Zusammen von rokugatsu-go ================================================================================ Kapitel 6: Zweiter Teil – Kapitel 6: Die kalte Welt --------------------------------------------------- Ihre Landung in dieser Welt war erstaunlich weich gewesen. Und sehr, sehr kalt. Fyes erste Handlung nach jeder Ankunft in einer neuen Welt war es, danach zu sehen, ob die anderen bei ihm und unverletzt waren. Daher hob er schnell seinen Oberkörper, nachdem er mit dem Gesicht zuerst in etwas Kaltem, Weichem und Puderigem gelandet war. Doch dieses Mal erstarrte er, bevor er seine Routine durchführen konnte. Er setzte sich auf und blickte auf eine unerbittliche, weiße Landschaft aus Schnee und Eis. Ein bitterkalter Wind blies durch seine für diese eisigen Temperaturen viel zu dünne Kleidung und Fye hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Das konnte nicht … nein … nein … es durfte nicht … sie durften nicht in …! Nicht hier! Überall hin, nur nicht hierher! Bitte, bitte, nicht an diesen schrecklichen Ort!! Bitte nicht!! Eine Hand auf seiner Schulter ließ ihn zusammenschrecken. Fyes vor Entsetzen aufgerissene Augen blickten in die ruhige Miene Kuroganes. „Du vergisst zu atmen.“ Der Magier nickte schwach und erinnerte sich daran, Luft zu holen. „Fye ist ganz verängstigt!“ Mokona sprang von der Schulter des Ninjas in Fyes Arme. Mit ernstem und gleichzeitig sanftem Blick trat Shaolan heran und reichte dem auf dem Boden kauernden Mann eine Hand. Eine blasse und zitternde Hand ergriff die des Jungen und Fye stand auf. „Wir wissen nicht, wo wir gelandet sind, also ein Schritt nach dem anderen“, sagte Kurogane betont gefasst. „Und keine voreiligen, düsteren Schlüsse ziehen.“ Fye sagte darauf nichts, sondern machte einen Schritt auf ihn zu, um so nahe wie möglich bei ihm zu sein. „Wir müssen schnell aus dieser Eiswüste heraus“, mahnte Shaolan. „Wenn wir hier in einen Schneesturm geraten, werden wir uns sicherlich verirren und erfrieren.“ „Irgendeine Idee, wo lang?“, hakte Kurogane, genau wie die anderen sich überfragt umblickend, nach. „Huh?“ Mokona spitzte ihre Ohren. „Habt ihr das auch gehört?“ „Was meinst-“, wollte Fye fragen, als er das Geräusch ebenso vernahm. Ein rasselndes Schnaufen. Und das Schlagen großer Flügel. „Es kommt von oben!“, rief Shaolan aus und alle reckten ihre Köpfe zum Himmel empor. In der Ferne drehte am grauen, wolkenverhangenen Himmel ein riesiges, dunkles Tier mit gigantischen Flügeln und einem langen Schwanz seine Runden. „Was ist das?? Ein Dämon??“, entfuhr es Kurogane. „Ein … Drache? Das sieht aus wie ein Drache!“, japste Shaolan erschrocken. „Das soll ein Drache sein??“ Der Ninja wusste, wie Drachen aussahen. Nicht wie viel zu groß geratene Echsen; so viel war sicher. „In anderen Welten gibt es andere Drachen“, erklärte Shaolan fahrig. „Whhhaa! Jetzt hat Mokona Angst!“ Die kleine Kreatur zappelte aufgekratzt in den Armen den Magiers hin und her. Und der Magier … lächelte. In Valeria hatte es nie Drachen gegeben. Folglich waren sie nicht in Valeria. „Ist das der richtige Moment, um so glückselig zu grinsen??“, polterte Kurogane und Fye nickte freudestrahlend. „Huuuui! Ist das nicht ein schöner Moment?“ Der Drache wollte ihn wohl unbedingt Lüge strafen und begann Feuer zu speien. Während er nun ihre Richtung einschlug. „Okay, der Moment ist vielleicht nicht mehr ganz so schön“, scherzte der Blondschopf mit ungebrochen guter Laune, bevor die Gruppe die Beine in die Hände nahm und losrannte. Was wiederum den Drachen herzlich wenig beeindruckte. Mit ein paar kräftigen Schlägen seiner monströsen Flügel hatte er im Nu zu ihnen aufgeschlossen. „Er holt uns ein!