Battle for the Sun von rokugatsu-go ================================================================================ Kapitel 3: As a sound of silence grows -------------------------------------- „As a sound of silence grows“   Placebo, „The never-ending why“   Atsushi hasste es, in Suribachi sein zu müssen. Mit Bitterkeit in den Augen blickte er auf die zahllosen Reihen von ärmlichen Baracken, die man hier Häuser nannte. Ein strenger Geruch waberte durch die Straßen. Teilweise floss Abwasser in offenen Gräben an den Häusern vorbei, an anderen Stellen hatten sich pestilenzartig stinkende Pfützen gebildet. Der winzigen Hütte, vor der sie nun standen, fehlten Teile der Vorderwand und des Daches. Ein Blick ins Innere offenbarte, dass es sich nur um einen einzelnen Raum handelte, in dem zerlumpte, dreckige Decken auf dem zerschlissenen, durchlöcherten Tatami-Boden lagen. Dies war das „Zuhause“ der Kinder, ihr Schlafplatz. An jedem anderen Tag hasste Atsushi diesen Ort, der ihn an das Waisenhaus und seine tragische Vergangenheit erinnerte einfach nur, doch heute verabscheute er diesen Slum regelrecht. Kyoka und Lucy waren verschwunden und auch wenn es Hoffnung gab, dass dies nicht, wie befürchtet, mit ihm zusammenhing, so ging es ihm trotzdem so elend wie lange nicht mehr. Sein Herz hörte nicht auf vor Angst gegen seine Brust zu hämmern und die Sorge um die beiden schnürte ihm den Hals zu und drehte ihm den Magen um. Kurzum, er sah schlimmer aus als der verkaterte Dazai. „Ist dir warm?“ Kenjis Frage riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. „Du schwitzt so doll.“ Bevor Atsushi antworten konnte, hatte Tanizaki eine Hand auf seine Stirn gelegt. „Nicht dass du Fieber hast. Yosanos Fieberwickel sind die Hölle … ah, nein, du bist eher kalt. Glück gehabt.“ Mit einem Mal wurde es dem silberhaarigen Jungen ein wenig leichter ums Herz. Hier war er und jammerte, in den Slum zu müssen, während seine Kameraden, seine Freunde, um ihn herum waren und sich sorgten und ihm somit eigentlich deutlich machten, dass er die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen sollte. Er sollte vielmehr dankbar sein für das, was er jetzt hatte. Dank ihnen und nur dank ihnen konnte er sich wahrlich glücklich schätzen. Sie würden Kyoka und Lucy wiederfinden. Sie waren die bewaffneten Detektive. Es gab nichts, was sie nicht hinbekamen. Und solange Dazai bei ihm war, würde alles gut werden. So war es bisher immer gewesen. Auch wenn der brünette Wirrkopf nicht so wirkte, auf ihn war Verlass. Und sobald Ranpo die Morde aufgeklärt hatte (was wahrscheinlich im Handumdrehen passieren würde), würde auch er wieder nach Kyoka und Lucy suchen. Alles würde gut werden. Dessen war Atsushi sich sicher. Energisch klatschte er sich mit seinen eigenen Händen ins Gesicht und wachte damit endlich aus seiner ihn lähmenden Angst auf. Tanizaki und Kenji tauschten verwunderte Blicke aus, während Dazai wissend lächelte. „Bist du so weit, Atsushi?“, fragte er und klatschte selbst in die Hände, als der Junge entschlossen nickte. „Suribachi ist leider monströs groß, weswegen wir uns aufteilen werden. Du und ich werden die Stelle untersuchen, an der die Kinder verschwunden sind. Tanizaki und Kenji, ihr fragt in der Umgebung nach, ob weitere Kinder vermisst werden und ob irgendwem etwas aufgefallen ist.