Stray Dogs Monogatari von rokugatsu-go ================================================================================ Prolog: Wundersame Geschehnisse ------------------------------- Sei Shonagon gähnte ausgiebig und ungeniert. Die Morgendämmerung brach gerade über den Palast hinein und die Hofdame hatte eine lange Nacht hinter sich gehabt. Der jungen Kaiserin war nach vergnüglicher Unterhaltung gewesen und so hatte sie die gesamte Nacht bei ihr verbracht und sie mit Gesprächen und Gedichten unterhalten. Was freute sie sich jetzt auf ein paar Stunden erholsamen Schlaf! Bestimmt sah sie schrecklich nach so einer durchwachten Nacht aus, aber sie hatte keine rechte Lust ihre Haare und ihr Äußeres vor dem Zubettgehen zu richten. Himmel, war sie müde. Zum Glück waren in diesem Teil des Palastes noch alle mit ihrem eigenen Schönheitsschlaf beschäftigt und so wurde wenigstens niemand Zeuge, wie sie erschöpft durch die Gänge schlurfte. Ah, und Hunger hatte sie auch … wann wohl die Dienerschaft endlich aufwachte und sich an die Arbeit begab? Man konnte von ihr doch wohl kaum verlangen, dass sie sich selbst um etwas zu essen kümmerte? Sei seufzte missmutig und warf einen flüchtigen Blick zu den Gemächern, an denen sie gerade vorbei ging. Huch? Murasaki hatte die Schiebetüre zu ihrem Zimmer nicht vollständig zugezogen. Tsk. Sei schüttelte missbilligend den Kopf. Was waren denn das für Manieren? Wollte sie etwa beim Schlafen beobachtet werden? Oder war sie schon auf und hatte beim Verlassen des Raumes die Türe nicht richtig verschlossen? Das sah ihr aber gar nicht ähnlich. Ob sie in Eile gewesen war? So in Gedanken versunken, war sie vor Murasakis Zimmer stehen geblieben. Es schadete ja niemandem, wenn sie mal nachsah, dachte sie und lugte unverhohlen durch den Spalt in der Schiebetüre. Der Raum war leer. Einem merkwürdigen Gefühl folgend, schob Sei die Türe weiter auf und betrat das Gemach der anderen Hofdame. Sie blickte sich um. Das Bettzeug lag ordentlich da und in Anbetracht der Tatsache, dass noch keiner der Diener unterwegs war und Murasaki ihr Bett kaum selber herrichten würde, ließ sich daraus nur der Schluss ziehen, dass sie ihr Bett in der letzten Nacht gar nicht benutzt hatte. Nun war dies kein ungewöhnlicher Umstand am Hofe, jedoch hatte etwas anderes die Aufmerksamkeit Seis erregt. Auf dem kleinen Schreibpult, an dem Murasaki stets zu schreiben pflegte, lagen die Blätter Papier kreuz und quer herum und, was noch viel seltsamer war, der Pinsel war vom Tisch gerollt und lag auf dem Boden. Ebenso der Tuschestein. Murasaki war ein Mensch, dem Schreibwerkzeug und Papier geradezu heilig waren, nie würde sie diese daher so unordentlich herumliegen lassen. Sei trat näher an das Tischchen heran und kniete sich davor, um einen besseren Blick auf die Blätter haben zu können, die dort lagen. Viele waren noch unbeschrieben. Ah, ja! Murasaki hatte erst vor kurzem einen neuen Stapel Papierbögen geschenkt bekommen, das hier musste er sein. War er umgefallen und hatte sich so auf dem Pult verteilt? Die Hofdame räumte die leeren Seiten weg und fand so schließlich zuunterst eine Seite, auf der ein angefangener Brief zu erkennen war. Mit einem Mal hatte Sei ein wahrlich unheilvolles Gefühl. Nicht nur der Brief war unvollendet, das letzte Zeichen darauf sah aus, als wäre es mittendrin abgebrochen worden und der Schreiberin der Pinsel verrutscht. Ein langer, hässlicher Strich zog sich über das schöne Papier. Als hätte die Verfasserin den Schreibvorgang aus irgendeinem akuten Grund mittendrin unterbrechen müssen. Sei spürte ein beklemmendes Gefühl in ihrer Brust. War der Freundin vielleicht etwas zugestoßen? Sie sprang auf und verließ hastig das Zimmer. So langsam kehrte das tüchtige Treiben in den Palast zurück und die Hofdame fragte jeden, der ihr begegnete, ob sie Murasaki gesehen hätten, doch wo im Palast sie auch hineilte und wen sie auch fragte, niemand hatte die andere Dame seit der letzten Nacht gesehen und sie war auch nirgends zu finden. Der Erdboden konnte sie doch kaum verschluckt haben und dennoch waren Seis sämtliche Mühen vergebens. Es gab nirgends eine Spur von der Vermissten und außer ihr selbst schien sich auch kaum jemand so recht dafür interessieren zu wollen. Viele der anderen Damen konnten weder sie, noch Sei selbst gut leiden, weil sie ihnen vorwarfen, eingebildet zu sein. Nur einige sehr wenige verstanden sich gut mit ihr oder Murasaki. Viele, vor allem die Männer, waren auch argwöhnisch, weil sie Befähigte waren und auch wenn sie dies nur selten zur Schau trugen – es war eine seltene und für manch einen eine geradezu seltsame Begabung und sie war ihnen nicht geheuer. Vielleicht hatte jemand, der übernatürliche Fähigkeiten für etwas Dämonisches hielt, Murasaki etwas angetan? Sie war mitunter selbst ein wenig neidisch auf die Fähigkeit der Gefährtin, doch sie war froh, dass es hier noch jemanden gab, der eine Befähigte und ihr zugetan war. Wie einsam hatte sie sich doch zuvor gefühlt. Und spätestens seit ihrem unglaublichen Abenteuer in der wundersamen Stadt Yokohama verband sie mit der anderen Hofdame ein viel innigeres Band als vorher. Nicht zuletzt, weil sie niemandem sonst davon erzählen durften. Ein solches Geheimnis konnte selbst die unterschiedlichsten Menschen zusammenschweißen. „Wenn es dich so beschäftigt“, sagte die junge Kaiserin zu der Sei letztlich mit ihrer wachsenden Sorge um die Freundin gegangen war, „dann such sie. Ich hoffe, sie ist nicht weggelaufen, das wäre ärgerlich. Ich mag die Geschichten, die sie erzählt. Aber nun lass mich schlafen, ich bin müde.“ Mit schwerem Herzen verließ sie die Gemächer der Kaiserin und blickte traurig gen Boden. Sie alleine sollte Murasaki suchen? Wie sollte sie das anstellen? Sie hatte doch keine Ahnung, was mit ihr passiert war und auch keinen einzigen Anhaltspunkt. Sie war ja schließlich nicht wie der heitere Kavalier, den sie damals bei ihrer unfreiwilligen Zeitreise in Yokohama getroffen hatte. Er wäre wahrscheinlich in der Lage, im Handumdrehen die verloren gegangene Freundin wiederzufinden … Sei hielt in ihren Gedanken inne. Er würde sie auf jeden Fall wiederfinden. Wie vom Donner gerührt rannte sie – ihrer Erschöpfung und ihren kiloschweren Kimonos zum Trotz - los und verließ das Palastgelände. Immer sorgsam, dass niemand bemerkte, wohin sie lief.   In der wundersamen Stadt Yokohama, etwa eintausend Jahre später, blickte Kunikida mit wachsender Frustration auf seine Armbanduhr. „Das bringt meinen Tagesablauf vollkommen durcheinander!“, knurrte er gut hörbar vor sich hin und entlockte der stoischen Miene des silberhaarigen Mannes neben ihm einen minimalistischen fragenden Blick, so als wollte er damit fragen: Wieso bist du dann mitgekommen? „Ich kann ihm ein solches Verhalten nicht durchgehen lassen!“, erklärte Kunikida seinem Chef, als hätte dieser die Frage tatsächlich laut gestellt. „Er sagt, er ist unschuldig“, antwortete Fukuzawa ruhig und richtete seinen gefassten Blick weiter auf den Eingang der Polizeiwache, vor der er und Kunikida warteten. „Bei allem nötigen Respekt, Chef ...“, Kunikida atmete tief durch, um seine Nerven zu beruhigen, „die Worte 'unschuldig' und 'Dazai' in einem Satz zu verwenden, erscheint mir mehr als paradox.“ Wenige Stunden zuvor hatte Tanizaki im Büro der bewaffneten Detektive einen Anruf der Polizei entgegengenommen und Kunikida hatte schon das Schlimmste befürchtet, als dem Rothaarigen bei dem Gespräch das Blut in den Kopf geschossen war. „K-kunikida“, hatte er, hochrot im Gesicht, zu dem Älteren gesagt, nachdem er aufgelegt hatte, „das war die Polizei. Sie sagen, Dazai sei verhaftet worden wegen ...“ „Wegen was?“, hatte Kunikida gleich ungeduldig und mit steigendem Blutdruck nachgehakt. „Wegen … wegen … Diebstahls von Damenunterwäsche …“ Tanizaki war vor Scham fast ohnmächtig geworden, sodass Kenji es hatte übernehmen müssen, dem Chef Bescheid zu sagen. Es hatte Kunikidas Blutdruck und Tanizakis Verlegenheit keineswegs geholfen, dass Kenji fröhlich durch das gesamte Haus gerufen hatte: „Che~f, Dazai soll Höschen geklaut habe~n!“ Nachdem Fukuzawa sich davon erholt hatte, sich furchtbar an seinem Tee zu verschlucken, hatte er sogleich Ranpo darum gebeten, eiligst Dazais Fall zu untersuchen und seine beteuerte Unschuld zu beweisen, um die Angelegenheit möglichst schnell ad acta zu legen. Nur dass Ranpo absolut keine Lust dazu gehabt hatte. Er hatte gerade auch keinen anderen Fall gehabt, aber wenn Ranpo nicht danach war, etwas zu tun, dann war ihm eben nicht danach. „Du bekommst einen zusätzlichen freien Tag“, hatte Fukuzawa ihm angeboten, doch auch dieser Vorstoß war auf Ablehnung gestoßen. „Nö, kein Interesse.