“, warnte Shaolan, während er wie die anderen beim Davonpreschen einen Blick zurück auf das immer näher kommende Ungetüm warf. Der Drache war noch viel größer als er es aus der Ferne gewirkt hatte. Sein Körper war über und über mit dunkelgrünen Schuppen bedeckt und sein Feueratem erreichte ohne Probleme den Boden, wo er wie nichts den Schnee und das darunter liegende Eis wegschmolz und die Erde verbrannte. „Wollknäuel, schnell, die Schwerter!“ Kurogane bremste abrupt ab und wirbelte zu dem Drachen herum. Ohne zu zögern spuckte Mokona die beiden Schwerter aus und Shaolan und Kurogane griffen ihre jeweiligen Waffen. Letzterer schleuderte blitzschnell einen seiner mächtigen Angriffe in Richtung der fliegenden Riesenechse, die – erneut herzlich unbeeindruckt – die Attacke mit ihrem Schwanz abwehrte und zurück zu der Gruppe der Reisenden schickte. Geistesgegenwärtig erschuf Fye ein Schutzschild, gegen das der zurückgeschleuderte Angriff prallte. „Puh, Kuro-rin“, keuchte der Magier gespielt, „das war ja mal eine starke Attacke!“ „Soll das heißen, sonst sind sie nicht stark?!“ Fye kicherte – ob sie nun einem riesigen Gegner ausgesetzt waren oder nicht, Kurogane zu ärgern, hatte stets Priorität! Der Drache blies seinen feurigen Atem ohne Unterlass gegen das Schutzschild, das wacker standhielt. Schlagartig wurde die verspielte Mimik des Magiers düster und angriffslustig. „Wenn das Ding uns allerdings grillen will, habe ich etwas dagegen.“ Fyes Finger fuhren rasant durch die Luft und ließen Zeichen erscheinen, die zu leuchten begannen, ehe gewaltige Blitze auf den Drachen zuflogen. Dieses Mal machte das Ungetüm sich nicht einmal die Mühe den Angriff abzuwehren. Er verpuffte auf seinem schuppigen Körper, als wäre nichts gewesen. Verdattert blinzelte Fye. „Ist er etwa immun gegen Magie?!“ Mit einer aufsteigenden Panik versuchte Shaolan die Lage zu analysieren. Er könnte angreifen, aber aller Wahrscheinlichkeit nach würde das Gleiche passieren wie beim Angriff Kuroganes. Und Magie schien gar keinen Effekt zu haben. Was sollten sie tun? Fye war nicht in der Lage, das Schutzschild ewig aufrecht zu erhalten und darauf zu hoffen, dass es dem Drachen zu langweilig wurde, war keine gute Strategie. Es blieb ihnen damit nur eins, wenn sie heil hier herauskommen wollten. „MokonAAAA!“ Shaolan erschrak, als ihn eine Hand an seinem Fußgelenk packte. Sein Blick raste nach unten. Aus einem großen Haufen Schnee guckte eine Hand heraus, die ihn festhielt. Alarmiert durch das Schreien des Jungen schnellten auch die Blicke der Erwachsenen in seine Richtung. „Verteilt euch und grabt euch im Schnee ein! Dann kann er euch nicht finden!“, erklang eine weibliche Stimme dumpf aus dem Schneehügel heraus. Mit einem Mal zog Fye deutlich hörbar die Luft ein und seine Augen klärten sich. „Er kann uns nicht finden!“ Seine Finger tanzten erneut rasend schnell durch die Luft und aus dem Nichts … stellte der Drache seinen Feueratem ein. Er wirkte beinahe perplex, wie er die Stelle am Boden, auf der er doch gerade noch ein paar Menschen gesehen hatte, betrachtete und schließlich kehrtmachte und davonflog. „Häh?“ Kurogane sah ihm irritiert hinterher. „Hast du uns unsichtbar gemacht?“ Als Antwort bekam er ein breites Grinsen und eine Daumen-hoch-Geste. „Gut gemacht, Fye!!