Battle for the Sun von rokugatsu-go ================================================================================ Kapitel 11: Breathe, breathe, believe, believe, believe, believe ---------------------------------------------------------------- „Breathe Breathe Believe, believe, believe, believe“   Placebo, „Loud like love“ Genervt hob Sikes eine Augenbraue. „Hast du Todessehnsucht?“ „Nein.“ Taro legte gelangweilt den Kopf schief. „Natürlich nicht. Aber wenn ich welche hätte, würde ich mich nicht an Sie wenden. Jemand mit so einer lächerlichen Fähigkeit wie Ihrer kann einem außerordentlich Befähigten wie mir nichts anhaben.“ „Meine Fähigkeit ist lächerlich, ja?“ „Oh hooo~, da habe ich aber einen wunden Punkt getroffen, was? Das hören Sie nicht zum ersten Mal.“ Der Meisterdetektiv schob seine Brille mit einem Finger hoch. „Ich verstehe. Das britische Militär hat Sie zum Sündenbock für eine gescheiterte Mission während des Krieges gemacht. Und deswegen wollen Sie sich mit Fagins Hilfe an Ihren früheren Vorgesetzten rächen. Geben Sie es auf, das wird nichts. Fagin hat kein Interesse an Ihnen und Ihren Ambitionen. Er brauchte nur Ihre Fähigkeit für seine Zwecke und wenn er Charlie wieder hat, wird er Sie loswerden wollen.“ „Was ...“ Ein tiefes, erzürntes Grollen entwich Sikes Kehle. „Was für einen Mist redest du da?! Woher willst du das alles wissen?!“ Aufmerksam und innerlich voller Unruhe beobachtete Fukuzawa ihren Schlagabtausch. Er bekam immer diese stechenden Magenschmerzen, wenn Ranpo („Taro“, korrigierte er in Gedanken) sich so überheblich einem physisch offensichtlich überlegenem Feind entgegenstellte. Zuletzt diese Nummer, als er Chuuya Nakahara von der Hafen-Mafia herausgefordert hatte? Fukuzawa bekam beim bloßen Gedanken daran ein Magengeschwür. Aber - Ranpo hatte dies noch nie ohne Grund getan und es gab keinen ersichtlichen Grund, warum Taro nun damit anfangen sollte. Als hätte Taro seine Gedanken gelesen, setzte der Meisterdetektiv zum großen Finale an. „Ich weiß noch viel mehr! Ich weiß, dass es Sie quält, den einzigen Menschen, der sich je um Sie gekümmert hat, wahrscheinlich getötet zu haben. Und Sie nicht einmal genügend Courage haben, um dafür die Verantwortung zu übernehmen.“ „Halt die Klappe!“ In blinder Wut preschte Sikes nach vorn und zerschmetterte den Schrank, da Taro schnell aus dem Weg gesprungen war. „Verdammtes, grinsendes Insekt! Ich werde dich zertreten!“, schrie der Engländer, schlug die herabfallenden Holzteile beiseite und wollte dem Schwarzhaarigen hinterher, als er bemerkte, wie jemand neben ihm erschienen war und etwas Herabfallendes aufgefangen hatte. Sikes stockte der Atem, als er Fukuzawa mit gezogenem Schwert vor sich erblickte. „Verrätst du mir, was du hier machst?“, fragte der Chef den weiter entfernt stehenden Meisterdetektiv. Die Entfernung hinderte ihn nicht daran, das noch breitere Grinsen in seinem Gesicht zu sehen. „Ich hatte so ein Gefühl, dass du ohne mich aufgeschmissen wärst, alter Mann.“ Fukuzawa atmete aus und für den flüchtigen Hauch eines Moments schien so etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht zu huschen. „Verstehe. Aber ist es wirklich nötig, dass du mich ständig 'alter Mann' nennst?“ „Ich weiß auch nicht warum … aber ja, das ist definitiv nötig.“ „Habt ihr jetzt genug gequatscht?