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Samhain - Der Feind meines Feindes

Magister Magicae 10
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Der "verbotene See", unterirdisch in Victors Berg, war schon öfter mal erwähnt und thematisiert worden. Ich wollte endlich mal festhalten, was es damit nun wirklich auf sich hat. :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ja, da diese Story das "offizielle" Finale und Höhepunkt der Magister Magicae Chroniken darstellt, wollte ich nochmal vieles geklärt wissen. Wer von euch glaubt, meinen Victor schon gut zu kennen, sei gewarnt. :-b Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Triggerwarnung: körperliche & psychische Gewalt (zwar nicht adult, aber trotzdem) Komplett anzeigen

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Der fatale Anruf

"Glaub´s mir doch! Das wird nicht funktionieren, U.", beharrte Victor mild, fast amüsiert, hielt dem Wiesel-Genius aber dennoch die gewünschte Dose getrockneter Kräutermischung hin.

"Ich sage: das klappt!", diskutierte Urnue stur. "Ein Teil Holz und ein Teil Wasser stehen zwei Teilen Erde gegenüber. Die Elemente sind ausgeglichen. Der Bannkreis wird funktionieren." Er verteilte die zerriebenen Kräuter häufchenweise auf dem mit Kreide gezogenen Kreis, den sie beide hier gerade in eine verlassene Lagerhalle malten. Sie waren ziemlich häufig in irgendwelchen leeren Fabrikgeländen außerhalb der Wohngegenden, wo keiner was von ihnen mitkriegte. Hier hatten sie Platz und waren ungestört, wenn sie irgendwas üben oder experimentieren wollten. Und das wollte vor allem Urnue ausgesprochen oft. Seit er seinen Schützling Ruppert verloren und sich Victor angeschlossen hatte, hatte er einen unbändigen Ehrgeiz entwickelt, dem Magister Artificiosus Magicae an Können und Wissen möglichst nicht nachzustehen. Er war glücklich und dankbar, bei Victor bleiben zu dürfen, der sich sonst niemandem zeigte und niemandem vertraute, und wollte ihm ein brauchbarer Partner sein. Daher verbrachte er förmlich jede freie Minute damit, Magie zu lernen oder Kampf zu trainieren.

"Die höhere Magie ist keine Mathematik mehr. Du musst die Vehemenz-Faktoren berücksichtigen. Die Elemente bilden nicht grundlos einen Energiekreis", merkte Victor belustigt an. "Ein Element im Kreislauf beherrscht das nächste. Holz ist stärker als Wasser. Wenn die Mengen identisch sind, wird das Holz gewinnen. Zumal man schon allein darüber streiten könnte, ob gemahlene Kräuter überhaupt noch als 'Holz' durchgehen."

"Jedes Pflanzenmaterial ist gut genug dafür. Also halt die Klappe, du Besserwisser", verlangte Urnue, natürlich nicht ganz ernst gemeint. Er stellte die Gewürzdose beiseite und griff wieder zur Kreide.

"Hast du schon mal drüber nachgedacht, dass die Anzahl der verwendeten Elemente auch keine ganz unwesentliche Rolle spielt?"

"Eine Triole wird keine Probleme machen. Die ist eine Naturkonstante."

"Drei ist keine gute Zahl. Sie ist völlig unausgewogen. Durch nichts teilbar, und mit nichts Gleichwertigem auffüllbar, um ein ausbalanciertes Ganzes aus ihr zu machen."

Urnue legte kurz genervt den Kopf in den Nacken. "Musst du immer das letzte Wort haben!?"

"Was, letztes Wort? Ich dachte, von dir käme noch mehr. Woher hätte ich denn wissen sollen, dass deine Argumentation schon zu Ende ist?", kicherte Victor.

Urnue wandte sich wieder seiner Arbeit zu und setzte unbeirrt die Kreide an, um den fast fertigen Bannkreis zu vollenden.

Victor trat ein paar Schritte zurück und zog einen gewaltigen, magischen Schutzschild vor sich hoch, der so groß war wie er selbst.

Der Wiesel-Genius mit den schwarzen Wuschelhaaren glotzte ihn verwundert an, statt seine Kreidestriche fertig zu ziehen. "Was soll das werden?"

"Ich geh in Deckung", klärte Victor ihn in einem völlig glaubwürdigen Tonfall auf, als sei das doch wohl zweifellos angebracht.

Urnue kamen doch langsam Zweifel an der Funktionsfähigkeit seines Bannkreises, angesichts der Tatsache, dass Victor sich ernsthaft hinter einem Schutzschild verschanzte. Aber würde hier wirklich gleich etwas richtig Gefährliches losgehen, würde Victor doch nicht einfach kommentarlos zusehen und ihn machen lassen, oder? Veralberte der Witzbold ihn etwa?
 

Die beiden konnten es nicht mehr drauf ankommen lassen, denn eine leise Melodie unterbrach ihre Magiestudien abrupt. Ein Handyklingelton. Mit missbilligend zusammengezogenen Augenbrauen griff Urnue in seine Jackentasche und holte sein Telefon heraus. Während er ernst auf den Bildschirm starrte, spulte die Klingelmelodie noch ein zweites Mal ab.

Auch Victors fröhlich-amüsierte Stimmung war schlagartig verschwunden. Er ließ seinen magischen Schutzschild wieder sinken. "Ist das Danny?"

Urnue schüttelte langsam und ratlos den Kopf. "Rupperts Söhne haben meine neue Nummer nicht. Und selbst wenn, rufen sie mich nicht mit unterdrückter Nummer an."

"Wer hat noch deine Nummer?", wollte der Gestaltwandler wissen.

Urnue warf einen Blick auf die Armbanduhr, dann nahm er den Anruf im Lautsprecher-Modus entgegen. "Wer ist da?", verlangte er zu wissen, ohne sich selbst namentlich zu melden.

"Oh ... äh ... Hey! Sind Sie Mister Urnue D´Agou?", plärrte eine unbekannte Männerstimme aus dem lautgeschalteten Telefon. Eine tiefe, dunkle Reibeisen-Stimme, die deshalb aber nicht unangenehm klang.

"Wer sind Sie? Woher haben Sie diese Nummer?"

"Ähm ... mein Name ist John. Ist aber nicht so wichtig. Wir kennen uns ohnehin nicht." Der Anrufer sprach nur leidlich Russisch. Und der markant englische Akzent wies ihn ebenfalls nicht als Muttersprachler aus. "Aber, sagen Sie, haben Sie eventuell noch Kontakt zu einem gewissen Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov?"

Urnue verengte argwöhnisch die Augen. "Ich weise Sie darauf hin, dass ich den Anruf in 10 Sekunden abbrechen werde", konterte er gänzlich humorlos.

"Kein Problem, so viel Ihrer Zeit brauche ich gar nicht. Nur, wenn Sie noch irgendwie Kontakt zu Mister Akomowarov haben, dann sagen Sie ihm bitte, dass Vladislav vor drei Tagen aus dem Gefängnis geflohen ist. Ich finde, Mister Akomowarov sollte das wissen. Ich weiß bloß nicht, wie ich ihn erreichen soll. Er legt viel Wert darauf, nicht gefunden zu werden und ..." Der Redeschwall brach ab, als Urnue konsequent auflegte.

Urnue sah nochmal kontrollierend auf die Armbanduhr, dass er die Zeit nicht überschritten hatte. Er wollte vermeiden, dass die Telefonverbindung zurückverfolgt wurde und er hier gefunden wurde. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand versuchte, Victor zu finden indem er nach Urnue suchte. Dieser Umweg war immerhin sehr vielversprechend, wenn man wusste, dass Victor und Urnue ständig gemeinsam auf Tour waren. Als nächstes sah er Victor an, der gerade missmutig die Arme verschränkte. "Was denkst du?", wollte Urnue von ihm wissen.

Der Russe zog ein verdrießliches Gesicht und überlegte lange, bevor er seine Einschätzung in dem prägnanten Fazit "Scheiße." zusammenfasste.

"Könnte eine Falle sein, oder?", hielt Urnue dagegen. "Vielleicht wollen sie dich bloß aus deinem Versteck locken."

"Schon möglich. Aber wenn es DOCH stimmt, muss ich das wissen. Im Gefängnis war Vladislav auch schon eine Gefahr für mich, aber nicht halb so gefährlich wie wenn er frei draußen rumrennt. Und vor allem ...", merkte er finster an, "muss ich ihn vor Seiji Kami wiederfinden!"

"Du meinst, der von den FABELS?"

Victor nickte ernst. "Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass ich von ihm noch nichts gehört habe. Wenn Seiji wüsste, dass Vladislav aus dem Knast ausgebrochen ist, hätte er es mir schon längst selber gesagt. Seiji hat eine e-mail-Adresse von mir. Er kann jederzeit Kontakt zu mir aufnehmen. ... Es sei denn, er will es mir ganz bewusst verschweigen."

"Also, mich würde es wiederum sehr wundern, wenn jemand wie Vladislav entflieht, und eine Organisation wie die FABELS drei Tage lang nichts davon mitkriegt", sponn der Wiesel-Genius diesen Gedankengang weiter. "Das wäre schon ziemliches Systemversagen, oder? Das würde den FABELS gar nicht ähnlich sehen."

"Wie auch immer. Ich muss rauskriegen, ob Vladislav wirklich auf freiem Fuß ist, und ihn so schnell wie möglich finden."

"Und was hast du vor, wenn du ihn gefunden hast?"

"Nur soviel: Nochmal kriegt Seiji ihn nicht. Der hatte seine Chance."

"Dragomir, du hast eine Abmachung mit ihm", gab Urnue besorgt zu bedenken.

"Hatte ich! Und die wurde erfüllt! Ich habe 3 Jahre geopfert und auf den Abschuss etlicher Motus-Wichser verzichtet, um Vladislav zu kriegen! Nur um ihn dann den FABELS zu überlassen, die ihn begnadigt haben!"

"Das waren nicht die FABELS, sondern der Strafrichter. Und Vladislav wurde nicht begnadigt. Er hat lebenslänglich bekommen."

"Das IST eine Begnadigung!", begehrte Victor sauer auf. "Seiji hat mir zugesagt, dass er in den Staaten angeklagt wird, nach amerikanischem Recht! Dort gibt es noch die Todesstrafe. Aber Seijis Anwälte waren zu dumm, die Todesstrafe für Vladislav rauszuholen, obwohl wirklich alles dafürgesprochen hätte. Sie haben sich mit der Haft zufrieden gegeben. DAS war nicht der Deal, den ich mit Seiji Kami hatte!"

Urnue seufzte und zog ein um Vernunft bittendes Gesicht. "Mach Seiji Kami keine Vorwürfe deswegen. Er kann nun wirklich am wenigsten dafür. Es ist nicht fair, von seinen Anwälten zu sprechen. Er hatte nichtmal Einfluss auf die Anklage."

"Ist mir egal, wer was dafür kann, dass Vladislav so davongekommen ist. Nochmal passiert mir das jedenfalls nicht."

Urnue beschloss, das Thema vorerst ruhen zu lassen. Er hatte Victor selten so außer sich und so unkaschiert wütend gesehen. Für gewöhnlich hatte Victor sich besser im Griff. Er hatte gar nicht gewusst, dass der Russe so viel Groll gegen die FABELS hegte, noch dazu einen so unbegründeten. Aber bestimmt würde er sich schnell wieder abregen, wenn er den ominösen Anruf erst verdaut und ein paar gesicherte Fakten zusammengetragen hatte.
 

Victor schien das ähnlich zu sehen, denn er stopfte durchatmend die Hände in die Manteltaschen und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem halbfertigen Bannkreis zu. "Also, wie steht´s? Willst du ihn noch beenden?", schlug er vor - betont ruhiger und friedfertiger als zuvor.

"Hat das denn noch Sinn?"

"Mh~ Mit ein paar kleineren Korrekturen ist er durchaus noch zu retten. Du bist schon auf dem richtigen Weg. Du musst nur verstehen, dass die asiatischen Elemente ein wenig anders ticken als die westlichen, und musst die Elemente darauf basierend neu ausbalancieren."

"Wäre er wirklich explodiert, wenn ich ihn so gelassen hätte?", wollte Urnue zweifelnd wissen.

"Quatsch. Mein Schutzschild vorhin war nur Spaß, um dich zu ärgern. So, wie der Bannkreis jetzt gerade ist, wäre einfach gar nichts passiert. Die überstarke Holz-Energie wird einfach alle anderen Elemente aufsaugen und es kommt zu keiner Reaktion."

"Du bist so fies!", hielt Urnue ihm beleidigt vor. "Dafür, dass du an einer Universität unterrichtest, sind deine Lehrmethoden schon sehr fragwürdig. Machst du dich über deine Studenten auch so lustig?"

Victor zuckte hinnehmend mit den Schultern. "Ich sage dir das gleiche, was ich auch meinen Studenten sage: Wenn du einen Zauber vergeigst, wirst du leider nur selten das Glück haben, dass einfach gar nichts passiert. Oft genug endet missglückte Magie in einer Katastrophe. Sei dir dessen immer bewusst, wenn du versuchst, dir was Neues anzueignen. Dass du sorgfältig vorgehst, und weißt was du tust, ist immens wichtig, U. - Gerade auf so hohem Niveau wie diesem hier können Fehler tödlich enden."

Urnue nickte einverstanden. "Gut. Also was hab ich falsch gemacht?", wollte er wissen, pflanzte sich euphorisch im Schneidersitz mitten auf den blanken Fußboden und schaute wissbegierig zu Victor hoch. "Bring es mir bei!"

Der Gestaltwandler setzte sich zu ihm. Er griff nach der Dose mit getrockneten Kräutern. Natürlich hätte er Urnue einfach die fertige Lösung verraten können, aber davon hätte er nichts gelernt. Sollte Urnue die Zusammenhänge wirklich verstehen, musste Victor weiter ausholen. "Wie ist es um dein Alchemie-Wissen bestellt? Hast du Ahnung davon?"

"Alchemie?", erwiderte Urnue verständnislos. "Diese Kunst ist mittelalterlich. Die praktiziert doch heute keiner mehr."

"Nein, aber sie bildet bis heute die Grundlage aller modernen Chemie, Medizin und auch Magie. Sie hat immer noch Gültigkeit. Alchemie ist die Lehre von den Eigenschaften der Dinge und ihrer Umwandlung in etwas Edleres - sei es nun die Umwandlung von unedlen Metallen in Gold oder die Umwandlung des irdisch verhafteten Geistes hin zur Erleuchtung. Eigenschaften und Umwandlung, Urnue. Genau das, was wir hier gerade mit dem Bannkreis versuchen. Er baut auf den Wechselwirkungen der Eigenschaften verschiedener Elemente auf. Die Alchemie ist die Quintessenz dafür."

Urnue rieb sich kurz deprimiert die Augen, als würde er eine sehr trockene, anstrengende und hochkomplizierte Unterrichtsstunde erwarten, doch dann kehrte sein Interesse übergangslos wieder zurück. Er nickte erneut. "Na schön, reden wir über Alchemie. Meine Kenntnisse aus dem Bereich der Alchemie beschränken sich im Wesentlichen auf die 'Tabula Smaragdina'."

Victor lachte erheitert. "Echt jetzt? Hast du die etwa verstanden?"

"Natürlich nicht. Aber im Prinzip lehrt sie ja, dass im großen Weltgefüge alles miteinander verbunden ist und sich alles gegenseitig beeinflusst. Wenn man eins verändert, verändert man alles. Sie lehrt, dass es für alles Entsprechungen gibt, und das Kleine sich im Großen widerspiegelt. Sie lehrt aber auch, dass es eine große, universelle Ordnung gibt, die immer bestehen bleibt, weil sich innerhalb ihres Rahmens alles gegenseitig ausbalanciert."

"Ja, so könnte man es zusammenfassen", bestätigte Victor. Dann schüttelte er leicht den Kopf. "Wer die 'Tabula Smaragdina' wirklich bis in ihre verstecktesten Botschaften zwischen den Zeilen und bis in ihre geheimsprachlichen Begriffe und Codes hinein verstanden hat, der hat das ganze Universum verstanden. Dem kann man nichts mehr beibringen. Aber so weit bringt es heute wohl niemand mehr, weil die 'Tabula Smaragdina' schon so oft hin und her übersetzt wurde, dass ihr ursprünglicher Wortlaut kaum noch zu rekonstruieren ist. Selbst wenn sie nicht so mystisch formuliert wäre, dass jeder Satz eigentlich einer detaillierten Auslegung und Kommentierung bedürfte."

"Hast du sie verstanden?"

"Gott bewahre, nein. Und ich hab leider wirklich viel Zeit mit ihr verschwendet. - Suchen wir uns also etwas Praktischeres: ..." Victor zückte seinen E-book-Reader, auf dem er inzwischen fast seine gesamte Bibliothek digitalisiert hatte. Der ließ sich auf Reisen und Ausflüge schließlich leichter mitnehmen als die Regale über Regale voller Bücher, die bei ihm rumstanden. Wenn er den Verdacht hatte, dass er seine Fachliteratur unterwegs brauchen könnte, dann nahm er den Reader mit. Und wenn er mit Urnue übte, war dieser Verdacht immer gegeben. "'The last Will and Testament of Basilius Valentinus'", kündigte er an.

Urnue verengte nachdenklich die Augen. "Hab ich zumindest schonmal irgendwo gehört ..."

"Du wirst dich freuen: ich hab nur die englische Version davon. Aber das war immer noch besser als die Deutsche. Auf Russisch hab ich das Werk leider nicht gefunden. Das 'testamentum ultimatum' und die 'Zwölff Schlüssel', die später bei der englischen Übersetzung zum 'Last Will and Testament' zusammengefasst wurden, enthalten unter anderem eine fast abschließende Sammlung aller alchimistischen Symbole und ihrer Beziehungen zueinander. Genau die brauchen wir, wenn wir was darüber lernen wollen, wie sich die Elemente in deinem Bannkreis gegenseitig beeinflussen." Victor suchte nach der entsprechenden Datei, um sie Urnue zeigen zu können, und sie begannen über Magie-Theorie zu philosophieren, als hätte es den Anruf von diesem mysteriösen John nie gegeben. Als wäre Vladislav nicht aus dem Gefängnis entwischt. Als wäre die Welt immer noch in Ordnung. Aber dennoch blieb in Victors Hinterkopf dieser hässliche Gedanke hängen, dass sie das nicht mehr war. Jetzt nicht mehr.

Der verbotene See

"Wie willst du Vladislav finden?"

"Muss ich gar nicht. Ich muss nur dafür sorgen, dass er mich findet. Möglichst in einer Umgebung, die es ihm nicht erlaubt, einfach die Pistole zu ziehen und mich abzuknallen. Wobei ich aber auch gar nicht glaube, dass er das tun würde. So schnell und schmerzlos wird er mir den Tod nicht machen wollen."

"Warte mal ... Versteh ich das richtig? Du willst ihn nicht einfach bloß aus einem Hinterhalt heraus abschießen, sondern willst dich von ihm fangen lassen?"

"Ja!", machte Victor voller Überzeugung, als wäre das ein ganz ausgezeichneter und wasserdichter Plan, bei dem absolut nichts schiefgehen konnte.

"Siehst du noch klare Bilder!?", begehrte Urnue fassungslos auf.

"Ich kann ihn nicht einfach mit einem Scharfschützengewehr aus der Ferne abknipsen. Ich muss nochmal mit ihm reden. Zwischen uns ist viel zu viel ungesagt geblieben. Wir haben beide ein Recht darauf, das noch zu klären."

"Warum hast du ihn nicht im Gefängnis besucht, als du noch die Chance dazu hattest!?"

Victor gab sich belustigt. "Glaubst du wirklich, wenn ich ein Gefängnis betreten hätte, dass sie mich jemals wieder rausgelassen hätten?"

"Du hättest Seiji Kami als Begleitung mitnehmen können! Der hätte schon dafür gesorgt, dass du da drin nicht gleich festgesetzt wirst!"

"Die FABELS werden sich hüten, mich so offensichtlich zu schützen."

"Hast du sie denn jemals gefragt?", wollte Urnue uneinsichtig wissen.

Victor schenkte ihm ein zugetanes Lächeln. "Ach, U. ... Du bist so rechtschaffen und unverdorben. Du versuchst immer alles im Guten und auf legalem Wege zu klären. Genau darum mag ich dich so. Ich bin wirklich froh, dass du bei mir bist."

Der Wiesel-Genius verschränkte die Arme und wusste plötzlich nicht mehr, was er sagen sollte. Er konnte sich nicht ganz entscheiden, ob er beleidigt oder geschmeichelt sein sollte. Er wusste um die Psychologie, konnte sich ihrer deshalb aber trotzdem nicht erwehren: Es war schwer, sich zu beschweren, wenn man gerade gelobt wurde. "Sehr rührend. Es wäre aber ganz cool, wenn du auch ab und zu mal auf mich hören würdest", gab er daher lediglich zu Protokoll. Er beobachtete Victor eine Weile schweigend beim Durchwühlen einer Truhe und Herauskramen verschiedener Sachen. "Was zur Hölle tust du da eigentlich?"

"Es wird Zeit, auf den Grund des verbotenen Sees zu tauchen."

"Klingt irgendwie als wäre das ... verboten!?", meinte Urnue skeptisch.

"Sehr gut kombiniert. Darum heißt er 'verbotener See'."

"Du hast mir immer untersagt, da drin zu tauchen."

"Stimmt nicht. Ich sagte: WENN du tauchst, dann hol nichts vom Grund des Sees mit hoch. Alles was darin versenkt wurde, liegt nicht grundlos da unten."

"Oder das!", gab Urnue zu, als er sich erinnerte.

Victor schmunzelte ihn verschwörerisch an. "Bist du denn jemals drin getaucht?"

Der Wiesel-Genius schüttelte den Kopf. "So oder so hatte ich den Eindruck, als hätte ich dort unten nichts verloren."

"Schade. Dann solltest du mitkommen, sonst verpasst du echt was. ... Keine Angst, es ist nicht gefährlich. Nur sehr imposant anzusehen", versicherte er auf Urnues zweifelnden Gesichtsausdruck hin und hielt ihm ein Mundstück hin.

Erst da wurde Urnue klar, dass der unförmige, verbeulte Blech-Kanister tatsächlich eine Sauerstoff-Flasche darstellen sollte.

Der schwarzhaarige Russe klappte an dem Sauerstoffgefäß eine Abdeckung herunter und musterte die unerwartet modernen Anzeigen, die darunter zum Vorschein kamen, und das Ding gleich um einiges vertrauenerweckender machten. "Hm, der ist schon ganz schön leer." Er schaute wieder Urnue fragend an. "Also? Wie steht´s? Kommst du mit? Dann sollte ich ihn vorher lieber nochmal auffüllen. Ich will da kein Risiko eingehen, auch wenn die Luft vermutlich trotzdem für uns beide reichen sollte."

"Ach, was soll´s. Wenn du schon so fragst, komm ich mit, ja."

Victor hielt ihm mit einem zustimmenden Lächeln eine Taucherbrille hin.

"Brauch ich nicht. Ohne komm ich besser klar."

"Trag sie lieber. Im See gibt es kalkhaltige Zonen. Ist nicht gut für die Augen."

"Das sagst du mir jetzt? Was, wenn ich schon früher drin getaucht wäre?"

"Dann hättest du das selber gemerkt und hättest die Kalksenken freiwillig gemieden", tat Victor mit einem Schulterzucken ab. "Aber diesmal müssen wir da leider rein."
 

Eine halbe Stunde später standen sie beide in der großen Höhle, tief im Bauch des Berges Predanje. Das gigantische Gewölbe mit dem stillen See schien das Zentrum des weit verzweigten, komplexen Höhlen- und Tunnelsystems zu sein, in dem Victor sich eingenistet hatte. Vieles davon war natürlichen Ursprungs, manches hatte Victor selbst ausgebaut und bewohnbar gemacht. Victor behauptete immer, dass vor ihm andere hier gewohnt haben mussten. Er konnte nicht sagen, wer sie waren, oder wohin sie verschwunden waren, aber er meinte, es müsse lange her gewesen sein. Urnue hatte bisher nichts entdeckt, was diese Behauptung stützte. Es gab hier keine Höhlenmalereien oder andere Beweise für die Existenz von früheren Bewohnern. Alle Stellen an den Gesteinswänden, die wie von Menschen- oder Magierhand bearbeitet aussahen, gingen auf Victors Konto, soweit Urnue das nachprüfen konnte.

Urnue trat an den Wasserrand - als Ufer konnte man das ja schwerlich bezeichnen - und schaute in den See. Das Wasser war glasklar. Man erkannte, dass der felsige Boden noch zwei, drei Meter weit flach ins Wasser hinein verlief und dann unvermittelt steil abfiel. Dennoch hatte Urnue nicht den Eindruck, dass dieser See sehr tief sein konnte. Wie tief sollte eine mit Wasser vollgelaufene Felsspalte schon seit? Der See maß ja im Durchmesser keine 20 Meter. Er musterte Victor neben sich. "Du bist ganz schön dünn angezogen. Ist so ein unterirdischer Bergsee nicht eiskalt?", kam er nicht umhin zu bemerken.

Victor trug nur ein kurzärmliges T-Shirt, das ihm zum Tauchen nicht zu schade war. Dass er seinen Ledermantel nicht mit runter in einen Kalksee nahm, war verständlich. "Nein, der See ist erstaunlich warm. Ich kann dir nicht sagen, warum. Vulkanische Aktivitäten vielleicht", meinte er abgelenkt, während er gerade sorgfältig und akkurat die zwei Atemschläuche am Luftkanister befestigte. Keiner von ihnen beiden brachte es über sich, diese Box wirklich als Sauerstoff-Flasche zu bezeichnen, also nannten sie es eben einen Kanister. Da sie nur den einen Kanister hatten, würden sie sich unter Wasser nicht trennen können, sondern mussten immer so dicht zusammen bleiben, wie die Reichweite der Schläuche es eben hergab. Aber das störte sie beide nicht. Victor war es ohnehin lieber, wenn Urnue in der Nähe blieb, und Urnue selbst sah das sehr ähnlich. Als Victor fertig war, schaute er seinen Begleiter nochmal rückversichernd an. "Gut, wenn noch irgendwelche Fragen sind, dann jetzt raus damit. Unter Wasser können wir nicht mehr reden."

Urnue ging in Gedanken nochmal schnell die paar Handzeichen durch, auf die er sich mit Victor geeinigt hatte, um sicher zu sein, dass er keins wieder vergessen hatte. "Haben wir eigentlich auch ein Handzeichen für <wir müssen sofort wieder auftauchen>?"

"Meinst du, das werden wir brauchen?", gab Victor amüsiert zurück. "Da unten gibt es keine Monster, die eine sofortige Flucht erforderlich machen würden."

"Was weiß ich. Vielleicht entwickelt einer von uns da unten eine Klaustrophobie und kriegt unerwartet einen Panikanfall. Man weiß nie."

"Nagut, nehmen wir das hier ...", schlug Victor vor und zeigte mit dem Daumen nach oben. Es war der logische Gegenpart zum Daumen nach unten, der für 'tiefer tauchen' stand, und ließ wohl keine Verwechslungen mit dem OK-Zeichen erwarten, das aus ringförmig zusammengeführtem Daumen und Zeigefinger bestand.

Damit gab der Wiesel-Genius sich zufrieden, stopfte sich das Mundstück des Atemgeräts zwischen die Zähne und drückte sich die daran angekoppelte Nasenklammer fest, die offenbar verhindern sollte, dass man unter Wasser versehentlich durch die Nase zu atmen versuchte. Urnue nahm ein paar Atemzüge aus dem Gerät, um zu testen wie es ihm bekommen würde. Die Luft wurde ihm förmlich entgegengedrückt, aber das konnte unter Wasser nur nützlich sein, wenn der Wasserdruck auf dem Brustkorb lastete und das eigenverantwortliche Luftholen erschwerte. Schließlich gab er Victor mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass es losgehen konnte. Sie schnappten sich beide je einen Griff des Luftkanisters und wateten ins Wasser.
 

Die ersten Momente war Urnue noch damit beschäftigt, skeptisch auf seine Taucherbrille zu achten. Er rechnete immer noch damit, dass Wasser reinlaufen würde und er alles in die Augen bekam. Aber nichts dergleichen geschah. Das Ding saß echt wie Bombe und hielt dicht. Also nahm er irgendwann zufrieden seine Umgebung in Augenschein. Er hatte sich einfach am Luftkanister festgehalten und sich von Victor mitziehen lassen, so dass sie bereits drei, vier Meter tief getaucht waren. Es wurde zunehmend dunkel. Von der lediglich mit Fackeln erleuchteten Höhle oben drang nur wenig Licht herunter. Urnue fragte sich gerade, ob nicht eine Taschenlampe sinnvoll gewesen wäre. Oder wollte Victor mit Magie für Licht sorgen? Konnte man unter Wasser Magie wirken? Interessiert hob Urnue eine Hand und versuchte einen simplen Bannmagie-Schutzschild vor sich zu erzeugen. Er verpuffte zwar sofort schwach und wirkungslos, aber grundsätzlich hatte es funktioniert. Victor schaute ihn mit amüsierten Augen an und wartete geduldig auf ihn. Also versuchte Urnue gleich nochmal einen weiteren, in den er mehr Kraft hineinlegte. Dieser hielt immerhin ein paar Sekunden, bevor auch er wieder zerfiel wie ein Schneeball. Das Wasser schien die Magie buchstäblich zu verdünnen.

Victor griff in seine Hosentasche, holten einen Edelstein heraus, den er offenbar rein zufällig noch mit sich herumschleppte, zeigte ihn Urnue und schloss ihn dann fest in die Faust. Als er die Faust mit dem Edelstein nach vorn streckte, entstand davor ein magischer Schutzschild, der sehr viel länger und stabiler war.

Die Botschaft war für Urnue klar. Unter Wasser war es mit Hilfsmitteln leichter, Magie zu wirken. Er nickte verstehend. Als Victor ihm daraufhin einladend den Edelstein hinhielt, versuchte er sein Glück aber trotzdem nochmal selber, um sicher zu gehen - mit Erfolg.

Auch wenn Victor mit dem Mundstück nicht wirklich lächeln konnte, erreichte das Lächeln doch wenigstens seine Augen, bevor er sich geruhsam umwandte und weiterschwamm, ohne seinen Stein zurückzufordern.
 

Auch hier unter Wasser schien es weitere, verzweigte Höhlensysteme zu geben, kaum zehn Meter unter der Oberfläche des Sees. Vor ihnen erstreckten sich zwei Schächte, die so geräumig wie U-Bahn-Röhren waren. Der rechte verschwand in der Dunkelheit. Der linke hingegen schien nach wenigen Metern schon wieder in eine größere Höhle zu münden. Auf diese hielt Victor auch direkt zielstrebig zu.

