Battle for the Sun von rokugatsu-go ================================================================================ Kapitel 5: Like winter came and put a freeze on my heart -------------------------------------------------------- „Like winter came and put a freeze on my heart“   Placebo, „A million little pieces“   Naomi wusste, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, als das Handy des Chefs klingelte. Mit unruhigem Blick beobachtete sie, wie er den Anruf stirnrunzelnd entgegennahm und seine Miene plötzlich einfror. Etwas sehr Schlimmes musste vorgefallen sein, wenn ihr Chef, der sonst nie eine Miene verzog, der, egal vor welcher Herausforderung sie gerade standen oder ob gar das Schicksal der Welt auf dem Spiel stand, immer wie ein Fels in der Brandung eine stoische Miene behielt, nun so erschrocken dreinblickte. „Tiere?“, war alles, was er sagte, nachdem Haruno ihren Redeschwall (sie schrie so laut und so aufgebracht durch das Telefon, dass Naomi ihre Stimme hatte erkennen können) beendet hatte. „Ich schicke sofort Kunikida und Yosano vorbei.“ Noch bevor er aufgelegt hatte, hatte Naomi auf ihrem Telefon die Kurzwahltaste für Kunikidas Handynummer gewählt. Sie hielt ihm den Hörer hin. „Was ist passiert?“ Fukuzawa starrte den ihm entgegengereckten Gegenstand einen Augenblick lang an (vielmehr sah er durch ihn hindurch und Naomi musste ängstlich schlucken. Was war so schrecklich, dass es jemanden wie den Chef derart fassungslos machte?), ehe er ihn in die Hand nahm und sofort zu sprechen begann, als am anderen Ende der Leitung abgehoben wurde. „Kunikida, fahr mit Yosano zum Gerichtsgebäude. Ranpo ist verschwunden.“ „WAAAAS?!“ Naomi hörte den Kollegen aus dem Hörer brüllen. „Als Haruno dort ankam, hat sie alle am Tatort Anwesenden bewusstlos vorgefunden. Kommissar Minoura berichtete von aus dem Nichts aufgetauchten Tieren mit leuchtenden Augen. Außer Ranpo wird niemand vermisst. Nur sein Handy lag noch am Tatort.“ Obwohl sie selbst schockiert über diese Nachricht war, entging der Schülerin nicht das minimal wahrnehmbare Beben in der Stimme ihres Vorgesetzten. Kein Wunder, dass er so durcheinander war. Wenn Ranpo, ausgerechnet Ranpo, vermisst wurde. Ihr Bruder und sie waren noch nicht so lange Teil der Detektei wie beispielsweise Yosano oder Kunikida, aber einer Sache waren sie sich recht zügig bewusst geworden: Ranpo und der Chef hatten ein besonderes Verhältnis. (In eine ihrer Unterhaltungen mit ihrem Bruder war auch einmal das Wort „Lieblingskind“ gefallen, aber Tanizaki hatte sie ermahnt, das niemals laut zu sagen. Es wäre dem Chef mit Sicherheit unangenehm.) „Habt ihr etwas über Lucys Verschwinden herausfinden können?“, fragte Fukuzawa und wirkte noch resignierter, als Kunikida verneinte. „Gebt mir Bescheid, sobald ihr etwas über Ranpos Verschwinden in Erfahrung bringen konntet.“ Er legte auf und hielt den Hörer noch einige Sekunden wie erstarrt in der Hand. „Soll ich die anderen anrufen?“, schlug Naomi vor, doch der Ältere deutete ein Kopfschütteln an. „Ich will erst abwarten, ob Dazai mit seinem Plan, Atsushi als Köder zu benutzen, Erfolg hat.“ Naomi nickte. Sie war froh, dass ihr Bruder sie heimlich angerufen hatte, um ihr dies mitzuteilen. Dazais Plan schien doch nicht ganz ungefährlich zu sein. Wenn die Entführer sogar Ranpo verschleppen konnten …   „Ich versteh das nicht. Ich versteh das nicht!“ Atsushi keuchte panisch, während er immer wieder Dazais Nummer wählte und immer wieder nur das automatische Band zu hören bekam. „Vielleicht ist sein Akku leer? Diese Dinger funktionieren ja nicht ohne Strom“, mutmaßte Kenji. „Ausgerechnet jetzt?