“, brummte Sikes spürbar wütend dazwischen. „Ich will euch endlich töten.“ Der Blick des Chefs landete auf seinem Gegner. „Tut mir leid. Da habe ich etwas dagegen.“ Die beiden unterschiedlichen Klingen trafen mit einem lauten metallischen Klirren aufeinander. Die Schärfe des fremden Schwertes war, kombiniert mit der übermenschlichen Stärke seines Nutzers, überwältigend. Die präparierte Klinge schnitt in das harte Metall des japanischen Schwertes und auch wenn es nicht in der Lage war, dieses zu zerteilen, so wurde es Fukuzawa sehr schnell bewusst, dass er in diesem Kräftemessen die schlechteren Karten hatte. Seine einzige Chance bestand darin, den Kampf in die Länge zu ziehen, bis sich die Klinge des Engländers abnutzen würde, doch – wie er ein Stöhnen unterdrückend feststellen musste – seine verletzten Rippen machten ihm da einen Strich durch die Rechnung. In diesem Zustand kam ein auf Ausdauer ausgelegtes Duell nicht in Frage. „Jetzt macht es doch schon mehr Spaß, nicht wahr?“, presste Sikes zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor. Immerhin schien Fukuzawa ihm seine gesamte Kraft abzuverlangen. „Ich werde solche Typen wie Sie nie verstehen“, fuhr der Engländer fort. „Nach allem, was ich über Sie gehört habe, wie kann es Ihnen da genug sein, in so einem Büro zu hocken und den Aufpasser für andere zu spielen? Haben Sie keine Ambitionen mehr? Keinen Wunsch mehr, das schöne Gefühl zu verspüren, wenn man einem Feind die Kehle durchschneidet?“ Fukuzawas Augen verengten sich im Zorn. „Wenn das Ihr ganzer Antrieb ist, sind Sie auf ewig zum Scheitern verurteilt.“ „Sparen Sie sich ihre Scheißmoralpredigten.“ Sikes riss sein Schwert von dem des Chefs los, kehrte dazu zurück, seine Waffe in nur einer Hand zu halten, griff dann blitzschnell einen der mit der Haustüre aus der Wand gerissenen Mauersteine und warf diesen nach seinem Kontrahenten. Fukuzawa wehrte den Ziegel mit einem Schwerthieb ab, als Sikes bereits von neuem zu einem Schlag mit seiner Klinge ansetzte. Durch die Verletzung in seinen Bewegungen und in seiner Geschwindigkeit eingeschränkt, erwischte Sikes ihn am linken Oberarm. Blut spritzte umgehend fontänenartig aus der Wunde und Fukuzawa biss aufgrund des Schmerzes die Zähne zusammen. Die Wunde war tief, aber nicht so tief, wie er befürchtet hatte; sein Arm war noch dran. Das hieß, die Waffe des Anderen war schon dabei, stumpf zu werden. Die kaputten Knochen erschwerten ihm das Atmen und der nicht zu unterschätzende Blutverlust würde in nur wenigen Minuten zu einem akuten Problem werden. Er musste Sikes mit einem Angriff außer Gefecht setzen. Die Attacke seines Gegners spiegelnd, kickte Fukuzawa eines der auf dem Boden liegenden Holzbretter des einstigen Schrankes hoch und schleuderte es so Sikes entgegen. Dieser zerschlug es mit der bloßen Faust, was für den Chef aber ein kurzes Zeitfenster öffnete, in dem er einen fürs menschliche Auge kaum zu erhaschenden Hieb ausführte, mit dem er den Engländer tatsächlich am Handgelenk treffen konnte. Sikes schrie auf und musste sein Schwert aus seiner nun blutüberströmten Hand fallen lassen. Keine Sekunde verlierend, setzte Fukuzawa zum nächsten Angriff an und erstarrte. Sikes blockte seine Klinge mit seiner gesunden Hand ab. Das Schwert schnitt in sein Fleisch und doch war hinter den langen Haarsträhnen des Engländers abermals ein irres Grinsen zu erkennen. „Wenn Sie ohne die Intention mich töten zu wollen angreifen, werden Sie niemals gegen mich gewinnen.