Ehe Urnue sich fragen konnte, wieso er hier unten überhaupt noch irgendwas erkennen konnte, hatte der Russe ihn bereits in diese Unterwasser-Welt hinaus gezogen. Hier herrschte ein blaues Licht, dessen Ursprung Urnue auf den ersten Blick nicht ergründen konnte. Mangels besserer Ideen tippte er auf Biolumineszenz. Leuchtendes Plankton vielleicht, das kannte man ja aus dem Ozean auch. Und das Wasser war glasklar, so dass man bis in die entlegensten Winkel sehen konnte. Von der gewaltigen, kuppelartigen Höhlendecke hingen meterlange Stalaktiten herab, und aus dem Boden wuchsen ihnen ebenso lange Stalagmiten entgegen. Ein paar wenige waren sogar schon zusammengewachsen und wirkten wie Stützsäulen in einer großen Halle. An mehreren Stellen wucherten lange, saftig grüne Algen, gleich Feldern, die sich sanft im Wasser wiegten. An den Wänden hatten sich Korallen festgesetzt und konkurrierten in ihrer Farbenpracht um die Wette. Eine Qualle paddelte mit ihren typischen Hauruck-Bewegungen flugs an Urnue vorbei. Schnell entdeckte Urnue hier unten noch mehr Leben. Ein neugieriges, buntes Fischlein hier, ein aufgeschreckter, sich davonschlängelnder Aal da. Muscheln auf dem Grund, kleine Krebse zwischen den Felsspalten. Aber das bei weitem Abgefahrenste in dieser riesigen, überfluteten Tropfsteinhöhle, war das aus groben, grauen Natursteinen gemauerte Haus mittendrin. Es wäre wahrlich übertrieben gewesen, es als Kirche zu bezeichnen, aber der kleine Turm darauf erinnerte unwillkürlich daran. Diese Höhle konnte noch nicht immer unter Wasser gewesen sein. Sie musste irgendwann mal trocken und von außen gut zugänglich gewesen sein. Wahrscheinlich hatte ein Wassereinbruch sie erst später geflutet. Jetzt verstand Urnue plötzlich auch Victors Behauptung, dass hier früher mal jemand anders gelebt haben musste.
 

Urnue packte seinen Griff des Luftkanisters fester und zog auffordernd in Richtung des Hauses. Das musste er unbedingt sehen. Victor gab dem Drängen auch protestlos nach und schloss sich ihm an. Auf dem Weg zum Haus sahen sie verschiedenste Alltagsgegenstände aus den unterschiedlichsten Zeitepochen und den unterschiedlichsten Kulturkreisen herumliegen. Sie waren wahllos über den Höhlenboden verstreut, als wären sie achtlos weggeworfen worden. Ein Wikinger-Trinkpokal lag neben einem Samurai-Schwert, und eine kleine, ägyptische Statue unweit von einer verrosteten Indianer-Halskette. Irgendwo dazwischen ein Christen-Kreuz zum Aufstellen auf einem Altar, nebst einem herausgerissenen Autoradio und einer vermoderten Kinderpuppe. Hin und wieder Goldmünzen und wertvoll aussehende Steine. Urnue hätte gern das ein oder andere davon aufgehoben, um es sich näher anzusehen, erinnerte sich aber an Victors Warnung, dass nichts, was hier unten lag, grundlos im See versenkt wurde.

Als sie am Haus angekommen waren, gab Victor Urnue den Luftkanister gänzlich in die Hand und stemmte sich gegen die Tür, um sie mit viel Kraft und Mühe aufzuwuchten. Er war sicher, dass Urnue ohnehin in das Haus hinein wollte, und war kein Spielverderber. Er verstand Urnues Neugier. Es war ihm selbst nicht anders gegangen, als er das erste Mal hier runtergetaucht war. Wann kam man schließlich schonmal in überflutete Häuser?

Die massiven Steinmauern des Hauses hatten dem Wasser leider besser getrotzt als die zumeist hölzerne Inneneinrichtung. Im Erdgeschoss gab es nur einen einzigen Raum, den man direkt durch die Haustür betrat. Ein Flur oder Nebenzimmer existierten nicht. Man erahnte noch einen Tisch und Stühle, ein paar spartanische Schränke, aber das meiste war schon längst vermodert, grau und unter dem Eigengewicht in sich zusammengebrochen. Herumliegende Tonstücke stellten wohl die Reste von primitivem Geschirr dar. Falls es mal ein Nachtlager gegeben hatte, konnte es bestenfalls ein Strohsack gewesen sein, den die Zeit inzwischen gänzlich beseitigt hatte. In der Mitte des Raumes gab es eine noch gut erkennbare, kreisrunde Feuerstelle. An den Wänden hingen hier und da ein paar Fetzen, denen man überhaupt nicht mehr ansah, was sie mal gewesen sein mochten. Vielleicht Pelze als Wand-Deko, ähnlich wie Jagdtrophäen. Victor kannte das alles schon, ließ Urnue aber alle Zeit der Welt, sich umzusehen.

Nach einer Weile lockte er Urnue mit einem Kopfnicken zur Treppe hinüber. Sie war nicht mehr als eine hölzerne Hühnerstiege gewesen und zum größten Teil eingestürzt, was einen schwimmfähigen Besucher aber natürlich nicht aufhielt. Sie führte in das Turmzimmer hinauf.

Urnue war auch dafür sofort Feuer und Flamme und begleitete ihn nach oben. Der Turm stellte sich als Bücherzimmer heraus. Da die Bücherregale mit Metallstreben verstärkt zu sein schienen, standen sie sogar allesamt noch. Trotzdem war Urnue erstaunt, dass die noch nicht längst unter der Last der Bücher zusammengebrochen waren, denn auch Metall hielt dem Zersetzungsprozess des Wassers ja nicht ewig Stand. Andererseits war Urnue auch durchaus erstaunt, hier überhaupt Bücher zu finden. Die Steinhütte wirkte nicht, als stamme sie aus einer Zeitepoche, in der Buchbindung schon erfunden war. Neugierig griff er nach einem der Bücher, bekam aber nur eine schlammige, modrige Handvoll Pampe zu fassen, die in seiner Hand sofort zerfiel. Der größere Teil des Buches blieb im Regal zurück und trieb dort in hunderttausend Fetzen auseinander. Es war bereits komplett zersetzt und verwest. Wahrscheinlich hielt nur die Schwerelosigkeit unter Wasser diese Überreste noch irgendwie in Form.

Victor hob lediglich bedauernd die Schultern. Etwas dazu sagen konnte er mit dem Sauerstoff-Mundstück ja nicht. Aber er hatte früher bereits die gleiche, traurige Erfahrung machen müssen. Er hätte Urnue vorwarnen können.
 

Als Urnue seinem Forscherdrang vorerst genug gefrönt hatte, verließen sie die Steinhütte. Victor zog die marode, aber störrische Tür sorgsam von außen wieder zu und schwamm dann mit Urnue noch tiefer in die Höhle hinein. Das ursprungslose, blaue Leuchten, das hier unten für dämmrige Sicht sorgte, nahm weiter hinten etwas ab.

Das Gelände wurde schnell abschüssig und es kam eine Art See unter dem See in Sicht. Anders konnte man es nicht bezeichnen. Vor ihnen erstreckte sich ein klar abgegrenztes Becken, in dem das Wasser nicht mehr so glasklar war wie im Rest der Höhle, sondern geradezu trüb. Das musste eine der Kalksenken sein, von denen Victor gesprochen hatte. Das Wasser, das so kalkhaltig war, dass man besser nicht ohne Taucherbrille hineintauchte. Aber Urnue hatte keine Vorstellung davon gehabt, WIE kalkig die Brühe tatsächlich war. Er verspürte absolut keine Lust, sich da überhaupt rein zu begeben, Taucherbrille hin oder her. Da drin sah man sicher keine zwei Meter weit. Trotzdem hielt Victor entschlossen darauf zu, den Luftkanister samt Urnue konsequent hinter sich herziehend. Widerstrebend versuchte Urnue sich dagegen zu stemmen.

Mit fragendem Blick hielt der Gestaltwandler an, als er den Gegenzug bemerkte, und schaute herum, um zu erfahren, was los war.

Urnue zeigte auf das Becken, in dem sich das Kalkwasser abgesetzt hatte, und deutete fragend mit dem Daumen nach unten. [Da runter?]

Victor nickte und senkte ebenfalls den Daumen nach unten. [Ja, da runter.]

Urnue ließ den Luftkanister los und verschränkte mit einem vehementen Kopfschütteln die Arme vor der Brust. Im Leben würde er dort nicht mit runtertauchen.

Victor legte tadelnd den Kopf schief. Es war diese typische 'Mein-Gott-jetzt-sei-doch-nicht-so-ein-Mädchen"-Geste, die mehr als hundert Worte sagte.

Urnue fuchtelte fordernd mit dem Daumen nach oben, so wie sie es verabredet hatten. Er wollte gefälligst aus dieser Untersee-Höhle raus, und zwar ein bisschen plötzlich.

Aber der Russe senkte abermals humorlos den Daumen. [Runter.]

Urnue ließ geschlagen die Schultern hängen. Na schön. Victor schien ja schon da drin gewesen zu sein, und hatte es offensichtlich überlebt. Wie schlimm konnte es also sein? Mit einem innerlichen Seufzen langte er wieder nach seinem Griff am Lufttank.

Victor schwamm näher an den Kalkwasserspiegel heran, tauchte seinen ganzen Arm hinein und zog ihn - natürlich unversehrt - wieder heraus, um ihn Urnue zu zeigen. Absolut ungefährlich.

Der nickte nur hinnehmend und fügte sich.

Victor ließ den Luftkanister kurz los, um beide Arme um seinen Oberkörper schlingen zu können, als würde er frösteln. Damit wollte er Urnue vorwarnen, dass das Kalkwasser spürbar kälter sein würde als das Wasser im Rest der Tropfsteinhöhle.

Auch das quittierte Urnue mit einem lustlosen Nicken.

Also griff Victor sich ihren gemeinsamen Luftbehälter wieder und setzte sich langsam in Bewegung. Kampflos, immer nur so weit wie Urnue freiwillig mitkam, aber dennoch zielgerichtet. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Urnue Vertrauen zu der kalten, trüben Suppe gefasst hatte, aber dann folgte er Victor ohne weitere Proteste hinab. Victor blieb auch gar nicht länger als nötig. Er musste nur kurz auf dem Grund der Kalksenke herumsuchen, bis er das gelb glimmende Buch entdeckte, wegen dem er hier war, schnappte es sich und schwamm damit wieder ins klare Wasser hinauf.
 

Urnue fuhr sich zunächst durch die Haare, das Gesicht und über jedes andere Stück freiliegender Haut, als müsse er den Kalk schnellstmöglich abwaschen. Erst dann schaute er nach, was Victor da eigentlich hatte. Doch etwas erstaunt stellte er fest, dass sein Gegenüber ein Buch aufgeschlagen hatte, das offensichtlich dem Wasser trotzte. Der gelbe Schein, der das völlig unversehrte Buch umgab, war scheinbar ein Schutzzauber, der es vor der Zerstörung bewahrte. Victor hatte sich direkt darin vertieft und schmökerte ungestört in den Seiten herum.

Urnue winkte vor Victors Nase herum, um seine Aufmerksamkeit zurückzuerlangen.

Der Russe sah auch gehorsam sofort hoch.

Urnue präsentierte fragend beide Hände. [Was ist denn nun?]

Victor antwortete mit einem erhobenen Zeigefinger [Eine Sekunde.] und las entspannt weiter. Dabei musste er mit der Nase ungewohnt nah an die Seiten herangehen, um genug zu erkennen. Nach einer Weile klappte er es irgendwann wieder zu und hielt es Urnue einladend hin. Als der mit einem Kopfschütteln kein Interesse signalisierte, warf Victor das Buch in hohem Bogen in die Kalksenke zurück - was unter Wasser eines hübschen Zeitlupeneffekts nicht ganz entbehrte.

Urnue schaute fassungslos dem Buch hinterher, bis in der trüben Brühe erst seine Umrisse und schließlich auch sein gelbes Glimmen verschwanden. Hatte Victor es gerade wirklich weggeworfen, nachdem er zuvor so viel Mühe auf sich genommen hatte, es zu holen?

Victor gestikulierte unterdessen fröhlich mit dem Daumen hinauf, dass sie nun wieder auftauchen konnten. Er schien zu haben, was er wollte. Ohne auf Reaktionen zu warten, schnappte er seinen Henkel des Luftkanisters und setzte sich in Bewegung.

Urnue folgte ihm eher gezwungenermaßen, weil er halt mit seinem Luftschlauch ebenfalls an dem Atemgerät festhing, mit dem Victor gerade das Weite suchte.

Victor schwamm ohne Eile, aber auch ohne unnötiges Getrödel, aus der Tropfsteinhöhle hinaus, durch den unterseeischen Verbindungsgang und Richtung Wasseroberfläche hinauf. Auf halbem Weg hinauf zwang er Urnue nochmal einen Stopp auf, den dieser nur sehr widerwillig duldete, da er den Grund nicht verstand. Urnue wollte endlich aus dem Wasser. Erst nach 5 Minuten ließ der Gestaltwandler ihn weiter.

Die verschiedensten Flüche

Victor kämpfte sich mit seiner schweren, wassergetränkten Kleidung etwas schwerfällig aus dem verbotenen See heraus und befand sich wieder im Höhlensystem seines Berges Predanje. Wieder auf dem Trockenen. Quietschfidel spuckte er sein Mundstück aus, sprang auf und marschierte, eine triefend nasse Spur hinter sich herziehend, zu den bereitgelegten Handtüchern und trockenen Klamotten hinüber. Mit einer Hand wrang er dabei schon notdürftig seine langen Haare aus.

Urnue robbte auf allen Vieren hinter ihm her, brach jedoch am Ufer des Sees zusammen und blieb stöhnend liegen. Mit geschlossenen Augen. Abgesehen vom kraftlosen aus-dem-Mund-ziehen seines Atemgerätes rührte er sich vorerst nicht mehr.

"Und? Wie fandest du es dort unten? Beeindruckend, nicht?", meinte Victor, jetzt wo er wieder reden konnte.

Ein leises Stöhnen war die einzige Antwort.

"Schaltest du mal das Luftgerät ab? Der große, rote Schalter da an der Seite."

Diesmal kam gar keine Antwort mehr.

Victor rubbelte sich mit einem Handtuch durch die Haare und drehte sich dabei fragend zu ihm um. Skeptisch beobachtete er seinen Kameraden ein paar Augenblicke lang, ob der nur theatralisch schauspielerte oder ob das ernst war. Er lag noch mit den Beinen im Wasser. Musste er sich erst wieder an Schwerkraft gewöhnen? "U.? Bist du okay?"

"Nein ...", hauchte der schwach und etwas wehleidig.

Besorgt aber beherrscht kam Victor wieder zu ihm herüber, und drehte ihn auf den Rücken, um ihn besser begutachten zu können. "Was hast du?"

"Ich bin plötzlich so entsetzlich müde ...", murmelte Urnue leise. Dann begann er sich schwach erst am Hals und dann auf der Brust zu kratzen.

Victor erkannte die Symptome sofort. "Taucherflöhe", meinte er erschrocken.

"Was, Flöhe?", gab Urnue angeekelt zurück und kratzte sich als nächstes beide Arme.

"Nein, keine Flöhe. Die Symptome werden wegen des markanten Juckreizes nur so genannt. Du hast dir eine Dekompressionskrankheit eingefangen. Die bekommt man, wenn man zu schnell wieder auftaucht, ohne auf den Druckausgleich zu achten. Aber das hätte bei so einer geringen Tiefe wie im See eigentlich nicht passieren dürfen." Er zog rigoros das Atemgerät zu sich heran, klappte die Abdeckung herunter und begann fachkundig an den Einstellungen herumzuändern. "Wahrscheinlich warst du einfach zu lange unten und warst dem Wasserdruck zu lange ausgesetzt. Durch den steigenden Druck unter Wasser wird Stickstoff ins Blut und Gewebe gedrückt. Wenn der Umgebungsdruck beim Auftauchen wieder sinkt, wird der Stickstoff normalerweise ohne Probleme wieder zur Lunge geleitet und ausgeatmet. Wenn man schneller auftaucht als der Körper den Stickstoff wieder loswerden kann, bildet er im Blut kleine Luftbläschen. Wie bei so ner Flasche mit Kohlensäure, die man öffnet. Die können je nach Körperregion die kleinen Blutgefäße verstopfen und echt hässliche Folgen haben." Victor hielt Urnue das Mundstück wieder hin. "Hier, ich hab auf 100% Sauerstoff gedreht. Das beschleunigt das Abatmen des Stickstoffs. Nimm das mindestens eine halbe Stunde, oder besser noch etwas länger, dann wird es wieder gehen."

Urnue, der inzwischen damit beschäftigt war, sich müde und kraftlos die Schienbeine zu kratzen, nahm das Sauerstoffgerät nickend an und schob es sich wieder in den Mund.

Aufmerksam beobachtete Victor ihn weiter, ob noch mehr Symptome hinzukamen. Er hoffte und glaubte es nicht. Es wunderte ihn sowieso, dass Urnue bei der verhältnismäßig geringen Tiefe im See überhaupt welche ausgebrütet hatte. Aber er wollte trotzdem sichergehen. "Hast du irgendwo Schmerzen? Oder andere neurologische Auffälligkeiten. Oder Probleme beim Atmen?"

Der deutete ein Kopfschütteln an.

"Gut. ... Komm, wir holen dich erstmal ganz aus dem Wasser raus und ziehen dir was Trockenes an. Kälte ist in diesem Zustand gar nicht gut. Wir müssen dich warm kriegen." Während er Urnue unter den Schultern schnappte und ganz an Land zog, grübelte er fieberhaft, was er übersehen hatte. Bis hinunter zum tiefsten Punkt der Kalksenke waren es 20, bestenfalls 25 Meter. Er wusste, dass Menschen beim Auftauchen aus solchen Tiefen Stopps einlegten, um die Dekompressionskrankheit zu vermeiden. Er selbst hatte noch nie Probleme gehabt und verzichtete oft ganz auf die lästigen, zeitraubenden Zwischenstopps. Vielleicht war er als Wesen der Lüfte einfach unempfindlich gegen Gasbildungen im Körper. Für Urnue hatte er vorhin extra den für Menschen vorgeschriebenen Zwischenstopp auf 9 Metern eingehalten. Sogar länger als nötig. Aber es schien trotzdem nicht gereicht zu haben. Er hätte nicht gedacht, dass Urnues menschliche Gestalt sogar anfälliger sein würde als die gewöhnlicher Menschen. Dennoch waren Müdigkeit und Juckreiz nur sehr harmlose Symptome, die mit Sauerstoffgabe wieder behoben werden konnten. Die waren unangenehm, hinterließen aber keine Schäden.
 

"Urnue, du hängst seit 2 Stunden am Sauerstoff. Langsam ist mal gut, meinst du nicht?", fand Victor amüsiert, als er wieder in die kleine Nebenhöhle kam, die sein Kamerad sich als sein privates Zimmer hergerichtet hatte. Er hatte in den zwei Stunden in häufigen, regelmäßigen Abständen nach Urnue gesehen, aber mit zunehmender Sicherheit verließ ihn nun langsam die Lust dazu. Urnue lag auf dem Bett, spielte theatralisch 'toter Mann' und weigerte sich, das Sauerstoffgerät wieder herzugeben. Victor hätte ihm vielleicht nicht erzählen sollen, was alles hätte passieren können, wenn im Blutkreislauf kleine Luftbläschen für Embolien sorgten.

Urnue schlug sofort putzmunter die Augen auf und sah ihn etwas beleidigt an. Er nahm das Mundstück aus dem Mund. "Ich will lieber kein Risiko eingehen", stellte er vehement klar, dann schob er es sich wieder zwischen die Zähne.

"Schon okay", meinte Victor und warf beim Näherkommen einen halbherzigen Blick auf die Anzeige, ob überhaupt noch Sauerstoff in dem Ding drin war. "Wie geht´s dir denn inzwischen? Hast du noch irgendwelche Symptome ausgebrütet?"

Mit einem gedämpften, verneinenden 'mh' schüttelte Urnue den Kopf.

"Was macht der Juckreiz? Ist der inzwischen wieder abgeklungen?"

Diesmal nickte der Wiesel-Genius.

Victor hielt einladend die zwei Teller hoch, die er mitgebracht hatte. "Ich hatte noch ein letztes Stück Schoko-Kuchen im Lager. Wollen wir uns das teilen?"

Urnue nahm das Atemgerät abermals aus dem Mund, ließ es in seinen Schoß fallen und setzte sich auf. Dabei hielt er fordernd beide Hände auf. "Nein, das Stück Kuchen schaff ich alleine. Gib her", entschied er ernst.

Der Russe feixte nur. "Wie du meinst. Ich freu mich, wenn es dir wieder so gut geht, dass du vernünftig essen kannst."

Da lachte der Wiesel-Tiergeist endlich los und outete seine Forderung als Scherz. "Tut mir leid", kicherte er fröhlich. "Ich genieße es einfach nur so, dass ich bei dir nach Herzenslust solche Sprüche klopfen kann. Bei Ruppert hätte ich das nicht gedurft, das hätte richtig Ärger gegeben."

"Bedauerlicherweise", stimmte Victor ihm zu, gab ihm einen der Teller und setzte sich mit dem anderen auf den am Bett stehenden Stuhl.

Urnue beugte sich vor, um das weiterlaufende Sauerstoffgerät abzuschalten - wenigstens für den Moment, solange er mit Essen beschäftigt war und es nicht brauchte. "Also ... Was glaubst du, wer dort unten mal gelebt hat, auf dem Grund des verbotenen Sees?", begann er nebenher endlich ein vernünftiges Gespräch, nachdem er die letzten zwei Stunden eifersüchtig das Mundstück in seiner Klappe behalten hatte, statt zu reden.

"Ich weiß es nicht. Aber er scheint rechtzeitig fortgegangen zu sein, bevor die Höhle geflutet wurde. Ich habe nie Gebeine gefunden."

"Glaubst du, es war ein großer, mächtiger Magier, der sich in diese entlegene Höhle zurückgezogen hat, um seine Ruhe zu haben und zu studieren? Ich hätte mir die Bücherrücken genauer ansehen sollen ... Vielleicht gibt es ja sogar Zauber, mit denen man solche aufgeweichten Bücher noch konservieren und retten kann!"

Victor schüttelte langsam und sentimental den Kopf, woran man merkte, dass er es insgeheim ebenfalls sehr schade um die Bücher fand. "Selbst wenn. Wenn die Bücher so alt sind wie die Hütte, wird sie ohnehin keiner mehr lesen können. Bei Alt-Russisch und Glagolitisch bin ich noch an Bord. Aber alles, was noch älter ist, kann selbst ich nicht mehr übersetzen. Und wenn die Schriften auch noch aus einem anderen Kulturkreis stammen, dann sowieso nicht."

"Hast du sie dir denn mal genauer angesehen? Zumindest die Buchrücken? Was man halt so erkennen kann, wenn sie im Regal stehen?" Urnue schaufelte sich mit der Gabel hungrig etwas Kuchen in den Mund.

"Ja. Aber man kann die Buchrücken nicht mehr lesen. Ist alles zu verwittert. Ich konnte nicht sagen, was für Bücher das sind. Nichtmal in welcher Sprache."

"Und was war mit dem gelb leuchtenden Teil, das du nach einem kurzen Blick wieder in die Kalkpfanne zurückgeschmissen hast? Das sah noch sehr intakt aus."

Victor nickte lächelnd und piekste ebenfalls endlich ein Stück Kuchen auf seine Gabel. "Dieses Buch ist gefährlich, Urnue. Solltest du jemals wieder in den See tauchen, dann versprich mir, nicht nochmal danach zu suchen."

Der Wiesel-Genius nickte einverstanden, obwohl er nicht den Eindruck erweckte, überhaupt so schnell wieder Lust auf Tauchgänge zu verspüren.

"Es ist mit einer starken und sehr langlebigen Quarantäne-Magie umgeben. Weder Feuer, noch Flüssigkeiten, noch scharfe Werkzeuge, noch Magie, noch sonst irgendwas erreichen es. Man kann es nicht zerstören. Das hat den Nebeneffekt, dass man es im See versenken kann, ohne dass es Schaden nimmt."

"... und man es unter Wasser lesen kann."

"Genau."

"Warum holst du es nicht hoch, wenn du es lesen willst? Tauchst du jedes Mal da runter, wenn du was drin nachschlagen musst?"

"Dieses Buch darf man nicht zu lange in seiner Nähe haben. Es neigt dazu, seine Besitzer in den Wahnsinn zu treiben. Ich tippe darauf, dass eine Art Verwünschung auf dem Buch liegt. Aber dann müsste es eine so antiquierte Art von Magie sein, dass wir sie heute nicht mehr kennen. So wie alle Wissenschaften ist auch die Magie ständig im Wandel und hat sich über die Jahrhunderte immer weiterentwickelt."

"Warum fertigen wir keine Abschrift davon an, wenn wir das Original nicht hier behalten können? Das Ding schien höchstens 70 - 80 Seiten zu haben. Das muss doch zu schaffen sein."

Victor lachte leise und schob sich noch etwas Kuchen in den Mund. "Ich verstehe genug von Flüchen und Verwünschungen, um dieses Risiko nicht einzugehen. Erinnerst du dich an die Studenten in Düsseldorf? Die Selkie-Zwillinge und ihr Freund Salome? Salome ist von dem Fluch erfasst worden, weil er bloß eine Übersetzung davon bei sich rumliegen hatte. Und dabei war noch nichtmal das Original besonders ausgefeilt."

"Auch wieder wahr ..."

"Man kann Flüche sogar digitalisieren. Ich hab neulich von einem Fall gehört, wo eine junge Frau ein verwunschenes Objekt nur mit ihrem Smartphone fotographiert hat und schon von den Auswirkungen befallen war, bis sie das Foto und alle BackUp´s davon wieder gelöscht hatte. Wobei ich noch keine Erklärung dafür habe, was da genau passiert ist. Zum Glück scheint es bisher ein Einzelfall gewesen zu sein."

Urnue stellte seinen inzwischen leeren Teller weg. "Also halten wir als Faustregel fest: keine Kopien von Flüchen anfertigen, egal in welcher Bild-, Schrift- oder Ton-Form."

"Klingt, als könnte ich das als Lehrsatz für meine Studenten verwenden."

"Gerne. Ich erlaube dir, mein Zitat zu verwenden, wenn du als Quellenangabe dazu sagst, dass es von mir ist. Von Professor Urnue!"

Beide lachten herzlich. Und während Urnue dabei Victors fröhliches Gesicht musterte, wurde ihm einmal mehr bewusst, wie glücklich er hier tatsächlich war. Bei Ruppert hätte er auch diesen Spruch nicht vom Stapel lassen dürfen, das wusste er.
 

"Verrätst du mir, was in dem Buch drinsteht?", wollte Urnue vorsichtig wissen, als sie sich von dem Gelächter wieder erholt hatten. Er war sich nicht so sicher, ob er das fragen durfte. Wenn jemand so viel Mühe investierte, das Buch zu verwünschen und unzerstörbar zu machen, um seinen Inhalt zu schützen, war das ja bestimmt nicht bloß ein Katzenrassenlexikon. Andererseits hatte Victor ihm unter Wasser ja selbst angeboten, einen Blick hineinzuwerfen.

Victor wog kurz nachdenklich den Kopf hin und her, wie er es erklären sollte. "Es fasst die keltischen Götterkulte mit all ihren Riten, Gebräuchen und Magiesystemen zusammen. Da in der Zeit der Christianisierung leider sehr vieles verloren gegangen ist, ist in dem Buch immer noch ein gewisser Anteil Spekulation und Mutmaßung enthalten. Aber trotzdem ist es bis heute das seriöseste und umfassendste Werk zum Thema, das man finden kann."

Urnue zeigte sich skeptisch. Das sollte alles sein? Klang nach keiner Sache, an der die falschen Leute ein Interesse haben dürften. "Und steht da irgendwas Verbotenes drin? Sowas wie Beschwörungen, die man besser lassen sollte?"

"Das kommt - wie mit allem im Leben - darauf an, welche Pläne und Ziele man damit verfolgt. Ich versuche diese Magie in erster Linie zu verstehen, um dagegen gewappnet zu sein, wenn sie mir im Kampf begegnet."

"Du willst kämpfen?", hakte Urnue verdutzt nach. "Suchen wir nicht Vladislav?" Er konnte gerade keinen logischen Zusammenhang zwischen Vladislav und den Kelten herstellen.

"Ich will erst noch jemand anderen aus dem Weg haben, bevor ich mich um Vladislav kümmere. Jemand, um den ich schon viel zu lange einen Bogen gemacht habe. Weil er mir immer ne Nummer zu groß war und ich nie die Zeit investieren wollte, mich gut genug darauf vorzubereiten. Aber mich mit Vladislav anzulegen, kann schiefgehen, und danach hab ich vielleicht keine Gelegenheit mehr, diesen Kerl noch aufzuknüpfen. Also muss ich das vorher erledigen, jetzt oder nie."

"Und der Typ nutzt alte, keltische Magie?"

"Shaban ist ein Druide, ja."

"Gott, ein Öko-Hexer ...", stöhnte Urnue wenig angetan.

Victor lachte auf. "Das solltest du einem Druiden nicht ins Gesicht sagen", kicherte er belustigt.

"Ist doch so. Das ist ne Natur-Religion. Was soll an denen so gefährlich sein?"

"Das Druidentum ist ein Kult des Todes", erklärte der Russe ihm, und das immer noch amüsierte Leuchten in seinen Augen passte dabei kaum zum dramatischen Inhalt seiner Worte. "Bei denen dreht sich alles um den Tod, das Sterben, die Verehrung der Ahnen, das Jenseits, um Tier- und sogar Menschenopfer zu Ehren ihrer Totengötter. Es gibt barbarische Tötungsrituale zum Zwecke der Wahrsagerei. Die entscheiden über Todesurteile durch das Werfen von Knochenrunen. Diese Leute haben keine Angst vor dem Tod. Im Gegenteil, sie freuen sich regelrecht darauf. Sie wollen lediglich, dass sie ihren Tod im Kampf finden und dabei möglichst heroisch sterben. Sonst werden sie ihren Totengöttern nicht gerecht. Und noch schlimmer: nicht wenige von denen sind Necromanten."

Urnue sah ihn mit großen Augen an, als ihm bewusst wurde, dass er solche Horror-Geschichten tatsächlich ebenfalls schon gehört hatte.

"Und jetzt stell dir vor, gegen jemanden zu kämpfen, der keine Angst vor dem Tod hat, sondern dich ohne Rücksicht auf Eigenschaden plattmachen will."

Der Wiesel-Tiergeist zog eine unschlüssige Flunsch. "Dagegen wüsste ich was. Nimm ne Knarre und puste ihn weg. Ist doch eh deine altbewährte Methode."

Victors immerfröhliche Stimmung erlosch immer noch nicht ganz. "So einfach scheint das diesmal leider nicht zu sein. Shaban ist kugelsicher."

"Was soll das heißen?"

"Na, das was es eben heißt: es sieht aus als könnte er nicht erschossen werden. Viele haben es versucht. Mit Blei. Mit Silber. Mit bannmagiebewährten Kugeln. Keiner konnte was ausrichten."

Urnue zog skeptisch die Augenbrauen zusammen. "Das glaub ich erst, wenn ich´s sehe."

"Ich ja auch. Aber trotzdem sollte ich nicht ohne Plan B dort auftauchen."

"Was ist mit seinem Schutzgeist?"

"Er scheint keinen Schutzgeist zu haben."

Urnue ließ den Kopf in den Nacken fallen. "Mit dir wird das Leben echt nie langweilig."

"Der Legende nach ..."

"Legende!", unterbrach Urnue ihn augenrollend und nahm sofort wieder Haltung an. "Jetzt gibt es also schon Legenden über diesen Kerl!? Muss ja ein krasser Typ sein."