“ „Einen Bonus?“ „Laaaangweilig!“ Ranpo hatte gegähnt, um seinen Standpunkt zu untermauern. „Was für eine Belohnung würde dich den Fall übernehmen lassen?“ Mit einem Mal hatte der Meisterdetektiv seine Ohren gespitzt und ein breites Grinsen hatte sich über sein gesamtes Gesicht ausgedehnt. „Sie laden mich zum Essen ein.“ Fukuzawa hatte daraufhin gestutzt und versucht, auszuhandeln, dass er Ranpo einen Gutschein oder Ähnliches aushändigen könnte, doch der Jüngere hatte auf das gemeinsame Essen gepocht, sodass ihm keine andere Wahl geblieben war, als darauf einzugehen. Deswegen stand er nun vor der Polizeiwache und wartete darauf, dass Ranpo mit Dazai (und Atsushi, der Ranpo hergebracht hatte), wieder herauskam und er sein Versprechen direkt bei ihm einlöste – denn auch das war eine Bedingung des Meisterdetektivs gewesen. „Sonst schieben Sie es vor sich her, weil ständig irgendwas dazwischen kommt und Sie dann nie Zeit für mich haben.“ Der Chef dachte über Ranpos missmutig getätigte Äußerung nach. Fühlte Ranpo sich vielleicht vernachlässigt? Es gehörte zu Fukuzawas Grundsätzen, alle Mitarbeiter der Detektei gleich zu behandeln, aber hatte dies bei dem Jüngeren dazu geführt, dass er sich zurückgesetzt fühlte? Er hatte dabei beinahe wie ein Kind geklungen, dass beleidigt war, weil die Eltern ihm zu wenig Aufmerksamkeit schenkten. Fukuzawa seufzte innerlich. So unfassbar klug Ranpo auch war, er war eben auch … ein wenig kindlich veranlagt. Ihm war es ja selbst bewusst, dass Ranpo und ihn ein besonderes Band verband, doch deshalb sollte dem jungen Mann keineswegs eine Sonderstellung zuteil werden. Eigentlich. „Ich werde Dazai an seinem Schreibtischstuhl festbinden“, hörte Fukuzawa Kunikida neben sich brummeln, „nein, besser noch, ich werde ihn mit Superkleber daran festkleben, ja, genau! Dann kann er nicht mehr herumlaufen und Unsinn anstellen und er wäre dazu gezwungen, endlich zu arbeiten!“ Während der Brillenträger sich so leidenschaftlich in seine Fantasien hineinsteigerte, ging endlich die Vordertür der Polizeiwache auf und drei Gestalten kamen dort herausspaziert. Ranpo schlenderte in der Mitte und sah gelangweilt aus, ehe er den Chef erblickte und seine Miene sich aufhellte. Rechts von ihm trottete Dazai und sein schelmisches Grinsen wurde noch breiter, als er Kunikida dort stehen sah. An der linken Seite ging Atsushi – das errötete Gesicht gen Boden gesenkt und sich eine Hand an den schüttelnden Kopf haltend. „Ich kann nicht fassen ...“, murmelte der Junge ungläubig, „ … wie kann jemand …?“ „Kunikida!“, rief Dazai erfreut aus, als sie vor den anderen stehen blieben. „Du bist extra gekommen, um mich in meiner neu gewonnen Freiheit willkommen zu heißen? Das ist so süß von dir!“ „Ich heiße dich gleich willkommen!!“, gab der Angesprochene gereizt zurück. „Musst du ständig Schande über die Detektei bringen?!“ „Ich?“, flötete Dazai unschuldig und hielt sich in einer übertriebenen Geste eine Hand an die Brust. „Ich bin das Opfer eines schrecklichen Missverständnisses geworden.“ „Konntet ihr alles klären?“, fragte Fukuzawa und Ranpo nickte. „Alle Vorwürfe sind fallen gelassen worden, nachdem ich bewiesen hatte, dass seine Version der Geschichte der Wahrheit entspricht.“ „Will ich wissen, wie deine Version der Geschichte lautet?“ Kunikida bedachte seinen brünetten Kollegen mit einem Blick, der weit, weit über bloße Skepsis hinausging. „Ich ging gerade spazieren“, begann Dazai freimütig zu erzählen, als Atsushi, immer noch den Kopf schüttelnd, einwarf: „Auf dem Dach eines Hochhauses.“ „Ja, da ist die Luft so schön frisch. Na, jedenfalls, wie ich dort spazierte -“ „Auf dem Dach eines Hochhauses“, wiederholte Atsushi mit der gleichen Ungläubigkeit wie zuvor. „ … stolperte ich unglücklich, fiel über die Brüstung, stürzte einige Meter hinab und landete auf einem Balkon, direkt auf einem Wäscheständer, auf dem die Bewohnerin gerade ihre Unterwäsche trocknete. Es war allerdings niemand zu Hause und ich konnte ja nicht einfach in die Wohnung einbrechen, um mich durch die Haustüre raus zu lassen. Also tat ich das einzig Logische und versuchte, von diesem Balkon zu dem darunter liegenden zu klettern. Dabei rutschte ich jedoch unglücklich ab und landete auf dem nächsten Wäscheständer -“ „Der auch voll mit Damenunterwäsche war“, warf Atsushi fassungslos ein. „ ... und da wieder niemand da war, kletterte ich zum nächsten Balkon und rutschte ab und landete auf einem Wäscheständer und das wiederholte sich ein paar Mal, bis ich in der Unterwäsche einer Frau landete, die tatsächlich zu Hause war.“ „Musst du das so formulieren??“, schnaubte Kunikida mit hochrotem Kopf. „Es sind Minderjährige anwesend!“ Eigentlich, dachte Atsushi, traf dies nur auf ihn zu, außer Kunikida zählte Ranpo nicht als Erwachsenen. Wahrscheinlicher war jedoch, dass er ihn nur als Vorwand vorschob, weil ihn selbst Dazais flapsige Formulierung so peinlich berührte. „Und da sich durch die vielen unglücklichen Stürze einzelne Wäschestücke in meinen Manteltaschen verfangen hatten“, fuhr der Brünette nonchalant fort, „zog die Frau die völlig falschen Schlüsse.“ Kunikidas Unterkiefer klappte nach unten. „Und … und diese abstruse Geschichte soll der Wahrheit entsprechen?“ „Allem Anschein nach ja“, antwortete Atsushi. „Ranpo hat den Polizisten erklärt, nach welchen Indizien sie suchen müssen, um Dazais Geschichte zu überprüfen und … es stimmte alles.“ „Chef“, wandte sich der Brillenträger mit entgeistertem Ausdruck in den Augen an Fukuzawa, „haben wir Superkleber da oder muss ich welchen kaufen?“ Der Älteste der Gruppe räusperte sich. Es war offensichtlich, dass Dazais absonderliche Geschichte sogar an ihm nicht spurlos vorbeigegangen war, er dies jedoch nicht offen zur Schau tragen wollte. „Vielleicht findest du eine andere Lösung.“ „Superkleber?“, hakte Dazai begeistert nach. „Willst du mir als Geschenk zur wiedergewonnenen Freiheit etwas basteln?“ „Ich bastel dir einen Zwinger! Und aus diesem lass ich dich nie wieder heraus!“, brüllte Kunikida, machte einen Schritt auf Dazai zu und packte diesen an seinen braunen Locken. „Du wirst für den Ärger, den du heute verursacht hast, schön brav Überstunden machen! Ich lass dich nicht los, bis wir in der Detektei sind!“ „Au! Nicht die Haare! Nicht die Haare!“, jammerte Dazai und versuchte, sich freizuzappeln, doch Kunikida ließ ihn nicht los. „Bis wir in der Detektei sind!!“ Atsushi stellte infrage, ob überhaupt jemand außer dem Chef, welcher die zwei Streithähne lediglich gleichmütig anguckte, hier als erwachsen durchging. „Okay, das wäre geregelt!“, rief Ranpo fröhlich aus und ignorierte offenkundig die kuriose Szene, die sich direkt neben ihm abspielte. „Der Chef und ich haben jetzt einen wichtigen Termin!“ Fukuzawa deutete ein Nicken an, als ihm plötzlich ein merkwürdiges Flimmern in der Luft um die vier anderen herum auffiel. Ein Surren und Zischen erklang und als Ranpo dies alles bemerkte, schlug seine Stimmung mit einem Mal um. „Muss das jetzt sein?“, fragte er angefressen und es war das Letzte, das Fukuzawa von ihm hörte, bevor Ranpo, Atsushi, Dazai und Kunikida mit einem Mal verschwunden waren. Entsetzt über ihr plötzliches Verschwinden riss der Chef die Augen auf und starrte auf die nun leere Fläche vor ihm. „Was …?“ Es sah aus, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Nein. Als hätte die Luft sie verschluckt. War das etwa …? Kapitel 1: Ein Ausflug aufs Land -------------------------------- Atsushi versuchte, Luft zu holen, doch voller Schrecken musste er feststellen, dass sein Gesicht unter Wasser war. Wieso war er unter Wasser? Was war geschehen? Gerade eben hatte er doch noch neben Ranpo vor der Polizeiwache gestanden und den Kopf über Dazai und Kunikida geschüttelt. Und nun lag er mit dem Gesicht nach unten auf einem schlammigen Untergrund, umgeben von Wasser und mit einem schweren Gewicht auf ihm, das ihn herunterdrückte. Der Junge bündelte seine Kräfte und stemmte seine Arme und Knie in den matschigen Boden, sodass er sich trotz der Last auf seinem Rücken hochhieven konnte. „Haaaaaaa!“ Geschafft! Er hatte seinen Oberkörper aus dem Wasser heben können und schnappte, erleichtert auf allen Vieren dahockend, nach Luft … als das Gewicht auf seinem Rücken plötzlich anfing zu nörgeln. „Vorsicht, Atsushi! Ich falle ja noch runter!“ Diese Stimme. Wie der Schlamm von seinem Gesicht hinabrutschte, so fiel es ihm auch wie Schuppen von den Augen was, oder eher wen, er da auf seinem Rücken balancierte. Das Gewicht auf seinem Rücken war Ranpo! „Ra-ranpo?