“ Das Schwert des Silberhaarigen als Haltegriff benutzend zog sich Sikes mit Schwung daran hoch und trat mit einem Bein gegen den Brustkorb des Chefs. Geistesgegenwärtig hielt Fukuzawa seinen sowieso schon verletzten Arm als Schutzschild dazwischen, doch nichtsdestotrotz flog er durch die Wucht des Tritts in die hinter ihm liegende Wand. Bevor er sich aufrichten konnte, stand Sikes über ihm und setzte einen Fuß hart auf die gebrochenen Rippen des Anderen auf. „Den Starken gehört die Welt. Verabschieden Sie sich also von ihr.“ Er wollte gerade zutreten, als ein lauter Schrei ihn innehalten ließ. „NEEEEEEIN!! LASS IHN IN RUHE, DU MISTKERL!!“ In einem Akt der Verzweiflung sprang Taro dem Engländer auf den Rücken und klammerte sich an diesem fest. „Was zur Hölle-?!“ Sikes ließ von Fukuzawa ab und stolperte rückwärts, während er versuchte, den trotz seiner viel, viel kleineren Größe hartnäckig an ihm klebenden Mann abzuschütteln. „Verzieh dich, du Schmeißfliege!!“ Sikes rammte Taro mit Gewalt einen Ellbogen in die Seite und schmetterte ihn so von sich und in den letzten, kläglichen Rest der Wand zum Salon hinein. Entnervt stöhnend blickte der Engländer zu dem Meisterdetektiv, der bewusstlos mit dem Gesicht zuerst zu Boden fiel. Ein großer, hässlicher Blutfleck blieb an der Stelle der Wand zurück, in die Taro gekracht war. Die Stille, die sich für einen sehr kurzen Moment über die alte Villa gelegt hatte, wurde unsanft von Sikes wahnsinnigem Lachen gestört. „Außerordentlich Befähigter, ja? Meine Fähigkeit soll lächerlich sein, ja?“ Sein Lachen wurde lauter und lauter. „Du bist auf einmal so still, hat deine große Klappe nichts mehr zu sagen? Nie wieder vielleicht?“ Das irrwitzige Lachen hallte unverhohlen durch die alten Gemäuer, bis es seiner Quelle wortwörtlich im Halse stecken blieb. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde gewesen, in der Sikes die blutrünstigste Aura, die er je auf dieser Welt wahrgenommen hatte, hinter sich gespürt hatte. Er hatte gar keine Gelegenheit mehr zu begreifen, was so plötzlich passiert war, denn von einem Augenblick auf den nächsten hatte er sein Leben ausgehaucht. Ein Katana hatte sich von hinten durch seinen Hals gebohrt und ließ ihn für immer verstummen. Einem gefällten Baum gleich stürzte der große, leblose Körper des Engländers mit einem lauten Poltern zu Boden. In jeder erdenklichen Weise entkräftet, ließ Fukuzawa den Griff seines Schwertes los und fiel, den Kopf gesenkt und um Luft ringend, hinter ihm auf die Knie.   Eine aus dem Nichts kommende, für diese Jahreszeit viel zu kalte Windböe ließ Tanizaki bibbern. Dass er hinter seinem Pulverschnee versteckt war, änderte nichts daran, dass der unaufhörliche Regen ihn voll und ganz durchnässte. Vielleicht war es deswegen, dass ihm der Wind so eisig vorkam, vielleicht lag es daran, dass er am Hafen entlang rannte, aber für den jungen Detektiv fühlte es sich in diesem Moment mehr an wie ein schlimmes Vorzeichen. Er rannte so schnell er konnte, aber was war, wenn er trotzdem zu spät kam? Was war, wenn sie Yosano bereits getötet hatten? Was, wenn er allein gegen die Feinde gar