Victor lächelte erheitert. "Man sagt jedenfalls, sein Schutzgeist sei ein körperloses Wesen ohne eigene, stoffliche Form. Deshalb soll es mit in Shabans Körper hineingefahren sein, den sich die beiden jetzt gemeinsam teilen. Wie so eine Art Symbiose."

"Im Klartext: er ist von irgendwas besessen."

"So könnte man es auch ausdrücken."

"Das ist Blödsinn!", urteile Urnue humorlos.

"Natürlich ist das Blödsinn", stimmte Victor ihm unverhohlen zu. "Aber ich habe leider die wahre, logische Erklärung dazu noch nicht gefunden."

"Ich sag dir, was die wahre, logische Erklärung dazu ist! Sein Schutzgeist wird gezwungen, sich permanent auf der Astralebene zu verstecken, wo er unsichtbar ist, und mauert von dort aus Schutzschilde um ihn herum, die die Gewehrkugeln fernhalten. Genau wie es bei mir war, als ich noch Rupperts Schutzgeist war."

Victor verschränkte mit einem nachdenklichen Durchatmen die Arme und überdachte das. "Ich weiß nicht ... Das wäre zu einfach. Es gibt genug Genii, die auf die Astralebene wechseln oder zumindest in sie hineinsehen können. Wäre der Schutzgeist dort, hätte ihn längst irgendjemand entdeckt."

"Bist du diesem Shaban jemals persönlich begegnet?"

"Ja, zu Motus-Zeiten ein- oder zweimal."

"Und was denkst DU, wo sein Schutzgeist hin ist? Hat er vielleicht gar keinen mehr, und erfindet solche Märchen, um es niemandem verraten zu müssen? Weil sonst alle wüssten, wie angreifbar er in Wirklichkeit ist?"

Der kleingeratene Gestaltwandler senkte grübelnd den Blick. Inzwischen war er völlig ernst, seine lockere und amüsierte Laune war gänzlich verflogen. "Ich kann´s nicht beweisen, aber ich habe den Verdacht, dass er nichtmal ein Mensch ist. Ich glaube, er ist in Wirklichkeit ein Genius, der sich nur als Mensch ausgibt. DAS wäre eine logische Erklärung, warum er keinen Schutzgeist hat."

Urnue nickte verstehend. "Hast du eine Theorie?"

"Keine, die einer genaueren Betrachtung standhalten würde. Der Mann hat eine Statur wie ein Elasmotherium. Wenn ich schon allein alle Genii-Arten ausschließe, die niemals so ein Erscheinungsbild haben würden, fallen dreiviertel meiner Ideen wieder hinten runter. Und wenn ich dann noch überlege, welche Wesen heutzutage noch alte, keltische Magie beherrschen könnten, bleibt keiner mehr übrig."

"Hm~ Nur weil irgendwas heute als ausgestorben und vergessen eingestuft wird, muss das nicht gleich bedeuten, dass es das wirklich nicht mehr gibt. Hast du ein Foto von dem Typ? Ich würde mir den gern mal angucken."

Victor griff nach Urnues leerem Teller, stellte ihn auf seinen eigenen und erhob sich damit von seinem Sitzplatz. "Ich guck mal auf dem Laptop nach. In meinen alten Motus-Datenbanken könnte mit viel Glück noch eins zu finden sein."

"Ich komm mit", entschied Urnue und sprang ebenfalls topfit vom Bett hoch.

"Vergiss dein Sauerstoff-Gerät nicht. Nicht, dass du mir noch umkippst."

"Dragomir!", maulte der Wiesel-Genius beleidigt und ließ Victor damit auflachen.

Die leidliche Vergangenheit

Victor hatte längst seinen kleinen Stromgenerator anwerfen müssen, um überhaupt noch Energie für das technische Gerät zu haben. Es war bereits später Abend, als sie immer noch am Laptop saßen und Fotos durchsahen. Alleine hätte Victor das beileibe schneller geschafft, aber Urnues Neugier verzögerte die Sache doch erheblich. Der wollte zu jedem Gesicht, das er interessant fand, wissen, wer das war, was der verbrochen hatte, und was aus dem geworden war. Also am besten die ganze Geschichte. Sein Interesse an Shaban schien inzwischen regelrecht in den Hintergrund gerückt zu sein. Um so erleichterter war Victor, als er endlich ein Foto des Gesuchten fand, um diese mühsame Prozedur endlich beenden zu können.

"Sieh an. Da ist er ja", kommentierte der Russe und ließ sich müde gegen die Rückenlehne fallen, um sich die Augen zu reiben. "Der Gorilla da links im Hintergrund."

Hellauf begeistert zog sich Urnue den Laptop heran und studierte die Aufnahme, die auf irgendeiner Versammlung des britischen Motus-Clusters entstanden war. Im Vordergrund des Fotos war jedenfalls der britische Cluster-Chef zu sehen. Urnue verschob und vergrößerte das Foto, bis nur noch der Kerl schräg hinter ihm zu sehen war: ein großer, muskelbepackter Bodybuilder-Typ mit erstaunlich freundlichem Gesicht, großen, sanften Augen, und vollen, geschwungenen Lippen. Er trug Unmengen langer, schwarzer Rastazöpfe, die er auf der linken Seite nach hinten gesteckt hatte. Rechts hingen sie ihm dagegen ins Gesicht und verdeckten ein wenig die Tatsache, dass seine rechte Gesichtshälfte über und über mit Runen volltätowiert war. Nicht gerade unauffällig. Urnue lachte leise auf. "Den Wichser kenn ich!", stellte er kichernd fest.

"Du kennst ihn?" Sofort schnellte Victor wieder in eine aufrechte Sitzhaltung hoch.

"Ruppert und ich waren auch auf dieser Versammlung. Der Kerl ist als Vertreter der Spionageabwehr-Abteilung angereist. Die Pfeifen, die uns die Polizei und sowas vom Hals halten sollten. Ich weiß noch, wie ich die ganze Zeit dachte, dass der bei den Headhuntern besser aufgehoben wäre." Urnue vergrößerte das Foto noch weiter. Langsam wurde es unscharf. Trotzdem sah man, worauf er hinaus wollte. Eine Narbe am Hals. "Sieht aus, als hätte mal jemand versucht, ihm die Kehle durchzuschneiden."

"Das hat bei Shaban nichts zu sagen. Er hat am ganzen Körper solche Narben. Die hat er sich als Cuttings verpassen lassen. Also Dekoration, oder Bodymodding. Er hat auch jede Menge Tattoos und Brandings. Um trotz seiner harmlosen Visage gefährlicher auszusehen, schätze ich."

"Nein." Urnue schüttelte überzeugt den Kopf "Ich vermute, die hat er um von genau dieser Narbe da abzulenken." Er klopfte mit der Fingerspitze gegen den Bildschirm. "Die wäre für sich allein genommen nämlich zu auffällig gewesen. Gib mir mal ein Genii-Lexikon."

Nickend quälte sich Victor hoch, etwas steif vom langen Sitzen, und stöberte in seinem Bücherregal herum. "Was hast du von dem Kerl damals sehen können, als du auf der Versammlung warst?"

"Nun ... er war alleine", entschied Urnue nach kurzem Überlegen. "Also wenn er einen Schutzgeist hat, war der jedenfalls nicht so wie ich auf der Astralebene verborgen."

"Also ist er wirklich selber ein Genius?"

"Todsicher."

Victor kehrte mit zwei Nachschlagewerken zurück und hielt sie Urnue hin. "Und konntest du irgendwelche Anhaltspunkte dafür erkennen, was er ist?"

"Nein. Auf der Astralebene sehe ich von den Leuten leider auch nur die Form, die sie auf der stofflichen Ebene gerade angenommen haben." Er musterte die zwei Einbände enttäuscht. "Hast du keine englischen, sag mal?"

"Du kannst ja googeln, wenn dir das besser gefällt."

"Dann bau mir einen Sendemast vor den Eingang! Ist ja nicht so, als ob man hier irgendeine Art von Empfang hätte", hielt Urnue trotzig dagegen und entschied sich zunächst für das größere der beiden Bücher. Er überlegte kurz. Wonach sollte er in einem russischen Lexikon suchen? Wie würden die Russen dieses Ding wohl nennen, das er im Verdacht hatte? Nachdem er sich in die kyrillische Schrift wieder eingewöhnt hatte, die er so selten brauchte, kam er aber derwegen schneller voran als befürchtet. Als er im größeren Lexikon gefunden hatte, was er wollte, und mit dem Ergebnis überaus zufrieden war, schlug er auch im anderen nochmal nach, was dieses zum Thema zu sagen hatte. "Was ist ein 'pozvonochnik'? Das Wort kenn ich nicht."

"Ähm ... der Rücken ... oder eher die Wirbelsäule", erklärte Victor es ihm in anderen Worten.

Urnue nickte nur geistesabwesend und las weiter. "Eine Peitsche aus einem menschlichen Rückgrad also ... Ergibt Sinn ...", murmelte er dabei leise in sich hinein. Irgendwann atmete er tief durch und sah grübelnd wieder hoch auf den Laptop.

"Was denkst du?", wollte Victor wissen, der das verschlossene Gesicht seines Gegenübers nicht recht zu deuten wusste.

"Also ... ich sollte wohl nicht gleich dein Leben und mein eigenes darauf verwetten ... aber ich bin mir trotzdem sicher." Er hielt Victor das aufgeschlagene Buch hin. Schon allein der Kupferstich, der als Bild in der Ecke der Seite prangte, sagte alles. "Der Kerl ist ein Dullahan."

"Ein Kopfloser Reiter?", machte der Gestaltwandler in einem neutralen Tonfall, dem man nicht anhörte, was er davon hielt. Jedenfalls betrachtete er den Vorschlag nicht perse als Unsinn, sondern war zumindest bereit, darüber nachzudenken. "Die sind nicht mehr aufgetaucht, seit der Menschenopfer-Kult zu Ehren des keltischen Fruchtbarkeitsgottes Crom Dubh verboten wurde. Also de facto seit der Christianisierung."

"Ergibt doch aber trotzdem Sinn, oder? Es passt alles zusammen, was dir an Shaban Rätsel aufgibt: Zum einen ist es ganz klar eine keltische Kreatur. Zum anderen würde es erklären, warum jemand behauptet, er würde sich mit seinem Schutzgeist einen Körper teilen. Im Gegensatz zu Zentauren sind bei Dullahans die humanoiden Körperteile nicht am Pferdekörper festgewachsen, sondern Pferd, Reiter und Kopf wirken wie drei voneinander unabhängige Teile. Aber in Wahrheit ist es einfach nur ein Genius mit zwei Köpfen, genau wie du. Wenn er seine wahre Gestalt annimmt, sieht es aus, als würde er sich in Pferd und Reiter aufspalten. Darum denken die Leute einfach, das Pferd wäre was eigenständiges, nämlich sein Schutzgeist, und würde später wieder in ihn hineinfahren, wenn er in seine menschliche Gestalt zurückkehrt. - Und kugelsicher sind diese Wichser übrigens wirklich, weil sie nämlich nicht aus festem, organischem Gewebe bestehen, sondern eher aus einer schleimig-rauchartigen Substanz. Geschosse rauschen einfach durch die durch." Urnue deutete mit den Augen auf den Text, um Victor zum Lesen aufzufordern. "Das gilt natürlich nur für ihre Genius-Form. In ihrer menschlichen Tarngestalt sind sie durchaus verwundbar."

"takoje dermo~", fluchte Victor beim Überfliegen der Seite leise in sich hinein. "Wie konnte so einer in der Motus rumlaufen, ohne dass es jemand gemerkt hat? Den hätten wir sofort kalt gemacht, wenn wir mitbekommen hätten, was er ist. Kopflose Reiter jagen Menschen."

"Ja. Wahrscheinlich dachten alle genau wie du, dass es solche Viecher heute nicht mehr gibt, und haben ihn deshalb nicht als das erkannt was er ist. Und in den eigenen Reihen hat die Motus vermutlich zu allerletzt nach Opfern gesucht, daher war er dort sicherer als irgendwo sonst. Aber ich meine ... sieh dir die Narbe an seinem Hals doch mal an! Das schreit ja förmlich nach einem Enthaupteten."

"Dullahans sind keine Enthaupteten. Das ist ein Irrglauben. Aber weil sie was für rollende Köpfe übrig haben und sich deshalb schon immer gern dort rumgetrieben haben, wo Menschenopfer enthauptet wurden, hat man sie gern mal für die Geister der enthaupteten Menschen gehalten. Das war eine sehr abergläubige Zeit damals. Was stimmt, ist, dass sie sehr viel seltener gesichtet wurden, seit man in Europa niemanden mehr enthauptet."

Urnue nickte zustimmend. "Wenn du gegen so einen kämpfen willst, dann sei dir im Klaren darüber, dass auch der mächtige, schwarze Hengst zu dem Genius dazugehört. Das Pferd ist zwar schnell und stark, aber durch seine Größe am leichtesten zu treffen. Der Reiter ist nur die halbe Miete, also ignorier ihn. Wenn du einen Dullahan töten willst, töte das Pferd."
 

Victor maß Urnue mit skeptisch verengten Augen. "Warum weißt du soviel darüber?"

Der Wiesel-Genius hielt dem Blick nicht stand und schaute stattdessen einmal mehr auf das Foto auf dem Laptop. "Mit einem Dullahan hat für mich alles begonnen. Und jetzt endet es für mich vielleicht auch mit einem, wenn wir den Kerl zur Strecke bringen. Du weißt, dass Ruppert Genii verabscheut hat. Hat er dir den Grund jemals verraten?"

Victor schüttelte langsam den Kopf. "Nein."

"Mir schon. Irgendwann mal in einem schwachen Moment und unter zuviel Alkohol. Seine Mutter wurde von einem Dullahan gejagt. Er hat sie nicht ganz erwischt, sie ist schwer verletzt entkommen. Aber sie war danach nie wieder die gleiche. Sie lag noch ein paar Jahre körperlich geschwächt und seelisch gebrochen im Bett, bevor sie letztlich gestorben ist. Ich habe sie noch kennengelernt. Sie war wirklich eine sehr liebe, aber schwer kranke Frau. Ruppert hat seinen Hass auf den Dullahan, der ihr das angetan hat, irgendwie auf alle Genii projiziert. Er war noch ein Kind, als es passiert ist, und hat nicht verstanden, dass nicht alle Genii so sind. Und diese Meinung hat er später im Erwachsenenalter auch nicht mehr abgelegt. ... Tja ... ich war letztlich der, der´s ausbaden musste." Urnue machte eine längere, nachdenkliche Pause. "Die Versammlung da war direkt in London, und alle Teilnehmer stammten von dort. Was glaubst du, wieviele Kopflose Reiter es in Rupperts Stadt gegeben haben kann? Es würde mich gar nicht wundern, wenn Shaban unser Mann wäre. Wenn er derjenige war, der Rupperts Mutter das angetan hat."

"Das dürfte heute, so viele Jahre später, schwer zu beweisen sein", gab Victor ruhig zu bedenken und entlockte Urnue damit einen erschütternd abfälligen Laut.

"Das käme jetzt eh zu spät", entschied der regelrecht verbittert. "Mich hat dieser Dullahan fast 40 Jahre meines Lebens gekostet. Und Ruppert hat bis zu seinem Tod mit diesem Hass leben müssen. Ohne diesen Dullahan hätte Ruppert sich Vladislav vermutlich nie angeschlossen. Wahrscheinlich wäre die Motus nie gegründet worden, wenn Ruppert sie nicht mit seinem horrenden Startkapital überhaupt erst möglich gemacht hätte. ... Glaub mir, VIELES wäre anders gelaufen, ohne diesen Reiter."

Victor nickte vorsichtig und überdachte das. "Glaubst du, Ruppert wusste es?"

"Dass Shaban ein Kopfloser Reiter ist? Nein. Dann wäre Shaban jetzt derjenige von den beiden, der tot unter der Erde läge. Die zwei kannten sich nicht. Du weißt das ja selber: die Motus war zu groß, man konnte gar nicht jeden belangloser Pisser kennen." Gemeinsam musterten sie eine ganze Weile schweigend das Foto des Hühnen mit dem paradox netten Gesicht. "Und warum bist DU hinter dem Kerl her?", wollte Urnue irgendwann wissen.
 

Auf Victors Lippen stahl sich ein humorvolles Schmunzeln. "Das hat nichts mit seiner Motus-Aktivität zu tun, sondern ist ausnahmsweise mal was Persönliches." Einhändig ließ er sein Lexikon zuschnappen.

"Was denn? Hat er dir ein Mädchen ausgespannt?"

"Nein. Der Sack hat versucht, mich umzubringen. Und er hat mir nie verraten, warum."

"Na und? Das gehört in der Motus doch fast zum guten Ton. Ein Haufen Leute sind hinter dir her, die dich umbringen wollen. Vladislav hat auch versucht, dich umzubringen."

"Eins nach dem anderen. Um Vladislav kümmere ich mich auch noch", schmunzelte Victor und stand geruhsam von seinem Stuhl auf, um die beiden Genii-Lexika wieder ins Bücherregal zu sortieren. "Shaban hat schon während der Motus-Zeit versucht, mich umzubringen. Nicht erst nachdem ich die Motus an die Polizei verraten hatte, was ich ja verstanden hätte. Er hat mich damals zwei Tage lang in einem Kerkerloch gefangen gehalten und mich mit seinen barbarischen, keltischen Praktiken traktiert, um mir das Geheimnis meiner wahren Identität zu entreißen. Er hat auf allen erdenklichen Wegen versucht, rauszufinden, was für eine Art Genius ich bin. Und er wollte mich töten, sobald er es rausgekriegt hat."

"Klingt, als hätte er schon vorher geahnt, dass du die Motus verraten willst."

Victor schüttelte den Kopf. "Der Kerl ist einfach nur ein Sadist, das ist alles. Welcher Genius-Art ich angehöre, hätte er einfacher klären können. Er hätte einfach nur eine Blutprobe von mir ins Labor schicken und eine Analyse anordnen müssen. Und er war selber ein Gegner der Motus, schon damals. Dass ich die Motus verraten wollte, hätte er eher unterstützt als verhindert. Shaban hätte ein wertvoller Verbündeter für mich werden können", erzählte der Russe etwas unzufrieden. "Aber nach dieser Aktion hab ich logischerweise Abstand davon genommen." Dann musste er schon wieder akut lächeln, als er in Urnues zweifelndes Gesicht sah. "Warum guckst du mich so an?", wollte er amüsiert wissen.

"Ich frag mich nur gerade, wie es jemand schaffen könnte, dich zwei Tage lang gefangen zu halten. Wie mächtig muss dieser Shaban sein?"

Victor lachte endgültig auf. "Ich bin nicht allmächtig, U. Auch ich kann besiegt werden. Es reicht schon, wenn du einfach nur schneller bist als ich, oder zufällig irgendwas machst, worauf ich nicht gefasst bin. Du weißt doch, dass ich sogar schonmal auf dem Sklavenmarkt geendet war, unter dem Joch einer Bannmarke, die ich alleine nie wieder losgeworden wäre. Shaban war weder der Erste noch der Letzte, der mich bezwungen hat."

"Denkt man gar nicht", hielt Urnue näckisch dagegen. "Muss wohl schon länger her sein. ... Hat er´s denn rausgekriegt, welcher Genius-Art du angehörst?"

"Nein. Gott sei Dank nicht. Sonst hätte ich mir nicht so viel Zeit damit lassen dürfen, ihn aus dem Weg zu räumen."
 

"Sind Silanten denn so wahnsinnig anfällig für irgendwas, dass du es wirklich keinem verraten darfst? Hast du Angst, dann sofort besiegt zu werden, sobald deine Gegner es erfahren?"

"Das nicht. Aber es gibt momentan nur einen einzigen, behördlich erfassten Silanten in ganz Russland. Der einzige bekannte, der in menschenbesiedelten Gebieten lebt. Und die Staatssicherheit sucht nach dem. Wenn jemand rauskriegt, dass ICH dieser Silant bin, hab ich sofort den Geheimdienst an der Backe. Und das kann ich echt nicht brauchen." Nein, nicht auch noch die, dachte Victor. Mit den ehemaligen Motus-Typen, der normalen Polizei und den FABELS hatte er wahrlich schon genug Probleme am Hals.

"Aber du bist doch nicht der einzige deiner Art, oder?", hielt Urnue skeptisch dagegen.

"Sagt ja auch keiner. Draußen im sibirischen Niemandsland gibt es noch mehr Population. Aber die bleiben halt wo sie sind, und kommen nicht in die Nähe von Siedlungen."

Urnue nickte verstehend.

"Ich hab dir erzählt, dass ich mal Geheimdienstler war. Damals hieß ich noch anders, deshalb finden sie mich jetzt zum Glück nicht mehr. Die haben mich als V-Mann in die Motus geschickt, bevor sie mich haben fallen lassen. Ich weiß nicht, was passieren wird, wenn ich mit denen wieder aufeinander treffe. Aber drauf anlegen werd ich´s lieber nicht."

"Und wie hat es dich als einzigen Silanten mitten ins Moskauer Zentrum hinein verschlagen, wenn Silanten der Zivilisation sonst fernbleiben?"

"Ich wurde vom staatlichen Waisen-Fundbüro aufgegriffen."

"Was!?", machte Urnue perplex. Wenn er mit allem gerechnet hatte, aber damit nicht! "Was soll DAS denn bedeuten? Hattest du keine Familie?"

„Ich weiß nichts von einer Familie.“

„Gibt es keine Eltern? Oder Geschwister?“

Victor hob kurz den Blick zur Decke, als er überlegen musste, wie er das einem Außenstehenden erklären sollte. „Weißt du, wie Schildkröten sich vermehren? Sie vergraben ihre Eier an irgendeinem Strand und dann verschwinden sie. Auf Nimmerwiedersehen. Das Gelege wird sich selbst überlassen. Keiner kümmert sich je wieder darum. Schildkröten sind auf sich allein gestellt, von dem Tag an, an dem sie das Licht der Welt erblicken. So ist das bei meiner Art auch. Wir erfahren nie, wer unsere Eltern waren. Und unsere Eltern erfahren nie, wer ihre Kinder sind. Irgendwann werden wir vielleicht versehentlich mal von einer Behörde aufgegriffen und amtlich registriert, sofern wir uns in menschenbesiedelte Gebiete verirren. Es gibt in Russland zwar eine Einrichtung, die sich darauf spezialisiert hat, solche Pseudo-Waisenkinder wie uns zu finden, von Hellsehern Ahnenforschung betreiben zu lassen, damit wir einen Vatersnamen bekommen, der in Russland so beliebt und gebräuchlich ist, und uns dem Geburtenregister zu melden. Aber draußen in den unerschlossenen Weiten Sibiriens gibt es auch mehr als genug Artbestände, von denen niemals jemand erfährt. Sie werden geboren, leben und sterben wieder, und kein Meldewesen hat jemals ihre Existenz in irgendeiner Liste verzeichnet. ... Russland ist ein großes Land. Das sind andere Verhältnisse als bei euch“, fügte Victor mit einem Schmunzeln an. Er konnte sich ausmalen, dass sowas in bürokratisch geführten Ländern wie England undenkbar war. „Wenn du mal einem Russen begegnest, der keinen Vatersnamen hat, dann kannst du sicher sein, dass er von irgendeiner Art abstammt, die keine Kinderstube kennt.“

„Wer gibt euch denn einen Namen, wenn ihr keine Eltern habt?“

„Wir selber. Oder wer halt gerade da ist“, meinte Victor schulterzuckend. „Wir kriegen ziemlich schnell mit, dass jeder einen Namen hat, nur wir nicht. Dann suchen wir uns einfach selber einen aus, der uns gefällt. Oder die Leute, denen wir begegnen, haben vorher für uns entschieden, wie sie uns ansprechen wollen. Manchmal ist es auch, wie bei mir, das Waisen-Fundbüro, das uns einen Namen gibt. Je nachdem, wie früh oder spät sie uns schnappen. Die sind zwar bemüht, einen möglichst schon aufzugreifen, bevor man überhaupt zur Welt kommt, damit sie gleich von Anfang an die Hand draufhaben und einen direkt in die Gesellschaft eingliedern können. Sie agieren so ein bisschen inoffiziell als Vormund und passen auf, dass man zur Schule geht und ein Dach über dem Kopf bekommt. Aber häufig schaffen sie es nicht, einen gleich von der Ei-Schale wegzufangen. Oft erwischen die einen erst nach Monaten oder Jahren. Oder nie."

"Irgendwie stelle ich mir das traurig vor, seine Eltern nie gekannt zu haben."

"Ich bin sicher, sie leben noch irgendwo da draußen. Damit bin ich zufrieden."

"Aber in einem Waisenhaus aufzuwachsen, in dem Wissen, dass deine echten Eltern noch existieren, muss doch auch einen fahlen Beigeschmack haben, oder? Als wärst du ein ungeliebtes Kind, das sie nicht wollten."

"Ich war nicht in einem Waisenhaus. Ich wurde von einer sehr lieben, alten Omi aufgenommen, die mir eine wirklich glückliche Kindheit geschenkt hat. Und die Frage nach leiblichen Eltern stellt sich für einen Silanten nicht. So ticken wir nicht. Es ist biologisch schon so in uns angelegt, keine Eltern und später auch keine Kinder zu haben. Wir kommen sehr gut alleine klar. Darum hatte ich auch nie ein Problem damit, nach dem Untergang der Motus als Einzelkämpfer durch die Welt zu ziehen und meinen Kampf allein zu fechten."

Urnue lächelte angetan, aber dennoch etwas traurig in sich hinein. "Danke, dass du mir das alles erzählst."

Der große Druide

Sie hatten sich genau eine Woche der Vorbereitung zugestanden, mehr nicht. Länger hatte Victor nicht warten wollen, denn jeden Tag, den Vladislav in Freiheit verbrachte, war aus mehreren Gründen ein Risiko. Victor wollte Shaban schnellstmöglich aus dem Weg haben, um sich danach endlich Vladislav widmen zu können. Und da war er nun! Als Victor in die erstaunlich große, geräumige Hütte im Wald hineinplatzte, konnte er es vor Überraschung nicht unterlassen, den Blick schweifen zu lassen. Das Haus sah von außen moderner und befestigter aus, mit aus Steinen gemauerten, verputzten Wänden, Glasfenstern und soliden Dachziegeln. Aber das Innere hatte eher das Flair einer alten Hexenhütte. Es war bis auf ein wenig Fackelfeuer dunkel, die grob gehauenen Möbel aus unbehandeltem Holz waren spartanisch, überall waren Kräuterbündel zum Trocknen aufgehangen, jedes freie Stück Ablagefläche war mit Flaschen voller zwielichtiger Flüssigkeiten und Einweggläsern voller undefinierbarer Substanzen oder Objekte vollgestellt. Victor entdeckte einen Flacon mit Tieraugen. Dazwischen lagen Knochen und Tierzähne herum, vermischt mit Edelsteinen und hier und da einigen Büchern. An der Wand hing ein gewaltiges Hirschgeweih, links und rechts flankiert von Wildschweinpelzen und Runen-Schmierereien. Die Hütte roch sonderbar nach etwas, das wohl Weihrauch darstellen sollte.

Der Besitzer des Hauses, ein großer, stämmiger Kerl mit langen Rastazöpfen und einer mit Runen volltätowierten Gesichtshälfte, drehte sich fragend zu ihm um. Um seinen nackten Oberkörper baumelten einige lange, dünne Goldketten. Und als sei ihm das zu kalt, hatte er sich eine Decke um die Schultern gelegt. Er hatte einen Strauß Zweige in der Hand, von dem man nicht sagen konnte, was er gerade damit hatte tun wollen. "Akomowarov!?", machte der Mann erstaunt, fast grüßend, als er seinen Besucher erkannte. Er schien weder Angst vor dem Russen selbst, noch vor dessen vorgehaltener Pistole zu haben. "Meine Leute waren unschlüssig, ob du herkommen würdest. ICH dachte ja, du würdest direkt nach Amerika gehen und Vladislav suchen."

Victors Pistole sank irritiert ein paar Zentimeter nach unten, als er die tiefe, dunkle Reibeisenstimme plötzlich akut einzuordnen wusste. "Moment ... DU hast uns angerufen? Du warst der Typ, der sich als 'John' ausgegeben hat?"

"Was heißt ausgegeben? So heiße ich nunmal: John Shaban Silurer", hielt der Hühne abgelenkt dagegen, sah dabei erst nach rechts, dann nach links, und griff plötzlich mit einer schnellen Bewegung in die Luft. Ein kurzes Flirren wie von aufsteigender Hitze erinnerte an das Teilen eines Vorhangs, als er einen weiteren Mann mit schwarzen Wuschelhaaren am Hals zurück auf die stoffliche Ebene riss.

Urnue gab einen würgenden Laut von sich, als er so gewaltsam von der Astralebene geholt wurde und wieder sichtbar wurde. Sofort schnellten seine Hände zu seinem Hals und versuchten dem harten Schraubstockgriff entgegenzuwirken.

"Sieh mal an, was haben wir denn da?", brummte Shaban und musterte den Kerl eingehend von oben bis unten, den er gerade von der Astralebene gepflückt hatte.

Urnue antwortet nur mit einem schmerzhaft-gepressten "Shit".

"DICH kenn ich noch nicht", fasste Shaban seine Beobachtung in Worte.

"Wir haben miteinander telefoniert", röchelte Urnue sauerstoffknapp. "Weißt du nicht mehr?"

"Ah", machte Shaban ratlos und beäugte ihn weiter am ausgestreckten Arm wie ein Rätsel. Als hätte er etwas anderes erwartet. "Dann musst du wohl dieser Urnue sein, von dem alle erzählen. Der Kerl, der´s tatsächlich geschafft hat, an das Phantom Akomowarov ranzukommen."

"Fuck ...", keuchte Urnue, sich windend, und immer noch mit der harten Hand um seinen Hals beschäftigt. "Ich wusste nicht, dass du Leute von der anderen Ebene stoßen kannst ..."

Victors Pistole ruckte wieder in den Anschlag und zielte auf Shabans Kopf. "Lass ihn sofort los, du Hund!", verlangte er drohend.

Shaban warf Victor einen abschätzenden, bis lustlosen Blick aus dem Augenwinkel zu. Er schien erstmal eine Sekunde zu überlegen. Sorgen machte ihm das Schießeisen jedenfalls nicht. Er ließ gelassen das Bündel Zweige zu Boden fallen, das er immer noch in der rechten Hand gehalten hatte. Dann drehte er Urnue herum und zog ihn stattdessen rücklings gegen seine mächtige, breite Brust. Er angelte von hinten unter Urnues Arm hindurch und nach oben zu dessen Hals. Immer noch fest im Würgegriff fixiert gab Urnue damit ein lebendes Schutzschild ab, auf das Victor ganz sicher nicht schießen würde. "Was hältst du davon, deine Knarre erstmal wieder wegzupacken?", schlug Shaban ruhig und regelrecht vernünftig vor.

In Victors Kopf sah man die Zahnrädchen auf Hochtouren rattern. Auch wenn Shaban nur noch mit einem Auge hinter Urnues Kopf hervorschaute, war Victor als Schütze gut genug, um ihn auf diese lächerliche Entfernung zu treffen, ohne seinen Kameraden zu gefährden ... wenn er denn eine präzisere Waffe gehabt hätte. Seine momentane Pistole, die er sich nach Durchschlagskraft und nicht nach Feinarbeitstauglichkeit ausgesucht hatte, war zu grob für sowas. Zu großes Kaliber. Sie riss klaffende Löcher und bewegte auf ihrer Flugbahn zu viel Luft. Er würde Urnue damit mindestens einen Streifschuss verpassen, wenn nicht sogar ernsteres. Fieberhaft überlegte er, ob Magie ihm hier bessere Dienste leisten würde als eine Schusswaffe. Nur unterschwellig drängte sich ihm dabei die Frage auf, wieso Urnue sich nicht längst selber was hatte einfallen lassen.