“ Mit diesem Plan verteilten sich die Detektive im Slum von Suribachi. Wie es sich zügig herausstellte, war dort niemand begeistert von der Anwesenheit herumschnüffelnder Detektive. Atsushi hatte versucht, die Nachbarn der Kinder zu befragen, aber die Türen wurden ihm entweder erst gar nicht geöffnet oder sofort wieder vor der Nase zugeschlagen. Wieder andere verlangten nach einer Entlohnung für ihre Auskunft (Vorkasse natürlich) und hatten dann gar nichts Brauchbares zu sagen. Nichts davon überraschte Atsushi. Dieser Ort erinnerte ihn nicht umsonst an das Waisenhaus. Er verstand die Not der Leute dort und doch wurde er gleichzeitig mehr und mehr wütend, dass niemand sich so wirklich um die verschollenen Kinder sorgte. Aber auch das war eigentlich keine Überraschung, wenn er an seine eigenen Erfahrungen dachte. Seufzend und mit hängenden Schultern trottete er zu Dazai zurück, der grübelnd vor der Behausung der Kinder stand. „Du siehst nicht so aus, als hättest du Erfolg gehabt“, sagte er, ohne sich zu dem Jungen umzudrehen. „Nein. Ich konnte rein gar nichts herausfinden. Hattest du mehr Glück?“ „Oh ho, Atsushi“, konterte Dazai gespielt empört, „mein scharfsinniger Verstand hat doch nichts mit Glück zu tun.“ Der Jüngere warf ihm einen wissenden Blick zu. „Du hattest also kein Glück.“ Vorgebend, er hätte dies nicht gehört, musterte Dazai weiter die baufällige Hütte vor ihm. „Es ist nicht sonderlich schwer, jemanden aus dieser traurigen Bretterbude zu entführen. Es gibt keine Tür und wenn die Kinder fest geschlafen haben, mussten die Täter auch keine Betäubungsmittel oder andere Tricks einsetzen.“ Atsushi stutzte. „Die Täter? Du glaubst, es sind mehrere? Die beiden Frauen, von denen das Mädchen erzählt hat, etwa?“ Dazai zuckte mit den Schultern. „Die entführten Kinder sind, soweit das unsere Klienten erzählt haben, keine Befähigten. Ich hatte erst gedacht, das könnte ein Anhaltspunkt sein, aber das ist es nicht. Es geht den Entführern also nicht um Fähigkeiten. Alles, was wir wissen, ist, dass diese Kinder zuvor mit zwei Frauen gesprochen haben.“ Auf der gegenüberliegenden Seite der Häuserreihe bemerkte Atsushi eine Frau, die ihrer Unterhaltung gelauscht hatte. Sie trug einen in die Jahre gekommenen Kimono, dessen Obi-Gürtel nicht ordentlich zugebunden war. Zudem war er auf dem Bauch gebunden und nicht auf dem Rücken. Ihre blasse Erscheinung schrie geradezu, dass sie eine Bewohnerin dieses Viertels war. „Entschuldigen Sie, gute Frau“, wandte sich Dazai, der Atsushis Blick gefolgt war, galant an die Dame. „Sie kommen zum dritten Mal durch diese Straße, seit ich hier bin. Und ich denke, es ist nicht, weil Sie Ihrer Profession nachgehen wollen, nicht wahr? Falls doch, muss ich Sie auf ein anderes Mal vertrösten, denn im Moment habe ich leider kein Geld bei mir.“ Atsushi warf ihm einen fragenden, irritierten Blick zu. Was redete Dazai schon wieder? Was für einer Profession ging diese Frau denn nach und woran hatte Dazai dies so schnell erkannt? „Sie ist eine Prostituierte, Atsushi“, raunte der Brünette dem daraufhin ruckzuck dunkelrot werdenden Jungen zu. Wie hatte Dazai denn …? Er unterband seine eigenen Gedanken. Nein, er wollte lieber nicht darüber nachdenken, wieso der Andere dies so rasch hatte schlussfolgern können. „Sie sind nicht von der Polizei, oder?“, entgegnete die Frau und Dazai lachte. „Ganz sicher nicht.“ „Aber Sie suchen nach den Kindern, die seit gestern vermisst werden?