“ Dazai war ein Chaot, ja, definitiv, ohne jeglichen Zweifel, aber dass ihm das passieren würde, hielt er für eher unwahrscheinlich. Besonders in einer derart heiklen Situation. Außerdem sagte das beklemmende Gefühl in Atsushis Brust ihm, dass ein anderer Grund wahrscheinlicher war. War Dazai vielleicht auf die Entführer getroffen? „Ich weiß nicht, wo er hinwollte, aber wir müssen ihn finden!“, sagte er mit plötzlicher Entschlossenheit zu Kenji. Hier herumzustehen und der Panik zu verfallen, brachte sie nicht weiter. Es brachte sie kein Stück näher zu Kyoka und Lucy. „Atsushi! Kenji!“ Die beiden jungen Detektive horchten auf, als Tanizaki zu ihnen spurtete. Er schloss zu ihnen auf und schnappte erst einmal erschöpft nach Luft. „Habt ihr Dazai gesehen?“ Beide schüttelten den Kopf. „Kunikida hat mich angerufen und einen Koller bekommen, weil er Dazai nicht erreichen kann. Ich musste daher meine Observierung abbrechen. Jetzt ist auch noch Ranpo verschwunden!“ „Ranpo auch noch?!“, entfuhr es Atsushi entgeistert. Ranpo passte nicht in das Muster. Er war kein Kind, er sah nicht mitleiderregend aus und er … Moment. Streich den ersten Punkt, korrigierte der Silberhaarige sich selbst. „Tanizaki, ich konnte Dazai bisher auch nicht erreichen, aber ich … ich habe Kyoka und Lucy getroffen.“ Der Kollege sah ihn entsetzt an.   Die Sonne war untergegangen und die Nacht über Yokohama eingebrochen, als Atsushi in dem kleinen, abrissreifen Haus der Waisen saß, die sie engagiert hatten. Die Kinder hockten in einer Ecke des Hauses zusammengedrängt und obwohl Yosano sie schon mehrfach aufgefordert hatte, zu schlafen, lauschten sie gespannt dem, was die anderen zu berichten hatten. Atsushi hatte den anderen Detektiven alles vorgetragen, was sich bei der Begegnung zwischen ihm und den beiden vermissten Freundinnen abgespielt hatte. Auch Tanizaki und Kenji hatten all ihre Informationen gegenüber Kunikida, Yosano und dem Chef noch einmal wiederholt. Dem Chef. Atsushis Blick landete immer wieder auf Letzterem. Es war nicht nur ungewöhnlich, dass Fukuzawa persönlich mitgekommen war, er wirkte auch deutlich angespannt. Aber … das war gar nicht so verwunderlich. Ranpo war schließlich verschwunden. Und irgendetwas war da zwischen dem vorlauten Meisterdetektiv und dem stillen, eisernen Chef, das Atsushi nicht genau benennen konnte. Vielleicht war es ein ähnliches Band wie das zwischen ihm und Dazai. „Durch diese Geschichte mit den Tieren können wir demnach davon ausgehen, dass dieselben Leute, die Kyoka entführt haben, auch Ranpo mitgenommen haben.“ Kunikidas Bericht rückte wieder in den Fokus des Jungen. „Mehr konnten wir allerdings nicht herausfinden.“ „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ranpo auf so einen Trick hereingefallen ist“, widersprach Yosano. „Es ist wahrscheinlicher, dass sie ihn überwältigt haben.“ Sie stöhnte frustriert. „Das kommt davon, dass er nie auch nur eine einzige Kampfkunst erlernen wollte!“ „Dazai würde ihnen doch auch nicht so einfach in die Falle gehen, oder?“, fragte Kenji. „Bei diesem Vogel ist alles möglich“, schimpfte Kunikida. „Vielleicht kam ihm auch spontan die Idee, freiwillig mit ihnen mitzugehen.“ „Hat Katai sein Mobiltelefon orten können?“, hakte Fukuzawa nach und Kunikida schüttelte den Kopf. „Nein. Er vermutet, das Handy wurde zerstört.“ „Kyokas, Lucys und Ranpos wurden einfach weggeworfen“, wandte Yosano ein. „Das passt nicht ins Bild.