Shaban seufzte genervt, als es ihm zu lange dauerte. Er angelte mit der freien, rechte Hand nach vorn, um den Reißverschluss von Urnues Lederjacke aufzuziehen. Dann zog er ein langes Jagdmesser aus seinem Gürtel und setzte die Spitze der Klinge direkt auf Urnues Herz.

Urnue wollte sich winden und mit einer Hand abwehrend nach dem Messer greifen, aber der sich wieder verstärkende Würgegriff um seine Kehle ließ sofort seine beiden Hände zum Hals zurückschnellen. Ein abermaliges Japsen zeugte von der grenzwertigen Luftnot, die noch nicht lebensgefährlich aber ganz klar eine Warnung war.

Shaban richtete seinen Blick wieder auf Victor, der bereits geschlagen die Schultern samt Waffe etwas hatte sinken lassen. "Jetzt nimm schon die Pistole runter, Akomowarov. Lass uns lieber friedlich reden."

"Was willst du?", zischte Victor unzufrieden durch die zusammengebissenen Zähne.

"Ich? Gar nichts", hielt der Druide verständnislos dagegen. "Was soll ich denn wollen? Ich hab dich nicht herbestellt. Ich sagte, du sollst Vladislav suchen. Nicht mich."
 

Etwas mürrisch senkte Victor seine Pistole ganz, sicherte sie und steckte sie langsam hinter seinem Rücken in den Hosenbund zurück. Dann hob er beide, leere Handflächen, um zu signalisieren, dass er unbewaffnet und nicht mehr auf Ärger aus war. "Schon gut. Jetzt lass Urnue gehen."

"Ach, ich denke, den behalte ich mal noch ein bisschen", lehnte Shaban rundheraus ab, nahm aber zumindest das Messer wieder von der Brust seiner Geisel, so dass man keine Sorge mehr haben musste, dass es bei Urnues nächster, unbedachter Bewegung reflexartig in dessen Herz versenkt wurde. Auch der Schraubstockgriff um seinen Hals schien sich etwas zu entspannen. "Also. Ich glaub nicht, dass ich dich fragen muss, was DU hier willst", fuhr Shaban dann fort. "Mir war immer klar, dass ich irgendwann das Echo abkriegen würde, für das, was ich damals mit dir angestellt habe. Ich warte seit Jahren darauf."

"Du wolltest mich umbringen!", erinnerte Victor ihn beleidigt.

"Ja. Und damit war ich weder der Erste, noch der Einzige. In dir wohnte damals ein böser Geist. Sehr böse. Voller Hass und Zorn und Rachsucht. Deine Seele war ausgesprochen dunkel. Es ist die Pflicht eines Druiden, solche bösen Geister auszutreiben."

"Damals? Und was ist mit heute? Ist der böse Geist jetzt weg, oder was?", begehrte der Gestaltwandler empört auf. Diese Geschichte ergab für ihn null Sinn, egal aus welchem kulturellen oder psychologischen Blickwinkel betrachtet.

Shaban zuckte geradezu gleichgültig mit den Schultern. "Du hast diesen zerstörerischen Hass wieder abgelegt und hast nicht mehr blinde Rache zum Antrieb. Du bist wieder vernünftiger und rationaler geworden ... auch wenn dich das nicht unbedingt ungefährlicher macht."

Victor überdachte das etwas verwirrt. "Wann soll ich jemals so sehr von Hass und Rachsucht beherrscht worden sein, dass ich nicht mehr klar hätte denken können?"

"Ich weiß nicht!? Wer hat dich denn in die ausweglose Lage getrieben, die gesamte Motus von Russland bis nach Spanien an die Polizei zu verraten?"

Victors Augen weiteten sich verstehend.

"Aha", brummte Shaban zustimmend. Er kannte zwar die Antwort nicht, gab sich aber zufrieden damit, dass zumindest Victor sie zu kennen schien. Er ließ Urnues Kehle los und beförderte den hustenden Genius mit einem kameradschaftlichen Schubbser einen Schritt weit von sich weg. Den würde er ab jetzt nicht mehr als Schutzschild brauchen. Jetzt war Victor nicht mehr gefährlich. "Weißt du, das Katastrophale und Toxische an Leuten, die von einem hasserfüllten, rachsüchtigen Geist beherrscht werden, ist, dass sie es selber nicht merken. Sie halten sich selber für völlig klar im Kopf."

"Erzähl mir nichts von einem klaren Kopf! Mich tagelang mit keltischen Ritualen zu schikanieren, macht auf mich auch einen ziemlich radikalen und fanatischen Eindruck!"

"Ich musste rauskriegen, was für ein Genius du bist. Bestimmte Wesen dürfen wir Druiden nämlich nicht töten, wenn wir uns kein Unheil einhandeln wollen."

"Das Unheil verspreche ich dir ganz unabhängig davon, was ich bin!", maulte Victor.

Shaban zuckte abermals gleichgültig mit den Schultern, während er einen Kessel Wasser über das Feuer hängte und sich in aller Ruhe irgendwelchen getrockneten Kräuterbündeln an seinen Wänden zuwandte. "Wenn es dich beruhigt: heute sehe ich keine Notwendigkeit mehr, dich zu töten."

"Wie freundlich ...", zynelten Victor und Urnue wie aus einem Mund.

"Warum setzt ihr zwei euch nicht, und du erzählst mir, was damals passiert ist, Akomowarov? Die Geschichte deines Kriegspfades würde mich interessieren, warum du erst so ehrgeizig und versessen darauf warst, in die Chef-Etage aufzusteigen, und dann von einem Tag auf den anderen alles weggeworfen hast. Wie hat Vladislav dir einen so radikalen Sinneswandel aufzwingen können?", wollte der Druide wissen. Die Handvoll Kräuterblätter und Blüten, die er hier und da aus seinen Vorräten gezupft hatte, warf er unterdessen in einen Mörser und begann sie mit dem Stößel zu zerpulvern. Als alles klein genug gerieben war, schüttete er es in ein Trinkgefäß um, goss es mit dem inzwischen kochenden Wasser auf und rührte es mit einem Teebesen um.

Langsam ließ Victor sich am Tisch nieder, Urnue nicht weniger skeptisch neben ihm. "Vladislav war nicht der ausschlaggebende Punkt für meinen Verrat ...", wollte er zu erzählen beginnen, während er dem Druiden bei seiner Tätigkeit zusah.

Shaban sprach einen kurzen Zauber über dem Becher wie ein Tischgebet, zuletzt hielt er den Becher noch am ausgestreckten Arm von sich weg und schnippte aus sicherer Entfernung eine Prise 'irgendwas' dazu, was sich in einer giftgrünen Stichflamme und einer dicken, schweren Rauchwolke entlud. Erst dann wirkte er zufrieden mit seinem Werk.
 

"Wer war es dann?", nahm Shaban das Thema wieder auf. Er stellte Urnue den Holzbecher hin und gestikulierte mit dem Zeigefinger auffordernd von dem dampfenden Sud hin zu Urnues Gesicht, als müsse er den genauen Weg des Getränks nochmal veranschaulichen. "Trink das."

"Ich denk ja gar nicht dran", entschied Urnue schmollend.

"Wenn du in nächster Zeit wieder Magie einsetzen willst, solltest du das trinken, solange es noch heiß ist. Du hast doch sicher selber gespürt, dass ich deine Fähigkeiten gebrochen habe, als ich dich von der Astralebene gezerrt hab."

"Deutlich genug, ja. Das hat wehgetan!", maulte der Wiesel-Tiergeist.

"Ohne die Heilkräuter wird deine magische Begabung lange brauchen, um sich davon zu erholen, glaub mir das."

Urnue angelte abfällig nach dem Becher, warf einen skeptischen Blick hinein und hielt ihn dann Victor neben sich hin. "Hast du mitgekriegt, was er da alles reingekippt hat?"

Der Russe schüttelte langsam den Kopf. "Nein, aber ich denke du kannst es ruhig trinken."

"Du denkst!?"

"Soll ich Vorkoster spielen? Gib her!"

"Nein!", quietschte Urnue schockiert und zog den Becher schnell aus Victors Reichweite, bevor der das am Ende noch ernst machte.

Shaban rollte missmutig mit den Augen. "Ihr seid komisch, ihr zwei."

Urnue pappte den Holzbecher stur auf den Tisch zurück und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück gegen seine Rückenlehne. Immer noch sickerte träger Rauch über den Becherrand, der auf die Tischplatte hinunter wabberte.

Victor stimmte in das Augenrollen mit ein. Seufzend nahm er den Becher und hielt die Nase darüber, um mit geschlossenen Augen die Aromen zu unterscheiden. Kräuterkunde war leider keines seiner herausragendsten Talente, aber die Grundzüge davon verstand er schon. "Pfefferminze ... und Johanniskraut", erkannte er als erstes. Dann öffnete er die Augen und sah Shaban verwundert bis fragend an. "Tollkirsche?"

"Die öffnet die Augen. Alle. Nicht nur die physischen", erklärte der Druide.

"Da hast du´s. Tollkirsche ist giftig", warf Urnue in einem 'ich-hab's-dir-ja-gesagt'-Tonfall ein.

"Kommt auf die Dosis an", hielt Victor gelassen dagegen. "Tollkirsche wird erst ab einer bestimmten Menge ungemütlich. In Maßen wird sie in der Medizin ganz gern verwendet."

"Und was qualmt da bitte so? Das kann auch nicht gesund sein!"

"Trocken-Eis", klärte Shaban ihn etwas pampig auf. "Auch dafür könnte ich dir einen logischen, wissenschaftlichen Nutzen erklären. Aber wenn du das Zeug jetzt nicht bald trinkst, wird es auskühlen und zu gar nichts mehr nütze sein."

Victor hielt Urnue den Becher hin. "Ehrlich, U., du kannst das trinken. Alles gut."

"Wenn ich an dem Zeug verrecke, komm ich aus der Hölle wieder rauf, um dich zu jagen und mich an dir zu rächen, Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov!"

Victor lachte. "Ist genehmigt", lächelte er amüsiert und hielt ihm den rauchenden Becher unbeirrt weiter hin. Auffordernd. Und erfolglos. "Ach, Herrgott nochmal, Urnue. Willst du jetzt deine magischen Fähigkeiten zurück oder nicht?" Entschlossen setzte er den Holzbecher an und trank selber einen großen Schluck davon, um Urnue endlich von der Ungefährlichkeit zu überzeugen. Das Zeug schmeckte gar nicht mal so übel wie befürchtet. Hätte man gut und gerne als Tee verkaufen können. In seinem Bauch machte sich fast augenblicklich eine wohlige Wärme breit. Seiner chronischen Übernächtigung und Müdigkeit zum Trotz hatte er übergangslos das Gefühl, Bäume ausreißen zu können und bis zum Bersten mit magischer Energie vollgestopft zu sein. Als wären alle seine Akkus wieder bis zum Anschlag aufgeladen und würden so schnell auch nicht mehr leer zu kriegen sein. "Woah, das Zeug ist ja mega", konnte er sich vor Begeisterung nicht verkneifen.

"Es ist eigentlich nicht dafür gedacht, dass Gesunde es trinken. Für dich muss der Trank wie regelrechtes Doping wirken. Du wirst zwei Wochen lang nicht schlafen können", klärte Shaban ihn etwas missmutig auf. Ihm ging dieser Kindergarten hier sichtlich auf die Nerven. "Sag deinem Kumpel, falls er sich dann jetzt endlich überwinden kann, es zu trinken, soll er vorher nochmal umrühren."

Mit einem "Gib schon her" nahm Urnue den Trinkbecher an sich, schwenkte ihn kräftig in der Hand, um den Inhalt per Rotation umzuwälzen, und stürzte sich endlich ein paar gehörige Schlucke voll davon hinter die Binde. Kurz setzte er ab, um zwischenatmen zu können, dann folgte die zweite Hälfte komplett. Zwischen stolz und grimmig knallte er den Becher hiernach auf die Tischplatte, untermalt von einem hohlen 'Klonk'.

Sowohl Shaban als auch Victor schauten ihn an, als würden sie auf Nebenwirkungen warten. "Und? Lebst du noch?"

Urnue inspizierte unzufrieden seine Hände. "Das Zeug wirkt nicht."

"Was!?"

"Ich sagte, es wirkt nicht!", beharrte der Wiesel-Genius trotzig. "Ich kann immer noch nicht auf die Astralebene zurück!"

"Meine Fresse, es hat ja auch keiner gesagt, dass du binnen Sekunden wieder komplett hergestellt sein würdest! Ein bisschen Zeit zum Heilen wirst du schon trotzdem brauchen!", fuhr Shaban ihn hysterisch an. Jetzt reichte es endgültig! Er hätte die beiden einfach umbringen sollen, jawohl! Umbringen hätte er sie sollen! Alle beide!

Während Shaban und Urnue sich ungehemmt in die Wolle kriegten, sich Titel wie "Scharlatan" und "undankbarer Wurm" um die Ohren hieben, und die Fetzen zu fliegen begannen, saß Victor lachend daneben.

Der unerwartete Verbündete

"Hör mal, Shaban, was meintest du vorhin damit: deine Leute wären unschlüssig gewesen, ob ich hier auftauche. Was für Leute? Hast du neuerdings ein Gefolge? Irgendwas, was mir Sorgen machen müsste?" Inzwischen war Ruhe eingekehrt. Shaban und Urnue schwiegen sich sauer gegenseitig an und wichen dem Blick des jeweils anderes aus, also hielt Victor die Zeit für gekommen, wieder vernünftige Gespräche in Gang zu bringen.

Der Druide lächelte wissend. "Mir ist schon klar, was du jetzt von mir hören willst."

"Ich hoffe doch eher, dir ist klar, was ich jetzt NICHT von dir hören will."

"Ich will keine Probleme mit dir, Akomowarov. Ursprünglich bist du hergekommen, weil das zwischen dir und mir was persönliches war. Aber das scheint ja vorerst auf Eis zu liegen. Damit könntest du fröhlich da zur Tür rausspazieren und deiner Wege gehen und wir wären beide glücklich."

Victor grinste hinterhältig. "Was bringt dich zu dem Schluss, dass das schon aus der Welt wäre?"

"Aber falls ich immer noch irgendwelchen Motus-Aktivitäten nachgehen sollte ...", fuhr Shaban unbeeindruckt fort, "von denen du noch nichts mitbekommen hast, und am Ende vielleicht sogar ne Untergrund-Truppe auf die Beine gestellt haben sollte, dann wird das hier nichts mehr mit dem fröhlich-zur-Tür-rausspazieren. Das ist mir schon bewusst."

"Lenk nicht ab, Shaban. Was für Leute!?", verlangte Victor abermals beherrscht zu wissen.

Der große, bullige Druide atmete seufzend durch und ließ den Blick schweifen. "Weißt du, wo Vladislav gerade ist? Hast du ihn schon gefunden?"

Victor verengte etwas die Augen. "Ich hab mich noch nicht ernsthaft auf die Suche gemacht", gab er ehrlich zu, auch wenn er nicht wusste, was das eine mit dem anderen zu tun hatte.

"Nun, in den Staaten ist er jedenfalls nicht mehr. ... Meine Leute wissen, wo er ist. Sie können ihn dir liefern. Und glaub mir, das würden sie mit Freuden für dich tun."

"Warum?", konnte Victor sich nicht verkneifen. "Warum sollten sie ihn an mich verraten? Sind das ehemalige Motus-Leute? Denken die, im Gegenzug lasse ich sie dann in Ruhe und jage sie nicht weiter?"

"Wäre das denn kein Deal, auf den du dich einlassen würdest?"

"Kommt drauf an, wie viele du unter Schutz stellen willst. Früher oder später finde ich Vladislav auch alleine. Dazu brauch ich deine Leute nicht. Die können mir bestenfalls helfen, meine Suche etwas zu beschleunigen."

Shaban schmunzelte. "Was glaubst du denn, wo Vladislav gerade steckt?", fragte er erneut.

"Hier in England. In London, um genau zu sein. Jedenfalls wurde sein Schutzgeist Waleri zuletzt da gesehen."

Shabans Augen verengten sich kurz verschwörerisch. "Wie alt ist diese Information?"

"Fünf Tage."

Der Druide nickte verstehend. Er fuhr gewitzt mit der Zungenspitze seine Oberlippe nach. "Er befindet sich in Barcelona und kehrt heute noch nach Moskau zurück", stellte er klar und beobachtete Victors Reaktion. "Diese Information ist drei Stunden alt."

Victor griff sich seufzend an die Stirn. "Gut, du hast gewonnen. Sag mir, wer deine Leute sind, damit ich nen Bogen um sie machen kann."

"Nun ... Seiji Kami wäre einer."

"WAS!?", machten Victor und Urnue wie aus einem Mund. "Was hast du mit den FABELS zu schaffen?", keuchte Victor, immer noch hyperventilierend.

Shaban brummte mit einem geringschätzigen Schulterzucken. "Das gleiche wie du, muss ich wohl annehmen."

"Wenn der Kerl weiß, wo Vladislav ist, warum sagt er´s mir dann nicht? Er hat mich nichtmal informiert, dass Vladislav überhaupt aus dem Knast ausgebrochen ist!"

"Tja. Die FABELS wollen nicht, dass du Vladislav vor ihnen erwischst. Beziehungsweise wollen die überhaupt nicht, dass du ihn erwischst. Die wissen ganz genau, dass du ihn nicht nochmal lebend bei irgendeiner Institution abliefern wirst. ... Die FABELS wollen ihn unbedingt vor euch finden, und zwar lebend. Seiji hat mir lediglich gesagt, dass Vladislav aus dem Gefängnis ausgebrochen ist, weil er geglaubt hat, dass Vladislav plötzlich bei mir auftauchen könnte. Immerhin hat Vladislav sich ein paar Tage lang hier in der Nähe rumgetrieben, in London drüben." Er wandte sich wieder direkt an Victor. "Von den FABELS brauchst du keine Hilfe zu erwarten. ICH war der Auffassung, dass du von dem Gefängnisausbruch wissen solltest."

Victor senkte nur mit einem geschlagenen Kopfschütteln den Blick. Wissen und gute Vorbereitung waren immer seine Lebensversicherung gewesen. Er ging nie irgendwo hin, ohne genau zu wissen, was ihn erwarten würde oder mit wem er es zu tun bekam. Er war lange nicht mehr so von den Entwicklungen überrollt worden wie hier und jetzt.

"Und um auf deine Frage zurück zu kommen, warum ich mir so sicher bin, dass du mich nicht umlegst: Ich bin der, der dir die nötigen Informationen zugänglich machen kann. Ich habe Leute da draußen, die wissen wo Vladislav steckt."

Victor nickte schweigend in sich hinein. Mit immer noch hängendem Kopf.

"Hör mal", brummte Shaban mit seiner tiefen Bass-Stimme eindringlich. "Wenn ich dir Vladislav liefere, hängt da natürlich auch eine Bedingung dran."

"Natürlich hängen da Bedingungen dran. Alles andere hätte mich auch sehr gewundert. Das bist immerhin du, von dem wir reden", gab Victor ruhig zurück. Dann sah er endlich wieder auf, mit etwas leidendem Gesicht, und wartete auf mehr.

"Wenn du mit Vladislav fertig bist, wirst du deinen Job als Vollstrecker an den Nagel hängen. Keine Toten mehr!"

"Als hätt' ich´s geahnt ..."

"Solltest du darauf nicht eingehen, werde ich dir nicht helfen, und dann werden die FABELS Vladislav todsicher selber aus dem Verkehr ziehen, bevor du ihn erwischst. Dann kriegst du ihn nie. Und du solltest nicht darauf spekulieren, dass du Vladislav auch ohne meine Hilfe finden wirst. So schnell bist du nicht. Denk dran: die FABELS wissen, wo Vladislav ist. Du nicht. "

Victor überdachte das noch eine Weile, dann stand er von seinem Sitzplatz auf, womit er auch seinen Kameraden Urnue notgedrungen mit hochscheuchte. "Danke für deine Gastfreundschaft, Shaban. Wir werden dich nicht länger aufhalten. Ich denk über deine Bedingungen nach, nachdem ich mit Vladislav fertig bin. Ich muss erstmal sehen, wie sich das auf mein Gemüt auswirkt. Ob ich danach endlich zufrieden bin, mit der Welt wie sie ist, oder nicht." Mit diesen Worten marschierte er Richtung Tür.

Der Druide zog die Augenbrauen zusammen. "Das würde ich meinen Leuten ungern so ausrichten."

"Solltest du aber, sonst glauben sie dir nämlich nicht. Keiner, der mich kennt, wird eine andere Antwort von mir erwarten. Offensichtlich hast du ja Urnues Handynummer. Halt uns auf dem Laufenden." Victor zog die Tür auf und verließ die Hütte im Wald. Ein Trampelpfad wies ihnen den Weg zurück zur Straße.
 

"Das war ein ganz schön überstürzter Aufbruch", kommentierte Urnue.

"Das war auch ein ganz schönes Überschlagen der Ereignisse, dafür, dass wir ursprünglich hergekommen waren, um Shaban kalt zu machen. In so unberechenbaren Situationen bleibe ich lieber nicht länger als nötig."

Urnue nickte nur verstehend und sagte dann nichts mehr.

Die beiden spazierten eine Weile wortlos nebeneinander her, und Victor wusste Urnues Schweigen sehr wohl zu deuten. "Es tut mir leid, dass du jetzt böse auf mich bist", ergriff er daher irgendwann als erster wieder das Wort.

Mit einem "hm?" schreckte Urnue aus seinem dumpfen Brüten hoch. "Böse? Auf dich? Wie kommst du darauf?"

"Ich weiß, dass du diesen Dullahan unbedingt zur Strecke bringen wolltest. Und jetzt gehen wir wieder und er lebt noch."

"Ist ja nicht deine Schuld, dass wir ihn plötzlich noch brauchen", gab der Wiesel-Genius gleichmütig zurück. "Außerdem kann ich noch nichtmal beweisen, dass er wirklich der war, den ich suche."

"Wir werden uns noch um ihn kümmern, versprochen."

"Dann willst du auf seine Forderung also nicht eingehen?"

"Das hab ich nicht gesagt. Aber so wie ich das verstanden habe, besagt der Deal, dass ICH niemanden mehr umbringen soll. Von Helfershelfern war keine Rede."

"Soll ich also deine Nachfolge antreten?", wollte Urnue besorgt wissen.

Victor machte riesige, erschrockene Augen. "Gott, nein! Das wirst du schön bleiben lassen, U.! Du nicht! Ich hab dir das schon so oft gesagt. Ich will nicht, dass du auch noch zum Mörder wirst. Schon schlimm genug, dass ich so geworden bin. - Aber es ist offensichtlich, was hier läuft. Die Tatsache, dass die FABELS mich gedeckt und unterstützt haben, statt mich zu jagen, hat meine Arbeit sehr befeuert. Ich hab wohl ein paar Motus-Wichser zuviel aus dem Verkehr gezogen. Die, die noch übrig sind, sind meine Aktivitäten leid. Sie wollen mich endlich von der Bildfläche verschwinden sehen und wieder in Ruhe ihr Leben leben. Es geht ihnen hier nicht um Vladislav, oder darum ob der lebt oder stirbt. Ich mache denen größere Sorgen. Und wenn ich nicht freiwillig aufhöre, Verbrecher abzuschießen, wird Shaban wahrscheinlich Methoden finden, mir einen Riegel vorzuschieben. Das wird ihm nicht schwer fallen. Kontakt zu den FABELS hat er ja offensichtlich schon."

"Dann ist Vladislav also sein Friedensangebot? Win-win-Situation für euch beide, und dann Schluss mit dem ganzen Spiel?"

"Jedenfalls hoffe ich das. Alle anderen Ziele oder Beweggründe, die Shaban mit dieser wahnwitzigen Aktion sonst noch haben könnte, würden schlechter für mich ausgehen."

"Dann hör auf, Hintertüren in dem Deal zu suchen. Egal welche Gründe du Shaban unterstellst, tu mir einen Gefallen und heuer dir keine Helfer an, Dragomir. Schick keine Leute mit Aufträgen durch´s Land, die das Töten für dich übernehmen. Dann wärst du endgültig so geworden wie Vladislav, und wärst keinen Deut mehr besser als er."

Victor verschränkte locker die Arme, mit gesenktem Blick weitergehend, während er dieses Argument auf sich wirken ließ. Urnues Worte spukten wie ein Echo in seinem Kopf herum. Endgültig so geworden wie Vladislav. Er nickte langsam. "Ja", hauchte er leise. "Da hast du vermutlich Recht."

Urnue nickte beruhigt zurück und sah auf seine Hände. "Oh, hey!?", machte er plötzlich euphorisch. Er verschwand kurz in den unsichtbaren Sphären der Astralebene und kehrte einen Augenblick später wieder auf die stoffliche, sichtbare Ebene zurück. "Ich kann wieder wechseln. Endlich. Ich dachte schon, Shaban hätte mich mit seinem blöden Gebräu veralbert."

Victor schmunzelte müde, wenn auch ehrlich erfreut, und beendete die Debatte vorläufig, ob er schon bereit war, sein Lebenswerk aufzugeben. Schweigend ging er weiter und überließ Urnue seiner Begeisterung. Insgeheim überlegte er, welches Interesse die FABELS ausgerechnet an Shaban haben konnten. Klar, bevor sie einen alleine hopp nahmen, fragten sie den lieber, ob der nicht noch ein paar mehr kannte, die es hopp zu nehmen lohnte. Aber ausgerechnet dieser Kerl ...? Shaban war ein Niemand, angesehen davon, dass er Victor vor Jahren beinahe mal eliminiert hätte.

Die undefinierbare Ungewissheit

Urnue lag auf seiner Pritsche, die Hände im Genick verschränkt, und starrte zur Decke hinauf. Er war nicht müde. Und selbst wenn er müde gewesen wäre, hätte er nicht schlafen können, das wusste er genau. Es war eine sonderbare, gegenstandslos Sorge, die ihn befallen hatte. Er konnte nichtmal sagen, wovor genau er Angst hatte. Victor wollte zu Vladislav gehen und von Angesicht zu Angesicht alles klären, was er noch klären zu müssen glaubte. Das alleine bereitete Urnue kein Unbehagen. Er traute Victor durchaus zu, da lebend wieder raus zu kommen. Victor war dem Kerl in einfach allem überlegen. Es gab schlicht und ergreifend nichts, was Vladislav ihm hätte entgegensetzen können.

Trotzdem hatte Urnue das unbehagliche Gefühl, dass danach irgendwas nicht mehr so sein würde wie vorher. Victor würde nicht mehr so sein wie vorher. Mit diesem Duell würde eine Ära zu Ende gehen. Ein Lebenswerk. Victor hatte sich immer noch nicht entschieden, ob er nach diesem Tag weiter ehemalige Motus-Mitglieder jagen würde oder nicht. Aber selbst wenn doch - Urnue war sich nicht sicher, was Vladislavs Ende mit Victor machen würde. Wenn Vladislav weg war, kam das einem Zirkelschluss gleich. Dann hatte Victor streng genommen alles erreicht, was er erreichen konnte und wollte. Ob er danach in der Jagd auf andere Motus-Anhänger immer noch Erfüllung finden würde, ob er eine neue Lebensaufgabe finde würde, oder ob das auch Victors eigenes Ende war - und sei es nur sein psychisches Ende - konnte Urnue nicht einschätzen.

Unter´m Strich, so entschied Urnue, hatte er wohl einfach Angst vor der Zukunft. Sorge davor, was kommen mochte.
 

Der Wiesel-Genius wandte fragend den Kopf, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung registrierte.

Victor war im Höhleneingang erschienen und lehnte sich mit der Schulter in den Steinbogen, ein müdes Lächeln auf den Lippen. "Hey. Du kannst auch nicht schlafen, wie ich sehe!?"

"Und selber?", hielt Urnue vielsagend dagegen.

"Ich weiß nicht ...", hauchte Victor ungewohnt besorgt und schaute kurz auf seine Fingernägel, um das zu überspielen. "Irgendwie treibt mich eine innere Unruhe um. Und ich glaub nicht, dass das an diesem Doping-Gebräu liegt, das wir bei Shaban getrunken haben."

"Was macht dir Kopfzerbrechen?"

"Shaban hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht."

Urnue zog verwundert die Stirn kraus. "Der tut uns doch gar nichts mehr. Im Gegenteil, er ist sowas wie unser Verbündeter."

"Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich, wie eine Klinge in deinem Herzen versenkt wird, Urnue."

"Ach herrje~", machte der Wiesel-Tiergeist ungewollt amüsiert und konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. "Wenn das deine ganze Sorge ist, ist ja alles gut. Um mich musst du keine Angst haben. Mach dir lieber Gedanken um dich selber und um Vladislav, hm?"

"Ich weiß ...", seufzte der Russe sentimental. "Trotzdem werde ich dieses Bild einfach nicht mehr los. Es verfolgt mich wie eine Vision."

"Es hat dich offenbar schockiert, dass er mich von der Astralebene zerren konnte. Damit hattest du nicht gerechnet. Sowas hast du vorher noch nie gesehen und wusstest gar nicht, dass das geht. Dieses Erlebnis hat dein Sicherheitsgefühl erschüttert, das ist alles. In ein, zwei Tagen bist du drüber weg. Das wird dir nicht ewig Albträume bereiten, glaub mir."

Victor nickte leicht vor sich hin, wirkte aber immer noch nicht überzeugt. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, er bereue es, sich einen Mitstreiter an Land gezogen zu haben, der ihm tatsächlich etwas bedeutete, und um dessen Sicherheit er besorgt sein musste. Als wäre ihm gerade erst bewusst geworden, dass er nicht mehr nur für sich selber verantwortlich war, und - was noch schlimmer war - als hätte er ein Problem damit.

Mit einem schweren Seufzen raffte sich Urnue von seinem Liegeplatz auf und winkte Victor mit einer fordernden Handbewegung näher. "Leg dich her, komm, ich will dir was zeigen."

"In deinem Bett?", rückversicherte der sich, mehrdeutig grinsend.

"Mach dir keine falschen Hoffnungen. Da wirst du enttäuscht werden", scherzte Urnue ebenso anzüglich zurück.

Der Gestaltwandler löste sich bereitwillig aus dem Eingang und kam ganz in Urnues Zimmer herein. Schwungvoll setzte er sich auf die Bettkante und schaute seinen Kameraden erwartungsvoll an, was der vorhatte.

"Ich sagte, du musst dich hinlegen", erinnerte Urnue ihn belustigt.

"Ernsthaft?"

"Ernsthaft."

Victor seufzte leise. "Von mir aus ..." Hinnehmend warf er sich der Länge nach auf Urnues Pritsche, ohne die Schuhe auszuziehen.

Urnue setzte sich wieder mit zu ihm auf die Bettkante und legte ihm eine Hand auf den Bauch.

"Was soll'n das werden?", verlangte Victor - plötzlich gar nicht mehr so gleichgültig - zu wissen.

"Halt still."

"U.!?"

"Ich muss erstmal die richtige Stelle bei dir finden ..."