keine Chance hatte? Dass ausgerechnet er allein zu dieser Rettungsmission hatte aufbrechen müssen! Wie viel zuversichtlicher würde er sich fühlen, wenn Kunikida hier wäre, oder Kenji, oder Atsushi, oder Kyoka, seinetwegen auch Dazai, Hauptsache irgendjemand! Er wusste ja nicht einmal, wo genau er suchen sollte. Wäre Ranpo doch nur hier! Von oben bis unten triefnass, erreichte Tanizaki den hinteren Teil der alten Marina. Bei einem derart schlechten Wetter war hier eh niemand unterwegs, aber dieser abgelegenere Bereich des Yachthafens war durch Mauern, Zäune und angrenzende Lagerhäuser nicht nur unschöner, sondern auch weitaus schlechter einsehbar. Der Detektiv konnte sich gut vorstellen, dass nicht nur ihre aktuellen Widersacher diesen Platz gut geeignet fanden, um sich ihrer Feinde zu entledigen. Tanizaki kletterte über einen Zaun, um zu den abgesperrten, aufgegebenen Anlegeplätzen zu gelangen. Im Wasser hinter der Kaimauer dümpelten nur noch ein paar schrottreife, kleine Schiffe, die von der Welt vergessen waren. Plötzlich klingelte ein Handy – und es war nicht seins. „Häh, was ist los??“ Hinter einer Mauer sprang ein schwarzhaariger junger Mann, etwa im gleichen Alter wie er selbst und mit einem übergroßen Mantel bekleidet, auf und schimpfte in sein Mobiltelefon. „Noah, du Pfeife, warum sagst du mir denn nicht früher Bescheid? Du konntest ja nicht ahnen, dass sie herkommen würden? Du weißt auch nicht, was da passiert ist? Eine Fähigkeit?“ Er rollte mit den Augen. „Auch egal. Ich hab eben die Frau mit der Seilwinde runtergleiten lassen, wenn sie wirklich hier auftauchen, dann schubs ich sie zu ihr runter.“ Hätte man Tanizaki später danach gefragt, was ihm in diesem Moment durch den Kopf gegangen war, so hätte er wahrscheinlich geantwortet: „Ich weiß es nicht. Ich glaube, nichts.“ Etwas daran, wie der unbekannte Junge über Yosanos momentanen Aufenthaltsort gesprochen hatte, legte in Tanizaki einen Schalter um. Ohne weiter darüber nachzudenken, ohne sich Sorgen darüber zu machen, ob er dies hinkriegen würde, sprintete er los und sprang von einem der Anlegeplätze ins Meer. Sein Kopf war nicht völlig leer in diesem Augenblick; ganz im Gegenteil: Er war voll von einem einzigen Gedanken: Yosano ist da unten. Der Pulverschnee sorgte dafür, dass die Umgebung in seiner direkten Nähe unauffällig erschien. Niemand hörte das Platschen, als er ins Wasser eintauchte, niemand sah die Wogen, die das Meer dabei schlug. Mit großen, hastigen Armschlägen tauchte Tanizaki tiefer und tiefer hinab in die Unweiten des Meeres. Sein Herz machte einen Sprung, als er am Grund eine Gestalt ausmachen konnte. Yosano! Da war Yosano! Und sein Herz blieb beinahe stehen, als er bei ihr ankam und das Problem sah, das sich vor ihm ausbreitete und für das er niemals eine Lösung finden würde. Mehrere schwere Ankerketten waren um die Hand- und Fußgelenke der Ärztin geknotet. Tanizaki hatte Kenji schon viel Unfassbares tun sehen, aber solche klobigen Metallketten zu knoten, als wären sie nichts anderes als ein Strickseil; wer in aller Welt verfügte über so viel Kraft? Mit aufsteigender Panik rüttelte der Rothaarige an den Ketten, doch sie gaben seinen Bemühungen nicht nach. Seine Luft wurde knapp, aber er konnte Yosano doch hier nicht zurücklassen! Als hätte sie seine Anwesenheit