“, jubelte Mokona. „Vielen Dank, das war eine sehr gute Reaktion“, stimmte Shaolan zu. „Für einen drittklassigen Zauberkünstler nicht schlecht“, legte Kurogane nach und sein subtiles Schmunzeln wurde etwas offensichtlicher, als Fye einen beleidigten Schmollmund zog. Vorsichtig wandte Shaolan sich dem Schneehügel neben sich zu. „Entschuldigung, Sie können wieder herauskommen. Der Drache ist weg.“ „Kleiner, beiseite“, brummte Kurogane und schob sich an dem Jungen vorbei. Wer auch immer da unter dem Schnee ausharrte, war besser kein Feind. Seine Laune war nämlich gerade nicht die beste. Die Hand zog sich von Shaolans Knöchel zurück und es wurde erkennbar, dass sich etwas unter dem Schnee bewegte. Fye stellte sich derweil ebenso mit wachsamen Blick vor den Jüngsten ihrer Gruppe und übergab Mokona in seine Arme. Eine junge, bebrillte Frau grub sich aus dem Schneehaufen. Sie schüttelte ihre mittellangen, hellbraunen Haare und klopfte sich den verbliebenen Schnee von ihrem dicken, langen Mantel. „Brrrr“, sie schauderte, „viel länger hätte ich es da nicht ausgehalten.“ Sie hob ihren Kopf und blinzelte erstaunt die Fremden vor sich an. Sie erschrak fast, als sie das Trio näher musterte. „Ihr seid definitiv nicht von hier. Ist euch nicht kalt in den dünnen Stoffen?“ „Hn“, machte Kurogane lediglich und steckte sein Schwert weg. Nach Gefahr sah die nicht aus. „Wir sind tatsächlich nicht von hier“, antwortete Fye freundlich und versuchte dabei, nicht daran zu denken, wie oft er dies wohl schon gesagt haben musste. „Und wir haben uns verlaufen. Ist hier ein Dorf oder eine Stadt in der Nähe?“ Für einen Moment wirkte die Frau verwirrt, als Fye sie ansprach, dann betrachtete sie ihn interessiert, ehe sie letztlich nickte. „Ihr könnt mit in mein Dorf kommen. Es wird bald Nacht und dann wird es hier noch kälter. Und der Junge dort bekommt ja jetzt schon blaue Lippen.“ Wie ertappt zuckte Shaolan zusammen, als seine zwei Gefährten sich besorgt zu ihm umdrehten. Mokona kuschelte sich als erste Notreaktion gegen Shaolans Brust und als die Einheimische dies bemerkte, entfuhr ihr ein Japsen. „W-was … ist das für ein … ein Etwas?“ „Mokona ist unsere Gefährtin“, beeilte sich Shaolan zu erklären. „Sie ist sehr lieb und tut niemandem etwas.“ „Sehr lieb!“, wiederholte der Klops, um den es ging. „Dass sie niemandem etwas tut, würde ich so nicht unterschreiben“, murmelte Kurogane und bekam dafür von Fye einen gut gelaunten Stupser in die Rippen. „Ahh~“, sagte die Frau erfreut, „ein magisches Wesen? Dann gehört sie zu dir?“ Sie sah zu Fye. „Nein, sie gehört zu uns allen.“ „Aber du bist ein Magier, nicht wahr? Du hast doch eben gezaubert, habe ich Recht?“ Die Augen der Frau leuchteten erwartungsvoll. „So ist es.“ Fye stutzte. „Ich spüre hier keine Magie. Woher bist du damit vertraut?“ „Hier hat mal ein Magier gelebt“, erwiderte sie knapp. „Mein Name ist übrigens Ruka. Ich bin die Tochter des Ältesten. Und jetzt kommt!“   Ruka führte sie hastig in ihr Dorf, nachdem sie sich alle vorgestellt hatten. Auf dem Weg gab es nichts zu sehen außer noch mehr Schnee und noch mehr Eis. Wie die Einheimische es gesagt hatte, brach die Nacht schnell an und brachte noch mehr Kälte mit sich. So sehr fielen die Temperaturen, dass selbst Fye, der aus der Gruppe dieses Klima am ehesten gewohnt war, bibbern musste. Als sie endlich im Haus des Ältesten standen, eilten drei von vier Reisenden an die dort befindliche, brennende Feuerstelle. Kurogane hingegen wollte um nichts in der Welt zugeben, dass auch ihm bitterkalt war und schlenderte in seinem normalen Tempo ganz lässig zu dem Feuer. Auf dem Weg hierher hatten sie erfahren, dass dieses Land „Dragoon“ hieß und mehr als die Hälfte des Jahres dieser eisige Winter herrschte. Ruka erklärte