Mit einem Schlag spürte Victor sämtliche Anspannung aus seinen Gliedern fahren und auch sein Kopf wurde übergangslos völlig ruhig und schläfrig. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt und ihn zwangsweise tiefenentspannt. Alle Probleme und Ängste waren vorerst vergessen. "Woah ... was war das denn?", murmelte er matt.

"Weiß ich auch nicht so genau. Nyu hat mir das mal gezeigt. Ich denke, es ist eine Art Akupressur."

Victor nickte müde. Ihm fielen langsam die Augen zu.

"Rupperts Sohn Josh hat diese Entspannungstechnik geliebt, wenn er Prüfungsstress hatte. Da konnte er nämlich auch immer nicht schlafen", fuhr Urnue fort und beobachtete noch eine Weile das Gesicht seines Kollegen. "Ich hoffe, jetzt kannst du schlafen", murmelte er leise, als er sicher war, dass Victor endgültig weggedämmert war. Dann stand er vom Bett auf, ließ ihn schlummern, und ging. Er bedauerte es ein wenig, dass solche Techniken bei ihm selbst nicht wirkten. Er hätte auch gern geschlafen. Aber er konnte es halt nicht erzwingen. Vielleicht fand er in Victors Bibliothek noch irgendwas, womit er sich inzwischen die Zeit vertreiben konnte. Russische Bücher zu lesen, war das eine; russische Fachbücher hingegen etwas völlig anderes. Stattdessen begann er schon wieder seinen Sorgen über eine ungewisse Zukunft nachzuhängen, und fragte sich einmal mehr, was er Victor als Alternative vorschlagen könnte. Vielleicht sollten sie weiter Motus-Aktivisten jagen, sie aber lebend der Gerichtsbarkeit überlassen. Damit hätte Urnue auch selber viel besser leben können. Er war nämlich genau so wenig ein Fan von toten Verbrechern wie die FABELS. Und Shaban hatte immerhin nur verlangt, dass es keine Toten mehr gab. Davon, dass Victor ganz aufhören sollte, hatte er nichts gesagt. ... Vielleicht konnte Victor sich künftig auch mehr aufs Unterrichten an der Uni konzentrieren. Man konnte schließlich viel von ihm lernen.
 

Am nächsten Tag standen Victor und Urnue auf dem obersten Deck eines Parkhauses und schauten über die Dächer Moskaus. Sie wirkten beide ein wenig ratlos. "Die Stadt ist so riesig ... Wo willst du bitte mit der Suche anfangen, Dragomir?", fragte Urnue etwas lustlos.

"Ich weiß es noch nicht so richtig. Früher hätte ich ziemlich genau gewusst, an welchen Orten ich Vladislav suchen muss. Aber ein paar Jahre Knast könnten seine Gewohnheiten und Interessen sehr verändert haben."

Beide ließen unschlüssig den Blick über das Häusermeer schweifen. Dann unterbrach plötzlich eine Handymelodie die allgemeine Ideenlosigkeit. Urnue zog sein Telefon aus der Jacke und warf einen Blick darauf. Wie befürchtet handelte es sich um einen Anruf mit unterdrückter Nummer. Auf einen Verdacht hin ging er trotzdem ran. "Ja?", sagte er ins Handy, mehr nicht.

"Urnue? Ich bin´s!", meldete sich eine inzwischen vertraute, dunkle Reibeisen-Stimme.

"Oh. Hi."

"Seid ihr gerade in Moskau?"

"Ja."

"Wenn ihr Vladislav finden wollt, dann schwingt eure Hintern nach Otradnoje rüber. Ich melde mich wieder, wenn ich den Standort genauer eingegrenzt habe", trug Shaban ihnen ohne Umschweife auf.

Urnue musste das vor Überraschung erst eine Sekunde lang verarbeiten, bevor er langsam in sich hinein nickte. "Okay, ist gut. Danke."

Shaban unterbrach das Gespräch, bevor Urnue es selbst tun musste.

Victor schaute ihn mit großen, fragenden Augen an. Da Urnue diesmal mit dem Hörer am Ohr und nicht auf Lautsprecher telefoniert hatte, hatte er nicht mithören können.

"Das war Shaban", klärte der Wiesel-Genius ihn auf.

"Ach, hat er sich doch entschlossen, uns zu helfen? Obwohl er noch gar keine verbindliche Zusage von mir hat, dass ich danach niemanden mehr meucheln werde?"

"Er sagt, wir sollen nach Otradnoje. Dort würden wir Vladislav finden."

Victor nickte schon einverstanden, obwohl er noch überlegte. "Der Stadtteil liegt im nördlichen Verwaltungsbezirk von Moskau, oder?"

"Ja. Ist gar nicht mal so weit dort hin."

"Na dann los!", entschied Victor euphorisch und marschierte zu dem Leihwagen zurück, mit dem er heute ein bisschen auf gut Glück in Moskau hatte herumkutschieren wollen, um sich die eine oder andere Lokalität anzusehen und vielleicht ein paar Erkundigungen einzuholen.

"Wenn das hier vorbei ist, muss ich die Handynummer wechseln ...", seufzte Urnue und folgte ihm. Dabei machte ihm die Rückverfolgbarkeit seiner Handynummer gerade wirklich die geringsten Sorgen.
 

Trotz des grundsätzlich und zu jeder Tageszeit grauenhaften Verkehrs hatten sie den Moskauer Stadtteil Otradnoje schon eine gute Stunde später erreicht. Victor hatte sich entschieden, sich abermals ein halbwegs zentral gelegenes Parkhaus zu suchen, und zu warten. Da weder er noch Urnue sich in diesem Teil der Hauptstadt auskannten, wussten sie zumindest keine lohnenden Ziele, wo man Vladislav auf Verdacht hätte suchen können.

Shaban ließ sie auch gar nicht lange hängen. Urnues Handy klingelte schon wieder, kaum dass sie sich eine Parklücke gesucht hatten. Diesmal nahm Urnue den Anruf auf Lautsprecher an, damit Victor mithören konnte.

"Hey, seid ihr schon vor Ort?", wollte Shaban geradeheraus wissen.

"Mitten drin statt nur dabei", bestätigte Urnue scherzhaft.

"Wie schnell könnt ihr am Altufievsky sein?"

"Ist Vladislav dort?", hakte der Wiesel-Genius nach, während Victor neben ihm das Schlagwort bereits stirnrunzelnd ins Navi eingab.

"Nein, noch nicht. Er ist gerade irgendwo im Otrada-Park. Aber von der Bewegungsrichtung her tippe ich schwer drauf, dass er dort hin will. Ist eigentlich das einzige, wo er hin kann. Was anderes gibt´s dort nicht. Außer er besucht nen alten Freund, der zufällig da wohnt."

"Otrada ist ein verdammt großer Park", merkte Victor unglücklich an.

"Ja, und das Altufievsky ist ein verdammt großes Shopping-Center. Dort drin wird er vor lauter Menschen nur noch schwer zu finden sein. Vor allem gibt es auch viele Zeugen und so. Ich würde euch raten, ihn vorher abzufangen. Aber die eigentliche Frage ist, ob ihr´s überhaupt dort hin schafft, bevor Vladislav wieder weg ist."

Victor sah sich das Gebiet nachdenklich auf dem Navi-Display an. "Gib mir 20 Minuten", entschied er.

"Ist gut. Wir bleiben dran", versprach Shaban und legte einfach auf. Ohne Verabschiedung. Eine nervige und unhöfliche Marotte, wie Urnue fand.

Victor musterte noch eine Weile das Handy in Urnues Hand und grübelte düster vor sich hin, statt sofort den Motor zu starten.

Urnue beobachte ihn seinerseits genau von der Seite. "Dir gefällt an der Sache irgendwas nicht, hm?"

"Ich weiß nicht ... Vertraust du Shaban?", wollte Victor wissen. "Also so richtig? Selbst wenn dein Leben davon abhinge?"

"Letztes Mal schien er doch sehr umgänglich. Siehst du Gründe, ihm nicht zu trauen?"

"Er lotst uns zu einer genau bestimmbaren Zeit an einen ganz konkreten Ort. Und wir haben nichts als sein Wort, dass wir dort Vladislav finden werden, wenn wir ankommen - und nicht etwa eine Hundertschaft Polizisten, die uns schon erwarten."

"Da magst du Recht haben", gab Urnue ruhig und sachlich zu.

"Warum tut er das, U.? Wieso sollte Shaban uns helfen? Ich habe ihm nichtmal zugesichert, dass ich auf seine Bedingungen überhaupt eingehen werde."

"Er erhofft sich davon, dass du - auch ohne ausdrückliche Zusage - aufhörst, Leuten Kugeln in den Schädel zu pusten, nur weil du sie nicht leiden kannst."

"Das ist jetzt aber doch etwas ungerecht formuliert. Ein bisschen komplexer sind meine Auswahlkriterien schon", hielt Victor dagegen und zog eine Flunsch.

"Deine Skepsis kommt jedenfalls reichlich spät, findest du nicht?"

"Ja ..." Victor rieb sich beiläufig mit dem Fingerknöchel ein Auge, dann griff er zum Zündschlüssel und warf das Auto an. "Lass uns vorsichtig sein."

Die dubiose Villa

Victor hatte sich vorübergehend in einen Raben verwandelt und Kreise über dem Gebiet gezogen. Erst nach einer ganzen Weile landete er wieder neben Urnue auf dem Hausdach und kehrte in seine menschliche Gestalt zurück. Die mit dem langen Ledermantel und den schulterlangen, schwarzen Haaren. Er wirkte immer noch skeptisch.

"Und? Hast du was gefunden?", wollte Urnue wissen.

"Nichts. Keine offizielle Polizei. Nichtmal Bettler, die auffallend in den Straßen rumlungern und getarnte Sicherheitskräfte sein könnten."

Urnue hielt vielsagend sein Handy hoch. "Shaban hat mich vorhin nochmal angerufen. Er sagt, Vladislav ist gerade irgendwo in dieser Straße da unten unterwegs."

"Ja. Ich hab ihn schon gesehen. Er bewegt sich direkt auf uns zu."

Urnue atmete schwer durch. "Dann Showtime, was?"

Victor griff sich ins Genick und fummelte den Verschluss einer Halskette auf, die er trug. Als er sie samt dem kleinen Anhänger aus seinem T-Shirt-Ausschnitt gezogen hatte, drückte er sie dem Wiesel-Tiergeist in die Hand. "Tust du mir einen Gefallen und hebst die für mich auf? Wenn Vladislav nicht völlig dumm ist, wird er mir alles wegnehmen, was ich in den Taschen und am Körper trage. Aber die Kette brauch ich noch."

"Ist gut."

"Wenn du willst, kannst du sie so lange selber tragen. Die Magie auf dem Anhänger verhindert, dass Gedankenleser restlos alles auslesen können, was dir so durch den Kopf geht."

Urnue nickte einverstanden.

Victor schob beide Hände erst in die Manteltaschen, dann in die Hosentaschen, als würde er etwas suchen, und ließ den Blick schließlich auf seiner linken Hand ruhen. Er schien zu überlegen. Nach kurzem Zögern nahm er auch noch einen Ring ab, den er dort trug, und hielt ihn Urnue ebenfalls hin. "Hier. Da du selber kein Fluch-Magier bist, wird der dir vielleicht auch nützlich sein. Der wehrt simplere Flüche und Verwünschungen ab. Dass du mal an jemanden gerätst, der dir wirklich hardcore-Flüche an den Hals hetzen will, ist wohl eher unwahrscheinlich."

"Dragomir ...", meinte Urnue in leicht protestierendem Tonfall, auch wenn er den Ring dennoch annahm. "Hör auf damit. Du gibst mir gerade das Gefühl, dass ich dich nie wiedersehe."

Der Russe lächelte amüsiert. "Du sollst nur meinen Krempel für mich aufbewahren, damit Vladislav mir das Zeug nicht wegnimmt."

"Ja-ja ... So klang das aber gerade nicht."

"Hör zu, Urnue", meinte Victor, wieder deutlich ernster. "Ich weiß, du bist absolut nicht begeistert von der Aktion. Wirst du dich trotzdem an den Plan halten, wie wir ihn abgesprochen haben?"

"Ja."

"Ich muss mich auf dich verlassen können. Versprichst du mir das?"

Urnue nickte ernst. "Versprochen."

Victor zog ihn in eine kumpelhafte Umarmung. "Danke ... Freund."

"Viel Erfolg. Und lass dich gefälligst nicht umbringen, wenn du so gnädig wärst."

"Mal sehen, was ich tun kann. ... Man sieht sich", meinte Victor und nahm erneut die Gestalt des Raben an, um schneller vom Hausdach runter auf die Straße zu kommen. Der Weg über die Feuerleiter und das Treppenhaus hätte jetzt zu lange gedauert.
 

Waleri trottete lustlos und auch ein wenig grummelig die schwach bevölkerte Fußgängerzone entlang. Links und rechts säumten Verkaufsstände den Weg. Er selbst hatte kein Interesse an den Waren, aber Vladislav hielt ungerührt hier und da an, um zu schauen. Waleri war etwas sauer auf ihn. Dafür, dass sie gerade aus dem Gefängnis ausgebrochen und vermutlich schwer gesucht waren, erfreute sich Vladislav ziemlich sorglos seines Lebens. Es wäre Waleri lieber gewesen, wenn sie in Deckung geblieben wären. Wenigstens die erste Zeit, bis sich alles wieder beruhigt hatte. Wohl darum war er auch nicht sonderlich aufmerksam. Er wünschte sich förmlich, wieder von irgendwem aufgegriffen und ins Gefängnis zurückgebracht zu werden, einfach nur um seinem hochmütigen Schützling einen Denkzettel verpasst zu sehen.

Er wandte sich von einem Straßenstand ab, schlenderte geruhsam weiter, sah dabei wieder nach vorn und ihm entschlüpfte ein schockiertes "Wow!", als er fast in eine Person mit schwarzem Ledermantel hineinrannte.

Victor Akomowarov, der Waleri im gleichen Moment seinerseits bemerkte und erkannte, erstarrte mit schreckgeweiteten Augen, und konnte sich ein "Oh!" ebenfalls nicht verkneifen.

Waleri reagierte schneller. Er packte Victor am Mantelaufschlag und setzte seinen Zeitpuffer ein. Die Welt um ihn herum gefror zum Standbild, und Victor mit ihr. "Vladislav! Tu was!", presste er dabei auffordernd durch die Zähne. Seine Zeitpuffer-Fähigkeit einzusetzen, kostete ihn jedes Mal körperliche Anstrengung, besonders wenn er einzelne Personen davon ausnehmen musste.

Vladislav, der gerade noch damit beschäftigt war, sich zu wundern, warum er in einen plötzlich erstarrten Passanten hineingerannt war, schaute herum und hatte nicht minder mit einer kurzen Überforderung zu kämpfen. Das war wirklich Victor Akomowarov! Unglaublich. In Vladislavs Kopf überschlugen sich die Optionen. Er war drauf und dran, die Knarre zu ziehen und Victor einfach umzulegen. Aber sie waren hier in einer Fußgängerzone. Zeitpuffer hin oder her, es gab viel zu viele Zeugen, derer sie nachher nicht mehr Herr werden würden. Kurzentschlossen zückte er Zettel und Stift und schmierte schnell einige Zeichen darauf, um eine Bannmarke herzustellen. "Gut, lass los!", trug er Waleri auf.

Der Schutzgeist ließ seine Fähigkeit erleichtert fahren, glücklich, der körperlichen Kraftanstrengung endlich nachgeben zu dürfen.

Im gleichen Moment pappte Vladislav Victor den Bannzettel auf die Brust und fing ihn auf, als der augenblicklich bewusstlos in sich zusammensackte. "In den Hinterhof mit ihm!", kommandierte Vladislav weiter. Er deutete mit dem Kinn auf eine große, doppelflügliche Durchgangstür in der Häuserfront, kaum 5 Schritte von ihnen entfernt.

Waleri öffnete ihm die glücklicherweise unverschlossene Tür und krachte sie hinter Vladislav wieder zu, als der seine Geisel hindurchgezerrt hatte. In der Passage waren sie allein. Drinnen sanken beide erschöpft und erleichtert in sich zusammen, gemeinsam mit ihrem ohnmächtigen Opfer. Sie hofften einfach mal, mit ihrer Aktion nicht allzu viel Aufsehen erregt zu haben. Hier konnten sie sich in Ruhe überlegen, wie es weitergehen sollte.

Vladislav warf dem Muskelprotz einen bösen Blick zu. "Ein toller Schutzgeist bist du, dass du Victor so nah an uns rankommen lässt. Hätte er uns eher bemerkt, hätten wir beide tot sein können!", maulte er.

Anbetracht der Tatsache, dass Vladislav ihn ja ebenfalls nicht eher gesehen hatte, zog Waleri sauer die Augenbrauen zusammen. "Und du bist ein echt toller Magier, wenn dir nichts besseres einfällt, als Victor einfach schlafen zu legen", hielt er uneinsichtig dagegen. "Überleg dir lieber, was du jetzt mit ihm machen sollst! Wir werden ihn wohl kaum bewusstlos durch die Straßen schleppen können."

"Vorsicht, Freundchen! Nicht in diesem Tonfall!", verlangte Vladislav düster. "Der Schutzgeist ist immer noch deine Rolle, vergiss das nicht! Also tu deinen Job!"

Zähneknirschend hielt Waleri die Klappe. Er wusste nur zu gut, was von Vladislav zu erwarten war, wenn der sich ungerechtfertigt angemacht fühlte.

Vladislav sah wieder auf den jung wirkenden Kerl im schwarzen Ledermantel und überlegte. "Gut, ich sag dir, was wir tun werden. Du gehst jetzt los und beschaffst einen Lieferwagen. Und dann laden wir ihn ein. Ich warte so lange hier bei ihm."

"Das hier ist ne Fußgängerzone!"

"Und? Was glaubst du, wo die vielen Läden hier ihre Lieferungen herkriegen? Mit dem Handwagen vielleicht?"

Waleri seufzte missmutig. "Schon gut. Ich gehe." In Gedanken grübelte er bereits, wo er auf die Schnelle einen Transporter hernehmen sollte. Ein paar Straßen weiter hatte es früher mal eine Autovermietung gegeben. Vielleicht existierte die noch. Oder er lieh sich beim nächstbesten Autohaus einen für eine angebliche Probefahrt aus. Ihm würde was einfallen. Mehr Bedenken hatte er bei dem Umstand, seinen Schützling solange allein lassen zu müssen. Das war gefährlich und ein absolutes No-Go für Schutzgeister, wenn sie ihre Schützlinge in dieser Zeit nicht zumindest in der Obhut eines anderen, vertrauenswürdigen Genius lassen konnten.
 

"Waleri", meinte Victor, halb erkennend, halb grüßend, aus der Ecke seiner Zelle. Offenbar war er gerade damit zugange, die aus Natursteinen gemauerten Wände auf Schwachstellen abzuklopfen. Er klang nicht überrascht, dem Glatzkopf hier zu begegnen.

Waleri schaute kurz ziemlich dumm aus der Wäsche. "Du bist wieder wach?"

"Scheint so. Sollte ich das etwa nicht sein?"

Waleri wandte sich kopfschüttelnd wieder ab, da er mit Victor weder reden wollte noch sollte, und widmete sich stattdessen den Pappkartons, wegen denen er hergekommen war. Abgesehen von der Kerkerzelle wurde dieser Keller tatsächlich auch ganz zweckentsprechend zum Lagern von Sachen genutzt. Waleri suchte nach einem bestimmten Stehordner mit Unterlagen und war selbst ein wenig erstaunt, dass die Polizei seit ihrer Verhaftung hier nicht längst alles auf den Kopf gestellt hatte. Wussten die wirklich nichts von diesem Haus? Das konnte er sich gar nicht vorstellen.

"Sag mal, wo sind wir hier eigentlich?", wollte Victor aus seiner Zelle heraus wissen.

"In Vladislavs Villa. Ihm gehört das Anwesen", brummte Waleri nur knapp zurück. Er glaubte nicht, damit schon zuviel verraten zu haben. Was wusste Victor schon von irgendwelchen Villen? Und selbst wenn, würde er diesen Ort so oder so nicht lebend wieder verlassen. Es spielte keine Rolle mehr, ob Victor hiervon wusste oder nicht. Mit Schwung stapelte er einen Karton um, damit er an den darunterliegenden herankam.

Ungläubig sah Victor sich um. "Vladislav hat in seiner Privatvilla eine Gefängniszelle im Keller? Das sagt echt ne Menge über ihn aus ..."

Der Muskelprotz nickte zustimmend. "Du bist der erste, der da drin steckt. DAS sollte dir Gedanken machen, mein Bester", befand er und zog endlich den gesuchten Ordner hervor. Dann machte er sich zurück auf den Weg nach oben, raus aus dem Keller. Er war hier erstmal mit allem fertig.

"Warte mal, wie lange habt ihr mich schlafen lassen?", rief Victor ihm hinterher. "Ist immer noch Dienstag?"

"Es ist Mittwochmorgen", brummte Waleri tonlos, dann war er weg.
 

Als Waleri etliche Stunden später das nächste Mal in den Keller kam, saß Victor auf dem Fußboden, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, die Beine überkreuz geschlagen, die Hände im Schoß. Er wirkte gelangweilt. Waleri musterte ihn kurz prüfend. "Du heckst doch nichts aus, Kumpel, oder?"

"Was meinst du?", fragte Victor irritiert zurück. "Mache ich diesen Eindruck denn?"

"Solltest du nicht einen Haufen Terz machen und uns bedrohen und beleidigen?"

Victor wog kurz abwägend den Kopf hin und her. "Wenn ihr das wünscht, tue ich das", meinte er nüchtern. "Aber eigentlich wäre es mir lieber, wenn Vladislav einfach mal runterkäme und ganz unvoreingenommen mit mir reden würde."

"Wünsch es dir nicht. Der wird sich noch früh genug um dich kümmern", kommentierte Waleri, bevor er sich wieder den Kartons mit Unterlagen zuwandte und zu kramen begann.

"Was beschäftigt ihn denn so sehr, dass er mich nicht sehen will? Ich hätte nicht geglaubt, dass für ihn irgendwas mehr Priorität haben könnte, als die Rache an mir."

Waleri warf ihm einen nachdenklichen Blick zu, als würde er überlegen, ob er Victor wirklich Auskünfte dazu geben sollte. Es folgte ein rückversichernder Blick zur Treppe. Was sollte es, Victor war eh bald tot und konnte mit der Info sowieso nichts mehr anfangen. "Vladislav macht Bestandsaufnahme, was vom Kartell noch übrig ist, und trommelt die verbliebenen Leute wieder zusammen. Er hat in den letzten Tagen schon etliche Mitglieder persönlich abgeklappert, bevor du uns ins Netz gegangen bist."

"Prima ...", befand Victor deprimiert. "Er will die Motus ernsthaft wieder aufleben lassen?"

"Ja, und zwar z.z.: ziemlich zügig. ... Und jetzt halt die Klappe", trug der Schutzgeist ihm auf. Abermals wühlte er suchend in den Kartons herum.

Die ersten Tage

Victor brach unter einem miesen Magentreffer in die Knie und hielt kurz die Luft an, um sich nicht sofort zu übergeben. Der Schmerz und das Bedürfnis, seinen Mageninhalt auf den Boden auszuleeren, vergingen erst nach ein paar Sekunden wieder. "Meine Fresse. Seit drei Tagen reagierst du dich an mir ab. Ist es nicht langsam mal gut?", beschwerte er sich dann unwillig.

Vladislav grinste. "Was denn? Wünschst du dir den Tod etwa schon selber?"

"Nein. Ich würde nur endlich mal normal mit dir reden wollen."

Der Motus-Boss antwortete mit einem gnadenlosen Fausthieb in Victors Gesicht.

Der Gestaltwandler gab ein schmerzhaftes Stöhnen von sich. "Ach, komm schon!", bat er dann dennoch erneut um Vernunft, als er sich wieder aufrichtete, auch wenn er den tadelnden Tonfall nicht ganz aus der Stimme filtern konnte.

"Ich wüsste nicht, warum ich mit dir reden sollte."

"Weil ich deswegen hier bin!"

"Du bist hier, weil ich dich langsam und genüsslich umbringen werde!"

Victor schüttelte mitleidig den Kopf über so viel Naivität. "Wie lange hast du mich mit der Polizei um die Wette gejagt, und hast mich nichtmal gefunden, geschweige denn gefangen? Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass ich dir nach so vielen Jahren ganz zufällig mitten in Moskau in einer Fußgängerzone vor die Füße falle. Ich bin hergekommen! Absichtlich!"

Ein weiterer Faustschlag, diesmal von der anderen Seite, war die Reaktion. Dann zog Vladislav beleidigt und mit einem letzten Zischen von dannen.

Victor musste an sich halten, nicht zu grinsen. Dieser fluchtartige Rückzug sagte mehr als deutlich, dass Vladislav bereits die Argumente ausgingen. Victor ließ ihn ziehen und fuhr stattdessen mit der Zungenspitze vorsichtig seine Lippen ab, auf der Suche nach aufgeplatzten Stellen. Er hätte sich gern den schmerzenden Kiefer gerieben, aber seine gefesselten Hände erlaubten es nicht. Ermattet ließ er sich auf die Seite fallen, ungeachtet der Tatsache, dass sein gesamter Körper höllisch schmerzte. Auf den Knien sitzen zu bleiben, würde es ja auch nicht erträglicher machen.
 

Gefühlt nur wenige Sekunden später kam Vladislav schon wieder die Treppe herunter. Er hatte einen kleinen Digitalrecorder in der Hand und schaute sich nach einer Steckdose um. Als er das Gerät zu seiner Zufriedenheit im Raum platziert hatte, machte sich ein hinterlistiges Schmunzeln auf seinen Lippen breit, das Victor Sorgen bereitete. "Mal sehen, wie lange du die Nummer mit der großen Fresse noch durchhältst", meinte er und schaltete das Gerät ein.

Victor krümmte sich stöhnend akut zu einem Ball zusammen. Aus dem Lautsprecher drang ein lautes, kratzendes Quietschen, ungefähr wie Fingernägel auf einer Kreidetafel. Oder eher wie die spitzen Krallen eines Monsters auf einer Metallfläche. Es war genau diese fiese Frequenz, bei der sich alles in einem zusammenzog.

"Du wirst heute Nacht kein Auge zumachen, das verspreche ich dir", drohte der ehemalige Motus-Boss ihm an und machte sich wieder auf den Weg zur Treppe.

"Nein! Woar, Vladislav!", rief Victor ihm flehend hinterher, aber erfolglos. Er hörte die Kellertür ins Schloss fallen und war mit dem garstigen Recorder allein, der die Tondatei dauerschleifenartig immer wieder von vorn abspielte. Er fluchte ein wenig verzweifelt in sich hinein. Mit Prügel und anderer körperlicher Folter hatte er hier gerechnet und war darauf vorbereitet. Psychoterror hingegen war neu. Das hatte er Vladislav weder zugetraut, noch entsprach das seinem Stil. So kreativ war der Kerl doch noch nie gewesen! Nach Victors Zeitempfinden war es erst kurz nach Mittag. Wenn Vladislav das verfluchte Teil jetzt wirklich den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch laufen lassen wollte, würde er den Verstand verlieren. Durch seine auf dem Rücken gefesselten Hände konnte er sich nichtmal die Ohren zuhalten.
 

Die Sonne war schon ein gutes Stück weitergewandert, als die Tür das erste Mal wieder geöffnet wurde. Es musste gute drei oder vier Stunden später sein. Waleri brachte einen der dicken Stehordner zurück, um ihn wieder in den Kartons zu verstauen. Der Hühne kramte eine Weile herum, um die Lücke zu suchen, in die der Stehordner gehörte, klatschte den Ordner aber irgendwann mit einem Schnauben einfach oben auf eine der Kisten. Er warf dem kratzend-quietschenden Digitalrecorder einen bösen Blick zu. "Meine Fresse, geht mir das Scheißteil vielleicht auf den Sack!", fluchte er, stapfte hinüber und schaltete ihn ab.

Aus der Gefängniszelle drang ein leises, etwas zittrig klingendes Ächzen. Victor hatte sich auf der Seite zusammengerollt, und auch wenn die langen Haare ihm ins Gesicht gefallen waren, sah man ihm deutlich an, wie elend es ihm ging. Vladislavs dreitägige Prügel hatte ihm nicht halb so zugesetzt wie diese fürchterliche Beschallung.

Waleri kümmerte sich nicht um ihn, sondern ging zu seinen Kisten zurück, wo er den Ordner nach einigem Kramen und Suchen endlich in irgendeine Lücke stopfte, die noch frei war. Da die Dinger ohnehin nicht sortiert waren, war es ihm letztlich egal, ob der Ordner an der richtigen Stelle steckte oder nicht. Er pappte den Deckel wieder auf den Karton, dann kehrte er wie beiläufig zu dem Recorder zurück, um ihn wieder einzuschalten, bevor er ging.

Victor warf sich in seiner Zelle mit einem gequälten Aufstöhnen auf die andere Seite herum, als er abermals mit dem grausamen Geräusch malträtiert wurde.

Waleri wollte es erst ignorieren, blieb auf der Treppe aber doch nochmal stehen und schaute einen Moment lang zu, wie der Gefangene vor angestrengter Selbstbeherrschung zitterte. Dieses Gebaren war sichtlich kein theatralisches Schauspiel, sondern echt. Waleri rechnete hoch, wie das weitergehen mochte. Nach kurzem Hadern kam er wieder ganz herunter in den Keller.

Vorsichtig sah Victor auf, als Waleri geruhsam an das Gitter spaziert kam. Ihm standen förmlich Tränen in den Augen. Er versuchte, Stärke zu bewahren. Versuchte, nicht erniedrigt und entwürdigt um das Abschalten des Recorders zu betteln. Aber sein Blick sprach Bände, das konnte er auch mit all seiner Selbstbeherrschung nicht verhindern.

Waleri begutachtete ihn eine Weile schweigend, dann langte er durch das Zellengitter, griff sich Victors Wasserbecher und ging damit zum Recorder hinüber. Er goss das Wasser eiskalt über das elektronische Gerät, welches hörbar knisternd den Geist aufgab und verstummte. Auch Waleri selber fand die Ruhe hernach himmlisch. Er warf den Becher achtlos daneben.

"Danke ...", hauchte Victor leise, beinahe ängstlich. Seine Stimme klang zittrig.

"Bedank dich mal nicht zu früh. Die Schläge dafür kassierst du selber." Waleri trat mit einem auffordernden Winken wieder an die Zelle. "Komm ans Gitter und gib mir deine Hände."

Mühsam und kraftlos - was wohl zumindest teilweise noch der letzten, körperlichen Tracht Prügel vor einigen Stunden geschuldet war - kam der Gestaltwandler der Aufforderung nach und drehte Waleri den Rücken hin, da seine Hände immer noch nach hinten gefesselt waren.

Waleri griff hart in die Stricke und zerriss sie mit der puren Muskelkraft des Elasmotheriums sibiricums, das er war.

Victor konnte ein schmerzliches "Aua" nicht unterdrücken. "Warum nimmst du denn kein Messer dafür?"

"Vladislav sieht den Unterschied zwischen zerrissenen Seilen und durchgeschnittenen. - Und dass das klar ist: Wenn er fragt, dann hast du die Fesseln in Rage selber zerrissen und dein Wasser nach dem Recorder geworfen. Sonst schwöre ich dir, tu ich dir schlimmeres an als diese Geräusche."