gespürt, flackerten die Augenlider der bis dahin bewusstlosen Frau kurz auf. Ihre Blicke trafen sich und Tanizaki war, als hätte er ein schwaches Kopfschütteln bei seiner Kollegin gesehen. Wollte sie etwa, dass er ging? Mit allem, was er aufbringen konnte, rüttelte er erneut an den Ketten, die seine Kameradin in diesem nassen Grab festhielten. Sie schüttelte abermals den Kopf. Da ihm die Luft ausging, musste Tanizaki wieder auftauchen. Die Anstrengung hatte ihn gezwungen, seine Fähigkeit aufzulösen. Japsend und hustend reckte er seinen Kopf über die Wasseroberfläche und hielt sich an der Kaimauer fest – dann riss er erschrocken die Augen auf. Auf der Mauer vor ihm stand der dunkelhaarige Junge und schnalzte mit der Zunge. „Wo kommst du denn her? Ich habe mich gewundert, woher plötzlich die ganzen Wellen im Wasser kommen. Willst du deine Freundin retten? Sorry, das wird nix. Sikes hat sie verschnürt und ich hab sie auf Kommando mit diesem Ankerketteneinholding da runter gelassen.“ Beiläufig zeigte er auf die Vorrichtung am Ufer. Tanizakis Blick schnellte zu seinem Fingerzeig. Konnte er damit Yosano wieder an die Oberfläche bringen? „Höh?“ Der dunkelhaarige Junge blinzelte auf das plötzlich wieder menschenleere Meer vor sich und den merkwürdigen grünen Schnee, der sich in den Regen mischte. „Ah~, schon klar.“ Er kicherte und wartete etwas, bis er von jetzt auf gleich neben der Vorrichtung stand und mit voller Wucht auf den Hebel, der sie in Gang setzte, schlug. Nur dass er nicht den Hebel traf, sondern Tanizakis Hand. „Kannst du mich etwa sehen?“ Irritiert erschien der Detektiv vor ihm. Der Junge kicherte wieder. „Nö, aber war ja klar, wo du auftauchen wirst.“ Wie konnte er so schnell hier sein? Ich war viel näher dran als er. Außerdem habe ich nicht einmal gesehen, dass er sich bewegt hat. Ist er etwa ein- „Du denkst gerade: 'Oh nein! Er ist ein Befähigter', richtig?“, unterbrach der Engländer grinsend seine Gedanken. „Ich bin übrigens Dawkins und meine Kunstfertigkeit liegt darin, schneller als der Wind – oder irgendwas anderes – zu sein. Ohne meine Fähigkeit wäre Charles auch nur so ein Kraftprotz wie Sikes, aber durch die Kombination mit meiner tollen Fähigkeit wurde er erst zu etwas Besonderem.“ Der Anblick des immer zorniger werdenden Tanizakis amüsierte ihn augenscheinlich. „Deine Fähigkeit ist ganz cool, zugegeben, aber sie kann eben nicht so was hier.“ Dawkins zauberte einen Schraubenschlüssel aus einer seiner Manteltaschen und bevor Tanizaki begreifen konnte, was er vorhatte, fiel die Apparatur zum Ankereinholen auseinander. Entgeistert starrte er auf die klirrend zur Erde fallenden Teile. Das war seine einzige Hoffnung gewesen, Yosano zu retten. Alles … war … verloren. Dawkins Handy klingelte erneut. „Sie sind da?“ Er guckte sich suchend um. „Wie? Sie waren gerade eben noch da gewesen? Drück dich klarer aus! … Das ist jetzt schon häufiger passiert?“ Er stöhnte. „Treff ich heute nur Leute mit so Verschwinde-Fähigkeiten?“ Verschwinde-Fähigkeiten? Tanizaki horchte auf. Wer …? Das konnte nur eine sein. Und wenn sie von da kam, wo sie sie vermutet hatten, dann- Aus dem Nichts erschienen Lucy, Kenji und Salten, der die schwer verletzte Nancy auf den Armen trug, auf einer Mauer. Unbeeindruckt kratzte sich Dawkins am Kopf. Durch seine Schnelligkeit hielt er sich für so gut wie unbesiegbar, da machte ihm eine größere Anzahl an Gegnern auch nichts aus. „Kenji!!