“ Der Junge drehte seinen Kopf soweit er konnte zurück, um zu dem Älteren zu blicken. Der Meisterdetektiv thronte im Schneidersitz - und praktisch fast knochentrocken - auf seinem Rücken. „W-was ist pass-“ Er stockte, als er ein gequältes Stöhnen neben sich vernahm. Ruckartig raste Atsushis Blick zu seiner anderen Seite, von der das unheimliche Geräusch kam. Was er dort sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. „Whaaaa!“, rief er zu Tode erschrocken aus. „Was-was ist das?? Ein Sumpfmonster??“ Die durch und durch in Schlamm gehüllte Gestalt, die sich mühselig neben ihm aus dem Morast erhob, gab einen entsetzlichen, gequälten Laut von sich und krachte wieder in den Matsch zurück, sodass der Schlick mit einem lauten 'Platsch' umherflog. „Oh nein“, hörte Atsushi da eine ihm sehr vertraute Stimme jammern, „der Saum meines Mantels ist dreckig geworden. Kunikida, kannst du mich nicht an Land bringen?“ Der junge Detektiv hob seinen Kopf ein kleines Stück mehr und als er begriff, was er sich da besah, begannen seine Augen, unwillkürlich zu zucken. So wie Ranpo auf ihm im Trockenen hockte, hockte Dazai auf Kunikidas Rücken und der arme Idealist lag, unter Dazais Gewicht begraben, im Schlamm. Ein wütendes Stöhnen ertönte und Kunikida hob sich von neuem mit aller Kraft aus dem Morast. „Steig gefälligst von mir runter und bring dich selbst an Land!!“ „Aber dann werden meine Schuhe nass …“ Mit Kräften, von denen Atsushi sich fragte, wo der Blonde diese nun herholte, versuchte Kunikida, sein klagendes, ungewolltes Gepäck von sich zu schütteln. - Was das Gepäck eher amüsierte und sich noch stärker an seinem unfreiwilligen Lastenträger festklammern ließ. „Atsushi“, sagte Ranpo derweil, „ich möchte wieder trockenen Boden unter den Füßen haben.“ „Ah! Ja! Sofort!“ Der Junge stand auf und Ranpo legte zeitgleich seine Arme um seinen Hals, sodass Atsushi ihn huckepack aus dem Schlamm tragen konnte. Nur wenige Sekunden, nachdem er den Älteren am wenige Meter entfernten Gewässerrand abgesetzt hatte, erreichten auch die beiden anderen Kollegen mit der exakt gleichen Technik – Dazai wurde zufrieden lächelnd von Kunikida auf dem Rücken getragen - die Stelle außerhalb des Morastes. „Was ist passiert?“, fragte Atsushi verdattert, als sie wieder alle beieinander standen. Kunikida wischte notdürftig seine Brille ab und versuchte, sich selbst eher schlecht als recht von dem Schlick zu befreien. Er hatte sich schütteln wollen, um den Matsch von sich zu kriegen, dies allerdings wieder eingestellt, als Ranpo meckerte, dass ein Spritzer ihn erwischt hatte. Atsushi war sich bewusst, dass er selbst wahrscheinlich ebenso gerade wie ein Sumpfmonster aussah. Lediglich Ranpo und Dazai sahen noch vorzeigbar aus. „Wir sind in einem Reisfeld gelandet“, stellte der Meisterdetektiv fest und in der Tat, sie standen am Rand eines gefluteten Reisfeldes. Um sie herum befanden sich noch weitere Reisfelder und in der Ferne waren ein paar einfache Hütten zu erkennen. Wo auch immer sie waren – sie waren nicht mehr in Yokohama, so viel war sicher. „Wo sind wir?“ Baff sah sich Atsushi um. Hatte sie jemand aus der Stadt herausteleportiert? Aber wer? Und wohin? Und warum? Die drei Älteren begannen ebenso, sich umzusehen. „Irgendetwas“, begann Kunikida und klang dabei, angesichts der unklaren Lage, in der sie sich befanden, äußerst verstimmt, „ist hier seltsam.“ „Oh nein. Nein. Nein. Nein!“ Ranpos erschrockene Ausrufe wurden mit jedem Nein lauter und sein Blick panischer, was Atsushi in Alarmbereitschaft versetzte und auch Kunikida blickte besorgt zu dem schwarzhaarigen Kollegen. „Ranpo? Was ist? Was hast du?“, hakte der Jüngste der Gruppe nach. „Nein! Nein! Das können die mir nicht antun! Das ist unmenschlich!!“ Mit dieser Antwort konnte Atsushi nichts anfangen. Was versetzte den Meisterdetektiv so in Panik? Hilfesuchend wandte er sich an Dazai. „Was hat Ranpo nur?“ Der Brünette lächelte belustigt, was sowohl Atsushi als auch Kunikida fassungslos machte. Wie konnte Dazai jetzt so lächeln, wenn Ranpo gerade augenscheinlich eine Krise durchmachte? „Ihm wird gerade etwas klar“, antwortete Dazai und klang dabei so, wie er dreinblickte. „Huh?“, machte Atsushi überfordert. „Was wird ihm klar?“ „Das ist nicht lustig, Dazai!“, rief Ranpo erbost aus. „Das ist eine ernste Krise! Nein, eine Katastrophe!“ „Was ist eine ernste Krise?“, fragte nun Kunikida. „Weißt du, was hier los ist?“ „Da mache ich nicht mit.“ Ranpo kreuzte bockig die Arme vor der Brust und zog eine Schnute. „Dazai“, Kunikida fauchte den Kollegen nun an, „sag wenigstens du uns, was hier gerade passiert.“ Der Angesprochene zuckte amüsiert mit den Schultern. „Atsushi, kam dir dieses Surren und Zischen und Flimmern in der Luft nicht bekannt vor?“ „Öh ...“ Er dachte angestrengt nach. „Doch, irgendwo habe ich das schon einmal gesehen … …“ Die Augen des Jungen wurden größer und größer, als ihm einfiel, wann und wo er dies bereits einmal gesehen hatte. „Das kann nicht sein! Wells?? War das ein Zeitportal??“ Erschrocken starrte Kunikida ihn nach dieser Äußerung an. „Ein Zeitportal? Soll das heißen … wir sind durch die Zeit gereist?“ „Sind wir“, erklärte Dazai. „Und ich vermute, wir haben gut eintausend Jahre zurückgelegt.“ Kunikidas Kiefer klappte zum zweiten Mal an diesem Tag nach unten. „Eintausend Jahre?!“ Er blickte sich erneut um. „In die Vergangenheit?!“ „Bei unserer letzten Begegnung wollte Wells die zwei Hofdamen nach Hause geleiten. Es spricht viel dafür, dass wir dieses Mal die Positionen getauscht haben. Nicht die Damen sind bei uns in der Zukunft gelandet, sondern wir bei ihnen in der Vergangenheit.“ Von Dazais Erklärung wurde Atsushi fast schwindelig. Waren sie wirklich durch die Zeit gereist? „Aber … wieso? Ist das etwa wieder ein Fehler von Wells Fähigkeit? Und wo ist der Kerl überhaupt?“ „Tja, da bin ich leider auch nicht schlauer als ihr. Vielleicht hat Ranpo eine Idee, wenn er sich wieder eingekriegt hat.“ „Was ist denn mit ihm?“, hakte Atsushi ein weiteres Mal nach. „Eintausend Jahre!!“, meckerte der Betroffene an dieser Stelle. „Versucht mal, in dieser Zeit ein paar vernünftige Snacks und Süßigkeiten aufzutreiben!! Ich habe nicht einmal einen Vorrat dabei. Ich werde hier elendig verhungern!“ Der silberhaarige Junge fiel beinahe vor Fassungslosigkeit vornüber, als er dies hörte. Das war Ranpos Problem? „Wells … Zeitportale … Zeitreisen … Anomalien ...“, murmelte Kunikida derweil vor sich hin und sah abwechselnd an seinen beiden Armen herunter. „Ich glaube, ich merke schon etwas … da! Oder? Nein, das sieht noch richtig aus … aber das …?“ Kunikida stellte sich neben Dazai und führte seine flache Hand von seinem Kopfscheitel zu dem des verdutzt blinzelnden Kollegen. „Das passt noch ...“, murmelte er weiter. „Oder war der Abstand vorher größer gewesen?“ „Äh“, äußerte Atsushi besorgt. „Kunikida? Ist alles in Ordnung?“ Oder hast du den Verstand verloren?, ergänzte er in Gedanken. „Atsushi“, sagte der Brillenträger streng und mit fester Stimme. „Sehe ich für dich aus wie immer?“ „Häh?“ „Ahh~“, machte Dazai vergnügt, „Kunikida hat Angst, wieder Windeln tragen zu müssen.“ „ÜBER DIESE ANGELEGENHEIT WIRD STILLSCHWEIGEN BEWAHRT!!“, schnaubte der Blondschopf. „Wir müssen zwei Dinge festhalten“, warf Ranpo mit immer noch nörgelnder Stimme ein, „erstens, kann es durchaus passieren, dass wieder Anomalien auftreten und zweitens … werde ich bei keinem von euch die Windeln wechseln.“ Atsushi schluckte. Wenn wieder das gleiche Chaos wie beim letzten Mal ausbrach … dann wäre das wirklich eine Katastrophe. „Die Lage verhält sich allerdings ein wenig anders als beim letzten Mal“, ergänzte Ranpo. „Nun sind wir diejenigen, die selbst eine Anomalie darstellen, so wie es damals die beiden Damen Sei und Murasaki in unserer Zeit waren. Wir gehören schließlich nicht hierher, aber da wir uns in der Vergangenheit befinden, wird es Auswirkungen auf die Gegenwart haben, wenn wir hier einen falschen Schritt machen.“ „Auswirkungen?“ Atsushi sah ängstlich zu dem Meisterdetektiv. „Nehmen wir ein extremes Beispiel“, antwortete dieser. „Angenommen du bringst hier aus Versehen jemanden um. Und dieser jemand ist ein Vorfahre von Kyoka. Dann könnte es passieren, dass Kyoka nie geboren wird.“ „Oder eine Frau, die eigentlich jemand anderen heiraten soll“, schaltete Dazai sich in die Erklärung ein, „verliebt sich hier in dich und plötzlich wirst du nie geboren, weil sie nie mit demjenigen zusammenkommt, mit dem sie eine Familie gründen sollte und derjenige einer deiner Vorfahren war. Und schon ist deine gesamte Existenz ausgelöscht.“ „Au-ausgelöscht?“ Ranpo nickte. „Das waren jetzt extreme Beispiele, aber jede Kleinigkeit, die wir in der Vergangenheit unternehmen, könnte zu einer Veränderung der Gegenwart führen.