Victor nickte einverstanden und rieb sich die wundgescheuerten Handgelenke. Das Leiden, das ihm immer noch sichtbar ins Gesicht geschrieben stand, rührte aber sicher nicht von denen her.

"Und bilde dir bloß nichts drauf ein", fuhr Waleri düster fort. "Ich hab ganz bestimmt kein Mitleid mit dir. Ich mach mir nur Sorgen, was hier drin losgegangen wäre, wenn dir wegen dem scheiß Folter-Sound wirklich eine Sicherung durchbrennt." Miesepetrig machte er sich auf den Weg zur Treppe und nach oben. Noch deutlicher wollte er nicht aussprechen, dass er Vladislavs Bannmarken nicht vertraute, wenn es um jemanden wie Victor ging.
 

Urnue spazierte etwas gelangweilt in der Gegend herum. Es war jetzt Tag 5, den er auf der Astralebene zubrachte. Er war Vladislav und Waleri zu dieser Villa hier im ländlichen Nirgendwo gefolgt. Urnue hatte sich noch keinen richtigen Reim darauf machen können, was für ein Haus das war, zumal außer den beiden niemand hier zu sein schien. Keine Bediensteten, die dieses riesige Anwesen in Schuss hielten, keine Besucher, die ein und aus gingen, keine Lieferdienste. Aber im Grunde war es Urnue ja auch egal. Sie hatten Victor da reingeschleppt, und mehr interessierte Urnue vorerst nicht. Er hatte sich auf der Astralebene versteckt, um von den beiden nicht entdeckt zu werden, und observierte das Gelände so gut, wie er es allein eben vermochte. Essen musste er auf der Astralebene zum Glück nicht, und er brauchte auch nicht so viel Schlaf wie in einem stofflichen Körper, aber auch hier sah er sich hin und wieder zu Ruhephasen gezwungen.

Langsam musste Urnue sich wirklich zusammenreißen, weiter wachsam zu bleiben. Nach fünf Tagen, in denen absolut gar nichts passiert war, übernahm die Langeweile immer nachdrücklicher das Zepter. Weder Vladislav noch Waleri hatten das Haus in diesen fünf Tagen mal verlassen. Und wie es inzwischen um Victor stand, konnte er auch nicht sagen, da die Villa mit einigen Bannzaubern gegen Eindringlinge gesichert war, die sich über die astrale Ebene Zugang verschaffen oder einen Blick ins Innere werfen wollten.

Der Wiesel-Genius merkte auf, als er in der Ferne ein Auto näher kommen sah. Und fluchte, als er dieses als Streifenwagen der Polizei erkannte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Er durfte auf gar keinen Fall die Polizei zu dieser Villa lassen. Dann wäre nämlich nicht nur Vladislav Mode gewesen, den sie hier unweigerlich finden würden, sondern Victor gleich mit. Auch der galt als schwer gesuchter Verbrecher und würde von der Polizei nur zu gern einkassiert werden, wenn die seiner habhaft wurden. Ganz gleich ob sie ihn hier als Opfer oder als Täter vorfanden. Immer noch rüde vor sich hinfluchend kehrte Urnue auf die sichtbare, stoffliche Ebene zurück und lief dem Streifenwagen entgegen. Es gab ja nur die eine Zufahrtsstraße hier her. Dabei schob er unverdächtig die Hände in die Jackentaschen, als sei er auf einem gemütlichen Spaziergang.

Urnue winkte den beiden Streifenpolizisten freundlich, als das Auto näher kam. Und der Wagen fuhr glücklicherweise auch tatsächlich an die Seite und hielt an. Lächelnd trat Urnue an das heruntergelassene Fenster auf der Fahrerseite. "Tag, der Herr und die Dame", grüßte er die beiden Uniformierten, einen Mann und eine Frau, und schaffte es dabei sogar, eine glaubwürdig gute Laune aufzusetzen. "Wollen Sie auch zu der Villa da?"

"Ja. Kommen Sie gerade von dort?"

Urnue nickte bestätigend. "Sparen Sie sich den Weg ruhig. Es ist niemand zu Hause."

"Da steht doch ein Transporter vor dem Eingang", merkte die Polizistin ganz richtig an und deutete in die Ferne.

"Das ist meiner." Urnue hielt vielsagend den Autoschlüssel seines Mietwagens hoch, der immer noch in irgendeinem Parkhaus in Otradnoje herumstand, und betete inständig, dass die Polizisten ihm das abkaufen würden. "Ich hab mich gerade ein bisschen auf dem Anwesen umgesehen. Ich dachte, vielleicht finde ich noch jemanden. Aber es ist keiner hier. Nichtmal ein Gärtner, oder sowas. Die Villa wirkt ziemlich verlassen, wenn Sie mich fragen."

"Und wer sind Sie, Mann?", verlangte der Herr des Polizisten-Duos zu wissen. Er klang nicht direkt skeptisch, aber man merkte, dass er routinemäßig nicht jedem alles sofort glaubte, was er den lieben langen Tag so aufgetischt bekam.

"Äh~ Sergej Fjodorov, Privatdetektiv aus St. Petersburg", log Urnue die beiden aalglatt an, und war insgeheim froh, dass sein Russisch inzwischen so gut und fehlerfrei war, dass man ihm das auch glauben konnte. "Meine Klientin hat mich auf eine Truppe angesetzt, die sich wohl früher mal 'Motus' genannt haben soll, aber schon lange nicht mehr existiert. Sie glaubt, die hätten immer noch ihre vermisste Tochter. ... Und warum sind Sie hier?", hakte er smalltalk-mäßig nach.

"Wir gehen auch ein paar alten Motus-Hinweisen nach", gab der Polizist offenherzig zu. Er fand die Story wohl plausibel genug, um Urnue endlich zu glauben. NATÜRLICH war die Story plausibel. Schließlich waren sie beide aus genau dem gleichen Grund hier.

Der Wiesel-Genius zog ein betont überraschtes Gesicht. "Hat die Polizei etwa wieder offizielle Ermittlungen aufgenommen? Dann müsste ich mich von Gesetz wegen aus dem Auftrag zurückziehen. Privatdetektive dürften ja nur ihr Glück an sowas versuchen, wenn der Fall eingestellt wurde. Ich darf nicht die Arbeit der Polizei machen."

"Nein-nein, machen Sie ruhig weiter", winkte der Mann ab. "Wir haben keine alten Fälle wieder aufgerollt. Uns geht´s hier um was anderes." Er warf nochmal einen abschätzenden Blick durch die Windschutzscheibe auf die Villa.

Urnue stöhnte innerlich. 'Geht doch endlich! Bitte, bitte, geht endlich!', dachte er unablässig, und musste sich zwingen, sich nichts anmerken zu lassen.

"Da ist wirklich keiner zu Hause?", rückversicherte sich der Polizist nochmals.

"Nein, keine Menschenseele. Ich hab durch alle Fenster spioniert. Versuchen Sie´s lieber in ein paar Tagen nochmal."

Nach kurzem Überlegen startete der Polizist seinen Streifenwagen wieder. "Gut. Dann schauen wir andermal wieder vorbei. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und viel Erfolg bei ihrem Auftrag. Ich hoffe, Sie finden das Mädchen."

"Danke, gleichfalls", entgegnete Urnue und trat vom Fenster zurück. Zufrieden sah er zu, wie der Wagen wendete. Am liebsten wäre er vor Erleichterung zusammengebrochen, bewahrte aber Haltung. Gott, hatte er ein verdammtes Glück gehabt! Das hätte echt schiefgehen können. So vertrauensselig waren Polizisten selten. Scheinbar hatten die beiden keinen dringenden Verdacht bezüglich dieser Villa gehabt, sondern klapperten nur zufallsmäßig ein paar Adressen ab. Vielleicht suchten sie wirklich bloß stichprobenartig hier und da auf gut Glück nach Vladislav, seit der aus dem Gefängnis ausgebrochen war.

Besorgt rechnete Urnue nach, wie viel Zeit noch war, bis er die Polizei selber wieder würde herrufen müssen. Eine Woche wollte Victor haben, um seine Angelegenheiten mit Vladislav zu klären. Am 8. Tag sollte Urnue Hilfe holen. Victor meinte, wenn er bis dahin nicht von selber wieder auf der Bildfläche erschien, könne man ihn getrost für tot halten. Nur, wenn Victor den ehemaligen Motus-Boss schon nicht selber zur Strecke brachte, sollte zumindest Seiji Kami das noch für ihn erledigen. Victor wollte, dass irgendjemand hiervon erfuhr. Es sollte wenigstens Ermittlungen geben, und Vladislav sollte im besten Fall gefunden und wieder hinter Gitter gesteckt werden, wo er hingehörte. Victors letztes Geschenk an den Boss, falls er selber versagte. - Urnue betete, dass es nicht dazu kam, auch wenn jetzt nach fünf Tagen sein Mut langsam sank.

Die magische Nacht

Waleri kam ohne Eile hereingeschlendert, kramte mal wieder einen Ordner aus den Kartons heraus, legte diesen griffbereit auf den Kistenstapeln ab und kam dann eher beiläufig nochmal nach Victor sehen. Er stellte sich ans Gitter der Zelle, schob die Hände in die Hosentaschen und ließ den Blick ein paar Mal unzufrieden zwischen Victor und dem immer noch vollen Teller auf dem Boden pendeln. Dann seufzte er. "Du machst jetzt also ernst mit deinem scheiß Hungerstreik, ja?"

Victor saß im hinteren Teil der Zelle, mit dem Rücken gegen die Mauer gelehnt, die Arme verschränkt, und sagte nichts dazu.

"Glaub mir, zu verhungern dauert lange."

Wieder keine Reaktion.

Waleri konnte sich ein Augenrollen nicht verkneifen. "Willst du das Zeug nicht lieber freiwillig essen, bevor Vladislav mir aufträgt, nachzuhelfen?"

"Ich sagte, ich werde nichts essen", entgegnete der Gestaltwandler endlich. Überraschend ruhig und sachlich, als gäbe es hier tatsächlich friedlichen Verhandlungsspielraum.

"Ich hab aber keine Lust, dir das Essen gewaltsam in den Hals zu stopfen. Ich hab wirklich besseres zu tun, Victor."

"Ich zwinge dich nicht dazu. Sag Vladislav einfach, dass er endlich mit mir reden soll. Dann werde ich auch essen."

Waleri schnalzte genervt mit den Zunge, zückte den Schlüssel und schloss die Gittertür auf, um sich Zugang zur Zelle zu verschaffen. Er schnappte den doch etwas erschrockenen Gefangenen am Schlawittchen, riss ihn grob auf die Beine und zerrte ihn zum Teller hinüber. Er bückte sich nach einem Stück Brötchen. Dann drückte er Victor mit einer Hand gegen das Gefängnisgitter, griff von Victors Mantelaufschlag zu Victors Gesicht um, um ihm den Kiefer aufzuhebeln, und schob ihm das Brötchen mit der anderen Hand rigoros zwischen die Zähne. Als nächstes versiegelte seine gewaltige Pranke Victors Mund, damit er das Essen nicht wieder ausspuckte.

Victor, der dem großen Muskelprotz körperlich absolut nichts entgegenzusetzen hatte, wand sich zwar in dessen Griff, sah sich aber dennoch genötigt, die Brötchenscheibe zu schlucken, wenn er nicht daran ersticken wollte. Und ehe er noch richtig zum Luftschnappen kam, hatte Waleri ihm bereits die nächste in den Mund gerammt.

Als Victor auch die zweite Brötchenscheibe notgedrungen heruntergewürgt hatte, hielt Waleri ihm vielsagend die dritte vor die Nase. "Also!", brummte der Glatzkopf herzlos. "Wenn du Spaß an diesem Spiel hast, spiele ich es gern noch ne Weile mit dir weiter. Oder du isst jetzt freiwillig."

Victor hustete noch an einem quer sitzenden Brotkrümel, griff aber mit einem beleidigten Blick gehorsam nach der Brotscheibe. "Schon gut, Mann, ich hab´s verstanden ..."

"Gnade dir Gott, wenn nicht." Waleri schubbste ihn grob zu Boden, so dass sein Gefangener fast mit dem Gesicht im Teller landete, verschwand aus der Zelle und schloss sie von außen wieder ab. Mit einem leise gemurmelten "Idiot ..." schnappte er seinen bereitgelegten Stehordner und zog damit von dannen. Er blieb nicht im Kerker stehen, um zu überwachen, dass Victor seine Zusage tatsächlich einhielt.

Missmutig griff Victor nach dem Wasserbecher und trank erstmal einen Schluck auf das trockene Brot. Er überlegte, was er jetzt machen sollte. Eigentlich hatte er Vladislav mit seinem Hungerstreik nötigen wollen, endlich auf seine Forderung nach einer Aussprache einzugehen. Das Essen jetzt einfach irgendwie verschwinden zu lassen, um es nicht essen zu müssen, war keine Option. Solange Vladislav und Waleri bloß glaubten, er habe es gegessen, war die beabsichtigte Wirkung bereits null und nichtig. Langsam kam er zu der Einsicht, dass Vladislav tatsächlich keine Veranlassung sah, ein letztes, klärendes Gespräch mit ihm zu führen. Es war sinnlos und verschwendete Zeit gewesen, sich von Vladislav fangen zu lassen. Victor würde hier nicht finden, weswegen er hergekommen war. Vielleicht war es an der Zeit, dieses Spiel langsam zu beenden.
 

Vladislav schaute aus seinem Papierkram hoch und bemerkte noch das unterschwellige, mürrische Kopfschütteln seines Schutzgeistes. "Und? Weigert er sich immer noch?"

"Nee~", machte Waleri etwas müde. "Er hat eingesehen, dass es gesünder für ihn ist, zu essen. Aber er ist schon wieder erstaunlich fit. Irgendwas geht bei dem Kerl nicht mit rechten Dingen zu, wenn du mich fragst."

"Zum Glück frage ich dich nicht", schoss Vladislav humorlos zurück und vertiefte sich wieder in seine Unterlagen.

Waleri legte ihm den mitgebrachten Ordner mit auf den Tisch. "Ich meine das ernst, Vladislav. Wir sind doch beide Boxer. Wir wissen sehr genau, wieviel jemand aushalten sollte und wieviel nicht. Victor erholt sich viel zu schnell wieder von deiner Prügel. Das ist richtig gruselig, gerade weil er so ne zierliche, halbe Portion ist."

"Kann nur gut sein. Hab ich mehr Spaß mit ihm."

"Aber nicht nach DER Tracht Prügel!? Fuck, ey, als du gesehen hast, dass er den Wasserbecher nach deinem Recorder geworfen hat ... Ich dachte, diesmal schlägst du ihn wirklich tot! Hättest du in dem Moment ne Knarre zur Hand gehabt, hättest du ihm sicher Projektile durch beide Oberschenkelknochen geballert! ... Du solltest dir seine Bannmarken wirklich mal ansehen. Ich hab das Gefühl, die werden ihn nicht mehr lange halten."

"Werden die Bannmarken schwächer?", wollte Vladislav desinteressiert wissen, ohne aus seinen Dokumenten aufzusehen. Dann begann er nebenher etwas in den Taschenrechner zu tippen.

"Das nicht. Ich hab eher den Eindruck, dass Victor regeneriert. Allein die Tatsache, dass er nach ner Weile von selber aufgewacht ist. Die Bannmarken sind noch unverändert aktiv, aber er wird langsam immun dagegen."

"Schwachsinn", entschied Vladislav nur einsilbig und erklärte das Thema damit klar und deutlich für beendet.

"Bitte schön, dann mach dir selber einen Kopf, warum er trotz deiner Unterbindungs-Zauber so stur das Essen verweigern und mit uns rumdiskutieren kann. Und behaupte hinterher nicht, ich hätte es dir nicht gesagt." Betont gleichgültig marschierte er davon und versuchte dabei die mentale Verbindung zu seinem Schützling etwas zu dämpfen, damit der nicht so deutlich mitbekam, wie sehr Waleri sich tatsächlich über dessen abfälligen Tonfall ärgerte.
 

Vladislav stand eine halbe Stunde später im Keller vor der Zelle und schaute sich Victor einen Moment lang schweigend an. Er gab es nur ungern zu, aber sein Schutzgeist hatte Recht. Der Kerl machte wirklich schon wieder einen erschreckend munteren Eindruck, dafür dass Vladislav ihn erst heute früh mit einem Holzprügel vermöbelt hatte. Verletzungen schien der wirklich besser ab zu können als andere Wesen. Aber an der Qualität seiner Bannmarken lag das nicht. An dem Kerl war ganz klar Magie zugange - trotz der aktiven Magie-Blocker. Vladislav gab Waleri einen auffordernden Wink mit einer Hand. "Hol ihn aus dem Mantel raus", verlangte er.

Obwohl Waleri den Befehlston absolut nicht leiden konnte, griff er muffig, aber ohne Protest, nach dem Schlüssel und öffnete die Zellentür. Mit einem "Du hast´s gehört, Kumpel" trat er auf Victor zu.

Seufzend quälte Victor sich in einen Kniesitz hoch und begann, seinen langen Ledermantel freiwillig aufzuknöpfen, bevor einer der beiden mit Gewalt nachhalf. Geprügelt wurde er hier auch so schon genug, ohne dass die beiden groß Gründe dafür brauchten. "Was wollt ihr damit? Der passt keinem von euch", konnte er sich nicht verkneifen, zynisch anzumerken, während er den Mantel abstreifte. Natürlich bekam er keine Antwort. Nichtmal eine Ohrfeige für die vorlaute Bemerkung. Dennoch hielt er Waleri seinen Ledermantel ohne Theater hin und verfolgte etwas unzufrieden, wie dieser damit aus der Zelle verschwand.

Vladislav hatte inzwischen vom Wasserhahn an der Wand einen Gartenschlauch herübergezogen. Der Wasserhahn war wohl dafür gedacht, dass man das Wischwasser nicht im Eimer durch die ganze Villa schleppen musste, wenn man hier unten Hausordnung machen wollte. Jedenfalls gab es direkt darunter auch einen Gulli, in den man das Wasser direkt wieder auskippen konnte.

Noch ehe Victor sich fragen konnte, wofür Vladislav wohl einen Gartenschlauch brauchen konnte, wurde er auch schon von oben bis unten abgebraust. Ihm blieb fast die Luft weg. Das Wasser war eisig. Doch als er reflexartig flüchten wollte, folgte der kalte Wasserstrahl ihm gnadenlos. Nach wenigen Sekunden kauerte er klatschnass, tropfend und fröstelnd in einer Zellenecke. Vladislav hatte ihn komplett eingeseift.

Zufrieden drehte Vladislav das Wasser ab und rollte den Gartenschlauch wieder auf. "Okay. Machen wir Feierabend für heute. Schmeiß den Mantel einfach da neben die Tür", trug er seinem Schutzgeist auf und wandte sich bereits selbst zum gehen.

"Äh~ Es ist ziemlich kühl hier unten im Keller", getraute sich Waleri zu protestieren. "Wenn du ihn so auf dem blanken Steinboden liegen lässt, wird er morgen eine Lungenentzündung haben!"

"Richtig", meinte Vladislav nur, als sei genau das seine Absicht. "Mal sehen, ob er sich davon auch auf so mysteriöse Weise erholt wie von der Prügel."

"Vladislav, das reicht jetzt langsam! Wenn du ihn umbringen willst, dann tu es endlich, und hör mit diesen perfiden Foltermethoden auf!"

"Sag mir nicht, was ich mit ihm zu tun und zu lassen habe", hielt Vladislav drohend dagegen, schon halb im Treppenaufgang verschwunden. Die diskutierenden Stimmen der beiden verhallten im oberen Stockwerk.
 

Victor gab in seiner Zelle ein wütend-empörtes Grummeln von sich, wrang seine langen Haare notdürftig aus und schlang dann zitternd die Arme um sich. Verflucht, war das kalt! Jetzt reichte es ihm. Bei nächster Gelegenheit sollte er sich was einfallen lassen, wie er hier raus kam. Er hatte da sogar schon mehrere Ideen. War ja nicht so, als ob er hier in diesem Kerker keinen Blick für´s Detail an den Tag gelegt hätte. Und, zur Hölle, Waleri hatte Recht. Er würde sich wirklich eine Lungenentzündung einhandeln, wenn er so hier sitzen blieb.

Missmutig ging er im Geiste nochmal durch, was er auf dem Grund des verbotenen Sees in dem fluchbeladenen Buch über keltische Magie gelesen hatte. Das Schöne an keltischer Magie war: für etliches davon brauchte man praktisch keine Magie. Jedenfalls keine eigene. Sie war meistens ein Selbstläufer. Das kam ihm gerade sehr zu Passe, denn Vladislavs Bannmarken unterbanden gerade jeglichen Einsatz derselben. Und was ihm noch viel gerufener kam, war der Umstand, dass heute der 31. Oktober war. Samhain, das keltische Ahnenfest. Was die Unwissenden kommerziell als Halloween feierten, stellte tatsächlich eine äußerst gefährliche Nacht dar, in der sich die Pforten zwischen den Daseinsebenen öffneten und alle möglichen, zumeist bösartigen Kreaturen schrankenlos zwischen diesen hin und her wechseln konnten. Die höhere Astralebene, auf der sich Urnue so gern herumtrieb, war dabei nur eine von mehreren. Die Nacht vom 31. Oktober auf den 01. November war von Natur aus eine magiegeschwängerte Nacht, in der man nicht viel eigenes, magisches Talent brauchte, um erstaunliche Dinge zu bewirken. Victor musste lediglich erreichen, dass sich eine solche Pforte, von denen es heute Nacht ohnehin jede Menge gab, genau hier in seiner Zelle öffnete. Dazu brauchte man nur Runen, Blut, ein bisschen Geduld und eine gute Portion Glück. All diese Zutaten sollten sich in dieser Gefängniszelle finden lassen. Insgeheim war Victor froh, für das, was er vorhatte, kein Feuer zu brauchen. An eine Kerze wäre er hier nur schwer rangekommen.
 

Eine knappe Stunde später hatte der Gestaltwandler seine Arbeit fast vollendet. Der Runenkreis, gezeichnet mit Blut, maß etwa einen Meter im Durchmesser. Sehr viel mehr Platz war hier in seiner Zelle einfach nicht, und etwas größeres wollte er hier drin auch gar nicht haben. Es war verdammt unangenehm gewesen, mit aufgerissenen, blutenden Fingern direkt auf dem Steinboden zu malen, zumal die Wunden auch immer wieder aufhörten zu bluten, und er sie dann schmerzhaft wieder neu aufreißen musste. Aber es half ja nichts. Er musste später nur aufpassen, dass sich die verschmutzten Wunden nicht entzündeten oder ähnliches.

Nachdem er, auf den Knien rutschend, die letzte Rune geschrieben und den äußeren Kreis geschlossen hatte, stand er auf, um sich sein Werk nochmal mit etwas Abstand im Ganzen anzusehen. Er spürte sofort einen sonderbaren Druckausgleich, gleich einer Vorwarnung, und ging skeptisch einen Schritt zurück. Keine Sekunde zu früh, denn einen Augenblick später wurde er beinahe von den fuchtelnden Vorderhufen eines Pferdes erschlagen. Mit einem fassungslosen "Heilige Scheiße!" wich er bis zur Kerkerwand zurück und presste sich mit dem Rücken dagegen, um nicht von den Hufen getroffen zu werden, die wie aus dem Nichts über dem Runenkreis erschienen.

Das sich aufbäumende Pferd, sehr viel größer als der Runenkreis selbst, fiel in den Vierfüßler-Stand herunter und Victor erkannte endlich auch den Reiter auf dessen Rücken. Der trug seinen Kopf zwar in der Hand, hatte aber immer noch das gleiche, halbseitig tätowierte Gesicht wie in seiner menschlichen Gestalt.

"Shaban!", keuchte Victor atemlos und immer noch arg überfordert.

"Na endlich!", brummte der kopflose Reiter, als er Victor seinerseits erkannte, und sah sich dann um, wo er hier gelandet war. "Ich versuche schon seit Tagen, zu dir durchzudringen."

"Ich-äh ... Was!?"

"Wo zur Hölle sind wir hier?"

"In Vladislavs Villa. Was tust du hier?", wollte Victor wissen. Langsam gewann er seine Fassung wieder. Er hätte sich viele Wesen vorstellen können, die von den anderen Ebenen in seinen Runenkreis hätten hineinfallen können. Aber doch nicht ausgerechnet diesen Druiden!

Shaban hielt seinen losen Kopf wieder in Victors Richtung, um ihn anzusehen. "Wie lange sitzt du schon hier drin? Hättest du mich nicht eher rufen können?"

"Eigentlich hatte ich es gar nicht auf dich abgesehen, wenn ich ehrlich bin."

"Nein, aber ich auf dich. Jeder Signal von dir hätte ich sofort mitbekommen, einfach weil ich aktiv danach gesucht habe."

"Vladislav hat mir etliche Bannmarken verpasst, mit denen ich keine Magie wirken kann. Ich konnte nur heute Nacht was ausrichten."

"Wegen Samhain, verstehe. Heute liegt genug Magie in der Umgebung, dass du nicht auf deine eigene zurückgreifen musst. ... Wie siehst du überhaupt aus, sag mal!?" Er deutete mit seiner freien Hand auf Victors nasse Haare und Kleidung. "Zieht man die Klamotten zum Duschen nicht für gewöhnlich aus?"

"Vladislav hat mich gewässert. Er spekuliert wohl drauf, dass ich mir durch Unterkühlung den Tod hole. Weil es ihm auf die Nerven geht, dass ich mich von Prügel immer so schnell wieder erhole."

Der Dullahan hätte sicher genickt, wenn sein Kopf noch auf seinem Genick gesessen hätte. "Das kommt von meinem Trank, der eigentlich für deinen Kumpel bestimmt war."

"Dachte ich mir schon", meinte Victor. Dabei versuchte er ein wenig um das gewaltige, schwarze Pferd herum zu kommen, das mit seinen zwei Metern Rückenhöhe fast die ganze Zelle ausfüllte. Er hätte trotz aller Legenden nie gedacht, dass Dullahans wirklich so riesig waren. Urnue hatte zwar mit seiner Expertise Recht gehabt: Pferd und Reiter hatten keinen festen, stofflichen Körper im eigentlichen Sinne, sondern hatten eher die Konsistenz von fettigem Öl. Der Hengst konnte ihn also nicht zerquetschen, aber trotzdem - oder gerade deswegen - wollte Victor damit nicht unbedingt in Berührung kommen. Er verstand, warum man Dullahans gemeinhin für Geister hielt. "Aber ... was tust du hier, sag mal?", fragte er nochmals nach.

"Sichergehen, dass Vladislav dich nicht kalt macht. Mir wurde zugetragen, dass er dich geschnappt und mitgenommen hat. Ich dachte, vielleicht kann man dich noch retten."

Victor überdachte das einen Moment irritiert, weil er beim besten Willen nicht wusste, was er von dieser Antwort halten sollte. Er konnte ein ungläubiges Kopfschütteln nicht unterdrücken. Es war das gleiche, komische Gefühl von Undurchschaubarkeit, das ihn schon in der Hütte im Wald so gestört hatte. "Shaban, jetzt mal ehrlich. Warum hilfst du mir? Was hast du davon? Was willst du WIRKLICH von mir?"

Der kopflose Reiter hob seinen losen Kopf in Richtung Treppe, als wolle er nachschauen, dass er nicht belauscht wurde, bevor er sich wieder Victor zuwandte. "Ich will einfach nur, dass du den Penner da oben endlich kaltstellst", meinte er und zeigte mit der freien Hand vielsagend Richtung oberes Stockwerk.

"Warum tust du es nicht selber, wenn du so versessen darauf bist? Kopflose Reiter jagen doch ohnehin Menschen!"

"Und du glaubst, an so einem starken Schutzgeist wie Waleri Konjonkow käme ich vorbei?"

"Du weichst meiner Frage aus."

"Soll ich dich jetzt aus dieser Zelle rausholen? Oder was!?", wechselte Shaban knallhart, fast ungeduldig, das Thema.

"Nein-nein, das schaff ich schon alleine. Ich bin genau da, wo ich sein will", wiegelte Victor das Angebot ab. "Aber du könntest tatsächlich was für mich tun ..."

"Na dann spuck´s schon aus."

"Du könntest mir ein paar trockene, warme Klamotten besorgen."

Shaban sah ihn lange schweigend an. Ungläubig und reaktionsunfähig. Um nicht zu sagen perplex.

"Soll ich es dir aufschreiben?", hakte Victor irgendwann humorvoll nach, um ihn wieder in die Realität zurück zu holen.

"Willst du mich auf den Arm nehmen!? Sinnvoll wären Waffen, oder der Schlüssel für deine Zellentür, oder dass ich dich von den Bannmarken befreie, oder ... keine Ahnung ..."

"Ich meine das ernst, Shaban. Diese klatschnassen Sachen sind echt ekelhaft und arschkalt!", beharrte der zierliche Gestaltwandler jedoch und zog dabei vielsagend an seinem nassen T-Shirt. "Alles andere kriege ich wirklich alleine hin. - Oh, warte, was zu essen wäre noch toll. Vladislav gibt mir seit Tagen nur trockenes Brot."

Der Dullahan seufzte unschlüssig, was mit dem Kopf in der Hand reichlich komisch aussah. Aber eigentlich sah alles reichlich komisch aus, wenn man es mit dem eigenen Kopf in der Hand machte. Dennoch, er gab sich geschlagen. "Ich könnte Urnue draußen noch eine Nachricht überbringen."

"Nein, er ist über alles im Bilde."

"Dann halt das Portal offen, bis ich wieder da bin", trug er Victor in einem Tonfall auf, als könne er selbst nicht fassen, dass er das wirklich tat. Sicherlich hatte er gehofft, etwas für Victor tun zu können, was einer Wiedergutmachung mehr gerecht wurde. Schließlich war ihm ja nicht entgangen, dass Victor sich den Jahre zurückliegenden Mordversuch aus Motus-Zeiten gut gemerkt hatte und auf Rache aus war.

Die schonungslose Abrechnung

In Vladislavs Gesicht zeigte sich eine selbstgefällige Genugtuung. Victor hatte die Motus verraten und danach jahrelang die versprengten Mitglieder dieser Organisation gejagt und getötet. Jahrelang hatte Vladislav ihn trotz aller Bemühungen nicht zu fassen bekommen. Und jetzt hatte er ihn endlich hier vor sich, gut weggesperrt in einer Kerkerzelle und gehörig einen Kopf kürzer gemacht. Er hatte längst aufgehört, zu zählen, die wievielte Tracht Prügel das jetzt war. Was zählte, war, dass er immer noch Spaß daran fand. Und der mit Blut hingeschmierte Runenkreis, den Vladislav natürlich längst in der Zelle entdeckt hatte, war da nur ein Vorwand von vielen. Victor hatte ihm nicht verraten, was es mit dem auf sich hatte, sondern hatte sogar behauptet, der Runenkreis habe nicht funktioniert. Vladislav glaubte ihm kein Wort. Es war noch NIE vorgekommen, dass Victor irgendwas tat und es nicht funktionierte. Nun, er würde Victor umbringen, ja. Aber es sollte kein schneller, schmerzloser Tod sein. Das hatte er in Vladislavs Augen nicht verdient. Vladislav wollte Rache, und zwar richtig. "Und? Du wolltest doch reden. Hast du noch ein paar berühmte letzte Worte für mich?", wollte er wissen.