“ Das Misstrauen in ihrer Stimme war mit bloßen Händen greifbar. „Das sind Detektive, Tsuneko.“ Fusa kam mit Sutejiro aus der Hütte. „Wir haben sie engagiert.“ Verdattert starrte die Angesprochene die Kinder an. „Ihr habt sie …? Wie wollt ihr das denn bezahlen?“ Ihr erboster Blick landete auf den Detektiven. „Was verlangen Sie im Gegenzug von den Kindern??“ Atsushi wedelte beschwichtigend mit den Händen. „Nein, nein, so ist das nicht.“ Der Blick der Dame bohrte sich beinahe durch sie hindurch, als Sutejiro das Wort ergriff: „Wir haben einen Deal mit dem Chef der Detektei gemacht. Wir müssen erst bezahlen, wenn der Auftrag erfolgreich abgeschlossen ist. Und dann sollen wir irgendwo ein paar kleinere Arbeiten erledigen. Die wirken echt okay, mach dir keine Sorgen.“ „Sie haben ein Auge auf die Kinder?“ Unbeirrt charmant befragte Dazai die immer noch argwöhnisch dreinblickende Frau. Sie nickte. „Mehr schlecht als recht, weil ich … aus beruflichen Gründen viel unterwegs bin.“ „Verständlich. Ist Ihnen hier vielleicht irgendetwas oder irgendjemand Ungewöhnliches in letzter Zeit aufgefallen?“ Tsuneko begann, nachzudenken. „Etwas Ungewöhnliches …?“ „Eventuell jemand, den Sie hier zum ersten Mal gesehen haben und der nicht so wirkt, als würde er normalerweise hier verkehren?“ „Ah!“, machte sie da. „Als ich vor zwei Tagen morgens nach Hause gegangen bin, sind mir vier Fremde begegnet. Die wollten wissen, ob es auf diesem Weg nach Suribachi geht. Die sahen definitiv so aus, als würden sie hier nicht hin gehören. Ich habe mich nämlich noch gewundert, was solche schick gekleidete Menschen hier wollen und sie gefragt. Sie sagten nur, sie suchten jemanden.“ Alarmiert riss Atsushi die Augen auf. Schick gekleidete Menschen? Er blickte zu Dazai, der bedächtig nickte. „Können Sie diese Personen näher beschreiben? Und wissen Sie auch, wen sie hier gesucht haben?“ Tsuneko dachte intensiv nach. „Es waren … drei Frauen und ein Mann. Eine der Frauen wird wohl so Mitte/Ende 40 gewesen sein, die andere und der Mann vielleicht in ihren Zwanzigern? Und die dritte jünger? Sie war besonders schwer einzuschätzen. Ich bin mir recht sicher, dass sie Ausländer waren. Zwei der Frauen waren blond und die Ältere hatte dunklere Haare und der Mann hatte auch dunklere Haare. Sie suchten ein Kind, aber mehr haben sie dazu nicht gesagt.“ Atsushis Blick wurde wieder verkniffener, als der Strohhalm, an den er sich hatte klammern wollen, sich aufzulösen drohte. „Dazai, könnte es nicht sein, dass sie ebenso jemanden suchen, der wie die anderen entführt wurde?“ „Nein.“ „W-was?“ „Nein. Sie haben zielgerichtet in Suribachi gesucht. Wer auch immer sie sind und wen sie suchen, sie wissen mehr als wir.“ Dazais Handy klingelte. „Was gibt es, Tanizaki? … … … Verstanden. Wir kommen zu euch.“ Er ließ das Telefon wieder in seiner Manteltasche verschwinden. „Wir müssen los. Vielen Dank für Ihre Hilfe“, richtete er mit einem Lächeln an die Frau. „Wir sehen uns bestimmt irgendwann mal wieder.“ Atsushi verbeugte sich – von neuem rot im Gesicht – vor ihr und sagte den Waisen, dass sie hier auf Nachricht von ihnen warten sollten. Tsuneko hob zweifelnd eine Augenbraue hoch, als sie den beiden Detektiven hinterher sah. „Kinder, ich frage mich, an was für fragwürdige Gestalten ihr da geraten seid.“   „Hat das einen Grund, dass du so intensiv den Boden anstarrst, Atsushi?