Samhain - Der Feind meines Feindes von Futuhiro (Magister Magicae 10) ================================================================================ Kapitel 12: Die lange Dunkelheit -------------------------------- Victor kam auf wackeligen Beinen um die Ecke gewankt und brach dann förmlich zusammen. Leise stöhnend blieb er erstmal liegen. Er war am Ende. Die plötzliche Stärke und Unversehrtheit, die er gegenüber Waleri zur Schau getragen hatte, war eigentlich nur geschauspielert gewesen. Vladislav hatte ihn wirklich gründlich genug zusammengeschlagen und verprügelt. Nur mit Mühe hatte er diese aufrechte Haltung lange genug beibehalten können. Urnue wartete in der Umgebung des Anwesens auf ihn, wie es verabredet war, und kehrte bei Victors Ankunft von der Astralebene zurück auf die stoffliche. Victor hatte ihm gesagt, dass es Tage dauern konnte, bis er zurückkam. Damit hatte er auch nicht untertrieben. Und ein Spaziergang war das offensichtlich nicht gewesen, wenn man sich Victor so ansah. "Mann, siehst du scheiße aus", kam Urnue nicht umhin zu bemerken, und klang dabei besorgter als er wollte. "Ja ...", ächzte der am Boden liegende Russe kraftlos. "Es war wirklich gut, dass wir bei Shaban diesen Power-Punsch bekommen haben, der immer noch wirkt. Vadym hat mir echt den Arsch versohlt." "Und? Wenigstens erfolgreich gewesen?", wollte Urnue bang wissen. Er hatte zwar im Vorfeld keinen Hehl daraus gemacht, dass er diese Mission für ein absolut hirnrissiges Selbstmordkommando hielt. Aber jetzt hatte er doch gehörig Mitleid mit Victors Zustand und ernste Sorge um seine Gesundheit. Allein sein Gesicht war schon grün und blau geschlagen und ein Auge halb zugeschwollen. Er wollte gar nicht wissen, wie erst der Rest des Körpers aussah, der gerade noch gut unter dem langen Ledermantel versteckt war. Aber Victor war mit einer Pistole in der Hand zurückgekommen, also musste zumindest irgendwas richtiggelaufen sein. "Erfolgreich ... Weiß ich noch nicht." "Wie meinst du das? Du hättest das Anwesen doch nie im Leben freiwillig verlassen, wenn Vladislav noch am Leben wäre!?" "Vladislav ist nicht der, um den ich mir Gedanken mache." Stöhnend kämpfte sich Victor wieder hoch und sammelte die fallengelassene Pistole wieder ein. "Lass uns hier verschwinden." "Ist Vladislav tot?", bohrte Urnue nochmal nach. "Ja. Toter geht´s nicht." "Gut. Dann lass uns gehen", stimmte der Wiesel-Genius beruhigt zu. Einen Moment überlegte er, wie er mit dem einen halben Kopf kleineren Kameraden umgehen sollte. Er hätte sich gern einen von Victors Armen um den Hals gelegt, um ihn zu stützen, aber der Größenunterschied machte das zu einem aussichtslosen Unterfangen. Er hätte den Hänfling auch huckepack auf dem Rücken tragen können, hätte ihm mit seinen unzähligen Blessuren aber vermutlich mehr Schmerzen zugefügt als ihm geholfen. Als Victor jedoch ohne Schwierigkeiten von selber losmarschierte, ohne gestützt werden zu müssen, war Urnue etwas entspannter. "Die haben dir einen Haufen Bannmarken verpasst." "Ich weiß. Ich kann gerade keine Magie einsetzen und mich nicht verwandeln. Ist aber egal. Darum können wir uns später kümmern." "Du hast auch einen Peilsender-Zauber auf dir, mit dem man dich wiederfinden kann." "Es gibt keinen mehr, der mich suchen könnte", hielt Victor stoisch dagegen. "Hat also auch Zeit." "Ich wundere mich nur. Bann-Magie ist das nicht. Und soweit wir wissen, beherrschen Vladislav und sein Genius nichts anderes als Bann-Magie. Waren in seinem Anwesen noch mehr Leute, die an dir rumgezaubert haben?" "Vladislav hat mir das mit dem Trinkwasser eingeflößt. Wer den Zauber auf das Wasser gelegt hat, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat er´s einfach irgendwo gekauft." "Und warum laufen wir