“ „Das heißt“, warf Kunikida ein, „selbst wenn wir in unsere Zeit zurückkehren, könnte uns dort eine ganz andere Realität erwarten, als die, die wir kennen.“ „So ist es“, bestätigte Ranpo ihm. „Wir müssen sehr vorsichtig sein.“ „Aber Wells ist hier, oder?“, fragte Atsushi. „Dann müssen wir ihn nur schnellstens finden. Vielleicht können wir irgendwo fragen, ob jemand ihn gesehen hat …?“ „Wir sollten mit so wenigen Leuten wie möglich in Berührung kommen“, entgegnete Ranpo. „Allein wie wir aussehen und wie wir sprechen, könnte schon zu Problemen führ-“ Schritte ließen ihn abrupt verstummen. Die vier Detektive drehten sich in die Richtung, aus der die Geräusche kamen und blickten auf zwei jungen Frauen, die mit einfachen, einfarbigen Oberteilen und Hosen aus grob gewebtem Stoff bekleidet und Hacken zur Feldarbeit in den Händen haltend, gerade des Weges kamen. Der Verdacht lag sofort nahe, dass sie zwei Farmerinnen waren, die nach ihren Feldern sehen wollten. Die Frauen blieben erschrocken stehen und starrten auf die aus der ländlichen, altertümlichen Umgebung wie leuchtende Neonreklamen herausstechenden Fremden, die sie nervös anblinzelten. Niemand sagte ein Wort. Man hätte die Luft mit einem Messer zerschneiden können. Atsushi spürte wie der Schweiß vor Anspannung seinen Rücken hinunterlief. Kunikida tropfte derweil immer noch der Schlamm aus seinen langen Haaren. Als wäre ihre fremdartige Kleidung nicht schon auffällig genug, sahen er und der Ältere ja zudem auch noch aus wie Sumpfmonster. Jede Bewegung, die sie machten, jedes Wort, das sie sagten, könnte in eine Katastrophe führen. Sie mussten mehr als vorsichtig sein. Sie mussten mit dem größtmöglichen Feingefühl vorgehe- „EINEN SCHÖNEN GUTEN TAG, MEINE DAMEN!“, rief Ranpo heiter aus und ließ Atsushi zusammenzucken. „Mit einem wahrlich herrlichen Wetter sind wir heute gesegnet, nicht wahr?“, fuhr der Meisterdetektiv fort und der silberhaarige Junge staunte, wie gewählt der Ältere sich plötzlich ausdrückte. „Wir sind Reisende aus dem Ausland und gar unglücklich vom Wege abgekommen“, sprach Ranpo weiter. „Zwei meiner etwas dümmlichen Diener sind zudem in dies Feld hier gefallen.“ Dümmliche Diener?, schoss es Atsushi durch den Kopf. Na ja, Ranpo hatte ihnen allen schon schlimmere Namen gegeben. Aber ob die Frauen ihnen diese Geschichte von Reisenden aus dem Ausland wirklich abkaufen würden? Die Farmerinnen blinzelten Ranpo und schließlich die anderen drei mit großen Augen an, was Atsushi ein verzweifeltes Grinsen entlockte. Kunikida stand wie vom Donner gerührt da und traute sich nicht, auch nur ein Wort zu sagen, während Dazai einfach nervös lächelte. „Aus dem Ausland?“, fragte eine der beiden schließlich und etwas eingeschüchtert klingend. „Seid Ihr ein Gast des Kaisers?“ „Oh ja!“, erwiderte Ranpo voller Überzeugung. „Der Kaiser persönlich hat mich und mein Gefolge eingeladen.“ Die Frauen zogen vor Verwunderung scharf die Luft ein. Dass ihnen hier draußen auf dem Land eine solch wichtige Person begegnen würde! Nie im Leben hätten sie das für möglich gehalten. Schnell senkten sie ihre Köpfe und verbeugten sich tief, um dem fremdländischen jungen Mann Respekt zu zollen. Hielten sie Ranpo etwa für einen Adligen? Atsushi wusste nicht, ob das seinem Ego nicht noch mehr Rückenwind verleihen würde. „Würden die Damen mir verraten, wie weit es noch bis zur Hauptstadt ist?“ „Zu Fuß ist es von hier in weniger als einem halben Tag zu schaffen“, antwortete die andere Frau und zeigte, ohne ihre untertänige Haltung aufzugeben, in die Richtung, aus der sie und ihre Begleiterin gekommen waren. „Sagt, wo ist denn Euer Wagen? Ihr seid doch sicherlich nicht zu Fuß unterwegs?“ „Gewiss nicht.“ Ranpo schüttelte den Kopf. „Meine Diener tragen mich.“ „Atsushi, dein Stichwort“, zischte Dazai ihm leise zu und der Junge stutzte kurz, ehe er zögerlich zu Ranpo ging, sich zaghaft vor ihm verneigte und rücklings vor ihm niederkniete. Eine Sekunde später hatte er sich den Älteren auf den Rücken geladen. „Ich bedanke mich für die Auskunft“, sagte Ranpo den verdattert dreinblickenden Frauen. „Dienerschaft, wir gehen!“ Dazai winkte den Damen im Vorbeigehen noch zu, bevor sie sich von den beiden entfernten. Erst nachdem sie die Felder weit hinter sich gelassen hatten und den vor ihnen liegenden Weg so weit überblicken konnten, dass sie sich sicher sein konnten, niemandem zu begegnen, atmete Kunikida aus. „Hast du etwa bis jetzt die Luft angehalten?“, fragte Dazai erstaunt. „Ich …“, keuchte Kunikida, „ich dachte … ich sterbe vor Anspannung. War das nicht bereits zu gefährlich? Aus welchem Land sollen wir bitte sein? So wie wir gekleidet sind und in dem es normal ist, dass jemand sich huckepack fortbewegt?“ „Ganz ruhig, Kunikida“, wandte Ranpo, immer noch auf Atsushis Rücken verharrend, ein. „Du musst bedenken, dass das einfache Landvolk kaum Zugang zu Bildung hatte. Sie werden nicht überprüfen, ob unsere Geschichte stimmt und selbst wenn sie anderen von uns erzählen, wird das nicht mehr als ein verwundertes 'Oh' bei ihnen auslösen. Und immerhin wissen wir jetzt, wo wir sind, was meine anfängliche Theorie bestätigt.“ „Und“, warf Atsushi ein, „wo sind wir?“ „In der Nähe der Hauptstadt“, antwortete Ranpo knapp. „Tokyo?“ „Kyoto.“ Der Schwarzhaarige stöhnte angesichts seiner Bemerkung. Was war der Junge mal wieder schwer von Begriff! „Du denkst, sie hätten uns mit Absicht hergeholt?“, fragte Dazai und der Meisterdetektiv nickte. „Es sieht ganz danach aus, aber unser Freund Wells hat wahrscheinlich mal wieder seine Fähigkeit nicht ganz unter Kontrolle.“ „Absicht?“, hakte Kunikida perplex nach. „Wer soll uns mit Absicht hergeholt haben?“ „Sei und Murasaki“, erläuterte Ranpo, als wäre es selbstverständlich. „Wenn die zwei Hofdamen in ihrer Zeit ein Problem hätten und Wells immer noch in dieser Epoche herumlungert, dann kämen sie mit Sicherheit auf die Idee, uns mit seiner Hilfe herzubeordern.“ Atsushi versuchte, das gerade Erfahrene zu verarbeiten. „Wie bist du so schnell darauf gekommen, dass wir in der Nähe von Kyoto sind?“ „Die Frauen fragten direkt, ob wir Gäste des Kaisers seien, also kann der Kaiserpalast nicht allzu weit weg sein.“ „Das … das heißt ...“, Atsushi wurde ganz nervös bei dem Gedanken, „wir gehen jetzt zum Kaiser??“ Ein lautes, meckerndes Stöhnen hallte durch das alte Japan. Der silberhaarige Junge konnte es zwar nicht sehen, aber er spürte geradezu, wie Ranpo mit den Augen rollte. „Natürlich nicht! Wir können doch nicht einfach in den Palast latschen! Glaubst du, man kann da einfach gegen ein Eingangstor klopfen und die lassen einen rein? Wir suchen selbstverständlich Wells, der wird sich in Kyoto herumtreiben und zwar sehr wahrscheinlich in der Nähe des Kaiserhofs, um Kontakt zu Sei und Murasaki zu halten.“ „Ja, selbstverständlich“, murmelte Atsushi entschuldigend, „aber sag mal, Ranpo?“ „Was denn noch?“ „Wo hast du denn gelernt, dich auszudrücken wie ein Adliger aus der Antike?“ „Das hat mich auch schon gewundert“, warf Kunikida ein. „Pfffff“, machte der Meisterdetektiv müde, „der Chef war früher der Meinung, ich hätte zu wenig klassische Bildung erhalten und mich dazu gezwungen, irgendwelche uralten Schinken zu lesen.“ „Gut für uns“, sagte Dazai laut und fügte in einem leiseren Ton zu dem neben ihm gehenden Kunikida hinzu: „Schlecht für uns ist allerdings, dass Ranpo so langsam unterzuckert klingt.“ „Sehr schlecht für uns.“ Kunikida warf zum wiederholten Mal einen prüfenden Blick auf die Länge seiner Arme und obwohl zu seiner Erleichterung dort immer noch alles nach der richtigen Größe aussah, seufzte er schwermütig. „Ich habe nur irgendwie so ein Gefühl, dass das nicht unser einziges Problem bleiben wird.“ Kapitel 2: Neue Kleider ----------------------- „Wie bitte?!“ Yosano starrte wie Kyoka, Tanizaki und Naomi den Chef mit großen Augen an, nachdem dieser allein in die Detektei zurückgekehrt war. „Ranpo, Dazai, Kunikida und Atsushi sind von diesem britischen Befähigten verschleppt worden?“ „So sah es aus.“ Fukuzawa atmete aus. „Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass er dies mit böser Absicht getan hat.“ „Moment“, warf Tanizaki alarmiert ein, „was heißt denn das jetzt genau? Sind die anderen in einer anderen Zeit?“ „Davon ist auszugehen“, antwortete Fukuzawa so ruhig wie es ihm möglich war. Wenn er nur daran dachte, was diese Zeitreise-Geschichte das letzte Mal angerichtet hatte …. Hoffentlich würde nicht erneut ein solches Chaos ausbrechen. Zeitanomalien waren ein Gegner, gegen den sie nicht viel ausrichten konnten. Genau genommen gar nichts. „Was sollen wir jetzt tun?