“ „Tanizaki“, forderte der Brillenträger ihn auf, „wiederhole noch einmal genau, was du mitangehört hast.“ Der Angesprochene nickte. „Die Frau, die von allen Kindern 'Tante' genannt wird, sagte zu der Frau mit den hellblonden Haaren, die anscheinend 'Frances' heißt, dass sie heute Nacht weitersuchen müssen, da die Detektive hier aufgetaucht seien. Außerdem sei jemand namens 'Charlie' wohl an mehreren Stellen in Suribachi gesichtet worden und ihr 'Geschenk Gottes' soll sich dort diese Nacht einmal umsehen.“ Er machte eine kurze Pause, in der Hoffnung, dass seine Erzählung beim zweiten Mal Sinn ergeben würde, aber er verstand immer noch nicht völlig, was genau er da mitangehört hatte. „Da wir wissen, dass sie jemanden suchen, muss es sich dabei um diesen 'Charlie' handeln, oder?“ Kunikida knurrte missmutig. „Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, dass sie Ranpo mundtot machen wollten, weil er dabei war, ihnen auf die Schliche zu kommen.“ Atsushi zog scharf die Luft ein. „Du meinst, die Entführer sind auch die Verantwortlichen hinter dieser Mordserie??“ „Es spricht viel dafür.“ Yosano seufzte, als sie sah, dass die Waisen sie ängstlich anblickten. „Ich habe doch gesagt, ihr sollt schlafen.“ „A-aber“, Atsushi traute sich kaum, seinen Gedanken auszusprechen, „wenn sie die Mörder sind und Ranpo zum Schweigen bringen wollten ...“ „Alles, was wir im Moment sicher wissen“, ergriff Fukuzawa plötzlich das Wort, „ist, dass diese Leute heute Nacht wieder in dieses Viertel kommen werden. Wir müssen daher alles daran setzen, sie zu finden. Wir werden uns aufteilen und jeden Winkel von Suribachi durchkämen, bis wir unsere Kameraden und die entführten Kinder wiedergefunden haben. Sie haben einen Befähigten unter sich, der in der Lage ist, mit diesen Tieren jemandem das Bewusstsein zu rauben. Seid daher besonders vorsichtig und unternehmt nichts auf eigene Faust.“ Ernst und einträchtig nickten die Detektive sich zu.   Yosano musste schmunzeln, als ein Kerl, der ihnen auf der Straße entgegenkam und offensichtlich darauf gehofft hatte, sie auszurauben, sofort die Beine in die Hände nahm und davon preschte, als der Chef ihn nur anblickte. Der Kerl hatte aber auch einen wahrlich schlechten Moment erwischt, denn Fukuzawa blickte noch grimmiger als gewöhnlich drein. War das die Sorge um Ranpo? Die Ärztin sah den Mann neben sich aus dem Augenwinkel an und fühlte sich bestätigt. So angespannt hatte sie ihn noch nie erlebt. In Zweiergruppen zogen sie in dieser Nacht durch das düstere Suribachi. Aus dem, was Tanizaki belauscht hatte, war nicht zu folgern, wo genau sie nach den Entführern suchen sollten und dieses Viertel war groß, gigantisch groß – und ihnen fehlten drei ihrer Leute. Ohne Ranpos Ultra Deduktion stocherten sie quasi im Dunkeln. Kunikida hatte immerhin auf die Schnelle einen Plan erarbeitet, wie sie ihre Suche möglichst strategisch angehen konnten. In ihren drei Gruppen suchten sie innerhalb eines Radius, dann gingen sie zum nächsten Abschnitt über (Kunikidas Erklärung war durchzogen gewesen von wüsten Beschimpfungen an Dazais Person, weil dieser doch sonst für alle taktischen Fragen zuständig war und nun, da es drauf ankam, nirgends zu finden war!). Die Höhenunterschiede und versteckten Winkel des Viertels machten alles nur noch schwieriger. Wirklich, es wunderte Yosano kein Stück, dass sich gesuchte Verbrecher und andere so gerne hier vor ihren Verfolgern verbargen. Da war ja die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen eine machbarere Angelegenheit. Plötzlich hielt Fukuzawa inne. Er gab Yosano ein Zeichen, stehen zu bleiben und richtete seinen Blick in eine besonders dunkle Gasse. Mit einem weiteren Zeichen signalisierte er ihr, ihm zu folgen und hinter ihm zu bleiben. In einer weniger nervenaufreibenden Situation hätte sie sicher mehr darüber nachgedacht, wie interessant es war, dass sie in der Lage war, ihren Vorgesetzten ohne ein einziges Wort zu verstehen. Er, Ranpo und sie waren schon verdammt lange ein eingespieltes Team. Und Fukuzawa würde alles für ihre Sicherheit geben, auch sein eigenes Leben. So weit würde sie es aber niemals kommen lassen, das hatte Yosano sich geschworen. Dicht hinter ihm huschte sie in die finstere Gasse. „Aha“, hörte die Ärztin nach wenigen Metern ein ihr erschreckend vertrautes Gemurmel, „er war hier, aber wohin ist er dann?“ Fukuzawa blieb so plötzlich stehen, dass Yosano beinahe in ihn hineinkrachte. Geschwind machte sie einen Schritt zur Seite und erstarrte wie ihr Chef, als sie sah, wer da nur wenige Meter entfernt mit dem Rücken zu ihnen stand. „Ranpo?“, raunte sie verwirrt und schreckte damit den kindischen Kollegen aus seinem Grübeln. Verdattert wirbelte dieser herum. Seine Brille auf der Nase, blinzelte er sie zuerst fragend, dann entsetzt an. „Wo hast du gesteckt? Wir haben uns Sorgen gemacht!“, sagte Yosano ihm vorwurfsvoll und zu ihrem eigenen Unverständnis wurde Ranpos Blick dadurch zu einem voller Argwohn. Er machte einen hastigen Schritt zurück. „Ihr gehört zu diesen bewaffneten Detektiven, nicht wahr?“ Ein Satz wie ein Schlag ins Gesicht. Wie betäubt starrte die Ärztin erst zu ihrem dunkelhaarigen Kollegen, dann zu ihrem Chef, der genauso perplex wirkte. „Was soll diese Frage, Ranpo?“, äußerte Fukuzawa bemüht besonnen. „Ran-po?“ Der Schwarzhaarige legte den Kopf schief. „Häh? Ich weiß nicht, wer das sein soll, aber wenn ihr zu den bewaffneten Detektiven gehört, dann solltet ihr sofort verschwinden!“ Wenn die Aussage von eben ein Schlag ins Gesicht war, so war dies ein Schwertstich durchs Herz. Für den Hauch eines Augenblicks hatte Yosano sehen können, wie getroffen der Chef von diesem Satz war, von dieser ganzen Situation. Ranpo erkannte sie nicht mehr. Er hatte keine Ahnung, wer sie waren. Was auch immer Kyoka und Lucy widerfahren war, hatte auch ihn befallen. „Du erkennst uns nicht mehr?“, fragte Yosano mit einer aufsteigenden Wut auf sich selbst. Wenn sie doch nur mit ihm zum Tatort gefahren wäre, dann … Der Blick des eigentlichen Kollegen wurde verkniffener. „Ich wurde vor euren billigen Tricks gewarnt und bin sowieso viel zu schlau, um auf irgendwen reinzufallen. Also lasst es besser und geht.“ Immerhin war sein Ego noch das Alte. „Wenn du nicht Ranpo bist“, fragte Fukuzawa, sämtliche Emotion wieder aus seiner Mimik verbannend, „wer bist du dann?“ „Was interessiert dich das, alter Mann?“ „Nennen wir es Neugierde.“ Sichtlich langsam die Geduld verlierend, schüttelte Ranpo trotzig seinen Kopf. „Ich soll nicht mit euch reden und ich WERDE nicht mit euch reden!“ „Verrätst du uns, wer dir verboten hat, mit uns zu sprechen?“ „Argh! NEIN! Wie schwer von Begriff kann man denn sein?? Und jetzt husch, husch! Macht, dass ihr wegkommt! Ich habe zu tun!“ Er wedelte mit den Händen und wurde zunehmend missmutiger, als dies die beiden Detektive herzlich wenig beeindruckte. „So kommen wir nicht weiter.“ Fukuzawa schloss kurz die Augen und sah zu Yosano, nachdem er sie wieder geöffnet hatte. „Wir nehmen ihn mit.