Victor schüttelte am Boden liegend mühsam den Kopf. "Nein", hauchte er schwach. Er wirkte kaum noch ganz bei Bewusstsein. Und zu sagen hatte er inzwischen auch wirklich nichts mehr. Das Thema, sich mit dem ehemaligen Motus-Boss aussprechen zu wollen, war durch. "Aber eine Frage hätte ich", meinte er. "An Waleri."

"Ich ahne Schlimmes", brummte der und trank unwillig einen Schluck.

"Ich habe es bis heute nie verstanden", fuhr Victor leise aber unbeirrt fort. "Warum hast du mich damals am Leben gelassen?"

Sowohl Waleri als auch Vladislav wussten sofort, welches 'damals' gemeint war. Als Victor die Motus an die Polizei verraten hatte, hatte Vladislav seinem Schutzgeist den relativ unmissverständlichen Befehl gegeben, Victor 'aus dem Weg zu räumen'. Waleri hatte den Befehl allerdings wohlwollend ausgelegt und den Querulanten nicht getötet, sondern ihn den Sklavenhändlern überlassen. Heute, im Nachhinein betrachtet, wäre vieles anders gelaufen, wenn er das nicht getan hätte. Waleri knirschte unmerklich mit den Zähnen, angesichts dieser Frage. "Lass uns alleine, Vladislav", trug er seinem Schützling grummelig auf.

Vladislav warf ihm einen strafenden Blick von der Seite zu, kam der Aufforderung nach einem Moment aber doch nach. Zwar sichtlich griesgrämig, aber ohne Widerworte. Sein Gesichtsausdruck zeigte jedoch, dass dieses Thema noch nicht geklärt war. Die Antwort darauf wollte er ebenfalls hören, zur Not halt später.

Waleri setzte sich in der Nähe der Zelle auf den blanken Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Dann hob er erneut die Vodkaflasche, die er sich mitgebracht hatte, und nahm einen kräftigen Hieb daraus. Victor hatte inzwischen die Augen geöffnet und beobachtete ihn verstohlen, ansonsten regte sich an ihm aber weiterhin nichts.

Waleri ließ das gegenseitige Schweigen noch eine Weile im Raum hängen, aber schließlich holte er doch Luft. "Gut. Du willst wissen, warum ich dich damals verschont habe. Und ich finde, du hast ein Recht darauf, den Grund zu erfahren", begann er. Und trank wieder nachdenklich einen Schluck Vodka, als müsse er sich erstmal passende Worte zusammensuchen. "Weißt du ... nachdem diese Rotkappe Vladislavs Sohn abgeschlachtet hatte, die Polizei nichts deswegen unternehmen wollte, und seine Frau abgehauen ist, war Vladislav ein gebrochener Mann. Er war in seinem Elend versackt und war drauf und dran, sich mit seiner Dienstwaffe das Gehirn wegzublasen. Ich habe die Motus gegründet, um ihm wieder eine Aufgabe zu geben. Einen neuen Sinn im Leben. Und die Chance, seinen Sohn zu rächen. Aber was Vladislav in diesen paar Jahren aus der Motus gemacht hat, habe ich weder gewollt, noch kommen sehen. Ich hasse, was aus der Motus geworden ist. Vladislavs Ambitionen sind außer Kontrolle geraten. Aber ihm jetzt noch Einhalt zu gebieten ... puh ... dafür ist es zu spät." Augenrollend goss sich Waleri mehr Vodka hinter die Binde. "Die Wahrheit ist, ich habe inzwischen selber Angst vor Vladislav." Er schüttelte leicht den Kopf. "Er ist ein überaus herrschsüchtiger und nachtragender Mensch geworden. Selbst ich bin vor seinen gewalttätigen Racheakten nicht sicher. Ich habe Angst vor meinem eigenen Schützling, ist das nicht der Wahnsinn? - Und dann kamst du. Du hattest tatsächlich den Schneid, ihm die Stirn zu bieten. Du hast es gewagt, dich mit Vladislav anzulegen und die ganze Motus durch den Schornstein zu jagen. Ich habe dich insgeheim dafür bewundert. Das war nichts, was ich bestraft sehen wollte."

Waleri musterte lange und nachdenklich den Gefangenen, der den Blick schweigend aber aufmerksam erwiderte. Victor nickte nur unmerklich. Es blieb der Fantasie überlassen, ob er nur Verstehen oder auch einen Dank damit ausdrücken wollte. Und dann verschwand noch mehr Vodka in seinem Schlund. "Ich hab ja nicht damit gerechnet ...", fuhr Waleri etwas vorwurfsvoll fort, "dass du jemals wieder auf der Bildfläche erscheinst. Als ich dich auf den Sklavenmarkt geschleppt habe, dachte ich, man würde nie wieder von dir hören." Mit einem Ächzen raffte er sich wieder auf. "Es war dumm von dir, den Krieg mit Vladislav fortzuführen. Du hättest dich deines Lebens erfreuen und verschwunden bleiben sollen", meinte er mit einem 'das-hast-du-nun-davon'-Schulterzucken. Dann drehte er sich weg und schlenderte von dannen, seinem schon verschwundenen Schützling hinterher. Ohne zurück zu sehen. Im Gehen setzte er nochmal die Schnapsflasche an.
 

Als Waleri wieder hinauf in den Wohnbereich kam, kehrte Vladislav augenscheinlich gerade von der Toilette zurück. Waleri versuchte kurz über die mentale Verbindung zu seinem Schützling dessen Laune einzuschätzen. Sicher war der dezent angefressen, weggeschickt worden zu sein. Aber er spürte praktisch gar nichts. Weder Wut, noch sonst irgendwas. Erst als Vladislav schweigend nach einem der vollen, schweren Stehordner griff und ausholte, wurde ihm klar, dass es blanke Kaltblütigkeit war, die da herrschte. Vladislav schlug ihm den massiven Ordner so unvermittelt seitlich ins Gesicht, dass er nicht mal mehr ausweichen konnte. Die halbvolle Vodkaflasche fiel ihm aus der Hand und zerschellte auf dem Fußboden, Waleri selbst taumelte vor Schmerz und Benommenheit einen Schritt rückwärts.

Vladislav packte ihn, drehte ihm gewaltsam den Arm auf den Rücken und ergriff ihn - mangels Haaren, die man hätte krallen können - äußerst schmerzhaft am Ohr. So stieß er Waleri über die Kante des großen Esstischs, der ihm als Schreibtisch diente, wodurch Waleri mit dem Gesicht und dem ganzen Oberkörper auf die Tischplatte knallte. Ein Stift segelte klappernd davon. Mit einer Hand immer noch Waleris auf den Rücken gedrehten Arm fixierend, griff er mit der anderen nach Waleris Hosenbund um ihn besser festhalten zu können.

Waleri gab ein panisches "Nein!" von sich, wand sich auf der Tischplatte, kam aus Vladislavs Hebelgriff aber nicht heraus.

"Sieh an. Du hast es also doch noch nicht vergessen", kommentierte Vladislav finster.

"Nein-nein, ich hab´s nicht vergessen", beeilte sich der Schutzgeist zu versichern, immer noch schockiert mit seiner Schnappatmung kämpfend. Und immer noch fassungslos darüber, wie wenig Emotionen er über die mentale Verbindung auffing. Diese Kaltblütigkeit ...

Vladislav ließ Waleris Hosenbund wieder los und lehnte sich stattdessen mit seinem gesamten Gewicht auf dessen Rücken.

Der Hühne verzog schmerzlich das Gesicht, weil die harte Tischkante, die in seine Weichen drückte, regelrecht wehtat, aber einen Protest wagte er nicht.

"Ich hoffe doch, du kapierst, welche Botschaft ich dir hier gerade übermitteln will!?", hakte Vladislav drohend nach.

"Sicher ..."

"Gut. Du wirst mich nie wieder vor Zeugen so demütigen, mich einfach vor die Tür zu schicken, merk dir das! Sei froh, dass Victor eh bald tot ist, und keinem mehr davon erzählen kann."

Waleri nickte nur.

"Und jetzt sag mir gefälligst, warum du Victor damals verschont hast! Diese Frage habe ich dir nämlich auch schon ein paar Mal gestellt, und nie eine Antwort drauf bekommen."

"Ich hab´s dir doch gesagt: es gibt keinen bestimmten Grund dafür", versuchte Waleri sich herauszureden. Wie immer, als das Thema in der Vergangenheit zur Sprache gekommen war. "Ich hab damals nicht nachgedacht. Es war einfach Dummheit von mir."

"Und das hättest du Victor gerade eben nicht sagen können, wenn ich daneben stehe!?" Vladislav packte Waleri abermals am Ohr und zerrte ihn daran schmerzhaft von der Tischplatte hoch, wieder in eine stehende Haltung. Dann stieß er ihn grob Richtung der Flaschenscherben. "Mach das sauber", befahl er verächtlich. Spuckte den Befehl mehr als dass er ihn aussprach. Er machte keinen Hehl daraus, dass er Waleri die Ausrede nicht abkaufte, konnte ihm aber wohl gerade nichts Gegenteiliges nachweisen, oder hatte einfach keine Lust dazu. "Das Thema werden wir demnächst auf andere Art und Weise klären", drohte er lediglich, und setzte sich an seinen Tisch, um weiter an seinen Unterlagen zu arbeiten, als sei nichts gewesen.

Waleri legte sich kurz stöhnend eine Hand auf den Unterbauch. Die Tischkante, die er sich in den Leib gerammt hatte, tat echt höllisch weh. Dann riss er sich aber doch zusammen und begann das Glas vom Boden aufzusammeln.
 

Ein paar Minuten später, als die Glasscherben beseitigt und der bedauernswerte Vodka aufgewischt waren, setzte sich Waleri mit an den Esstisch, gegenüber von seinem Schützling und verschränkte die Arme auf der Tischplatte.

Vladislav schrieb noch in Ruhe seine Zeile zu Ende, bevor er hochsah. Er bemerkte, dass Waleri ihn direkt anstarrte, als würde er auf etwas warten. "Was ist!?", wollte Vladislav schnippisch wissen.

"Ich will mit dir reden."

Vladislav rollte mit den Augen. "Jetzt fängst du auch noch an! Schon schlimm genug, dass Victor mir seit Tagen damit in den Ohren liegt."

"Willst du nun wissen, warum ich Victor damals am Leben gelassen habe, oder nicht?", gab der Glatzkopf nur mürrisch zurück.

"Ach, plötzlich?" Vladislav klopfte mit seinem Kugelschreiber auf die Tischplatte, als würde ihm das beim Denken helfen, und wirkte dabei ein wenig enttäuscht. Er hatte sich bereits darauf gefreut, die Wahrheit gewaltsam aus Waleri herausholen zu können. "Auf diese Wahrheit bin ich wirklich gespannt. Das muss ja echt ne platzende Bombe sein, wenn du SO viel auf dich nimmst, um sie mir nicht preisgeben zu müssen."

"Ich will nicht erst warten, bis du Zwang anwendest. Deine Foltermethoden sind inzwischen nichts mehr für fantasiebegabte Leute. Das, was du mir hinterher als Strafe antun wirst, wenn du die Wahrheit erstmal kennst, reicht mir völlig."

Vladislav verengte vielsagend die Augen, als würde er an der geistigen Verfassung seines Schutzgeistes zweifeln. "Wieviel Vodka hast du intus?"

"Nicht genug für das hier", murrte Waleri humorlos. Er war entschlossen, diese Angelegenheit jetzt zu klären, und würde sich weder von Vladislavs abfälligen Fragen aus der Reserve locken noch sich durch stupide Themenwechsel abwimmeln lassen.

Vladislav lehnte sich seinerseits mit den Ellenbogen auf den Tisch und setzte einen wartenden Gesichtsausdruck auf. "Nagut. Dann lass hören."

Waleri holte Luft, um zu einem längeren Vortrag anzusetzen, und obwohl allein das schon ein Stirnrunzeln bei Vladislav auslöste, gedachte er sich auch nicht mehr davon abhalten zu lassen. "Ich habe damals die Motus gegründet, um Menschen vor gefährlichen Genii zu schützen."

"Ich dachte, du willst über Victor reden", warf Vladislav unterbrechend ein.

"Lass mich ausreden!"

"Und die Motus haben wir beide zusammen gegründet!"

"Nein!?", beharrte Waleri in einem absolut nicht mehr diskussionsbereiten Tonfall. "ICH war das!"

Der Motus-Chef nickte hinnehmend.

"Also!", hob Waleri von Neuem an. "Ich habe die Motus gegründet, um Genii abzuwehren, die für Menschen gefährlich sind. Ich hab damals auch eingesehen, dass du wütend und verbittert warst, als die Rotkappe deinen Volodya erschlagen hat. Ich habe eingesehen, dass du Rache wolltest und diese eine, bestimmte Rotkappe umbringen wolltest. Zur Hölle, ich habe deinen Sohn geliebt! Ich wollte die Rache genauso wie du! Ich habe sogar noch bis zu einem gewissen Punkt verstanden, dass du noch mehr bestimmte Genii aus dem Verkehr ziehen wolltest, die der Polizei egal sind, obwohl sie Menschen töten. Aber du bist im Laufe der Zeit eskaliert. Was du aus meiner Motus gemacht hast, dieses riesige, internationale Kartell, das mit Waffen, Sklaven und Mordaufträgen handelt, und ganze Listen von Genii-Arten komplett ausrotten will, war einfach nur besessen und völlig außer Kontrolle! Das habe ich nie gewollt. Aber du hast dich nicht mehr aufhalten lassen. Egal, was ich gesagt oder getan habe, du warst nicht mehr zur Vernunft zu bringen. Dass du endgültig übergeschnappt bist, habe ich spätestens an diesem verfluchten Tag eingesehen, an dem du mich unter Folter mundtot gemacht und zu einem leibeigenen Ding ohne Rechte erniedrigt hast, das nicht mal mehr den Mund aufmachen darf. Für jedes falsche Wort muss ich seither mit Prügel oder noch demütigenderen Strafen rechnen."

"Gefruchtet hat es ja scheinbar nicht ...", kommentierte Vladislav trocken.

"Schlimmer noch, du strafst mich schon vorbeugend ab, bevor überhaupt irgendwas vorgefallen ist, einfach nur weil du so gern in der Macht schwelgst, die du über mich hast. Und du unterbindest, dass ich Probleme lösen kann, die du in dem Moment gerade mit mir hast! Als du neulich Shaban gesucht hast, und ich dir nicht sofort gesagt habe, wo er steckt, hast du mich dafür gefesselt und geprügelt, und hast mich dabei geknebelt, damit ich es dir nicht doch noch verrate. Denn dann hättest du ja aufhören müssen. Aber statt mich antworten zu lassen, hast du mir nur in die Augen gesehen und gesagt: 'Was ist? Jetzt willst du mir wohl sagen, wo Shabans Hütte steht? Tja, Pech gehabt, Kumpel, jetzt will ich nichts mehr von dir hören. Wir reden weiter wenn ich mit dir fertig bin'. Und dann hast du mich weiter geschlagen, obwohl ich dir deine verfluchte Antwort längst gegeben hätte. ... Seinen eigenen Schutzgeist so zu unterwerfen und zu beherrschen wie du es tust, ist eine absolute Übertretung von allem, was selbst in kriminellen Kreisen noch als recht und billig akzeptiert wird. Du bist einfach völlig wahnsinnig geworden. Ein klar denkender Mensch tut sowas nicht!"

Vladislav seufzte leise. "Könntest du jetzt langsam mal den Bogen zu Victor kriegen?"

"Victor", griff Waleri den Stichpunkt sofort bereitwillig auf, "war der, der deinem ganzen Wahn vorläufig ein Ende gemacht hat! Und das fand ich gut! Indem er die Motus hat auffliegen lassen, hat er geschafft, was ich nicht konnte! DARUM habe ich ihn damals am Leben gelassen! Er hatte es nicht verdient, dafür zu sterben. Es war nämlich richtig, dich aufzuhalten!"

"Also war es deine Rache an mir?", fasste Vladislav tonlos zusammen. Er klang dabei nicht ansatzweise so beleidigt oder sauer, wie Waleri erwartet hätte.

"Nein, es war keine Rache! Es war Anerkennung! Die Belohnung für Victors Heldenmut. ... Und nur, um das mal am Rande erwähnt zu haben: Dieses Gespräch, das wir beide hier gerade führen, ist genau das Gespräch, das eigentlich Victor schon seit Tagen mit dir führen wollte. Er wollte dir genau das gleiche ins Gesicht sagen. Nämlich, dass du inzwischen komplett geisteskrank und übergeschnappt bist. Nur hast du dich nicht genötigt gefühlt, ihn reden zu lassen."

"Und du glaubst, aus seinem Mund hätte mich das interessiert?"

"Was ICH glaube ...", hielt Waleri todernst dagegen, "ist, dass Victor nicht grundlos hergekommen ist. Lebensmüde ist er meines Wissens nach noch nicht. Da wird schon ein bisschen mehr dahinterstecken. Vielleicht hätte er die Fehde mit dir ja sogar beigelegt, wenn du nur bereit gewesen wärst, vernünftig zu reden. An deiner Stelle hätte ich mir wenigstens mal angehört, was er zu sagen hat. Schließlich hätte er uns auch einfach mit einer Knarre aus der Ferne abknallen können, statt das Gespräch mit uns zu suchen."

Vladislav sah seinen Schutzgeist lange schweigend an. Bei ihm hatten sichtlich ein paar Zahnrädchen zu arbeiten begonnen, auch wenn er sich das nicht anmerken lassen wollte. Er schwankte zwischen Einsicht und Ablehnung, war aber noch nicht an dem Punkt, sich für eins von beidem zu entscheiden. "Soll ich Victor jetzt vielleicht verschonen, oder was?", wollte er nach einer Weile zynisch wissen.

"Das hab ich nicht gesagt", meinte Waleri und erhob sich vom Tisch. "Du wolltest eine Antwort auf eine schon lange im Raum stehende Frage, und die hab ich dir jetzt gegeben. Was du mit dieser Antwort anfängst, ist deine Sache. ... Und falls du mich für meine vorlaute, große Klappe und meine Ehrlichkeit jetzt wieder abstrafen willst, lass es mich wissen. Ich stehe zur Verfügung." Mit diesen Worten schlenderte er geruhsam aus dem Zimmer hinaus und ging sich wieder seinem liebsten Zeitvertreib widmen: Sandsäcke verhauen. Viel mehr konnte er hier in dieser Villa ja auch nicht tun, wenn er nicht gerade für Vladislav im Keller die Kartons mit Unterlagen auf den Kopf stellte.

Vladislav verschränkte mit einem tiefen Durchatmen die Arme, ließ sich gegen die Rückenlehne fallen und zog die Unterlippe zwischen die Zähne, um nachdenklich darauf herumzunagen. Er würde das niemals laut sagen, aber Waleris Strafpredigt hatte ihn nicht gänzlich kalt gelassen. Er wusste nicht, was Waleri alleine dort unten im Keller mit Victor besprochen hatte. Vladislav versuchte sich einzureden, dass Victor es bei diesem Gespräch offenbar geschafft hatte, gründlich Zwietracht zwischen ihm und seinem Schutzgeist zu säen. Wäre da nur nicht dieser hässliche Verdacht in seinem Hinterkopf gewesen, Victor habe diese Zwietracht gar nicht verschuldet, sondern habe Waleri lediglich dazu gebracht, sie nach langer Zeit des Schweigens endlich in Worte zu fassen und laut auszusprechen.
 

Victor lag nach wie vor in seiner Zelle. Er hatte seine Liegeposition nur geringfügig verändert, aber es war undenkbar, dass er inzwischen mal gesessen oder gar gestanden haben könnte. Er machte nicht den Eindruck, sich jemals wieder auf den Beinen halten zu können. Er war viel zu schwach dazu. Der Motus-Boss hatte ihm diesmal zu arg zugesetzt. Oder vielleicht hatte er in all den Tagen auch endlich genug auf die Fresse bekommen, um sich so langsam nicht mehr ständig davon zu erholen.

"So, towarisch", brummte Vladislav hämisch und schloss die Zelle auf. "Ich habe mich entschieden, wie ich dich umbringen werde. Deine letzten Momente auf Erden sind gezählt."

Da die Zellentür dazu neigte, immer wieder von selber zuzufallen, hielt Waleri sie dienstbeflissen auf, während Vladislav eintrat, Victor am Kragen packte und ihn einfach über den Boden herausschleifte wie einen Sandsack. Victor ließ es auch wehrlos mit sich geschehen.

Was dann passierte, kam viel zu überraschend, als dass Waleri es hätte erfassen können. Obwohl er es wie in Zeitlupe mitverfolgte, verhinderte seine Fassungslosigkeit jede Reaktion darauf. Der Motus-Boss schleifte Victor direkt an ihm vorbei. Da wurde Victor mit ungeahnter Plötzlichkeit wieder hellwach, schnellte aus Vladislavs nachlässigem Griff hoch, riss die Pistole aus Waleris Beinholster und legte Vladislav mit einem präzisen Kopfschuss um. Die Aktion war derart maßgeschneidert und perfekt ausgeführt, dass Victor sie regelrecht geübt haben musste.

Victor fuhr übergangslos herum und richtete das Schießeisen am ausgestreckten Arm auf Waleris Stirn. Seine Gesichtszüge waren versteinert, in seinen Augen lag die blanke Mordlust. Es war weniger die Pistolenmündung, sondern dieser eiskalte Blick, der Waleri rücklings zu Boden straucheln ließ. Als er der Länge nach hinschlug, folgte die Pistolenmündung seiner Bewegung nach unten. Waleri konnte gerade noch ergeben eine Hand heben, und die Erkenntnis, dass er sein Leben hier und jetzt verspielt hatte, radierte alle anderen Gedanken und Optionen gnadenlos aus. Aber stattdessen vergingen zwei, drei Sekunden atemloser Stille, in denen wider Erwarten nichts geschah und die Zeit einfach nur stillzustehen schien. Victor zögerte - warum auch immer - und hielt lediglich Waleris schockiertem Blick stand, obgleich die Pistolenmündung um keinen Millimeter verzitterte.

In Victors Augen erlosch etwas. Die Mordgier verflog und ein Funken klaren Verstandes brach sich Bahn. Sein Mundwinkel zuckte kurz. "Für heute sind wir quitt", stellte er klar und ließ die Waffe sinken. "Aber wage es nicht, nach mir zu suchen. Wenn du mir jemals wieder über den Weg laufen solltest, bist du tot, merk dir das." Dann wandte er sich geruhsam um und verließ aufrecht und ohne Eile den Kerker. Die Pistole nahm er mit. Von seiner zur Schau gestellten Kraftlosigkeit war nichts geblieben. Zurück blieb ein entsetzter, auf dem Boden sitzender Waleri mit Schnappatmung, der zu begreifen versuchte, was gerade passiert war. Beinahe erschossen mit seiner eigenen Waffe. Das wäre auf paradoxe Art gerecht gewesen, fand er, als sein Gehirn langsam wieder einsetzte und die ersten Fragen zu stellen begann.

Die lange Dunkelheit

Victor kam auf wackeligen Beinen um die Ecke gewankt und brach dann förmlich zusammen. Leise stöhnend blieb er erstmal liegen. Er war am Ende. Die plötzliche Stärke und Unversehrtheit, die er gegenüber Waleri zur Schau getragen hatte, war eigentlich nur geschauspielert gewesen. Vladislav hatte ihn wirklich gründlich genug zusammengeschlagen und verprügelt. Nur mit Mühe hatte er diese aufrechte Haltung lange genug beibehalten können.

Urnue wartete in der Umgebung des Anwesens auf ihn, wie es verabredet war, und kehrte bei Victors Ankunft von der Astralebene zurück auf die stoffliche. Victor hatte ihm gesagt, dass es Tage dauern konnte, bis er zurückkam. Damit hatte er auch nicht untertrieben. Und ein Spaziergang war das offensichtlich nicht gewesen, wenn man sich Victor so ansah. "Mann, siehst du scheiße aus", kam Urnue nicht umhin zu bemerken, und klang dabei besorgter als er wollte.

"Ja ...", ächzte der am Boden liegende Russe kraftlos. "Es war wirklich gut, dass wir bei Shaban diesen Power-Punsch bekommen haben, der immer noch wirkt. Vadym hat mir echt den Arsch versohlt."

"Und? Wenigstens erfolgreich gewesen?", wollte Urnue bang wissen. Er hatte zwar im Vorfeld keinen Hehl daraus gemacht, dass er diese Mission für ein absolut hirnrissiges Selbstmordkommando hielt. Aber jetzt hatte er doch gehörig Mitleid mit Victors Zustand und ernste Sorge um seine Gesundheit. Allein sein Gesicht war schon grün und blau geschlagen und ein Auge halb zugeschwollen. Er wollte gar nicht wissen, wie erst der Rest des Körpers aussah, der gerade noch gut unter dem langen Ledermantel versteckt war. Aber Victor war mit einer Pistole in der Hand zurückgekommen, also musste zumindest irgendwas richtiggelaufen sein.

"Erfolgreich ... Weiß ich noch nicht."

"Wie meinst du das? Du hättest das Anwesen doch nie im Leben freiwillig verlassen, wenn Vladislav noch am Leben wäre!?"

"Vladislav ist nicht der, um den ich mir Gedanken mache." Stöhnend kämpfte sich Victor wieder hoch und sammelte die fallengelassene Pistole wieder ein. "Lass uns hier verschwinden."

"Ist Vladislav tot?", bohrte Urnue nochmal nach.

"Ja. Toter geht´s nicht."

"Gut. Dann lass uns gehen", stimmte der Wiesel-Genius beruhigt zu. Einen Moment überlegte er, wie er mit dem einen halben Kopf kleineren Kameraden umgehen sollte. Er hätte sich gern einen von Victors Armen um den Hals gelegt, um ihn zu stützen, aber der Größenunterschied machte das zu einem aussichtslosen Unterfangen. Er hätte den Hänfling auch huckepack auf dem Rücken tragen können, hätte ihm mit seinen unzähligen Blessuren aber vermutlich mehr Schmerzen zugefügt als ihm geholfen. Als Victor jedoch ohne Schwierigkeiten von selber losmarschierte, ohne gestützt werden zu müssen, war Urnue etwas entspannter. "Die haben dir einen Haufen Bannmarken verpasst."

"Ich weiß. Ich kann gerade keine Magie einsetzen und mich nicht verwandeln. Ist aber egal. Darum können wir uns später kümmern."

"Du hast auch einen Peilsender-Zauber auf dir, mit dem man dich wiederfinden kann."

"Es gibt keinen mehr, der mich suchen könnte", hielt Victor stoisch dagegen. "Hat also auch Zeit."

"Ich wundere mich nur. Bann-Magie ist das nicht. Und soweit wir wissen, beherrschen Vladislav und sein Genius nichts anderes als Bann-Magie. Waren in seinem Anwesen noch mehr Leute, die an dir rumgezaubert haben?"

"Vladislav hat mir das mit dem Trinkwasser eingeflößt. Wer den Zauber auf das Wasser gelegt hat, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat er´s einfach irgendwo gekauft."

"Und warum laufen wir eigentlich gerade nach Osten?"

Darauf gab Victor keine Antwort mehr.

Urnue nickte verstehend und gab sich zufrieden. Die nächste Zeit liefen sie schweigend. Wegen Victors schlechter, körperlicher Verfassung kamen sie nicht sehr schnell voran. Aber er weigerte sich, eine Pause zu machen und Urnue einige der Bannmarken lösen zu lassen. Als hätte er Angst, dass die Bannmarken das einzige waren, was seinen ramponierten Körper noch zusammenhielt. Ab und an schickte er Urnue auf die Astralebene, um "nachzusehen". Wonach genau Urnue schauen sollte, wusste er nicht. Etwas verdächtiges fand er jedenfalls nicht. Victor schüttelte dann jedesmal ungläubig den Kopf und ging weiter. Er schien auf irgendwas zu warten, rückte aber nicht mit der Sprache heraus, worum es sich dabei handeln sollte.
 

Irgendwann kam eine kleine Felsformation in Sicht. "Das könnte es sein", murmelte Victor. "Guckst du bitte nochmal auf die Astralebene?"

Urnue kam dem nach und brauchte diesmal nur Sekunden, bis er wieder auf die stoffliche Ebene zurückkehrte. "Da ist eine Art unsichtbarer Zaun", berichtete er irritiert.

"Endlich ..."

"Er verläuft direkt durch den Felsen. Und vom Verlauf her würde ich vermuten, dass er einmal rings um Vladislavs Grundstück läuft."

"Ja. Und das Grundstück ist wesentlich größer als ich dachte."

"Hast du eine Ahnung, was es damit auf sich hat?"

Victor nickte seufzend. "Eine Art Alarmanlage. Der Peilsender-Zauber, den du an mir gespürt hast, reagiert auf diese magische Barriere. Wenn ich sie durchschreite, löst das irgendwo einen Alarm aus und sagt denen ganz genau, an welcher Stelle ich den Zaun durchbrochen habe."

"Darum sind wir nach Osten gegangen", schoss es Urnue gedankenschnell in den Sinn. "Du willst denen glaubhaft machen, dass wir von Moskau weg fliehen."

"Richtig. Sobald wir den Zaun durchschritten haben, werden wir unsere Richtung ändern. Aber das wird nicht reichen."

"Warte mal ... Sagtest du nicht, es gäbe niemanden mehr, der uns verfolgen könnte?"

"Na~ Das war vielleicht etwas ungenau formuliert. Ich hätte sagen sollen, dass es bei Vladislav und seinem Gefolge niemanden mehr gibt. Aber leider waren ja nicht nur die hinter mir her. Die Staatlichen suchen mich auch."

"Und die haben Zugriff auf Vladislavs Überwachungssysteme?"

"Das ist es, was ich rausfinden will. Ich kann mir einfach nicht erklären, warum Vladislav aus dem Gefängnis ausbrechen und wochenlang unbehelligt draußen rumspazieren kann, ohne dass es irgendjemanden stört. Gerade wo sie doch angeblich so versessen darauf waren, Vladislav vor mir zu erwischen. Ich habe den Verdacht, dass die sehr genau wussten, wo Vladislav steckt, ihn aber nur überwacht statt verhaftet haben. Vielleicht wollten sie über ihn an noch mehr hochrangige Motus-Funktionäre rankommen, bevor sie ihn wieder einbuchten."

"Also im Klartext: an dich", übersetzte Urnue verstehend. "Du glaubst, die wollten zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und euch beide gemeinsam hochnehmen?"

"Ich will einfach nur mal sehen, was passiert, wenn ich den Zaun auslöse."

"Fällt aus!", verlangte Urnue bestimmt. "Das einzige, was nämlich passieren wird, ist, dass sie herkommen werden, hier über ein paar Morde stolpern und dann noch vehementer nach dir suchen. Oder hast du vielleicht all deine Spuren zur Gänze verwischt? Und glaub mir, du HAST Spuren hinterlassen, wenn du tagelang da drin warst! Die FABELS werden dich sowieso schon in der Luft zerreißen, wenn sie merken, dass du Vladislav selber und ohne ihr Einverständnis gejagt hast. Aber wenn sie das hier sehen und die richtigen Schlüsse ziehen ...!"

"Welche Schlüsse sollen sie schon ziehen? Vladislav hat mich gefangen und tagelang misshandelt. Ich habe mich nur gewehrt."