“, fragte Kyoka ernst und hörbar beunruhigt. „Wie sollen wir sie zurückholen?“ „Sie werden einen Weg finden“, entgegnete der Chef entschlossen. „Ich gehe davon aus, dass Wells sie aus einem bestimmten Grund zu sich geholt hat und sie wieder zurückkehren werden, wenn das Problem gelöst ist.“ Es tat ihm selbst leid, dass dies alles war, was er Kyoka in diesem Moment als Trost anbieten konnte. Ihr gesenkter Blick machte offensichtlich, dass dies ihre Sorge um Atsushi nicht vollends beruhigte. „Ich will ja nicht den Teufel an die Wand malen“, sagte Yosano, „aber ihr erinnert euch, was das letzte Mal passiert ist, als wir es mit diesem zeitreisenden Nervenbündel zu tun hatten?“ Bei diesen Worten klammerte Naomi sich sofort panisch an ihren Bruder. „Werden wir wieder verschwinden oder andere vergessen? Du vergisst mich doch nicht, oder Bruderherz? Versprich es mir!“ „N-natürlich werde ich dich nicht vergessen, Naomi“, entgegnete Tanizaki und wurde in Anbetracht der Anschmiegsamkeit seiner Schwester rot. „Aber vielleicht passiert gar nichts. Das letzte Mal hatte Wells die Zeit in der Gegenwart zu manipulieren versucht, aber wenn er dieses Mal in einer ganz anderen Zeit ist, dann sind wir doch vielleicht gar nicht davon betroffen, oder?“ „Es ist unklar, in welche Zeit sie gereist sind“, erwiderte Fukuzawa. „Wenn sie sich in der Vergangenheit aufhalten, wäre allein das schon eine Anomalie und könnte unser Raum-Zeit-Gefüge durcheinander bringen. Im schlimmsten Fall könnten sie durch eine Unachtsamkeit sogar den Lauf der Geschichte verändern.“ Er schluckte die besorgniserregende Vorstellung von einem durch die Vergangenheit tapsenden Ranpo herunter. „Wir müssen sehr wachsam sein und darauf achten, ob etwas Ungewöhnliches in der Stadt vorfällt.“ Die anderen nickten und Kyoka blickte bekümmert zu Atsushis nun leerem Platz. „Ich habe Angst, ihn zu vergessen“, sagte sie leise und entlockte Yosano damit ein ungewohnt mitfühlendes Lächeln. „Irgendetwas sagt mir, dass du ihn ganz bestimmt nicht vergessen wirst.“ „Ich hoffe wirklich, dass sie bald wiederkommen.“ Tanizaki seufzte angespannt. „Bevor wirklich wieder alles drunter und drüber geht und verrückte Dinge mit uns gesche-“ In diesem Moment ging die Tür auf und Kenji, der angestrengt an den Trägern seiner Latzhose zerrte, trat ein. „Ich weiß nicht, was plötzlich los ist. Die Träger fingen mit einem Mal an so einzuschneiden, das ist richtig unangenehm … huh?“ Er blickte auf und hielt inne, als er bemerkte, dass die anderen ihn entsetzt anstarrten. „Was ist denn hier los? Warum guckt ihr mich so komisch an? Hab ich noch Gartenerde im Gesicht?“ „K-kenji …“, stammelte Tanizaki erschüttert, „f-fühlst du dich gut?“ „Ja, wieso? Nur meine Hose passt plötzlich nicht mehr richtig“, antwortete der Angesprochene arglos und bemerkte seine tiefer gewordene Stimme selbst offenbar überhaupt nicht. „Wieso seht ihr alle aus, als hättet ihr einen Geist gesehen?“ „Weil du … weil du ...“ Als Tanizaki es nicht schaffte, den Satz zu Ende zu bringen und Kyoka und Naomi Kenji nur weiterhin mit offenem Mund anstarrten, schritt Fukuzawa zu dem blonden Jüngeren und sah ihm direkt in die Augen – ohne sich dafür herunter beugen zu müssen. Immer noch ahnungslos blinzelte der Junge, der eigentlich 14 Jahre alt sein sollte, nun aber um mindestens zehn Jahre gealtert aussah und fast so groß war wie Fukuzawa, den Älteren an. „Yosano“, der Chef dreht sich wieder zu der Ärztin um, „sieh dir das bitte an.“ „Mach ich.“ Yosano schüttelte ihre eigene Schockstarre ab, ging zu Kenji und klopfte ihm auf die breite Schulter. „Kunikida bewahrt immer Wechselkleidung im Büro auf. Die könnte dir vielleicht noch passen.“ „Huh?“, machte Kenji ein weiteres Mal, als Yosano ihn mit ins Krankenzimmer nahm und ihm langsam zu dämmern anfing, dass weder der Chef noch Yosano plötzlich kleiner geworden waren, sondern er einen enormen Wachstumsschub hingelegt hatte. „Ich hoffe wirklich, dass sie bald, sehr bald wiederkommen“, wiederholte Tanizaki und griff ängstlich nach einer Hand seiner Schwester.   „Wenn Tanizaki hier wäre“, begann Atsushi und versuchte, so gut es ihm möglich war, den inzwischen in seinem Gesicht festgebackenen Schlamm mit dem Wasser aus dem Fluss, in dem er und Kunikida gerade standen, abzuwaschen. „Wenn er hier wäre, könnten wir uns einfach mithilfe des Pulverschnees verstecken und so in die Stadt kommen.“ „Das würde uns nur bedingt helfen.“ Kunikida schmiss sich abermals eine großzügige Ladung Wasser ins Gesicht und erreichte damit noch weniger als Atsushi mit seiner Katzenwäsche. „Auch Tanizaki kann seine Fähigkeit nicht ohne Unterlass einsetzen. Wir könnten so zwar ungesehen in die Stadt kommen, aber wenn er seine Fähigkeit auflösen müsste, stünden wir vor dem gleichen Problem wie jetzt.“ „Ich kann immer noch nicht fassen, dass wir in der Vergangenheit sind.“ Atsushi blickte zum Abendhimmel hoch, an dem langsam die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Sie hatten den direkten Weg nach Kyoto fluchtartig verlassen, als ihnen andere Reisende auf dem Pfad entgegengekommen waren. Nun machten sie Halt an einem Fluss, in dem er und Kunikida sich zumindest den gröbsten Dreck abzuwaschen versuchten, während Ranpo dösend am Ufer im Gras lag und Dazai dort neben ihm saß und gedankenverloren auf das Wasser blickte. Es war Dazai gewesen, der das Rauschen des Flusses aus der Entfernung gehört hatte und sowohl Atsushi als auch Kunikida waren sichtlich froh gewesen, dass das Wasser an der Stelle, wo sie sich befanden, lediglich seichter Natur war. „Ranpo?“, fragte der Junge vorsichtig, da die Laune des Meisterdetektivs mit sinkendem Blutzuckerspiegel ebenso weiter sank. „Wie weit ist es noch bis Kyoto?“ „Bin ich ein antikes Navigationsgerät?“, grummelte der Angesprochene unzufrieden und ohne die Augen zu öffnen. „Du bist von uns derjenige, der sich mit dieser Epoche am besten auskennt“, entgegnete Kunikida. „Ich muss zu meinem Bedauern eingestehen, dass ich nur sehr wenig über das alte Japan weiß.“ „Und natürlich muss ich wieder eure Unzulänglichkeiten ausbaden!“ „Ich verspreche dir, ich werde mich überaus erkenntlich zeigen, wenn wir wieder zu Hause sind“, beschwichtigte der Brillenträger ihn. „Ich werde dir so viel zu essen kaufen, wie du nur willst.“ „Hmpf“, machte der Schwarzhaarige und rollte sich unbeeindruckt zur Seite. Kunikida seufzte. Außer dem Chef gelang es selten einem von ihnen Ranpo zu etwas zu überreden. „Dazai, kennst du dich mit Geschichte aus? Kannst du irgendetwas Brauchbares beitragen?“ „Hmm, mal überlegen …“ Der Brünette tippelte mit einem Zeigefinger auf sein Kinn. „Ich weiß, dass Seppuku seine Anfänge in dieser Epoche hat.“ „DAS HEISST DANN WOHL NEIN!“, schnaubte Kunikida und stapfte mit wütenden Schritten aus dem Wasser, sodass es richtig laut platschte. Mit sehr viel leiseren Bewegungen folgte Atsushi ihm an Land und kniete sich neben Ranpo in das Gras. „Ranpo“, sagte er behutsam, „wir wollen doch alle schnell wieder nach Hause. Aber das geht nur, wenn du uns anführst.“ „Ich weiß, dass ihr ohne mich verloren seid“, murmelte der Älteste der Gruppe schmollend. Nun war es Atsushi, der seufzte. Hilflos blickte er zu den beiden anderen. „Der arme Chef“, sagte Dazai da plötzlich, „er wird einen ziemlichen Schrecken bekommen haben, als wir vor seinen Augen verschwunden sind.“ Seine Worte ließen Atsushi und Kunikida stutzen. „Er zeigt es vor uns ja nie, aber ...“, Dazai machte eine theatralische Pause, „er macht sich bestimmt fürchterliche Sorgen. Hoffentlich gibt er sich nicht die Schuld für unser Verschwinden. Na, so wie ich ihn kenne, wird er das bestimmt. Und dann leidet er im Stillen, ohne dass jemand da ist, der ihn aufheitern kann. So viel Gram muss selbst für jemanden wie ihn kaum zu ertragen sei-“ „Jajajaja“, unterbrach Ranpo ihn angesäuert und setzte sich mit einem Mal auf. „Du beleidigst mich mit diesem schlechten Manipulationsversuch.“ „Ich würde dich nie zu manipulieren versuchen“, beteuerte Dazai. „Ich weiß, dass du dafür zu schlau bist. Im Gegensatz zu manch anderem.“ Er tätschelte beiläufig und vergnügt Kunikidas Kopf. „Irgendwann werde ich dich-“, knurrte der Blondschopf, aber Ranpo fiel ihm ins Wort. „Konzentration, Kunikida, wir müssen hier weitermachen, um wieder nach Hause zu kommen.“ „Eh?“, stutzte der Zurechtgewiesene angesichts des plötzliche wiedergekehrten Elans des Meisterdetektivs und fügte kleinlaut hinzu: „Entschuldigung.“ „Es dürfte nicht mehr weit sein bis in die Stadt“, erklärte Ranpo, „das heißt, wir müssen uns jetzt andere Kleidung besorgen. Die Bevölkerung, die in der Stadt wohnt, weiß eher wie ausländische Delegierte aussehen und würde sofort Verdacht schöpfen, wenn sie uns sehen. Kyoto hat keine Stadtmauern und wir können den Schutz der Nacht nutzen, um möglichst ungesehen zu bleiben, wenn wir uns bis zum Stadtzentrum vorarbeiten, verstanden?