“, fragte Dazai amüsiert, während sie die Straße entlanggingen. Schamlos. Der Mann war vollkommen schamlos. „Wenn du so prüde bist, habe ich ja das Gefühl, mit Kunikida unterwegs zu sein.“ Lachend drehte er sich zu dem Kopf schüttelnden Jungen, als sie um eine Ecke bogen und Dazai mit einem gerade des Weges kommenden Mann zusammenstieß. „Autsch! … Oh? Du meine Güte.“ Die perplexe Reaktion des Brünetten kam nicht von ungefähr. Der Mann, mit dem er unfreiwillig auf Tuchfühlung gegangen war, war gut und gerne zwei Köpfe größer als er – und um einiges breiter und muskulöser. Was ist denn das für ein Schrank?, ging es Dazai durch den Kopf, als er zu dem Hünen hinaufblickte. Der Mann hatte mittellange, hellbraune Haare und einen Dreitagebart – und eine Miene, als würde er Dazai gleich bei lebendigem Leib verspeisen wollen. Und die Kinder hatten Angst vorm Chef gehabt! Der war ja ein sanftes Miezekätzchen im Vergleich zu dieser grimmigen Visage! Atsushi brach in milde Panik aus. So weit waren sie ohne Zwischenfälle durchgekommen, würde sich das jetzt ändern? Er schluckte. Wenn dieser Riese so kräftig war, wie er aussah, dann würde das ohne jeden Zweifel zum Problem werden. „Entschuldigung“, brummte der Mann mit tiefer Stimme und ein dezenter Geruch von Alkohol war zu riechen. „Ist Ihnen was passiert?“ „Nein“, antwortete Dazai, seine Nonchalance zurückgewinnend. „Ich bitte ebenso um Verzeihung.“ „Schon gut.“ Er setzte seinen Weg fort und Atsushi sprang praktisch zur Seite, als er an ihm vorbei schritt. Die Aura, die dieser Kerl hatte, war beängstigend. „Dazai?“, hakte der Silberhaarige nach, als er bemerkte, wie der Ältere dem Mann mit gedankenvollem Blick hinterher schaute. „Stimmt etwas nicht?“ Einige Sekunden verstrichen, ehe der Angesprochene den Kopf schüttelte. „Gehen wir. Tanizaki und Kenji warten.“   „Zwei weitere Kinder sind vorgestern Nacht verschwunden.“ Tanizaki las von seinem geöffneten Notizblock ab. „Und zuvor sind in der Gegend ein Mann mit schwarzen Haaren, einem Schnauzer und einer grünen Jacke, sowie eine junge Frau, vielleicht auch ein Mädchen, mit blonden Zöpfen gesehen worden. Weiter in diese Richtung wurden außerdem eine blonde Frau mit einer Perlenkette und eine brünette Frau in einem dunklen Kleid gesichtet.“ Verblüfft klappte Atsushi der Unterkiefer herunter. „Wie-wie seid ihr denn an all diese Informationen gekommen?“ „Kenji.“ Tanizaki zeigte auf den neben ihm stehenden, strahlenden Kollegen. „Man muss die Leute nur höflich fragen!“ „Äh … ja ...“ Atsushis Augen zuckten, als er die in einer Ecke liegenden, zusammengeschlagenen Männer bemerkte. Wenn man in einem Bildlexikon „Bande von Möchtegern-Gangstern“ nachschlug, fand man wahrscheinlich ein Foto von genau diesen Kleinkriminellen. „Sie wollten die Frau mit der Perlenkette ausrauben und sind dann schon mal von ihr verprügelt worden“, erzählte Kenji stolz. „Erst eine Frau und jetzt ein Kind! Das war's! Ich such mir eine ehrliche Arbeit!“, jammerte einer der Männer ächzend. „Moment.“ Eine der Informationen ließ Atsushi plötzlich stutzen. „Eine brünette Frau in einem dunklen Kleid?“ Nein. Das … das konnte nicht sein. Das musste ein Zufall sein. Obwohl die Sonne sich den ganzen Tag noch nicht richtig gezeigt hatte, wurde es ihm schrecklich heiß. „Habt ihr noch mehr zu ihr herausfinden können?“ Tanizaki blätterte in seinem Notizblock. „Da war noch etwas … ah! Hier. Jemand beschrieb ihre Frisur als 'gepflochtener Zopf, aber auf dem Kopf' und sie trug wohl ein Kreuz um den Hals.