“, schrie Tanizaki zu dem Kollegen hinauf. „Yosano ist unter Wasser angekettet! Sie ertrinkt!“ „Alles klar!“, antwortete der blonde Junge. „Tanizaki, sieh dir jetzt bitte ganz genau den Boden an!“ Den Boden? Verdutzt, aber seinem Kameraden vertrauend, richtete der Rotschopf seinen Blick auf die Erde. „Fähigkeit!“, rief Salten aus. „Eine Lebensgeschichte aus dem Walde!“ Was Tanizaki nun nicht sah, dafür aber Dawkins und der versteckte Noah, waren die unzähligen Tiere, die überall um sie herum auftauchten. Salten beschwor alles, was seine Fähigkeit hergab und füllte die gesamte Umgebung mit jedem Waldbewohner, den man sich vorstellen konnte. Es war eine Elster, die Noah zum Verhängnis wurde und ihn ohnmächtig aus seinem Versteck kippen ließ und es war ein Igel der das Blickfeld des übertölpelten Dawkins kreuzte und ihn besinnungslos auf die Matte schickte. Dann verschwanden die Tiere rasch wieder. „Gut, das wäre erledigt!“ Kenji sprang von der Mauer und lief zu dem wieder hochblickenden Tanizaki. „Wo ist Yosano?“ „Da unten!“ Er zeigte auf die Stelle im Wasser. „Jemand hat Ankerketten um sie geknotet!“ „Ich kümmere mich darum!“ Der blonde Junge rannte an seinem Kollegen vorbei und ins Meer. Ob Kenji es rechtzeitig schaffen würde? Yosano war schon viel zu lange da unten. Der durch das völlige Ausreizen seiner kurzlebigen Fähigkeit ausgelaugte Salten zuckte plötzlich zusammen, als er ein schwaches Ziehen an seiner Jacke bemerkte. Sein Blick schnellte zu der röchelnden jungen Frau in seinen Armen. „Bitte ...“, hauchte sie fast unhörbar leise, „bringen ... Sie ... mich … da runter ...“ Salten blinzelte verwirrt. „Da runter?“ Er schaute zum Meer und wie er schlagartig begriff, was sie meinte, wieder zu ihr zurück. „Sonst … ist … es … vielleicht … zu spät ...“ Mit großen, ungläubigen Augen musterte er Nancys leichenblasses Gesicht. Deswegen hatte sie darum gebeten, sie herzubringen. Sie hatte nie im Sinn gehabt, sich von der Ärztin der Detektive helfen zu lassen. Nein. Sie wollte - „Bist du dir sicher?“ Ein nicht enden wollendes Rinnsal aus Blut lief aus ihrem Mund. „Bitte.“ Salten nahm tief Luft, verstärkte seinen Griff um die sterbende Frau und sprang mit ihr von der Mauer. Tanizaki, der sich mit bangem Blick dem Meer zugewandt hatte, bemerkte die beiden erst, als sie an ihm vorbei sprinteten und ohne anzuhalten ins Wasser sprangen. Kenji kämpfte damit, die Ketten abzubekommen. Sie ließen sich nicht einfach zerschlagen und die Knoten waren so dick, dass selbst er Probleme damit hatte, sie aufzubekommen. Zusätzlich ging ihm langsam die Luft aus. Die bewusstlose Yosano bekam nichts davon mit. Als wäre sie nur eine leblose Puppe, riss die Strömung ihren Kopf unsanft hin und her. Die Momente, in denen Kenji Angst bekam, waren rar, doch während er diesen Kampf kämpfte, wuchs in ihm die Furcht davor, die Kameradin nicht rechtzeitig retten zu können. Es war wirklich sehr selten, dass Kenji das stechende Gefühl von sich formenden Tränen in seinen Augen verspürte. Er stutzte zutiefst verwundert, als er bemerkte, wie Salten und Nancy neben ihm erschienen. Die junge Frau streckte eine schwache Hand nach einer der schweren Ketten aus und berührte mit einem Finger ein einziges Glied der verschlungenen, metallenen Fesseln. Binnen einer Sekunde verrostete jede der Ketten. Während Salten noch erschrocken dachte „Das ist also ihre Fähigkeit!