eigentlich gerade nach Osten?" Darauf gab Victor keine Antwort mehr. Urnue nickte verstehend und gab sich zufrieden. Die nächste Zeit liefen sie schweigend. Wegen Victors schlechter, körperlicher Verfassung kamen sie nicht sehr schnell voran. Aber er weigerte sich, eine Pause zu machen und Urnue einige der Bannmarken lösen zu lassen. Als hätte er Angst, dass die Bannmarken das einzige waren, was seinen ramponierten Körper noch zusammenhielt. Ab und an schickte er Urnue auf die Astralebene, um "nachzusehen". Wonach genau Urnue schauen sollte, wusste er nicht. Etwas verdächtiges fand er jedenfalls nicht. Victor schüttelte dann jedesmal ungläubig den Kopf und ging weiter. Er schien auf irgendwas zu warten, rückte aber nicht mit der Sprache heraus, worum es sich dabei handeln sollte. Irgendwann kam eine kleine Felsformation in Sicht. "Das könnte es sein", murmelte Victor. "Guckst du bitte nochmal auf die Astralebene?" Urnue kam dem nach und brauchte diesmal nur Sekunden, bis er wieder auf die stoffliche Ebene zurückkehrte. "Da ist eine Art unsichtbarer Zaun", berichtete er irritiert. "Endlich ..." "Er verläuft direkt durch den Felsen. Und vom Verlauf her würde ich vermuten, dass er einmal rings um Vladislavs Grundstück läuft." "Ja. Und das Grundstück ist wesentlich größer als ich dachte." "Hast du eine Ahnung, was es damit auf sich hat?" Victor nickte seufzend. "Eine Art Alarmanlage. Der Peilsender-Zauber, den du an mir gespürt hast, reagiert auf diese magische Barriere. Wenn ich sie durchschreite, löst das irgendwo einen Alarm aus und sagt denen ganz genau, an welcher Stelle ich den Zaun durchbrochen habe." "Darum sind wir nach Osten gegangen", schoss es Urnue gedankenschnell in den Sinn. "Du willst denen glaubhaft machen, dass wir von Moskau weg fliehen." "Richtig. Sobald wir den Zaun durchschritten haben, werden wir unsere Richtung ändern. Aber das wird nicht reichen." "Warte mal ... Sagtest du nicht, es gäbe niemanden mehr, der uns verfolgen könnte?" "Na~ Das war vielleicht etwas ungenau formuliert. Ich hätte sagen sollen, dass es bei Vladislav und seinem Gefolge niemanden mehr gibt. Aber leider waren ja nicht nur die hinter mir her. Die Staatlichen suchen mich auch." "Und die haben Zugriff auf Vladislavs Überwachungssysteme?" "Das ist es, was ich rausfinden will. Ich kann mir einfach nicht erklären, warum Vladislav aus dem Gefängnis ausbrechen und wochenlang unbehelligt draußen rumspazieren kann, ohne dass es irgendjemanden stört. Gerade wo sie doch angeblich so versessen darauf waren, Vladislav vor mir zu erwischen. Ich habe den Verdacht, dass die sehr genau wussten, wo Vladislav steckt, ihn aber nur überwacht statt verhaftet haben. Vielleicht wollten sie über ihn an noch mehr hochrangige Motus-Funktionäre rankommen, bevor sie ihn wieder einbuchten." "Also im Klartext: an dich", übersetzte Urnue verstehend. "Du glaubst, die wollten zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und euch beide gemeinsam hochnehmen?" "Ich will einfach nur mal sehen, was passiert, wenn ich den Zaun auslöse." "Fällt aus!", verlangte Urnue bestimmt. "Das einzige, was nämlich passieren wird, ist, dass sie herkommen werden, hier über ein paar Morde stolpern und dann noch vehementer nach dir suchen. Oder hast du vielleicht all deine Spuren zur Gänze verwischt? Und glaub mir, du HAST Spuren hinterlassen, wenn du tagelang da drin warst! Die FABELS werden dich sowieso schon in der Luft zerreißen, wenn sie merken, dass du Vladislav selber und ohne ihr Einverständnis gejagt hast. Aber wenn sie das hier sehen und die richtigen Schlüsse ziehen ...!" "Welche Schlüsse sollen sie schon ziehen? Vladislav hat mich gefangen und tagelang misshandelt. Ich habe mich nur gewehrt." "Tatsache ist aber, dass Vladislav jetzt