“ Sämtliche Farbe wich aus Atsushis Gesicht, sodass er mit einem Mal leichenblass war. Besorgt blickten Kenji und Tanizaki zu ihm und bereiteten sich darauf vor, ihn aufzufangen, sollte er das Bewusstsein verlieren. „Wo hast du diese Frau gesehen, Atsushi?“, fragte Dazai ernst. Der Junge schnappte nach Luft. „Im … im Café. Sie … sie hat gestern … sie hat mit Lucy geredet!“ „Verstehe“, war alles, was Dazai dazu ruhig sagte. „Diese Frau war im Café?“ Tanizaki verstand die Welt nicht mehr. „Hat sie dort dann auch Kyoka getroffen?“ „Das kann nicht sein.“ Atsushi schüttelte den Kopf. „Gestern war Kyoka nicht im Büro und am Tag davor war diese Frau nicht da.“ „Aber die freundliche Dame, die ihr getroffen habt, hat doch erzählt, diese Leute suchten ein Kind“, wandte Kenji ein. „Wenn sie nur ein bestimmtes suchen, warum nehmen sie dann so viele andere mit?“ „Dazai.“ Mit flehentlichem Ausdruck in den Augen drehte Atsushi sich seinem Mentor zu. „Ich verstehe das alles nicht. Was ist hier los? Wer sind diese Leute und was wollen sie von Kyoka und Lucy?“ Eine gefühlte Ewigkeit verging, bevor er antwortete. „Wir haben bisher wirklich erst sehr wenige Informationen erhalten können. Hat Ranpo diese Morde noch nicht aufgeklärt?“ Tanizaki verneinte dies kopfschüttelnd. „Ich habe zwischendurch mit Kunikida telefoniert und bislang hat Ranpo sich noch nicht bei ihnen gemeldet.“ „Hm.“ Abermals schwieg Dazai nachdenklich. Er sah zu seinem silberhaarigen Schützling. „Dann bleibt uns nur eins.“ Zu Atsushis Irritation schmunzelte er plötzlich. „Atsushi, verwandele deine Arme und Beine in die Tigerform.“ „... Huh? W-warum?“ Es war doch überhaupt keine akute Gefahr in der Nähe. Oder übersah er etwas? „Na los, mach schon.“ „O-okay?“ Er befolgte die Order des Älteren und während sich seine Gliedmaße in die eines Tigers transformierten, zerrissen sie seine Hemdsärmel und Hosenbeine. Was Dazai anscheinend freute. „Sehr schön. Du kannst sie wieder zurückverwandeln.“ Stark stutzend tat der Junge auch dies. „Kenji“, forderte Dazai nun den Jüngsten der Gruppe auf, „nimm etwas von dem Matsch da am Straßenrand und schmier es über Atsushis Hemd und sein Gesicht.“ „Okay!“ „Warte, wa-pppfffff??“ Atsushi schloss schnell seinen Mund, als Kenji fröhlich seinem Auftrag nachkam. „Dazai! Was soll denn das??“ Wie ein Künstler, der ein gerade fertiggestelltes Werk betrachtete, musterte Dazai den nun verdreckten Jüngeren in seinen zerschlissenen Klamotten. Er ging auf ihn zu, nahm ihm seine Krawatte ab, die er sich in eine Manteltasche steckte und machte wieder einen Schritt zurück. Dann lächelte er zufrieden. „Ja. Das sieht gut aus.“ „HÄÄÄÄHHH??“ Atsushi war zu der Überzeugung gekommen, dass Dazai endgültig den Verstand verloren hatte. „So, und nun laufe eine Weile durch Suribachi.“ „Ich soll was??“ „Oh.“ Tanizaki dämmerte, was los war. Und er war nicht begeistert von der Idee. „Dazai, du willst Atsushi als Köder benutzen?“ Sollten wir das nicht lieber mit dem Chef absprechen? Oder mit Kunikida? Oder mit irgendjemandem, der nicht du ist?, wollte Tanizaki anfügen, ließ es aber unausgesprochen. „WAAAAS?!“, schrie der Junge entsetzt dazwischen. Der Älteste der vier zuckte vergnügt mit den Schultern. „Kenji ist zu heiter, Tanizaki sieht nicht mitleiderregend genug aus und ich komme jawohl gar nicht in Frage. Das ist ein Job, den nur du erledigen kannst, Atsushi.