ihnen, dass sie mit ihrem Vater, ihrem Mann und dem gemeinsamen Kind in einem Haus lebte. Der Rest ihrer Familie war im Laufe der Jahre ausnahmslos dem Drachen zum Opfer gefallen. Das kleine Dorf bestand so inzwischen aus nur noch etwa zwei Dutzend strohgedeckter Holzhäuser einfachster Bauweise, von denen das des Ältesten am größten war. Im Inneren spendeten nur die Feuerstelle und ein paar Kerzen Licht. Auch Möbel suchte man vergebens, sodass die durchgefrorenen Gäste auf dem Boden Platz nahmen. „Ich will euch gleich bessere Kleidung suchen“, verkündete ihre Gastgeberin, die ihnen zuvor erklärt hatte, dass sie auf dem Heimweg von einem nahe gelegenen Wald von dem Drachen überrascht worden war. Was sie in dem Wald gewollt hatte? Schneefrüchte holen natürlich. Was sollte man sonst im Wald machen? Die Reisenden hatten längst gelernt, dass man nicht alles hinterfragen musste. „Greifen die Drachen oft an?“, fragte Shaolan, während die Frau in einer großen Truhe wühlte und nach und nach Kleidungsstücke hervorkramte. Ruka legte den Kopf schief. „Oje, oje, vervielfältige ihn nicht noch! Einer reicht doch schon völlig!“ „Es gibt hier also nur einen Drachen?“, hakte Fye nach. „Mm-hm“, bestätigte sie ihm. „Aber der allein hat schon so viele Leute getötet und so viel Land verbrannt.“ Sie seufzte schwermütig. „Ob das je ein Ende finden wird?“ „Die Wachen, an denen wir draußen vorbeigekommen sind, waren nicht einmal ordentlich bewaffnet“, schaltete sich Kurogane in das Gespräch ein. „Was macht ihr, wenn das Viech angreift?“ „Keine uns bekannten Waffen helfen gegen den Drachen. Wenn wir außerhalb des Dorfes sind, müssen wir uns schnell in Sicherheit bringen.“ Die Antwort gefiel dem Ninja augenscheinlich nicht, denn Rukas Antwort hieß für ihn nur eins: Hier war es nicht sicher. „Moment“, stutzte Shaolan, „und wenn ihr im Dorf seid?“ „Dann hilft uns die Barriere. Sie schützt das Dorf und den Wald.“ „Das ist es also ...“ Nachdenklich fasste Fye sich mit einer Hand ans Kinn. „Seit wir im Dorf sind, spüre ich einen Hauch von Magie. Stammt die Barriere von dem Magier, der hier mal gelebt habt?“ Shaolan blinzelte an dieser Stelle. Wieso spürte er diese Magie nicht? „Sie ist nur ganz schwach spürbar“, ergänzte Fye, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Aber die Barriere an sich muss sehr stark sein. Das ist wirklich interessant. Bei so einem komplexen Zauber muss ein mächtiger Magier am Werk gewesen sein.“ „Ich kannte ihn nicht wirklich. Er starb, als ich noch sehr jung war, aber meine Mutter hat ihn oft besucht.“ „Hat er nicht hier im Dorf gelebt?“, fragte der blonde Mann nach und Ruka schüttelte den Kopf. „Draußen im Wald. Er wollte nicht viel mit anderen Menschen zu tun haben. Ich dachte, alle Magier wären so verschroben, daher hat es mich gewundert, dass du mit Gefährten reist.“ „Verschroben, hä?“, warf Kurogane selbstgefällig ein, als würde es ihn freuen, dass noch jemand Magier für sonderbare Gestalten hielt. Ruka warf dem Ninja derweil ein schwarz-rotes Set aus Umhang, Pullover und Hose zu. „Ich hoffe, das passt. Größere Kleidung werden wir im ganzen Dorf nicht finden. Diese Sachen sind von der Familie meines Mannes.“ Sie übergab ein weiteres, kleineres Set in Grün an Shaolan. „Vielen Dank“, antwortete der Junge höflich. „Ist es denn in Ordnung, wenn wir diese Sachen nehmen?“ Die Frau senkte schwermütig ihren Blick. „Die Leute, die diese Kleidung ursprünglich getragen haben, brauchen sie nicht mehr, da, wo sie jetzt sind.“ Shaolan schluckte. „T-tut mir leid, ich-“ Sie winkte ab. „Sie wären sicher froh, dass ihre Kleider andere Menschen vor dem Erfrieren bewahren.