“ „Verstanden!“ Atsushi nickte, heilfroh, dass Ranpo wieder das Kommando übernommen hatte. „Aber wo sollen wir uns andere Kleidung besorgen? Wir haben schließlich gar kein Geld …“ „Das erkläre ich euch unterwegs. Auch wenn die Lösung Kunikida nicht gefallen wird …“   Die Lösung gefiel Kunikida nicht. Ganz und gar nicht. Und auch Atsushi hatte massive Bedenken, was den Plan betraf. Inzwischen war es Nacht und zum ersten Mal seit Atsushi in Yokohama lebte, wurde es ihm wieder bewusst, wie dunkel es abseits einer großen Stadt in der Nacht doch werden konnte. Ranpo hatte Recht gehabt. Es war nicht mehr weit gewesen, bis sie an den Stadtrand der alten Hauptstadt gelangt waren. Hier waren immer noch vereinzelt Reisfelder und anders bewirtschaftete Felder, doch die Gebäude, einfache Hütten aus Holz, Lehm, Stroh und Bambus, standen schon enger beieinander und in der Ferne konnte man im faden Schein einiger dort brennender Fackeln erkennen, dass die Häuserdichte sogar noch zunahm. „Das ist unmoralisch. Im höchsten Grade unmoralisch“, schimpfte Kunikida leise. „Und es überrascht mich überhaupt nicht, dass du kein Problem damit hast.“ Der letzte Teil des Satzes war an niemand Geringeren als Dazai gerichtet, der sich gerade eine draußen vor einem Haus zum Trocknen aufgehängte Hose von einer Wäscheleine fischte. „Wäre es nicht unmoralischer, wenn ich ohne Kleidung herumlaufen würde?“, gab der Brünette süffisant grinsend und bereits ein Oberteil in der Hand haltend zurück, bevor er sich an Ort und Stelle umzuziehen begann. Durch die Verbände am ganzen Körper war Dazai sowieso nie wirklich unbekleidet. „U-und wenn all die Leute, denen wir gerade ihre Sachen von der Wäscheleine stehlen, deswegen in der Zukunft Probleme haben werden? Und dann die Gegenwart deswegen verändert wird?“ Atsushi bibberte bei diesem Gedanken vor Angst. „Das ist ein Risiko, das wir eingehen müssen“, erwiderte Ranpo, der sich schon mit neuer Kleidung, bestehend aus einem schmucklosen, dunkelgrünen Kosode-Kurzarm-Kimono und einer ebenso einfachen Hose in der gleichen Farbe darüber, eingedeckt hatte. „Wir nehmen immerhin absichtlich Kleidungsstücke von verschiedenen Haushalten, um nicht einer Familie einen großen Schaden zuzufügen.“ „Du könntest versuchen, dir die Lage der Häuser einzuprägen“, schlug Dazai Kunikida vor und band sich mit dem dazugehörenden Gürtel seine geklaute Hose zu, „und wenn wir wieder in unserer Zeit sind, entschädigst du die Nachkommen der Geschädigten für unseren Diebstahl. Wofür bist du denn sonst ein Detektiv? Tada~! Wie sehe ich aus?“ „Wie ein Dieb“, kommentierte Kunikida trocken, während Dazai stolz sein Outfit präsentierte, das genauso aussah wie Ranpos, nur in einem dunklen Blau. Immerhin schaffte Dazai es, seine Verbände zumindest zu einem Teil unter seiner Kleidung zu verstecken. Auch moderne Mullverbände stachen hier heraus wie ein bunter Hund, aber alle wussten, dass es keinen Sinn machte, den Brünetten zu fragen, ob er sie abnehmen würde. Schweren Herzens nahmen auch die beiden anderen Detektive sich draußen hängende Kleidungsstücke und zogen sich um. Atsushi seufzte, als er im faden Licht seines Handydisplays an sich herunterblickte. Seine Kosode-samt-Hosen-Kombination hatte eine gräuliche Farbe, die ihn nur allzu schmerzlich an die Kleidung aus dem Waisenhaus erinnerte. Einen Moment später verschwand das Mobiltelefon aus seiner Hand, als hätte es sich in Luft aufgelöst. „Ich hoffe, das wird nicht mit allen Dingen passieren, die eigentlich nicht in diese Zeit gehören“, bemerkte Kunikida (nun in einen beigefarbenen Kimono – er wollte den Leuten wenigstens die Hose lassen - gekleidet) sorgenvoll, als er sein Notizbuch unter sein neues Gewand schob. „Für die meisten unserer Habseligkeiten wird es besser sein, wenn sie verschwinden, denn wenn sie hier jemandem in die Hände fallen, wird das bestimmt katastrophale Auswirkungen haben.“ Ranpo blickte mit wehmütiger Miene auf seinen wertvollsten Schatz – seine Brille -, ehe er sie unter seinem Oberteil versteckte. „Kunikida, deine Brille muss weg“, fügte er resolut hinzu, „du darfst erst in zirka 500 Jahren damit hier herumlaufen.“ „Aber ich brauche sie, um zu-“ Er stockte, als Dazai seine Hand nahm und diese tätschelte. „Ich werde dich führen!“ „Höchstens ins Verderben“, konterte der Blonde und zog seine Brille aus, um sie ebenso unter seinen Kimono zu schieben. „Was machen wir mit unserer alten Kleidung?“ „Verbrennen“, antwortete Ranpo kurz und knapp, bevor sie abseits der Häuser, bei denen sie auf Diebestour gegangen waren, genau dies taten und sich endlich in das Zentrum der alten Hauptstadt aufmachten.   Atsushi war heilfroh, dass irgendeiner der „alten Schinken“, zu deren Lektüre Fukuzawa Ranpo gezwungen hatte, wohl auch eine schematische Zeichnung der Straßen des antiken Kyotos beinhaltet hatte, denn Ranpo navigierte sie trotz der Dunkelheit und allen widrigen Umständen auf direktem Weg in das Herz der Stadt. Die Sonne ging langsam auf und das alte Kyoto erwachte zum Leben. Händler und Handwerker stürmten an ihnen vorbei, ein Tross edel aussehender Leute passierte sie in mehreren genauso edel aussehenden und von Ochsen gezogenen Wagen, selbst eine Prozession von Shinto-Priestern kreuzte ihren Weg und Atsushi konnte nichts anderes tun, als über dies alles zu staunen. Wie groß die Stadt damals schon war! Wie viele Leute hier lebten! Die Gebäude waren alle so ungewohnt klein und niedrig und bestanden fast ausnahmslos aus einfachen Holzbauten mit Strohdächern. Ein nicht gerade angenehmer Geruch waberte durch die Stadt. So wie es nun einmal roch, wenn man kein fließendes Wasser hatte, dachte Atsushi pragmatisch. Im Waisenhaus hatte es auch manchmal streng gerochen, wenn auch nicht ganz so beißend wie hier. Die Straßen selbst waren mehr holprige, staubige Trampelpfade als Straßen im modernen Sinne, aber hin und wieder erblickte er im Vorbeigehen einen berühmten Schrein oder Tempel, die genauso beeindruckend aussahen, wie er sie einmal in einem Buch gesehen hatte. „Konzentration, Atsushi!“, rüffelte Ranpo ihn, als der Junge mit offenem Mund in der Gegend umherguckte und Kunikida fast in ihn hineingerannt war. „Ich habe keine Lust, dich noch suchen gehen zu müssen, falls du uns hier verloren gehst.“ „E-entschuldigung!“ „Kunikida, halt dich an Atsushi fest, ich habe auch keine Lust, dich suchen zu gehen“, befahl der Älteste der vier meckernd. „Ab hier wird die Menschenmenge noch dichter, daher bleibt zusammen.“ „Du bist der geborene Anführer, Ranpo“, flachste Dazai und besah sich die zunehmenden Menschenmassen. „Ist das hier ein Markt?“ „Ja“, erwiderte Ranpo, „wir müssten uns auf dem Westlichen Markt befinden, wenn wir diesen überqueren …“ Ein tiefer Seufzer und etwas, das fast wie ein Jaulen klang, entwich ihm. „Ist alles in Ordnung?“, hakte Atsushi besorgt nach. „Neein! Natürlich nicht!“ „Oje.“ Dazai zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, die Waren, die hier herumliegen, erinnern Ranpo geraden schmerzlich daran, dass er Hunger hat.“ Der Erwähnte gab ein zustimmendes Grummeln von sich. Kunikida schüttelte den Kopf, während er eine Hand auf Atsushis Schulter legte, damit tatsächlich keiner von beiden verloren ging. „Tut mir leid. Wir haben kein Geld und wir werden ganz sicher nicht auch noch Lebensmittel stehlen.“ „Du bist grausam, Kunikida! Grausam!!“, empörte Ranpo sich und ließ damit Schweißtropfen auf der Stirn des Beschimpften entstehen. „Es tut mir ehrlich leid, Ranpo“, entschuldigte der Blondschopf sich hastig, „aber das geht nun wirklich nicht. Und bitte schreie nicht so, wir dürfen keine Aufmerksamkeit erregen …“ Nervös sah er sich um und in der Tat blickten die ersten Leute bereits mit fragendem Blick zu der kleinen Gruppe. „Ich brauche etwas Süßes, dringend! Sonst gehe ich keinen Schritt weiter!“ Prompt blieb er stehen. „Bitte, sei vernünftig“, bat Kunikida ihn, „und leise.“ „Wir könnten Atsushi verkaufen!“, schlug Ranpo, den Einwand ignorierend, vor. „W-was??“ Der Junge zuckte erschrocken zusammen. „Wir werden niemanden verkaufen!“ Kunikida stöhnte laut und massierte sich mit zwei Fingern gestresst die Schläfen. Wie machte der Chef dies nur? Wie konnte man Ranpo unter Kontrolle bekommen? „Ich bewege mich hier nicht weg, bevor ich nicht etwas zu essen bekommen habe!“ „Ranpo, bitte“, flehte nun auch Atsushi. „Nö!“ „Das ist buchstäblich nicht die Zeit für so ein kindisches Verhalten!