“ Als er dies hörte, zuckte Ranpo zusammen. „Was?! Nein! Das geht nicht! Ich muss doch … argh! Was mache ich jetzt … ah!“ Er griff mit einer Hand hinter seinen Rücken und zog unter seinem Cape eine Pistole hervor. „Moment, wie hat Frances gesagt, wie das funktioniert …? Ah, so!“ Er entsicherte die Waffe und richtete sie zu deren Entsetzen auf Fukuzawa und Yosano. Ranpo mit einer Waffe? Alles daran war falsch, einfach nur falsch. Yosano konnte sich nicht erinnern, ihren Chef je schon einmal so erschüttert gesehen zu haben. „Du willst uns erschießen?“ Fukuzawas Tonfall rang mehr und mehr um Fassung und ließ dennoch nicht kampflos Emotionen zu. „Ich WILL natürlich nicht“, entgegnete Ranpo. „Aber wenn ihr mich entführen wollt, werde ich mich wehren müssen!“ Fukuzawa hatte noch nie eine Schusswaffe abgefeuert, aber es war ihm ein Leichtes zu erkennen, ob jemand mit einer Pistole umgehen konnte oder nicht. Ranpo hatte immense Schwierigkeiten, den Revolver gerade zu halten und er wusste augenscheinlich selber nicht, wohin er eigentlich zielen sollte. „Du bist nicht im Kampf ausgebildet“, sagte der Gründer der Detektei seinem langjährigsten Schützling. „Daher ist es ein verständlicher Fehler, dass du nicht auf das achtest, was hinter dir geschieht.“ „Huh?“ Verdutzt blickte Ranpo hinter sich und bevor er sich versah, war Fukuzawa nach vorne gestürmt und hatte ihm einen Schlag in den Bauch versetzt, der den Schwarzhaarigen umgehend bewusstlos zusammenklappen ließ. Behutsam fing Fukuzawa ihn auf und nahm ihm den Revolver ab. Für einen langen Moment verharrten sie in dieser Pose. Der Anblick brach Yosanos Herz.   „Lass mich runter! Lass mich runter! Hörst du schlecht, alter Mann?! LASS. MICH. RUNTER!!“ Auf halbem Weg zur Detektei war Ranpo, der von Fukuzawa über der Schulter getragen wurde, wieder aufgewacht. Obwohl er ihn seit seinem Erwachen mit Fußtritten und Faustschlägen malträtierte, setzte der Chef ungerührt seinen Weg fort. „Kann das eine Gehirnwäsche sein?“ Atsushi, der mit Tanizaki und Kenji hinter ihnen hertrottete, wunderte sich, wie der Chef das aushielt. Der Morgen brach an, aber nach wie vor war der Himmel so wolkenverhangen, dass man nicht vom ersten Licht des Tages sprechen konnte. Das Grau um sie herum passte zu ihren niedergeschlagenen, entmutigten Gesichtern. „Das ist unwahrscheinlich“, antwortete Fukuzawa. „Alle mir bekannten Methoden zur Gehirnwäsche sind physisch stark anspruchsvoll. Jemand wie Ranpo würde so eine Prozedur nicht überleben.“ „Das heißt ...“ Kunikida, der vorausging, drehte den Kopf zu ihnen um und offenbarte ihnen so seine Sorgenfalten. „Eine Fähigkeit kontrolliert Ranpo und Kyoka. Allerdings berichtete keiner der Betroffenen vom Tatort über einen Kontrollverlust. Sie wurden einfach nur ohnmächtig.“ „Wenn es eine andere Fähigkeit ist, dann macht das schon zwei Befähigte auf Seiten unserer Feinde“, schlussfolgerte Yosano und öffnete die Tür zu dem Gebäude, in dem sich die Detektei befand. „Aber ...“ Tanizaki musterte besorgt den zeternden und strampelnden Ranpo, „wenn sie unter dem Einfluss einer Fähigkeit stehen, brauchen wir dann nicht Dazai?“ Kunikida kniff sich angestrengt zwischen die Augen, während sie auf den Fahrstuhl warteten. Dann trat er an Ranpo heran. „Ranpo, ich weiß, du willst nicht mit uns reden. Aber kannst du dich vielleicht daran erinnern, in den letzten paar Stunden einem undurchsichtigen Wirrkopf namens Dazai begegnet zu sein?“ Abrupt stellte der Angesprochene seine Schläge und Fußtritte ein. Mit angehaltenem Atem warteten die Detektive auf seine Antwort. „WAS SOLL DIESER UNSINN??