“ Ruka verzog ein wenig nachdenklich das Gesicht, ehe sie erneut in die Truhe griff. „Ansonsten habe ich nur noch das hier.“ Sie zog ein weißes Gewand und eine Hose heraus, die beide ein Muster aus blauen und roten Halbkugeln, die sich gegenseitig zu einem Ganzen ergänzten, darauf hatten und reichte sie Fye. „Wenn dir diese Kleider so viel bedeuten, dass du sie nicht einem Fremden geben willst, dann ist das in Ordnung“, sagte er ihr mitfühlend. „ … Ich kann mich auch an Kuro-sama wärmen.“ (Dem Genannten und im Besonderen Shaolan wurden es an dieser Stelle kurz ein wenig zu heiß.) „Nein, nein“, Ruka schüttelte den Kopf (nachdem sie ihn mit großen Augen angeblinzelt hatte), „bitte nimm sie. Es ist nur, dass diese Sachen ursprünglich dem Magier gehört haben, der hier einst gelebt hat. Meine Mutter hat sie in Gedenken an ihn aufbewahrt.“ Sie griff noch einmal in die Truhe – die Miene noch verkniffener. „Tja, und jetzt haben wir ein Problem. Ich habe keine Männerbekleidung mehr. Der einzige Mantel, der noch übrig ist, ist der meiner Mutter … und den würde ein Mann wohl kaum anziehen wollen.“ Ruka hielt einen fluffigen, weichen, beigefarbenen Mantel in Händen. „Der sieht aber warm aus!“ Mokona erfreute sich offensichtlich an der Vorstellung, sich dort hinein kuscheln zu können. „Fye würde der sicher gut stehen!“ „Nicht.“ Der Magier tätschelte das kleine Wesen sanft auf den Kopf. „Lass ihr dieses Erinnerungsstück an ihre Mutter.“ Zum wiederholten Male sah Ruka ihn interessiert an. „Meine Mutter war ein pragmatischer Mensch. Sie würde es sinnlos finden, dass jemand aus sentimentalen Gründen friert. Wenn es dich nicht stört, dass er eigentlich für eine Frau gedacht war, dann bitte, trag ihn.“ Sie tauschten einen langen und intensiven Blick aus, bevor Fye den Mantel entgegennahm und Ruka unwillkürlich lächeln musste.   Sie waren gerade fertig damit, sich umzuziehen (oh, wie viel wärmer diese Kleidung war!), als die Haustüre aufging und zwei Männer eintraten. Der Jüngere der beiden, ein junger Mann mit lockigen sandfarbenen Haaren, trug ein kleines Kind von maximal einem Jahr auf dem Arm, das so dick eingemummelt war, dass man kaum etwas von ihm erkennen konnte. Er besah sich die Fremden vor sich und lächelte freundlich zur Begrüßung. Die Wachen, sagte er gleich dazu, hatten ihnen von einer Gruppe Reisenden erzählt, die Ruka vor dem Drachen in Sicherheit gebracht hätten. Der ältere Mann (ein stämmiger, ergrauter Senior) musterte sie bedeutend kritischer, erschrak scheinbar, als sein Blick auf Fye landete und machte daraufhin ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Kein Wunder, ging es dem Blondschopf durch den Kopf, ich trage den Mantel seiner verstorbenen Frau. „Ah, da seid ihr ja!“ Ruka kam aus einem der angrenzenden Zimmer wieder hinein. „Ist die Ratsbesprechung gut verlaufen?“ Der jüngere Mann nickte und übergab ihr das Kind. „Das sind die Reisenden, die den Drachen ausgetrickst haben. Das sind Shaolan, Mokona, Fye und Kuro-Eisbärchen.“ „KUROGANE!“ Der Ninja warf einen tobsüchtigen Blick auf den verschmitzt mit den Achseln zuckenden Magier, der Ruka diesen Namen ins Ohr gesetzt hatte. Die Frau stellte den jüngeren Mann als ihre bessere Hälfte Reta vor. Der ältere Mann jedoch ergriff selbst das Wort und klang dabei so distanziert, wie er dreinblickte. „Ich bin der Älteste des Dorfes, Rohi. Ihr seid Reisende? Definitiv nicht aus einem der mir bekannten Länder. Kommt ihr aus einer anderen Dimension?