"Tatsache ist aber, dass Vladislav jetzt tot ist, und du nicht! Da du selber ein vielfacher Mörder und Schwerverbrecher bist, wird mehr als das sie nicht interessieren."

Victor seufzte, stemmte die Hände in die Hüften und sah nachdenklich auf die kleine Felsformation, die den Verlauf des magischen Zauns markierte. Er überlegte lange. Urnues Argumentation war nicht von der Hand zu weisen, das musste er zugeben. "Schön, du hast Recht", meinte er nach einer Weile nachgiebig. "Hilfst du mir, bevor wir durch den Zaun gehen, die ganzen lästigen Unterbindungs-Zauber loszuwerden, bitte?"

Urnue glotzte ihn etwas verdattert an, ob der Plötzlichkeit, mit der dieser Streit beendet war.

"Was ist? Noch mehr Beschwerden oder Sonderwünsche?", hakte Victor amüsiert nach.

"Nein, ich ... ich bin nur- Meinst du das ernst?"

"Ja doch."
 

"Woher diese plötzliche Vernunft?", wollte Urnue irritiert wissen und machte sich zunächst an dem großen, äußerst komplexen Bann zu schaffen, der Victor daran hinderte, selbst Magie einzusetzen.

"Ach, vielleicht legt man sich mit den FABELS lieber doch nicht an. Seiji Kami wird sich schon denken können, dass ich Vladislav auf dem Gewissen habe. Die Beweise dafür sollte ich ihm nicht noch auf dem Silbertablett servieren. Falls er mich nach dieser Aktion immer noch decken will, würde ich es ihm damit nur unnötig erschweren. Er hat sicher Vorgesetzte, gegenüber denen er sich erklären muss."

"Ich hoffe doch sehr, dass es ab jetzt nicht mehr nötig sein wird, dich zu decken", erinnerte Urnue ihn vielsagend.

Victor schmunzelte nur. "Wer sagt denn sowas?"

"Shaban", erinnerte der Wiesel-Genius ihn ernst, nebenbei konzentriert weiter an dem Bann arbeitend.

"Ach ja, Shaban ..."

"Er hat mich auf der Astralebene gefunden. Er hat eigentlich nach dir gesucht. Ohne ausdrückliche Einladung kam er nur nicht in die Villa rein. Die ist gut geschützt."

Victors amüsiertes Lächeln blieb. Er sagte nicht, dass Shaban tatsächlich noch einen Weg hinein gefunden hatte. "Hat er was von dir gewollt?"

"Nein, wir haben nur ein bisschen geplaudert." Urnue hob etwas ratlos die Schultern. "Wie ich vermutet habe: er ist ein Dullahan. ... Er hat uns doch erzählt, dass er Kontakt zu Seiji Kami hat. Die FABELS sind wohl an ihn herangetreten, dass er ihnen Vladislav lebend liefern soll, falls der bei ihm auftaucht. Und Vladislav IST auch bei ihm aufgetaucht. Aber der hat inzwischen spitzgekriegt, dass Shaban ein Dullahan ist, und hat ihn jetzt echt bei den Eiern. Darum war es ihm sicherer, Vladislav nicht nochmal lebend davonkommen zu lassen. Also ist Shaban mit seinen Infos lieber zu dir gegangen, statt zu den FABELS ... Letztendlich wollte Shaban einfach nur seinen eigenen Arsch retten. Oder, nein, schlimmer: er wollte, dass DU seinen Arsch rettest."

"Ja." Victor nickte zustimmend. "Genau darum will er auch, dass ich niemanden mehr abknalle. Vor allem ihn selber nicht. Er weiß ganz genau, dass wir noch ne Rechnung offen haben. Alle anderen, ehemaligen Motus-Typen sind ihm völlig egal."

Der Wiesel-Tiergeist unterbrach kurz seine Tätigkeit und schaute Victor eindringlich an. "Daraus leitest du doch jetzt hoffentlich nicht ab, dass du weiter unbekümmert durch die Welt ziehen und Verbrecher mit Kopfschüssen umnieten kannst!?"

"Daraus, dass er mir geholfen hat, Vladislav zu kriegen, leite ich lediglich ab, dass ich die Rechnung zwischen Shaban und mir wohl als beglichen ansehen muss. Also werde ich ihn künftig in Ruhe lassen. Mehr habe ich Shaban jedenfalls nicht zugesagt. ... Genau genommen habe ich ihm nichtmal das zugesagt, jetzt wo ich so drüber nachdenke. Also kann er sich eigentlich sogar glücklich schätzen."

Mit einem Schnauben setzte Urnue seine Arbeit fort. "Jetzt, wo Vladislav nicht mehr da ist, wird Seiji Kami nicht mehr auf deine Informationen angewiesen sein. An deiner Stelle würde ich mich nicht drauf verlassen, dass die FABELS noch an einer Zusammenarbeit interessiert sind."

"Oh doch, das sind sie, mein Wort darauf", entschied Victor. "Selbst als Vladislav schon längst hinter Schloss und Riegel saß, waren sie das noch ..."

"Ja, weil Vladislav vom Knast aus weiter die Fäden gezogen hat."

"... und jetzt, wo sein Schutzgeist frei und ohne Kontrolle draußen rumrennt, müssen sie das erst recht sein."

Urnues fassungsloser Blick ruckte wieder hoch. "Du hast Waleri am Leben gelassen!?"

"Ich hab ein bisschen gebraucht, um mir darüber im Klaren zu werden, was ich mit ihm machen soll, ja. Darum hat es auch so lange gedauert, bis ich mich aus der Villa wieder befreit habe. Bei Vladislav war der Fall ja sonnenklar. Aber Waleri ... Jetzt guck mich nicht so an! Du forderst doch selber immer, dass ich meine Zielpersonen möglichst nicht umbringen soll."

"Ja, aber ..." Urnue hob kurz überfordert die Schultern, "von frei rumlaufen lassen war auch keine Rede! Wie wär´s wenigstens mit der Polizei gewesen!? Auch Waleri ist ein entflohener Knacki, nicht nur sein Schützling!"

"Ich hatte in meiner Zelle leider kein Telefon", hielt Victor frech dagegen, als sei dieses Argument ja wohl echt nicht von der Hand zu weisen.

Urnue ließ den Kopf hängen und fuhr sich seufzend über die Stirn. Manchmal machte der Kerl ihn wirklich fertig ...
 

Nur wenige Schritte neben ihnen nahm ein Genius eine sichtbare Gestalt an. Offensichtlich war er von der Astralebene zurück auf die materielle Ebene gekommen. Victor und Urnue erkannten ihn sofort und sahen keinen Grund zur Sorge.

"Hey, Shaban. Du schon wieder?", grüßte Urnue nur lax und vollendete dann endlich die Arbeit an dem Bann, an dem er schon die ganze Zeit herumgedoktert hatte.

"Oh! Akomowarov!", erwiderte der Druide erfreut, als er Victor erblickte. "Wieder frei und noch am Leben, wie ich sehe!? Hast du´s getan? Hast du Vladislav Saures gegeben?"

Statt zu antworten, gab Victor ein schwächliches Stöhnen von sich, hielt sich den Kopf, als ob ihm schwindelig würde, und griff haltsuchend nach Urnues Schulter. "U.!? ... Irgendwas ... stimmt nicht ...", brachte er noch mit Mühe heraus. Dann brach er bewusstlos zusammen.

Urnue ging bei dem erschrockenen Versuch, ihn noch irgendwie aufzufangen, mit ihm zu Boden. Er schaute verwirrt zwischen Victor und Shaban hin und her. "Was hast du getan?"

"Ich!?", erwiderte Shaban entrüstet.

"Kaum tauchst du auf ...!?"

"DU hast doch gerade an ihm rumgezaubert!" Shaban trat hinzu, drehte den bewusstlosen Russen auf den Rücken und begann der Reihe nach die Vitalfunktionen zu checken. Atmung war noch da, Puls war noch da, der Mageninhalt blieb wo er war, die Farbe im Gesicht ebenfalls ...

"Ich hab lediglich einen Bann aufgehoben, der den Einsatz von Magie unterbunden hat", klärte Urnue ihn von der Seite auf.

"Mh~", machte Shaban nur und zog eins von Victors Augenlidern auf, um sich den Pupillenreflex anzusehen. "Wir müssen Akomowarov nach England in meine Hütte bringen. Hier kann ich ihm nicht helfen."

"Und wie kommen wir da hin?", wollte Urnue wissen, eingedenk, dass sie gerade in der Nähe von Moskau festsaßen.

"Na, über die Astralebene. Hast du schonmal Leute mit auf die Astralebene gehoben, die normalerweise nicht da hin können?"

"Nein?", meinte Urnue verunsichert. "Sowas geht?"

Shaban schnaufte amüsiert. "Du hast doch am eigenen Leib erfahren, dass ich andere aus der Astralebene herauszerren kann. Natürlich kann ich dann auch Leute hineinstoßen. Wenn du das nicht kannst, dann trage ich ihn. Und du kommst einfach nach." Shaban schob seine großen, kräftigen Arme unter Victor und hob ihn ohne jede Anstrengung hoch wie ein Spielzeug.

Der feindliche Freund

"Urnue? ... ... ... Urnue!!!"

Der Wiesel-Genius blinzelte müde die Augen auf und brauchte einen Moment, um zu erfassen, wo er überhaupt war. Er lag mit dem Kopf auf der Tischplatte. In Shabans Druiden-Hütte. Sie hatten Victor hier her gebracht und versuchten seither mit verzweifeltem Hochdruck herauszufinden, was mit ihm los war. Victor war inzwischen nicht mehr direkt bewusstlos. Es war eher ein Schlaf, aus dem er nicht mehr wach zu kriegen war. Oft bewegte er sich unruhig, wachte aber nie auf. Wenn man ihm Wasser einflößte, schluckte er es glücklicherweise. Wohl aus einem Reflex heraus. Aber gegessen hatte er nicht mehr. Seit zwei Tagen schon. Anfangs war Victor eiskalt geworden, wie eine Leiche. Als Shaban versucht hatte, etwas gegen dieses Auskühlen zu unternehmen, war es postwendend in Fieber umgeschlagen, mit dem sie seither kämpften. All seine Heilkräuter und sein Druiden-Wissen hatten es bisher nicht vermocht, Victors Fieber zu senken.

Urnue hatte immer noch keine Ahnung, wie Shaban es geschafft hatte, Victor durch die Astralebene zu tragen. Mit seinem stofflichen Körper, seiner Pistole, und allem drum und dran. Auf die entsprechende Frage hin hatte er nur geantwortet: "Ich bin ein Dullahan. Du würdest staunen, was ich alles kann. Wir sind berüchtigt dafür, ganz gewöhnliche Menschen in die Schattenwelt zu entführen. Oder in die Hölle, wie es die Christen später ausgedrückt haben." Und das musste Urnue ihm wohl notgedrungen glauben.

"Ur-nu-he!", drang es wieder ungeduldig an sein Ohr.

Schlagartig nahm der Tiergeist Haltung an und rieb sich über die Augen, um wach zu werden. "Tut mir leid! Bin ich eingeschlafen?"

"Schwing deinen Hintern her", trug Shaban ihm auf. Er stand gerade mit einer Räucher-Schale an Victors Bett und räucherte ihn von oben bis unten mit dem Qualm ein.

Urnue trat mit fragendem Blick hinzu. "Was machst du da?"

"Ich versuche immer noch rauszukriegen, was seinen Zustand auslöst. ... Kannst du mir sagen, was das hier ist?" Mit der Hand fächelte er noch mehr Rauch auf Victors Gesicht, und in dem Rauch wurde ein viereckiges, handtellergroßes, orange leuchtendes Muster sichtbar, etwa so wie Laserstrahlen bei Rauch sichtbar wurden. Es schwebte eine Handbreit über Victors Kehlkopf.

Urnue nickte leicht. "Das ist Bannmagie."

"Das seh ich selber, du Held!", maulte Shaban. "Geht´s vielleicht ein bisschen präziser? Du bist doch Bann-Magier, oder nicht?"

"Diese Bannmarke hat er sich selber auferlegt. Sie verhindert, dass man von einem Finder aufgespürt werden kann. Mir hat er die gleiche verpasst, als ich mich ihm angeschlossen habe. Damit uns die Polizei nicht suchen kann."

Shaban warf ihm einen enttäuschten Blick von der Seite zu. "Also nicht der Grund für seinen Zustand?"

"Nein, leider nicht."

"Meinetwegen. Dann sieh dir den hier an", trug er Urnue auf und beräucherte als nächstes eine andere Stelle, mehr auf Hüfthöhe. Um sein Fieber ein wenig abzukühlen, hatten sie Victor das Oberteil ausgezogen, so dass der Weihrauch das Muster gut erkennbar auf der blanken Haut nachzeichnete, das wie ein Gürtel Victors ganze Taille zu umschließen schien.

Urnue zog grübelnd die Augenbrauen zusammen.

"Kennst du den auch?"

"Nein. Das ist definitiv keiner von seinen Schutzzaubern, die er sich selber auferlegt hat."

"Sieht für mich auch nach Bannmagie aus."

"Schon. Aber sowas hab ich noch nicht gesehen ...", gab Urnue ratlos zu. "Das Muster ist völlig asymmetrisch. Das ist untypisch für Bannmarken. Bei denen ist Balance normalerweise das A und O." Er stemmte beim Nachdenken die Hände in die Hüften. "Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass das von Vladislav stammen soll. So gut war der als Magier nicht."

Der Druide seufzte enttäuscht."Von wem das stammt, ist sekundär. Wir müssen wohl annehmen, dass wir hier den Grund für Akomowarovs Zustand haben. Aber ich beherrsche keine Bannmagie. Und wenn du es auch nicht lösen kannst, hat dein Kumpel ein ernstes Problem."

Urnue überlegte eine Weile finster vor sich hin, unzufrieden über sein eigenes Unwissen. Er schaute sich suchend in Shabans Hütte um und griff sich einfach ungefragt Notizblock und Kugelschreiber von irgendeiner Kommode. "Ich muss mir das schnell abzeichnen, damit ich es besser analysieren kann, ohne dass du noch stundenlang mit der Räucher-Schale daneben stehen musst. ... Kannst du mir helfen, ihn umzudrehen? Ich muss wissen, wie das Muster auf dem Rücken weitergeht ..."

"Hör mal, ich glaube, ich kann ihn aufwecken", meinte Shaban, während er der Bitte nachkam und Victor auf die Seite herumschob.

Urnue sah ihn überrascht an. "Echt? Wieso tun wir´s nicht?"

"Ich sagte, ich glaube. Garantieren kann ich es nicht. Und wenn es funktioniert, dann nur sehr kurz und höchstens ein einziges Mal. An deiner Stelle würde ich damit warten, bis du eine solide Theorie hast, und dir ganz genau zurechtgelegt hast, was du ihn fragen willst ... sofern er überhaupt munter genug wird, um dir irgendwas beantworten zu können." Er pustete vorsichtig in seine Räucher-Schale, um die Glut wieder anzufachen, und dampfte Victor dann abermals mit dem Qualm ein.
 

Shaban zog das Kissen zurecht und lehnte Victor in einer halb aufgerichteten Sitzhaltung dagegen. Der tief und fest schlafende Gestaltwandler bewegte sich unruhig in einem Fiebertraum, schien aber stabil gelagert zu sein. Shaban schaute Urnue fragend an. "Bereit?"

Urnue nickte. Er wusste, dass er nicht viel Zeit haben würde, und hoffte, dass Victor ihm tatsächlich auf Anhieb sagen konnte, was das war.

Shaban tunkte seinen Zeige- und Mittelfinger in die ölige Brühe, die er angerührt hatte, und rieb diese auf Victors Schläfen und Brust. Den Napf hielt er dabei dicht unter Victors Gesicht, damit er die ätherischen Dämpfe notgedrungen auch einatmete.

Victor gab einen müden Laut von sich und zog den Kopf schwach zur Seite, als würde er den Geruch unangenehm finden, den er unter die Nase gehalten bekam. Aber er kam tatsächlich langsam und mühsam zu sich. Das erste, was er beim Aufwachen tat, war, nach der Decke zu greifen, die lose über seinen Beinen lag, und sie sich bis zum Kinn hochzuziehen. "Wollt ihr mich umbringen? Was ist das für ne Eiseskälte hier?", beschwerte er sich matt und begann sichtbar zu zittern.

"Das ist Schüttelfrost. Du fieberst stark", klärte Urnue ihn besorgt auf.

Der Russe nahm das mit einem unglücklichen Nicken so zur Kenntnis. Er sah sich mit kleinen, verschlafenen Augen um, die er einfach nicht richtig auf zu kriegen schien, und versuchte sichtlich die Situation zu erfassen. Wo er hier war, und mit wem, das war ihm schon klar. Nur das 'warum' erschloss sich ihm noch nicht so ganz.

"Hör zu, wir haben nicht viel Zeit", fuhr Urnue eindringlich fort und holte sich Victors Aufmerksamkeit damit zurück. "Du hast drei Tage lang geschlafen. Und wir wissen nicht, wie lange wir dich wachhalten können."

Shaban hatte gedankenschnell etwas Müsli und Milch in eine Schüssel gekippt und hielt Victor diese auffordernd hin. "Hier. Iss, solange du noch wach bist. Du hast drei Tage nichts gegessen, du brauchst Energie!"

Seinen Schüttelfrost tapfer ignorierend, ließ Victor die Decke wieder fallen und nahm das Essen mit einem Dank entgegen, ohne Fragen zu stellen.

Kaum war Shaban wieder zur Seite getreten, hielt Urnue ihm als nächstes den Zettel mit dem abgezeichneten Bannmuster vor die Nase. "Kannst du mir sagen, was das für ein Zauber ist? Wir denken, der ist verantwortlich für deine anhaltende Bewusstlosigkeit, aber wir können ihn nicht lösen."

Victor bemühte sich, seine halb geschlossenen Augen ganz zu öffnen, und sich zu konzentrieren, obwohl er immer noch nicht ganz munter war. Auch sein fortgesetztes Kältezittern blendete er weiterhin aus. Nach kurzem Überlegen schob er sich einen Löffel Müsli in den Mund und zeigte dann mit dem leeren Löffel vielsagend auf Urnues Zeichnung. "Das ist nicht ein Zauber, sondern ein ganzes Gefüge aus vielen, kleinen", meinte er kauend. "Dieses spezielle Konstrukt da nennt man ein 'Kartenhaus'. Und es ist eingestürzt, wenn ich mir das so ansehe." Ein beleidigtes, leichtes Kopfschütteln folgte. "Vladislav hat solche Dinger geliebt. Wenn er auch sonst nichts auf dem Kasten hatte, aber DIE hat er studiert. ... Er hat mir so eins verpasst?"

Urnue nickte. "Da war eine auffallende Lücke in den Schemata, siehst du?"

"Ich schätze, die hast du erzeugt, als du den Magie-Blocker gelöst hast, der auf mir lag. Damit hast du mitten aus dem Kartenhaus eine Karte rausgezogen und es damit zum Einsturz gebracht. Genau das ist Funktion und Zweck eines Kartenhaus-Magiesystems: dass es zusammenbricht, sobald man irgendwas dran zu machen versucht", erklärte Victor und schaufelte sich noch mehr Müsli in den Mund.

"Ich hab versucht, die Lücke wieder aufzufüllen."

"Hat nichts gebracht, was?", lächelte Victor amüsiert.

Der Wiesel-Genius schüttelte den Kopf.

"Nein", pflichtete Victor ihm bei. "Nur weil man die fehlende Karte wieder auf den Haufen drauflegt, ist das Kartenhaus noch lange nicht wieder aufgebaut."

"Wie baue ich es wieder auf?", wollte Urnue wissen.

"Musst du doch gar nicht. Warum beseitigen wir nicht einfach den Rest davon auch noch?" Er klang schon wieder hörbar energieloser, als er das sagte.

Urnue gab sich etwas irritiert. "Wäre das nicht ein bisschen zu einfach?"

Victor ließ kraftlos die halbvolle Schüssel sinken und griff sich an den Kopf. "Ich bin so müde ... ich kann kaum noch klare Gedanken fassen ...", murmelte er. Ihm fielen die Augen zu.

"Nein-nein-nein, komm schon! Lass uns jetzt nicht hängen!", bat Urnue erschrocken.

"Mir ist so kalt ..."

"Dragomir! Wie entferne ich den Rest von dieser Magie richtig? Was muss ich dabei beachten? ... Dragomir!?"

Als Victors Kopf auf die Brust fiel, nahm Shaban ihm schnell die Müsli-Schüssel aus der Hand, bevor sie zu Boden fiel und ihren restlichen Inhalt in der halben Hütte verteilte. Dabei gab er ein unschlüssiges Brummen von sich. "Er hat länger durchgehalten als ich erwartet habe", gestand er, wirkte aber dennoch nicht ganz zufrieden mit dem Ergebnis. Es hätte mehr gebraucht, das war klar. Blieb nur zu hoffen, dass Urnue die Antworten reichten.
 

Der Druide schmunzelte. "Du nennst ihn also tatsächlich 'Dragomir'? Ich hab ja gehört, dass seine Freunde ihn angeblich so nennen. Aber ich hab das immer für Quatsch gehalten. Für ein Gerücht, wegen dem Coolness-Faktor, oder so."

"Die meisten halten es doch schon für ein Gerücht, dass er überhaupt Freunde hat", hielt Urnue humorvoll dagegen.

"Touché ...", stimmte Shaban zu.

Urnues Humor erlosch übergangslos wieder, als er über der garstigen Magie zu Grübeln begann. Er konnte nicht zurück zum Berg Predanje, um in Victors Bibliothek irgendwas nachzulesen. Victor hatte den Berg versiegelt. Ohne ihn kam Urnue da nichtmal hinein.

"Also wie vermutet", überlegte Shaban laut mit. "Vladislav hat offensichtlich eine Absicherung eingebaut, damit genau diese Scheiße hier passiert und sein Gefangener nicht sofort außer Kontrolle gerät, falls seine Bannmarken aus irgendwelchen Gründen versagen."

Urnue nickte nur vor sich hin. "Nagut ...", entschied der Tiergeist nach einer Weile seufzend. "Wenn sogar Vladislav das hinkriegt, wie schwer kann es dann schon sein?"

"Willst du die Magie etwa auflösen?", hakte der Druide zweifelnd nach. "Hast du überhaupt genug Ahnung davon? Du wusstest ja bis eben noch nichtmal, was das ist!?"

"Doch, mit 'Kartenhaus'-Systemen kann ich schon was anfangen", beruhigte Urnue ihn. "Mir ist bloß noch nie eins begegnet, darum hab ich es nicht gleich erkannt. Zumal es ja nicht mal mehr vollständig war. Ich bin sicher, dass ich das hinkriege. Das wird zwar verdammt viel Arbeit ..." Er seufzte abermals unmerklich, beim Blick auf seine Zeichnung. "Dragomir würde sicher einen eleganteren Weg kennen, diesen Mist hier aufzulösen. Aber Hauptsache ist ja das Endergebnis." Er versuchte bereits die einzelnen Zauber voneinander abzugrenzen, die enthaltenen Zeichen in Beziehung zueinander zu setzen und zu durchschauen, was sie bewirken könnten.
 

Da Shaban die Fenster seiner Hütte konstant verdunkelt hielt, war es unmöglich, zu sagen, welche Tageszeit gerade herrschte. Urnue fühlte sich langsam richtiggehend zermürbt. Tagelang die Sonne nicht zu sehen, und bei Fackellicht auf Texte zu starren, war er aus Victors unterirdischem Höhlensystem zwar gewöhnt, aber dort hatte er vermutlich trotz allem mehr Schlaf und weniger Kopfarbeit gehabt. Genau wie Victors Höhlensystem verfügte Shabans Hütte offensichtlich über ein brauchbares Belüftungssystem, sonst hätten sie sich bei all dem offenen Feuer schon längst mit Kohlenmonoxid vergiftet, dachte Urnue am Rande.

Shaban tunkte das Tuch in die Wasserschale und legte es Victor wieder auf die Stirn, um das immer noch anhaltende Fieber in Schach zu halten. Es war nicht gefährlich hoch, aber furchtbar hartnäckig, und auf Dauer sicher nicht gesund. Dann kam er mit zu Urnue an den Tisch. "Wie sieht´s aus?"

"Bin eigentlich fertig", meinte Urnue müde. "Ich kontrolliere nur nochmal alles durch, dass sich keine Fehler eingeschlichen haben. Dragomir sagt immer, Fehler können tödlich enden."

Der Druide lächelte belustigt. "Du siehst nicht aus, als würdest du Fehler überhaupt noch mitkriegen. Ist dir eigentlich klar, dass du seit 28 Stunden ohne Pause an diesem Zauber arbeitest?"

"Schlafen werde ich, wenn ich fertig bin."

"Schön und gut, aber Essen wäre vielleicht auch nicht ganz zu unterschätzen." Er schob Urnue vielsagend eine Schale Obst hin, die ohnehin schon die ganze Zeit neben ihm auf dem Tisch gestanden hatte, von Urnue jedoch schon länger keines Blickes mehr gewürdigt worden war. "Ich sehe ja ein, dass wir hier einen Wettlauf gegen die Zeit haben. Aber wenn du umkippst, hilfst du Akomowarov auch nicht weiter."

Urnue schaute geradezu lustlos auf die Äpfel, entschied dann aber, dass er durchaus essen und denken gleichzeitig konnte. Und Shaban hatte ja irgendwo auch Recht. Also nahm er sich einen. "Danke", machte der Wiesel-Genius nur, biss hinein und widmete sich dann wieder seiner Aufzeichnung.
 

Als er mit dem Apfel fertig war, war er auch mit dem Kontrollieren fertig, und fühlte sich sicher und in der Lage, diese dämlichen Bannmagie endlich aufzuheben, die Victor so fest in ihrem Griff hielt. "Shaban tust du mir einen Gefallen?"

"Was denn?"

"Kannst du bitte diese Räucher-Schale nochmal anfeuern, mit der du die Bannmarken sichtbar gemacht hast? Nur so als psychologische Stütze für mich, damit ich sehe, was ich tue."

Der Druide wandte suchend den Kopf, wo er die Schale denn überhaupt hingestellt hatte. "Wie lange wirst du den Rauch brauchen?"

"Vielleicht fünf Minuten, länger nicht. Die meiste Vorarbeit konnte ich schon auf dem Papier machen. Ich muss eigentlich nur noch das Ergebnis in die Realität übertragen. Den Bann jetzt tatsächlich aufzuheben, wird nicht mehr viel in Anspruch nehmen."

"Dafür sollte der Rest in der Schale noch reichen", versicherte Shaban ihm und griff sich ein langes Holzstäbchen, ähnlich einem Schaschlik-Spieß. Von solchem Krempel hatte Shaban einen Haufen wahllos in seiner Hütte verteilt herumliegen. Den hielt er in die nächstbeste Fackel, bis er Feuer gefangen hatte, und trug das Flämmchen dann zur Räucher-Schale hinüber, um diese wieder zu entzünden. "Dann los. Zeig, dass deine Arbeit nicht umsonst war."

Einverstanden - und arg schlapp - quälte sich Urnue vom Stuhl hoch und kam mit seinem Zettel in der Hand mit herüber an Victors Bett. Ohne großes Tamtam begann er seine Arbeit, die sich zu Shabans herber Enttäuschung auch bis zum Schluss nicht als sonderlich spektakulär herausstellte. Der im Rauch sichtbar gemachte Bannzauber flackerte, verblasste und verschwand irgendwann einfach ganz. Ohne viel Drama oder Pyro-Effekte.
 

Mit einem leisen Stöhnen blinzelte Victor die Augen auf und sah sich müde um, was der letzte Beweis für Urnues erfolgreiche Magie war.

"Hey-hey, es hat geklappt!", kommentierte Urnue erfreut und zu Recht auch ein wenig stolz.

Ächzend rollte Victor sich auf die Seite, weil sein Körper vom tagelangen auf-dem-Rücken-liegen furchtbar steif war und alles schmerzte. "Was hat geklappt?", wollte er dabei ahnungslos von seinem Kameraden wissen.

"Du warst fast vier Tage bewusstlos, mit einer kurzen Unterbrechung. Erinnerst du dich noch an das Kartenhaus-Magiesystem?", plapperte Urnue euphorisch los.

"Nein!?", gestand Victor und setzte sich mühsam auf. "Aber das mit den vier Tagen glaube ich dir. Ich fühl mich total ausgedörrt ..." Er entdeckte den Wasserbecher neben dem Bett, mit dem sie ihm dann und wann wenigstens etwas Flüssigkeit eingeflößt hatten, angelte kraftlos danach und trank ihn direkt leer.

Auf Shabans Gesicht machte sich ein geradezu hinterhältiges Feixen breit. Er stellte die unbekümmert vor sich hinqualmende Räucher-Schale beiseite, um beide Hände frei zu haben. "Endlich. Sehr schön, dass du wieder unter den Lebenden bist ... Dragomir."

Victor, der sich gerade die wärmende Decke um die Schultern zog, schaute alarmiert auf. "Warum nennst du mich so?"

Der Druide riss den verdutzten Urnue rückwärts einen Schritt weit vom Bett weg und schlang von hinten einen Arm um dessen Kehle, um ihn in Geiselhaft zu nehmen. Mit der anderen zog er das lange Jagdmesser, das schon einmal auf Urnues Herzen geruht hatte. "Weil wir jetzt reden werden, Freundchen", gab er finster und todernst zurück.

Victor zog ein resignierendes Gesicht, als hätte er es geahnt. Ihm hatte ja ohnehin schon die ganze Zeit geschwahnt, dass Shaban sich nicht völlig grundlos und uneigennützig so darum gerissen hatte, ihm helfen zu dürfen. Aber so!? Ihm ging schnell auf, dass er wenig Optionen hatte. Seine Pistole hatte Shaban logischerweise außer Reichweite geräumt. Und für starke oder präzise Magie war er noch nicht in der körperlichen Verfassung. Apropos körperliche Verfassung ... Victor schloss die Augen, ließ sich kraftlos von der Bettkante fallen und blieb reglos liegen.

Shaban glotzte den Russen verdutzt an. "Was´n das jetzt?", maulte er irritiert.

Wegen der Messerklinge auf seiner Brust wagte Urnue es nicht, sich zu rühren. "Er ist wieder ohnmächtig geworden", gab er deshalb nur zu Protokoll und wartete. Aber es geschah nichts. Der Druide schien absolut ideenlos und handlungsunfähig angesichts der unerwarteten Situation. "Shaban? ... Ich glaub, du kannst mich erstmal wieder loslassen", merkte Urnue daher irgendwann an. "Der redet so schnell mit keinem mehr."

"Vielleicht sollte ich dich mal mit dem Messer kitzeln, um zu sehen ob Akomowarov nicht bloß schauspielert."

Urnue, der den ersten Schreck inzwischen überwunden hatte, verzog das Gesicht. Der Kerl war so ein Vollidiot! Victor hätte definitiv zu würdigen gewusst, was der all die Tage für ihn getan hatte, und wäre deshalb sicher auf alle erdenklichen Wünsche und Forderungen eingegangen, die er jetzt haben mochte. Aber nach dieser Nummer hier, mit Geiselnahme und dem vollen Programm? Das fiel aus! Urnue sagte jedoch nichts dazu.

Schnaubend sah Shaban ein, dass es wohl vorläufig keinen Sinn mehr machte, Geiselnehmer zu spielen, ließ das Messer sinken und lockerte den Würgegriff um Urnues Hals ... was ein Fehler war ...



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