“, schimpfte Kunikida lautstark und ungewohnt harsch gegenüber dem Meisterdetektiv klingend. „Erinnert ihr euch daran, wie wir keine Aufmerksamkeit erregen wollten?“ Dazai lachte nervös. „Das hat nicht so gut geklappt.“ Dutzende Leute waren inzwischen stehen geblieben, starrten sie an und tuschelten laut. Einige Passanten, deren seidige, mehrlagige Kleidung verriet, dass sie zu einer höher gestellten Klasse gehörten, entrüsteten sich lautstark über das niedere Bauernvolk, das mitten in der Stadt so einen Tumult verursachte. Und sich dabei auch noch so unflätig ausdrückte! „Sollte man nicht ein paar Wachen herbeiholen, ehe sie noch weitere Scherereien machen?“ Bei diesen Worten schluckte Kunikida, drückte Atsushis Schulter und raunte Dazai zu, sich Ranpo zu schnappen. In Windeseile türmten sie vom Markt. „Folgt uns jemand??“, fragte Atsushi atemlos und warf wie die anderen, während sie rannten, einen Blick zurück, um postwendend mit voller Wucht in einen anderen Mann hineinzukrachen, der genau wie er und Kunikida mit einem lauten Knall auf den Boden donnerte. „Ouch!“, zeterte der Mann und fasste sich an seine sehr kurzen, braunen Haare. „Typisch mein Glück mal wie-“ Er zog dramatisch die Luft ein, als er sah, wer da in ihn hineingelaufen war. Atsushi schüttelte seinen Kopf, um sich von dem Aufprall zu erholen und riss entsetzt die Augen auf, als er bemerkte, in wen er da hineingedonnert war. „Herr Wells?!“ Kapitel 3: Unverhoffte Begegnungen ---------------------------------- „Chef, Yosano lässt Ihnen ausrichten, dass- ah!“ Haruno japste erschrocken, nachdem sie das Büro des Chefs betreten hatte. „Stimmt etwas nicht?“ Fukuzawa bereute die Frage gleich, als sie seine Lippen verlassen hatte. In Anbetracht der Umstände, in der sie sich mal wieder befanden, stimmte mit absoluter Sicherheit etwas nicht. Haruno zog flugs einen kleinen Taschenspiegel aus ihrer Rocktasche, klappte ihn auf und hielt ihn dem Mann vor sich hin. Fukuzawa unterdrückte ein Seufzen, als er sein Spiegelbild sah. Die Falten der letzten Jahre waren allesamt verschwunden und selbst seine Haare waren wieder kürzer geworden. „Sie werden jünger“, stellte Haruno besorgt fest. Der Chef antwortete darauf mit einem minimalistischen Kopfschütteln. „Immerhin scheint es langsamer fortzuschreiten als beim letzten Mal.“ Er erinnerte sich ungern daran, wie er damals von seinem gewohnten Alter von Mitte 40 in weniger als einer Sekunde um gut 30 Jahre zurückgeworfen worden war. Verglichen damit war das hier ja beinahe harmlos. „Was solltest du mir von Yosano ausrichten?“ „Hm? Ah, ja!“ Die Sekretärin schreckte zusammen, als sie bemerkte, dass sie ihren Chef vielleicht etwas zu intensiv angestarrt hatte. „Yosano sagte, dass der Alterungsprozess bei Kenji im Moment gemäßigt voranschreitet. Aber auch wenn kein weiterer so großer Sprung erfolgt, könnte er bereits übermorgen ein sehr alter Mann sein.“ „Bereits übermorgen also?“ Ihm entwich ein leises Seufzen. Das war nicht viel Zeit und sie konnten nicht mehr tun, als darauf zu vertrauen, dass Ranpo und die anderen dieses Problem für sie lösten. Zumindest war in der Stadt bislang das erwartete Chaos ausgeblieben, was Fukuzawa wiederum wunderte. Wieso trafen die Anomalien dieses Mal nur sie? Weil die vier, die sich - seiner Vermutung nach - in der Vergangenheit aufhielten, zur Detektei gehörten? Es brachte nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Zeitreisen waren ein Eingriff in die logischen Zusammenhänge von Ursache und Wirkung und es musste Wells doch klar sein, was er damit anzurichten drohte. War es ein Fehler gewesen, den Briten damals einfach gehen zu lassen? Aber Fukuzawa hatte angenommen, dass Wells die Gefahr seiner Fähigkeit verstanden hätte. „Sie werden das schaffen, ganz bestimmt“, unterbrach Haruno aufmunternd seine Gedanken. „Es sind genau die richtigen bewaffneten Detektive an diesem Fall dran.“ Die positiven Worte der jungen Frau nahmen ein wenig die Anspannung aus den Gesichtszügen des Chefs. „Du hast Recht.“ Die Sekretärin hatte gerade noch Zeit, sich über die Zustimmung ihres Gegenübers zu freuen, als plötzlich der Taschenspiegel, den sie in der Hand gehalten hatte, zu Boden fiel. Haruno war verschwunden. Perplex blickte Fukuzawa auf die Stelle, an der sie gerade noch gestanden hatte, bevor er zur Tür hinausrauschte und zu dem Raum eilte, in dem die anderen Detektive ihr Büro hatten. Alle sahen aufmerksam zu ihm, als er hineinkam und sie gedanklich durchzählte. Yosano wachte mit Argusaugen über Kenji, der in Kunikidas Kleidung an seinem Schreibtisch saß und lustlos mit einem Finger in der Erde einer seiner Topfpflanzen herumstocherte. Kenji war jetzt wahrscheinlich so um die 30 Jahre alt – äußerlich. Hin und wieder kratzte er sich mit ungewohnt verdrossener Miene über seine Wangen, die ein dezenter Bartwuchs zierte. Sein Gesicht sah insgesamt kantiger aus und seine gesamte Statur war um einiges kräftiger geworden. Kunikidas Hemd und Hose passten ihm gerade so. Tanizaki und Naomi behielten die Nachrichten im Blick. Abwechselnd prüften sie die Fernsehkanäle und Nachrichtenseiten im Internet, um zu sehen, ob es doch irgendwo zu Vorfällen kam. Kyoka war damit beschäftigt, mehrere kleine Notizzettel zu beschriften und auf Atsushis Schreibtisch zu kleben. „Atsushi Nakajima“ las Fukuzawa auf einem Zettel, als er näher herantrat. „18 Jahre alt“ stand auf einem weiteren, „Silbergraues Haar, asymmetrischer Pony“ auf dem nächsten. Und schließlich: „Mag Chazuke.“ Erleichtert atmete Fukuzawa aus. Die anderen waren alle noch da. „Ist alles in Ordnung, Chef?“, fragte Yosano, die Verjüngung des Vorgesetzten sogleich mit einem mulmigen Gefühl bemerkend. „Gerade eben ist Ha- …“ Er stutzte. Vor etwas mehr als einer Minute hatte er doch noch mit ihr geredet und nun fiel ihm bereits ihr Name nicht mehr ein? Er hatte ein Déjà-vu. Hatte er sie nicht schon einmal vergessen? „Meine Sekretärin … sie ist verschwunden.“ „Haruno ist weg?“ Naomi sprang alarmiert von ihrem Platz auf. „Haruno?“, hakte Kenji nach und drehte sich zum Chef um. „Wer ist das?“ „Oje“, äußerte Yosano und fasste sich angespannt an den Kopf, „ich weiß, dass hier mal jemand mit diesem Namen gearbeitet hat, aber ich kann mich kaum noch an sie erinnern.“ „Ihr habt alle Haruno vergessen?“ Naomi nahm dies augenscheinlich sehr mit. „Ich glaube, ich weiß noch, wie sie in etwa aussah“, erwiderte Kyoka, „aber es ist wahr. Die Erinnerung an sie verblasst zunehmend.“ Mit beklommener Miene blickte das Mädchen zu ihren Notizzetteln. „Tanizaki, was ist mit dir? Kannst du dich noch an sie erinnern?“, wandte sich Fukuzawa an den Rothaarigen – der plötzlich nicht mehr auf seinem Platz saß und auch sonst nirgends zu sehen war. „Tanizaki?“ Naomi blinzelte den Chef mit großen Augen an. „Seit wann nennen Sie mich bei meinem Nachnamen?“ Die restlichen Detektive blickten voller Entsetzen zu der Schülerin. Das konnte nicht sein … oder? „Ich meinte deinen Bruder“, entgegnete Fukuzawa und selbst ihm konnte man den Schock ansehen. „Meinen Bruder?“ Naomi schüttelte skeptisch den Kopf. „Ich habe keinen Bruder.“ „Junichiro“, wandte Yosano ein, „kennst du niemanden mit dem Namen Junichiro?“ Erneut schüttelte die junge Frau den Kopf. „Nein … wer soll das sein?“ Aus dem Augenwinkel konnte Fukuzawa sehen, wie Kyoka panisch weitere Notizzettel beschriftete.   „Herr Wells?!“ Atsushi traute seinen Augen kaum. Wells hingegen, der zeitgemäße, edel aussehende, weite Hosen in Blau und ein ebenso hochwertiges Oberteil in Orange trug (was ihn aussehen ließ wie einen Adligen), klappte ungläubig der Kiefer nach unten, als er den Jungen erblickte und seine Augen zu Kunikida und Dazai wanderten. „Was machen Sie denn alle hier??“ „Wie?“, entfuhr es Atsushi verblüfft. „Sie haben uns doch hergeholt, oder etwa nicht?“ „Ja, nein, ich meine … nicht wirklich, ich meine-“ „Beruhigen Sie sich erst einmal.“ Selbst Dazai stutzte. War hier mal wieder etwas schief gegangen? Der nervöse Brite atmete einmal tief ein und wieder aus. „Ich wollte eigentlich nur Herrn Edo-“ „RANPO!“, ertönte da erfreut eine weibliche Stimme hinter Wells. „Du bist hier! Du bist wahrhaftig hier!“ Eine Frau, die in mehrere verschiedenfarbige Seidenkimonos gekleidet war und deren lange, bläulich-schwarzen Haare in einer aufwändigen Hochsteckfrisur festgemacht waren, tauchte hinter dem Briten auf. „Sei!“ Ranpo winkte ihr ebenso erfreut zu. „Ich bin so erleichtert, dich gefunden zu haben! Aber … was machen die anderen Detektive hier?“ Sei blinzelte die restlichen drei fragend an. „Ich fühle mich so unerwünscht.“ Dazai lächelte gequält, als er Kunikida vom Boden hoch half. „Aber daran bin ich gewöhnt.“ „Kann uns bitte jemand endlich erklären, was hier los ist?