“ Dem jungen Detektiv klappte der mit Matsch beschmierte Unterkiefer nach unten. „A-aber … was soll ich denn … und wenn ich auf die Entführer treffe??“ „Ganz ruhig“, entgegnete Dazai süffisant lächelnd. „Wir bleiben ja in der Nähe.“   Mit einer unzufriedenen und verunsicherten Miene schlappte Atsushi an diesem späten Nachmittag durch den Slum von Suribachi. Die Temperaturen sanken weiter, je später es wurde und seine zerrissene Kleidung hatte einiges an Kälteschutz eingebüßt. Er schauderte. Kurioserweise bedachten die Leute, die ihm jetzt dort begegneten, ihn nicht mehr mit Argwohn. Viele ignorierten ihn einfach, aber eine erstaunlich große Anzahl von Bewohnern des Viertels grüßte ihn sogar. Nahmen sie ihn nun als einen von ihnen war? Das Einzige, was ihn momentan beruhigte, war, dass Tanizaki und Kenji in den Seitenstraßen neben ihm herliefen und somit rasch herbeieilen konnten, falls etwas vorfallen sollte. Derweil hatte Dazai sich von den anderen entfernt, um das große Ganze ins Auge zu nehmen. Mit wachsamen Blick schritt er eine zu einer höheren Ebene führenden Treppe des in einen Krater gebauten Viertels hinauf. Nach dem, was Atsushi erzählt hatte über das, was er von dem Gespräch zwischen der unbekannten dunkelhaarigen Frau und Lucy mitbekommen hatte, dann würden sie kommen, da war Dazai sich sicher. Und wenn sie jemanden wie Atsushi trafen, in kaputter Kleidung, mit mitleiderregender Visage und buchstäblich krank vor Sorge um Kyoka, dann würden sie ihn nicht ignorieren. Zu seinem eigenen Missfallen endete hier jedoch Dazais Verständnis von der Situation. Was genau diese Gruppe von Fremden vorhatte, entzog sich noch seiner Vorstellung. Es war denkbar, dass sie die Kinder irgendwie betäubten und dann verkauften, umbrachten oder sonst etwas mit ihnen anstellten. Sowohl Kyoka als auch Lucy würden nicht freiwillig mit irgendjemandem mitgehen und wenn sie bei Bewusstsein waren, würden sie versuchen zu kämpfen. Sie hingen an ihrem Leben. Ein kaltes, leeres Schmunzeln glitt über sein Gesicht. Noch so eine Sache, die sich seinem Verständnis entzog. Mit einem hüpfenden Schritt erreichte er ein Plateau auf halber Strecke des Kraters und wandte sich dem Slum unter ihm zu. Vermisste Waisenkinder …. Ist es nicht komisch, dass ich mich darum kümmern muss? Das wäre doch eher ein Fall für dich. Findest du nicht auch, Odasaku? Eine Windböe kam auf und ließ seinen langen Mantel flattern. Schlagartig stutzte Dazai. Aus einer Straße liefen plötzlich mehrere Kinder heraus und verteilten sich in die Seitenstraßen. Sie waren von seiner Position hoch oben nur als kleine, wuselnde Punkte erkennbar und er hatte die Stelle, von der sie gekommen waren, nicht einsehen können, da ein Gebäude sie verdeckte, aber dennoch bestand kein Zweifel. Eine aus dem Nichts auftauchende Schar von Kindern? Wahrscheinlich eine Fähigkeit, die Teleportation ermöglichte. „Jetzt wird die Sache interessant“, sagte er ominös lächelnd zu sich selbst, ehe er abermals stutzte. Da waren Schritte. Schnelle, kleine Schritte, ein Laufen, ein laufendes Kind? Waren sie an mehreren Punkten in Suribachi ausgespuckt worden? Er drehte sich um und beobachtete wie ein kleines Mädchen aus einer Gasse gelaufen kam und bereits Kurs nahm auf die nächste. Dabei sah sie sich immerzu suchend um. „Hast du etwas verloren?