“, verlor Kenji keine Zeit und riss die brüchigen, nun durchlöcherten Ketten ohne Probleme vom Körper seiner Kollegin. Kaum hatte er sie befreit, schnappte er sich Yosano und zog sie mit sich nach oben. Salten folgte ihm unverzüglich. In diesem Moment, während sie so schnell sie konnten zur Meeresoberfläche schwammen, öffnete Yosano für einen winzigen, kaum messbaren Augenblick ihre Augen und sah in das Gesicht einer ihr unbekannten jungen Frau, die sanft lächelte. Yosano konnte sich gerade einmal fragen, wer das war und woher all das Blut um die Unbekannte herum kam, ehe erneut alles schwarz wurde. Lautstark nach Luft schnappend, reckte Kenji den Kopf aus dem Wasser. Die ganze Aktion war selbst für ihn zu anstrengend gewesen und er empfand nichts als Dankbarkeit, als Tanizaki ihm half, Yosano an Land zu bringen. Lucy eilte zu Salten, um ihm und Nancy aus dem Wasser zu helfen. Fahrig hielt Tanizaki eine Hand unter die Nase der Kameradin, während Kenji keuchend daneben hockte. Dann erstarrte der Rotschopf. „Sie atmet nicht! Was sollen wir tun? Sie atmet nicht! Ich spüre auch keinen Herzschlag!“ Panisch blickte Tanizaki sich um, doch hier war niemand, der ihnen helfen konnte. Yosano war doch ihre Ärztin, sie war es, die sich um sie kümmerte, wenn etwas war! „Weißt du, wie eine Reanimation geht?“, fragte Salten aus dem Hintergrund mit seltsam betrübter Stimme. Tanizaki drehte sich zu ihm um, gerade als Lucy mit verstörter Miene von der wie Yosano auf dem Boden liegenden Nancy zu Salten hochschaute. Mit einer Hand strich der Dunkelhaarige über Nancys leblose Augen und schloss sie. Ihre Kleidung, ihre Haare, alles an ihr war voller Blut. Der Wasserdruck hatte ihre Verletzung drastisch verschlimmert. Sie hatte gewusst, dass dies passieren würde und dennoch hatte sie der Detektivin zur Hilfe kommen wollen. Ein tragisches Leben hatte ein tragisches Ende gefunden. Stille Tränen rannten Saltens Gesicht hinab. Tanizaki zitterte mittlerweile am ganzen Körper, doch plötzlich riss er seinen Blick von diesem traurigen Anblick los und drückte seine Hände mehrmals fest auf Yosanos Brustkorb. Dann beugte er ihren Kopf nach hinten, atmete tief ein und blies ihr die Atemluft in ihren Mund. Er wiederholte dies zwei weitere Male – ohne Ergebnis – und drückte dann wieder seine Hände auf ihren Brustkorb. „Tanizaki ...“, sagte Kenji, halb staunend, halb anbietend, ob er nicht auch etwas tun konnte. Der ältere Detektiv hörte ihn, aber die Stimme des Jüngeren war weit an den Rand seiner Wahrnehmung gedrängt. Ihm war für einen kurzen Moment der Gedanke gekommen, die Herzdruckmassage von Kenji machen zu lassen, doch er verwarf dies schnell wieder. Kenji könnte ungewollt zu viel Kraft ausüben und Yosano verletzen. Tanizaki reagierte auch nicht darauf, dass er angesprochen wurde. Alles, was für ihn in diesen Minuten noch existierte, war die bewusstlose Yosano unter ihm. Wie eine Maschine wechselte er zwischen Herzdruckmassage und Beatmen hin und her, während ein einziges Mantra sich immer und immer wieder in seinem Kopf wiederholte: „Atme! Atme! Atme!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)