tot ist, und du nicht! Da du selber ein vielfacher Mörder und Schwerverbrecher bist, wird mehr als das sie nicht interessieren." Victor seufzte, stemmte die Hände in die Hüften und sah nachdenklich auf die kleine Felsformation, die den Verlauf des magischen Zauns markierte. Er überlegte lange. Urnues Argumentation war nicht von der Hand zu weisen, das musste er zugeben. "Schön, du hast Recht", meinte er nach einer Weile nachgiebig. "Hilfst du mir, bevor wir durch den Zaun gehen, die ganzen lästigen Unterbindungs-Zauber loszuwerden, bitte?" Urnue glotzte ihn etwas verdattert an, ob der Plötzlichkeit, mit der dieser Streit beendet war. "Was ist? Noch mehr Beschwerden oder Sonderwünsche?", hakte Victor amüsiert nach. "Nein, ich ... ich bin nur- Meinst du das ernst?" "Ja doch." "Woher diese plötzliche Vernunft?", wollte Urnue irritiert wissen und machte sich zunächst an dem großen, äußerst komplexen Bann zu schaffen, der Victor daran hinderte, selbst Magie einzusetzen. "Ach, vielleicht legt man sich mit den FABELS lieber doch nicht an. Seiji Kami wird sich schon denken können, dass ich Vladislav auf dem Gewissen habe. Die Beweise dafür sollte ich ihm nicht noch auf dem Silbertablett servieren. Falls er mich nach dieser Aktion immer noch decken will, würde ich es ihm damit nur unnötig erschweren. Er hat sicher Vorgesetzte, gegenüber denen er sich erklären muss." "Ich hoffe doch sehr, dass es ab jetzt nicht mehr nötig sein wird, dich zu decken", erinnerte Urnue ihn vielsagend. Victor schmunzelte nur. "Wer sagt denn sowas?" "Shaban", erinnerte der Wiesel-Genius ihn ernst, nebenbei konzentriert weiter an dem Bann arbeitend. "Ach ja, Shaban ..." "Er hat mich auf der Astralebene gefunden. Er hat eigentlich nach dir gesucht. Ohne ausdrückliche Einladung kam er nur nicht in die Villa rein. Die ist gut geschützt." Victors amüsiertes Lächeln blieb. Er sagte nicht, dass Shaban tatsächlich noch einen Weg hinein gefunden hatte. "Hat er was von dir gewollt?" "Nein, wir haben nur ein bisschen geplaudert." Urnue hob etwas ratlos die Schultern. "Wie ich vermutet habe: er ist ein Dullahan. ... Er hat uns doch erzählt, dass er Kontakt zu Seiji Kami hat. Die FABELS sind wohl an ihn herangetreten, dass er ihnen Vladislav lebend liefern soll, falls der bei ihm auftaucht. Und Vladislav IST auch bei ihm aufgetaucht. Aber der hat inzwischen spitzgekriegt, dass Shaban ein Dullahan ist, und hat ihn jetzt echt bei den Eiern. Darum war es ihm sicherer, Vladislav nicht nochmal lebend davonkommen zu lassen. Also ist Shaban mit seinen Infos lieber zu dir gegangen, statt zu den FABELS ... Letztendlich wollte Shaban einfach nur seinen eigenen Arsch retten. Oder, nein, schlimmer: er wollte, dass DU seinen Arsch rettest." "Ja." Victor nickte zustimmend. "Genau darum will er auch, dass ich niemanden mehr abknalle. Vor allem ihn selber nicht. Er weiß ganz genau, dass wir noch ne Rechnung offen haben. Alle anderen, ehemaligen Motus-Typen sind ihm völlig egal." Der Wiesel-Tiergeist unterbrach kurz seine Tätigkeit und schaute Victor eindringlich an. "Daraus leitest du doch jetzt hoffentlich nicht ab, dass du weiter unbekümmert durch die Welt ziehen und Verbrecher mit Kopfschüssen umnieten kannst!?" "Daraus, dass er mir geholfen hat, Vladislav zu kriegen, leite ich lediglich ab, dass ich die Rechnung zwischen Shaban und mir wohl als beglichen ansehen muss. Also werde ich ihn künftig in Ruhe lassen. Mehr habe ich Shaban jedenfalls nicht zugesagt. ... Genau genommen habe ich ihm nichtmal das zugesagt, jetzt wo ich so drüber nachdenke. Also kann er sich eigentlich sogar glücklich schätzen." Mit einem Schnauben setzte Urnue seine Arbeit fort. "Jetzt, wo Vladislav nicht mehr da ist, wird Seiji Kami nicht mehr auf deine Informationen