“, fragte Dazai betont freundlich in ihre Richtung. So versunken war sie in ihre Suche gewesen, dass sie ihn erst jetzt bemerkte. Mit großen Augen starrte sie ihn erschrocken an und japste, bevor sie überstürzt losrannte und in der Gasse verschwand. „Nanu? Gibt es Kinder, die noch schüchterner sind als Atsushi? ... Unwahrscheinlich.“ Seinem Instinkt folgend, setzte Dazai sich in Bewegung und lief ihr in die dunkle Gasse hinterher.   Die Sonne geht bald schon unter, dachte Atsushi gequält, wie lange muss ich denn noch hier herumlaufen? Er blieb stehen und seufzte. Aber wenn es die einzige Chance war, Kyoka und Lucy zu finden, dann würde er sich noch stundenlang durch diesen Slum schleppen. Sein Magen zog sich etwas zusammen. Wenn es die einzige Chance war …. Es konnte auch sein, dass die Entführer hier gar nicht noch einmal auftauchten und was sollten sie dann machen? Es war auch recht seltsam, dass Ranpo sich noch bei keinem von ihnen gemeldet hatte. Ob es tatsächlich einen Fall gab, den selbst er nicht so einfach lösen konnte? Atsushi seufzte erneut. Wie dem auch war, für den Moment würde er auf Dazais Plan vertrauen. Das wirre Genie hatte schließlich so gut wie immer Recht. Atsushi wollte gerade weitergehen, als ein Junge – vermutlich ein wenig jünger als er selbst – um die Ecke bog und vor ihm anhielt. Der Junge beäugte ihn kritisch und lächelte dann sanft. „Brauchst du Hilfe? Du siehst schlimm aus.“ „Ähm … nein … danke, ich komme zurecht.“ „Du siehst krank aus.“ Der Junge grübelte. „Ich glaube, meine Tante sollte dich mal begutachten. Wartest du bitte hier? Ich such sie schnell.“ Von der Hilfsbereitschaft des Fremden überrumpelt wedelte Atsushi abwehrend mit den Händen. „Danke, aber das ist nicht nöti-“ „Doch, doch, besser ist es“, konterte der Junge warmherzig und Atsushi wunderte sich, wann er das letzte Mal jemandem mit so viel Empathie begegnet war. „Ich bringe sie her“, ergänzte der Junge und rief in die Seitenstraße, aus der er gekommen war, zurück: „Bleibst du mal kurz bei ihm? Ich will ihn der Tante zeigen.“ Atsushi erstarrte zur Salzsäule, als er das Mädchen sah, das aus der Seitenstraße hinauskam und dem fremden Jungen seine Bitte bejahte, bevor er davonrannte. „Kyo … Kyoka!“ Vor ihm stand seine vermisste Kameradin und warf ihm einen fragenden Blick zu. „Bist du unverletzt? Wo hast du gesteckt? Was ist passiert? Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!“ Er wollte ihr um den Hals fallen, aber sie wich mit verwirrter Miene zurück. „Kyoka?“ Ein unheilvolles Gefühl machte sich in Atsushi breit, als sie ihn verstört ansah. Sie sah ihn an wie … wie einen Fremden. „Wer ist Kyoka?“, fragte sie letztlich und versetzte dem Detektiv damit einen qualvollen Stich ins Herz. „Was meinst du damit? DU bist Kyoka!“ Sie schüttelte den Kopf und machte noch einen Schritt zurück. Ihr Blick verriet, dass sie ihr Gegenüber für nicht ganz dicht hielt. „Tut mir leid. Du verwechselst mich anscheinend.“ „Nein. Nein, das tue ich nicht.“ Seine Stimme bebte. „Erkennst du mich denn nicht?“ Sie schüttelte abermals den Kopf und Atsushi hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. „Was redest du denn? Du musst doch wissen, wer ich bin! Ich bin es, Atsushi!“ Sie blinzelte ihn verständnislos an, ehe sich ein Ausdruck von Mitleid über ihr Gesicht legte. Atsushi konnte sich nicht erinnern, dass Kyoka je zuvor so geguckt hatte. Aber … das Mädchen vor ihm sah von den zwei Zöpfen bis hinunter zum Saum ihres roten Kimonos aus wie Kyoka. Sie klang wie Kyoka. Sie roch wie Kyoka. „Hab keine Angst“, sagte sie ungewohnt sanft, „wir können dir bestimmt helfen.