“, plärrte Ranpo plötzlich drauf los und kickte und hämmerte noch stärker gegen Fukuzawa. „WIESO NENNT IHR MICH ANDAUERND RANPO?? WER SOLL DAS SEIN?? UND EINEN DAZAI KENNE ICH AUCH NICHT!“ Bitter enttäuscht sanken alle – mit Ausnahme des Chefs - ein gutes Stück in sich zusammen. Sie kamen im Büro an, wo Naomi und Haruno übernachtet hatten und von Atsushi per Telefon auf den neusten Stand gebracht worden waren. Erschüttert beobachteten sie, wie Ranpo weiter auf Fukuzawa eindrosch und forderte, heruntergelassen zu werden. „Wie sollen wir dich nennen?“, sprach Fukuzawa vollkommen ruhig, als würde er nicht gerade als Sandsack missbraucht. „Verrate uns, wie dein Name ist, dann nennen wir dich nicht mehr Ranpo.“ Die Tritte und Schläge ebbten erneut ab. „Hmm ...“, machte der Angesprochene nachdenklich. „Ich denke, meinen Namen kann ich euch wohl verraten. Ich bin der großartigste Meisterdetektiv der Welt, das Geschenk des Himmels, der klügste Mensch, der je auf dieser Erde wandelte! Aber ihr dürft mich Taro nennen.“ Atsushi musste gequält schmunzeln. Ranpo blieb eben Ranpo … oder? „Taro?“, hakte Fukuzawa nach. „Wer hat dir diesen Namen gegeben?“ „Wer mir diesen Namen gegeben hat?“ Der Schwarzhaarige zog eine missmutige und trotzige Miene. „Was für eine dumme Frage ist denn das? Den habe ich schon mein ganzes Leben lang.“ „So war es bei Kyoka und Lucy auch“, warf Atsushi ein, „sie hörten wie selbstverständlich auf andere Namen.“ „In Ordnung … Taro“, fuhr Fukuzawa fort, „wenn du versprichst, dich ruhig zu verhalten und zu kooperieren, werde ich dich herunterlassen.“ Taro schmollte einen Augenblick lang schweigend, ehe er zustimmte. „Okay, so machen wir es.“ Der Chef atmete ungewöhnlich laut aus, bevor er den Meisterdetektiv auf dem Boden absetzte. Sein schwerer Seufzer überraschte jedoch niemanden der Anwesenden. Keiner von ihnen glaubte, dass diese Angelegenheit spurlos an ihm vorbeiging. Kaum stand Taro jedoch mit beiden Füßen auf der Erde, da preschte er nach vorne und biss Fukuzawa in die Hand. Von dieser Attacke kalt erwischt, schubste der Silberhaarige seinen Angreifer instinktiv und kraftvoll mit seiner anderen Hand von sich, sodass der Jüngere zurückgeschleudert wurde und mit dem Kopf hart gegen seinen eigenen Schreibtisch knallte. Durch die Wucht des Aufpralls flog seine Brille von seiner Nase und landete mit einem klirrenden Geräusch auf dem Fußboden. Wie paralysiert starrten die Detektive hilflos auf die Szene, die sich vor ihnen abgespielt hatte. Fukuzawa starrte nun mit offenem Mund und entgeistertem Gesichtsausdruck auf den am Boden sitzenden jungen Mann, der am ganzen Körper zitterte und sich eine Hand gegen den Hinterkopf hielt. „Verzeih mir, das wollte ich nicht.“ Fukuzawa machte einen ungewohnt unsicheren Schritt auf ihn zu, was Taro jedoch ängstlich und eingeschüchtert japsen ließ. Mit geweiteten, tränennassen Augen blickte der Schwarzhaarige zu ihm hinauf. Es war schwer zu leugnen, was nun in ihm vorging. Aus Taros Trotz gegen Fukuzawa war nackte Angst vor ihm geworden. Verunsichert blieb der Chef wieder stehen. Das Bild vor ihren Augen ließ Yosano ihren Gedanken aus der vergangenen Nacht korrigieren: So erschüttert hatte sie ihren Vorgesetzten noch nie erlebt. Erschüttert traf es nicht einmal annähernd. Dass Ranpo dermaßen Angst vor ihm hatte, musste selbst sein Herz brechen. Den Schock bestmöglich abschüttelnd, schritt die Ärztin zu Fukuzawa. Bevor sie auch nur den Mund aufmachen konnte, richtete er, ohne die Augen von Ranpo zu nehmen, das Wort an sie: „Sieh nach ihm.