angewiesen sein. An deiner Stelle würde ich mich nicht drauf verlassen, dass die FABELS noch an einer Zusammenarbeit interessiert sind." "Oh doch, das sind sie, mein Wort darauf", entschied Victor. "Selbst als Vladislav schon längst hinter Schloss und Riegel saß, waren sie das noch ..." "Ja, weil Vladislav vom Knast aus weiter die Fäden gezogen hat." "... und jetzt, wo sein Schutzgeist frei und ohne Kontrolle draußen rumrennt, müssen sie das erst recht sein." Urnues fassungsloser Blick ruckte wieder hoch. "Du hast Waleri am Leben gelassen!?" "Ich hab ein bisschen gebraucht, um mir darüber im Klaren zu werden, was ich mit ihm machen soll, ja. Darum hat es auch so lange gedauert, bis ich mich aus der Villa wieder befreit habe. Bei Vladislav war der Fall ja sonnenklar. Aber Waleri ... Jetzt guck mich nicht so an! Du forderst doch selber immer, dass ich meine Zielpersonen möglichst nicht umbringen soll." "Ja, aber ..." Urnue hob kurz überfordert die Schultern, "von frei rumlaufen lassen war auch keine Rede! Wie wär´s wenigstens mit der Polizei gewesen!? Auch Waleri ist ein entflohener Knacki, nicht nur sein Schützling!" "Ich hatte in meiner Zelle leider kein Telefon", hielt Victor frech dagegen, als sei dieses Argument ja wohl echt nicht von der Hand zu weisen. Urnue ließ den Kopf hängen und fuhr sich seufzend über die Stirn. Manchmal machte der Kerl ihn wirklich fertig ... Nur wenige Schritte neben ihnen nahm ein Genius eine sichtbare Gestalt an. Offensichtlich war er von der Astralebene zurück auf die materielle Ebene gekommen. Victor und Urnue erkannten ihn sofort und sahen keinen Grund zur Sorge. "Hey, Shaban. Du schon wieder?", grüßte Urnue nur lax und vollendete dann endlich die Arbeit an dem Bann, an dem er schon die ganze Zeit herumgedoktert hatte. "Oh! Akomowarov!", erwiderte der Druide erfreut, als er Victor erblickte. "Wieder frei und noch am Leben, wie ich sehe!? Hast du´s getan? Hast du Vladislav Saures gegeben?" Statt zu antworten, gab Victor ein schwächliches Stöhnen von sich, hielt sich den Kopf, als ob ihm schwindelig würde, und griff haltsuchend nach Urnues Schulter. "U.!? ... Irgendwas ... stimmt nicht ...", brachte er noch mit Mühe heraus. Dann brach er bewusstlos zusammen. Urnue ging bei dem erschrockenen Versuch, ihn noch irgendwie aufzufangen, mit ihm zu Boden. Er schaute verwirrt zwischen Victor und Shaban hin und her. "Was hast du getan?" "Ich!?", erwiderte Shaban entrüstet. "Kaum tauchst du auf ...!?" "DU hast doch gerade an ihm rumgezaubert!" Shaban trat hinzu, drehte den bewusstlosen Russen auf den Rücken und begann der Reihe nach die Vitalfunktionen zu checken. Atmung war noch da, Puls war noch da, der Mageninhalt blieb wo er war, die Farbe im Gesicht ebenfalls ... "Ich hab lediglich einen Bann aufgehoben, der den Einsatz von Magie unterbunden hat", klärte Urnue ihn von der Seite auf. "Mh~", machte Shaban nur und zog eins von Victors Augenlidern auf, um sich den Pupillenreflex anzusehen. "Wir müssen Akomowarov nach England in meine Hütte bringen. Hier kann ich ihm nicht helfen." "Und wie kommen wir da hin?", wollte Urnue wissen, eingedenk, dass sie gerade in der Nähe von Moskau festsaßen. "Na, über die Astralebene. Hast du schonmal Leute mit auf die Astralebene gehoben, die normalerweise nicht da hin können?" "Nein?", meinte Urnue verunsichert. "Sowas geht?" Shaban schnaufte amüsiert. "Du hast doch am eigenen Leib erfahren, dass ich andere aus der Astralebene herauszerren kann. Natürlich kann ich dann auch Leute hineinstoßen. Wenn du das nicht kannst, dann trage ich ihn. Und du kommst einfach nach." Shaban schob seine großen, kräftigen Arme unter Victor und hob ihn ohne jede Anstrengung hoch wie ein Spielzeug. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)