“ „ … Wir?“ „Hey, mit wem redest du?“ Atsushis Herz blieb ein weiteres Mal fast stehen, als er eine zweite ihm wohl bekannte Stimme vernahm. Die rothaarige junge Frau, die in diesem Moment aus der gegenüberliegenden Gasse herauskam, war niemand Geringeres als … „Lucy?“ „Häh?“, entgegnete sie in ihrem üblichen, pampigen Tonfall. „Er ist verwirrt“, antwortete das Mädchen, das gleichzeitig Kyoka und nicht Kyoka war. „Oh, armer Kerl. Er sieht auch echt schlimm aus.“ So zur Schau getragenes Mitgefühl war für Lucy ebenso untypisch. Was war hier nur los? „Du erkennst mich auch nicht?“ Sie hob kritisch eine Augenbraue und drehte sich zu Kyoka. „Was redet der denn da?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Lucy! Die Inhaber des Cafés waren heute Morgen in der Detektei, weil sie sich schreckliche Sorgen um dich machen!“ Ein erneuter, verzweifelter Versuch – der in Sekundenschnelle verpuffte. „Café? Was für ein Café?“ So wie die beiden Mädchen ihn ansahen, wie sie mit ihm redeten – sie hatten wirklich keine Ahnung, wer er war. „Wartet!“ Ihm kam ein Geistesblitz. „Wir gehen zu Dazai! Der wird bestimmt wissen, was mit euch passiert ist und euch helfen!“ „Da-zai?“ Seine Gegenüber tauschten verwirrte Blicke aus. „Ihr könnt euch auch nicht an-“ Atsushi stockte. Der Junge von vorhin kam mit einer Frau im Schlepptau zurück. Einer Frau mit dunkelbraunen, geflochtenen Haaren, die ein schwarz-rotes Kleid trug. Es war die Frau, die er gestern im Café gesehen hatte. Und ihr entsetzter Blick verriet, dass sie ihn ebenso wiedererkannte. „Du bist einer der Detektive“, hauchte sie entgeistert. „Was in aller Welt tust du hier? Wie konntest du uns finden?“ Sie erschrak. „Sind noch mehr von euch hier??“ „Was haben sie mit Kyoka und Lucy gemacht?!“, platzte es wütend aus dem sonst so scheuen Jungen heraus. „Maud, Kyoko, geht weg von ihm! Wir ziehen uns sofort zurück! Schnell!“ Bevor Atsushi reagieren konnte, hatte Lucys Fähigkeit alle vier wegtransportiert und vor ihm war nichts mehr außer der menschenleeren, mit Baracken gesäumten Straße. Maud? Kyoko? Was … was ist hier nur los?? Überstürzt lief er in eine der Seitenstraßen, als würde sich dort eine Antwort finden können. Wenn er noch ein weiteres Kind finden könnte, dann könnte dies ihm bestimmt weiterhelfen! Er fand dort lediglich einen seiner Kollegen. „Atsushi!“ Kenji rannte zu ihm. „Ist alles in Ordnung? Hier sind plötzlich überall Kinder aufgetaucht. Tanizaki verfolgt einige von ihnen mit seiner Fähigkeit. Atsushi?“ Völlig überfordert fixierte Atsushis Blick den Boden zu seinen Füßen. Warum erkannten sie ihn nicht mehr? Warum gingen sie freiwillig mit dieser Frau mit? Das alles ergab keinen Sinn. Was sollte er jetzt nur tu- Als hätte die Antwort ihn wie einen Schlag auf den Kopf getroffen, zog er hastig sein Handy aus seiner Hosentasche und wählte Dazais Nummer. Dazai würde wissen, was als nächstes zu tun wäre. Alles würde gut werden. Das Wichtigste war, dass Kyoka und Lucy noch am Leben waren. Atsushi rutschte beinahe das Handy aus der Hand, als anstelle des erwarteten Klingelns ein automatisches Band ertönte: „Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist zur Zeit leider nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)