“ „Taro“, wandte sie sich ihm mit der festesten Stimme zu, die sie in diesem Moment aufbringen konnte, „ich bin Ärztin. Lässt du mich mal sehen, ob du verletzt bist?“ Der Angesprochene erweckte den Eindruck, sich am liebsten vor Furcht in den Schreibtisch verkriechen zu wollen. Plötzlich weiteten sich seine Augen noch mehr und er fasste sich panisch ins Gesicht. Alarmiert musterte Fukuzawa ihn. Was hatte er? Was regte ihn noch weiter au- Ihre Blicke gingen geradezu gleichzeitig zu der auf dem Boden liegenden Brille. Hastig wollte Taro nach dem Gestell greifen, doch Fukuzawa war schneller. In Windeseile hatte er es vom Boden aufgehoben. „Nein! Bitte! Bitte gib mir meine Brille wieder! Ich brauche sie! Bitte!“ Das panische Flehen des Jüngeren ließ ihn stutzen. Diese Brille diente nicht als Sehhilfe, wieso also brauchte er sie? „Bitte! Bitte gib sie mir wieder!“, flehte er von neuem, während der Silberhaarige sich den Gegenstand in seiner Hand betrachtete. Fukuzawa zog scharf die Luft ein, als eine Welle der Klarheit über ihn hereinbrach. Mit einem Mal war seine Miene wieder gewohnt stoisch. „Du hängst an dieser Brille?“ Seine Stimme war ebenso wieder gefestigter. Das jammervolle Gesicht des Anderen war ihm Antwort genug. „Dann lass uns ein Abkommen schließen. Du bekommst sie wieder, wenn du mit uns zusammenarbeitest.“ Taro wimmerte und blickte gepeinigt zu ihm hoch. „Ich kann meine Tante und meine Geschwister nicht in Gefahr bringen“, antwortete er geknickt. „Das musst du auch nicht“, entgegnete Fukuzawa. „Wir werden ihnen nichts zuleide tun.“ „Ich … ich ...“ Spürbar hin- und hergerissen fixierte der Schwarzhaarige die Brille in der Hand des Älteren. „Ich muss weiter nach Charlie suchen, bevor sie ihn finden. Ich kann das Tantchen und die anderen nicht im Stich lassen. Sonst geraten sie alle in Gefahr.“ „Hör mal, Taro“, mischte sich Kunikida ein, „was auch immer dir erzählt wurde, das Büro der bewaffneten Detektive ist da, um Menschen in Not zu beschützen. Wenn deine … Familie in Gefahr ist, dann können wir dir vielleicht helfen.“ „Ja!“, meldete sich Kenji aus dem Blauen heraus euphorisch zu Wort. „Wir sind sehr gut darin zu helfen! Wenn wir dir irgendwie helfen können, dann lass uns dir bitte helfen! Außerdem sind wir auch wie eine Familie und kümmern uns um einander. Ich verstehe also absolut, wie du dich fühlst!“ Erstaunt blinzelten alle nach Kenjis Ansprache ihn an. Selbst Taro, dem plötzlich ein Grinsen übers Gesicht huschte. „Hmm …. Du erinnerst mich sehr an eine meiner Schwestern- auu! Auu! Auu!“ Er fasste sich jaulend an den Hinterkopf. „Yosano“, befahl Fukuzawa lediglich und die Ärztin kniete sich umgehend zu dem Verletzten hinunter, der nun nicht mehr von ihr weg wich. Protestlos ließ er sich von Yosano und Kenji in das Arztzimmer bringen. „Ob er uns jetzt unterstützen wird?“ Atsushi sah ihm ratlos und sorgenvoll hinterher. „Und wo steckt Dazai? Wenn diese 'Tante' die anderen mit einer Fähigkeit manipuliert, ist es dann überhaupt möglich, dass sie Dazai kontrollieren kann? Aber wenn er nicht dort ist, wo ist er dann? Und wer sind die Leute, vor denen Ranpo seine 'Familie' schützen will?“ Kunikida war dazu übergegangen, sich seine Schläfen zu massieren. „Uns fehlen eindeutig ein paar wichtige Informationen und so langsam bekomme ich ein ungutes Gefühl. Wir brauchen Dazai. Dringend.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)