“ Die Vierergruppe schaute ziemlich verdattert drein, als er dies sagte. „Wir haben schon allerlei Erfahrungen mit Figuren aus anderen Dimensionen gemacht. Dass ihr meine Tochter gerettet habt, spricht für euch. Richtet euch hier trotzdem nicht zu heimisch ein. Was bringt euch überhaupt her?“ „Wir sind auf der Suche nach etwas“, antwortete Shaolan kleinlaut angesichts der Unfreundlichkeit ihres Gastgebers. „Deswegen reisen wir durch verschiedene Dimensionen.“ „Dann habt ihr wieder vor zu gehen, ja?“ „Wir bleiben nirgends, wo man uns nicht haben will.“ In Kuroganes Antwort schwang ein trotziger Unterton mit: Glaub nicht, du könntest uns einschüchtern, sollte dieser ausdrücken. „Es tut uns leid, wenn Sie schlechte Erfahrungen mit anderen Reisenden gemacht haben“, Fye versuchte es mit einem beschwichtigenden Lächeln, „aber wir haben keine bösen Absichten.“ Rohi warf ihm einen so abschätzigen Blick zu, dass Fye einen Schritt zurückwich und Kurogane gleich darauf einen Schritt nach vorn machte. Wenn der alte Knacker etwas gegen den Magier hatte, dann musste er erst einmal an ihm vorbei. „Haben andere Reisende euch angegriffen? Oder überfallen?“, wollte Shaolan, neugierig wie eh und je, wissen. „Den Drachen haben wir so jemandem zu verdanken“, erwiderte der Älteste verbittert. „Irgendein böser Hexer kam her, experimentierte herum und plötzlich flog diese schuppige Heimsuchung durch die Lüfte.“ Verständnisvoll nickte Shaolan. Natürlich waren die Bewohner dieses Landes nach so einer Erfahrung nicht gut auf Fremde zu sprechen. „Vergiss aber nicht, dass der Magier, der von außerhalb kam, den Hexer tötete und den Drachen versiegelte“, ergänzte Ruka vorwurfsvoll und über das folgende Brummeln ihres Vaters den Kopf schüttelnd. „Na ja“, fügte ihr Gatte Reta schulterzuckend an, „davon hatte unser Land nicht lange etwas. Einige Zeit später kam wieder jemand aus einer anderen Dimension, riss das Siegel an sich und der Drache war wieder da.“ Er seufzte. Interessiert blickte Shaolan zu den Einheimischen. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass dies einer der Momente war, in denen es Sinn machte, nachzufragen. „Jemand … riss das Siegel an sich? Was heißt das?“ „Das Siegel war plötzlich hier aufgetaucht. Es war so etwas wie ...“ Reta suchte nach den richtigen Worten. „So etwas wie eine Feder.“ „Eine … Feder?“ Schlagartig war Shaolans Anspannung spürbar. Seine Hände zitterten und Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Die Geschichten, die Sakuras Federn enthielten, gingen selten gut aus. Alarmiert tauschten auch seine zwei Begleiter einen Blick aus. „Wer … wer hat diese Feder an sich gerissen??“ Shaolans Frage klang beinahe schon wie ein Flehen, doch seine Nervosität entging den drei Gastgebern. Ruka schüttelte sich vor Angst. „Die wenigen, die ihn damals gesehen haben, berichteten, es sei ein Dämon mit zwei verschiedenfarbigen Augen gewesen.“ Ein unheimlicher Laut entwich Shaolans Kehle. Als wäre plötzlich ein böser Geist vor ihm aufgetaucht, wich sämtliche Farbe wich aus seinem Gesicht und er taumelte benommen rückwärts. Es wirkte so, als hätte ein unsichtbarer Schlag ihn mit voller Wucht mitten in den Magen getroffen. Fye packte ihn an den Schultern, damit er nicht umfallen konnte. „Oh, aber der Dämon ist wieder weg und seitdem nicht wiedergekehrt. Du musst keine Angst vor ihm haben“, beruhigte Ruka ihn. Sie musste denken, dass sie den Jungen mit der Geschichte über einen Dämon verängstigt hatte. „Hat das Viech euren Magier getötet? Oder der … Dämon? Wir haben festgestellt, dass die hässliche Echse unempfindlich gegenüber Magie ist.