht so!”, meckerte Kurogane und der vertraute Moment war vorüber. Kurogane war sich nicht sicher, warum er auf Fye so reagierte, warum in den folgenden Wochen und Monaten sein Herz immer ein bisschen schneller schlug, wenn ihn sah oder warum sie beide so ein verdammt gutes Team bildeten. Er war sich nicht sicher, ob sie Yuui je retten konnten und ob er das überhaupt zulassen konnte. Er wusste nur eins: Wenn dem Magier dieses Eisblumen-Lächeln auf den Lippen lag und er die Ehrlichkeit zeigte, die Kurogane verlangte, dann fühlte er sich ein wenig besser. Der Schmerz über den Verlust von Sakura und Shaloan wurde dann dumpfer. Die Risse, die die beiden Kinder in seinem Herzen hinterlassen hatten, würden nie wieder zuwachsen. Doch vielleicht konnte die Kluft durch etwas anderes gefüllt werden. Etwas Goldenes, mit eisblauen Augen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)