“ Kurogane entging es nicht, dass der Älteste bei Erwähnung des hiesigen Magiers ein noch saureres Gesicht zog. „Keiner von beiden“, antwortete Ruka, den besorgten Blick weiter auf den bleichen Shaolan gerichtet. „Er starb, nachdem er den Drachen versiegelt hatte und bevor der Dämon auftauchte. Zum Glück blieben die Barrieren bestehen, die er kurz nach seiner Ankunft hier errichtet hatte. … Shaolan, du zitterst ja richtig. Du musst wirklich keine Angst haben.“ „Ich glaube, er ist erschöpft“, antwortete Fye für den Jungen, der mit leerem Blick vor sich hinstarrte und hörbar nach Luft schnappte. „Können wir uns vielleicht ein wenig ausruhen?“ Ruka nickte und führte sie in das Zimmer, das eigentlich ihr, Reta und dem Kind gehörte. Solange die Reisenden dieses bräuchten, würden sie in das Zimmer des Ältesten ziehen. Der kleine Raum war wie der Wohnraum quasi unmöbliert. Einzig eine mit Stroh gefüllte Matratze, auf der Kissen und Decken ausgebreitet waren, befand sich darin. Mit einem weiteren besorgten Blick auf Shaolan wünschte Ruka ihnen eine erholsame Nacht und schloss die Tür hinter sich. „Dass dieser Drache hier sein Unwesen treibt ...“, sagte Shaolan mit erstickter Stimme, „ist meine Schuld.“ „Wieso? Hast du ihn erschaffen?“, gab Kurogane ungerührt zurück. „Du weißt, wie ich das meine!“ Shaolan presste seine Lippen aufeinander, nachdem er laut geworden war. „All diese Menschen, die hier ihr Leben verloren haben-“ „Gehen nicht auf dein Konto.“ Der Ninja blieb unbeeindruckt. „Nicht einmal auf das des anderen Bengels. Keiner von euch hat die bekloppte Echse auf die Menschen hier losgelassen.“ „Kuro-tan hat ausnahmsweise mal Recht.“ Fye tätschelte den Kopf des dunkelhaarigen Mannes, wie er zuvor Mokonas Kopf getätschelt hatte. Ohne Vorwarnung gab Kurogane ihm daraufhin einen Schubs, sodass Fye – bester Laune - auf das Bett fiel. „Ich ...“ Shaolan blickte ernst zu Boden. „Ich will diese Menschen von dem Drachen befreien.“ „Das wissen wir doch schon.“ Der Blonde setzte sich auf und Shaolans Blick schnellte erstaunt nach oben. „Eine fliegende Riesenechse? Klingt nach keinem schlechten Gegner.“ Ein kampflustiges Grinsen umspielte Kuroganes Mundwinkel. „A-aber-“ „Wenn der Magier, der hier zuvor gelebt hat, diese Barrieren gegen den Drachen errichten konnte, dann wird mir jawohl auch etwas einfallen. Meine Ehre als Magier steht auf dem Spiel!“ „Magier besitzen Ehrgefühl? Das ist mir neu.“ „Heeeey, Kuro-sama, das war gemein!“ Mokona hüpfte in Shaolans Arme. „Shaolan wollte alleine gegen den Drachen antreten, aber Shaolan ist doch gar nicht alleine! Wir lösen jedes Problem zusammen!“ Einen langen Moment schaute der Junge wortlos von einem seiner Gefährten zum nächsten, bevor er die Kreatur in seinen Armen umarmte. „Ich danke euch.“ Mokona kuschelte sich in die Umarmung und stellte besorgt fest, dass Tränen auf sie hinunterfielen. „Shaolan-kun.“ Fye winkte ihn zu sich heran. Er hob seine Hände zu Shaolans Gesicht empor und wischte behutsam die dort fließenden Tränen weg. „Ich weiß, es ist schwer. Aber mach es dir doch bitte nicht immer noch schwerer.“ Der Angesprochene steigerte seine Bemühungen, die restlichen Tränen herunterzuschlucken (und scheiterte), als eine große Hand ihm recht unsanft durch die Haare wuschelte. „Das sollte dir zu denken geben, wenn ausgerechnet der Magier so etwas sagt.“ „Ah, Papa ist heute wirklich gemein zu mir!“ Lachend ließ sich Fye mit einem überrumpelten Shaolan und einer vergnügt quietschenden Mokona zurück aufs Bett fallen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)