“, fragte der Blonde, während Atsushi und Wells alleine wieder aufstanden. „Besprechen wir das an einem weniger öffentlichen Ort“, flüsterte Wells geheimnisvoll. „Sie haben schon recht viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen.“ Tatsächlich blieben schon wieder Leute stehen und starrten tuschelnd zu der Gruppe. „Uns kam zu Ohren, dass es einen Tumult rund um eine Gruppe verdächtig aussehender Leute auf dem Westlichen Markt gäbe, weswegen wir uns auf den Weg dorthin gemacht haben“, erklärte Sei und lächelte dabei, während sie und Wells vorangingen und die anderen ihnen folgten. „Andernfalls hätten sich unsere Wege nicht gekreuzt.“ Atsushi stutzte bei dem Gehörten. „Ist das jetzt ein komischer Zufall oder …?“ Kunikidas Schultern sanken derweil ein gutes Stück in sich zusammen. „Das Theater von eben … das war Absicht, Ranpo?“ „Wir hätten ewig gebraucht, Wells in dieser Stadt zu finden und ich ging davon aus, dass er uns ebenso sucht.“ Ranpo zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Aber Hunger habe ich trotzdem!“ „Ich kann Ihnen etwas anbieten, wenn wir in meinem bescheidenen Heim sind.“ Wells bog in eine Straße mit weiteren einfachen Holzhäusern ab und Sei tippelte hastig hinter ihm her. Es war ihr sichtlich unangenehm, in einer so unfeinen Ecke der Stadt gesehen zu werden. „Waren Sie die ganze Zeit hier, seit Sie Yokohama verlassen haben?“ Dazai stockte bei seiner Frage und fügte amüsiert hinzu: „Das Yokohama der Gegenwart, meine ich natürlich, das jetzt für uns das Yokohama der Zukunft ist. Ist so viel Verwirrung nicht lustig, Kunikida?“ Ein Knurren war alles, was der Brünette von ihm als Antwort bekam. Wells drehte sich im Gehen den Detektiven zu. „Diese Zeit ist sehr angenehm, wenn man die Ehre hat, ein Begünstigter zweier Hofdamen zu sein.“ „Er lässt sich von euch aushalten?“, warf Ranpo ein und Sei nickte, während sie gleichzeitig mit den Augen rollte. „Nun ja, jedenfalls“, Wells räusperte sich verlegen, „fand ich hier die nötige Ruhe, um an meiner Fähigkeit zu arbeiten.“ Er hielt vor einem kleinen, strohgedeckten Häuschen am Ende der dicht besiedelten Straße an und schob die Vordertüre auf. „Wir sind da. Bitte treten Sie ein.“ Die Detektive taten wie ihnen gesagt worden war und Atsushi besah sich – von neuem staunend – das Innere des Häuschens. Es war tatsächlich nur ein kleiner Raum und er war recht dunkel, obwohl es helllichter Tag war. Die Fenster waren weder aus Glas noch aus Papier, sondern mit Strohmatten abgedeckt und ließen nur wenig Licht in das Zimmer. Es roch nach Erde und als Atsushi unter sich blickte, verstand er wieso. Der kleine Eingangsbereich bestand aus platt getretenem Erdboden; erst der etwas höher gelegene Boden dahinter war zu einem Teil mit Tatami-Matten ausgelegt. Es gab eine kleine Feuerstelle im Zimmer, einen Waschzuber, ein winziges Schreibpult und eine kompakte Kommode, neben der Bettzeug zusammengerollt war. Wells blickte auf die nackten Füße der Detektive (auch noch Schuhe zu stehlen, war Kunikida zu weit gegen den Strich gegangen) und machte ihnen ein kleines Tuch nass, mit dem sie notdürftig ihre Füße sauber machen konnten, bevor sie den Tatami-Bereich betraten und sich auf diesem niederließen. Mit gestresster Miene fummelte der Brite hektisch eine Armbanduhr unter seinem Gewand hervor und begann, auf seiner Unterlippe zu kauen, als er einen Blick darauf warf. „Drei Leute zu viel dürften doch nicht so einen Unterschied machen“, murmelte er zu sich selbst und steckte die Uhr wieder weg. „Gibt es ein Problem?“, fragte Atsushi, den das nervöse Gehabe des anderen Mannes gleichermaßen nervös machte. „Nun, ja, gewissermaßen schon.“ Wells tupfte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich hatte eigentlich nur Herrn Edogawa herholen wollen. Dich und auch Herrn Dazai und Herrn Kunikida hatte ich nicht eingeplant.“ „Das heißt ...“ Kunikidas fassungsloser Blick sprach Bände. „Wir sind nur hier, weil wir in dem Moment, in dem Sie Ranpo teleportieren wollten, zufällig bei ihm standen?“ „Das scheint mir der Fall zu sein“, bestätigte der Brite ihm. „Das wiederum heißt ...“, fuhr Kunikida fort und seine Miene und seine Lautstärke wurden mit einem Mal wutentbrannt, „DAS IST ALLES DEINE SCHULD!!“ Er schrie Dazai direkt ins Gesicht, doch dieser zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Ich frage mich die ganze Zeit schon“, sagte dieser stattdessen vollkommen ruhig, „wo ist eigentlich Murasaki?“ „Aus diesem Grunde benötige ich Ranpos Beistand“, antwortete Sei, die sich mit anfänglich angeekelter Miene zu den anderen gesetzt hatte. Niemand konnte sich vorstellen, welche Überwindung es sie kostete, sich in so einem einfachen Haus aufzuhalten. „Murasaki ist verschwunden.“ „Verschwunden?“, hakte Atsushi nach, der wie die anderen erstaunt dreinblickte. „Als hätte sich plötzlich der Erdboden in ihrem Quartier aufgetan und sie verschluckt“, erklärte Sei weiter und wurde dabei ganz trübsinnig. „Ich habe sie überall gesucht und nirgends gefunden. Mein Gefühl sagt mir, dass etwas gar Fürchterliches passiert sein muss.“ „Verstehe“, äußerte Dazai bedächtig. „Und deswegen wollten Sie Ranpo herholen.“ Die Dame nickte zustimmend. „Mir kam der Gedanke, dass niemand außer ihm in der Lage wäre, Murasaki wiederzufinden, daher bat ich Herrn Wells um seine Mithilfe, um ihn - und eigentlich nur ihn – herzubringen.“ Ein selbstgefälliges Grinsen legte sich auf Ranpos Lippen. „Tja, mein scharfer Verstand ist eben zu jeder Zeit gefragt.“ Sein Blick wanderte zu Wells und wurde schmollend, als er bei dem Briten ankam. „Hey, Meister, was ist mit Futter?“ „Oh, ich bitte vielmals um Verzeihung.“ Wells sprang auf und stolperte zu der kleinen Feuerstelle, wo er vier kleine tönerne Schüsseln nahm und sie mit Reis aus einem Bambusbehälter füllte. „Ich kann den Herren auch Tee anbieten.“ Ranpos entgeisterter Blick sprach derweil Bände darüber, was er von dem Mahl hielt. „Reis? Einfach nur Reis? Das ertrag ich nicht! Das ertrag ich nicht!“ „Wir nehmen gerne auch etwas Tee“, warf Kunikida sich räuspernd ein und Wells beeilte sich sogleich, das Wasser, das sich in einem Kessel über der Feuerstelle befand, von neuem zu erhitzen. „Aber ….“ Atsushi klang skeptisch, während er zaghaft seine Portion Reis mit den Fingern zu essen begann, da Wells nur zwei Paar Stäbchen besaß und Ranpo und Kunikida diese bekommen hatten. „Wie sollen wir Murasaki denn finden? Wir kennen uns doch hier nicht aus.“ „Das ist nicht relevant.“ Dazai winkte umgehend ab, nachdem er mit seinem gesamten Gesicht in seine Schale voll Reis getaucht war und dafür scheltende Blicke seitens Kunikida erhalten hatte. „Wir gehen so vor, wie wir zu Hause auch vorgehen würden. Die einzige Schwierigkeit besteht darin, den 'Tatort', also Murasakis Quartier im Palast, zu untersuchen.“ „Ich kann Ranpo in den Palast bringen“, entgegnete Sei, „dort gibt es auch besseres Essen.“ „Daf klingt fehr viel beffer.“ Ranpo hatte den Mund hochvoll und schmatze lautstark. Er schluckte seine Portion hinunter und wirkte mit einem Mal wieder viel vergnügter. „Was mich allerdings noch interessiert: Wie sind wir vor den Toren Kyotos gelandet?“ „Das stimmt.“ Dazai wischte sich die Reiskörner aus dem Gesicht und schleckte sie genüsslich von seinen Fingern. „Wir sind nicht nur durch die Zeit, sondern auch durch den Raum gereist.“ Wells stellte jedem der Detektive einen Becher Tee hin und setzte sich wieder zu ihnen. „Nun“, verkündete er sichtlich stolz, „wie ich eingangs bereits erwähnt habe, habe ich an meiner Fähigkeit gearbeitet und sie um einiges verbessert. Nach den … ähem-“ Er kratzte sich verlegen an der Wange. „Vorkommnissen bei unserem letzten Zusammentreffen war mir klar, dass meine Fähigkeit doch noch ein paar Fehler aufweist …“ „Fehler?“, unterbrach Kunikida ihn missmutig. „Sie hätten beinahe das Ende der Welt herbeigeführt. Von meiner persönlichen Betroffenheit fange ich erst gar nicht an.“ „Ach, Kunikida“, wandte Dazai ein, „du bist wie ein kleines Baby, wenn es um diese Zeitanomalien-Sache geht.“ „Ich kann mich erinnern, dass du auch nicht allzu gut dastandest!“, entrüstete sich der Idealist. „Im wahrsten Sinne des Wortes!“ „Ah, ja, ich hatte einen unfreiwilligen und ziemlich schmerzhaften Jobwechsel, wenn ich mich richtig erinnere.“ Bei Dazais salopp vorgetragenem Kommentar stöhnte Atsushi innerlich. Er fand die Erinnerung daran ganz und gar nicht lustig. Sowohl Kunikida als auch Dazai waren damals durch die von Wells verursachten Risse im Raum-Zeit-Gefüge in Lebensgefahr geraten – und beinahe wäre tatsächlich die Gegenwart ausgelöscht worden. „Wenn Sie an Ihrer Fähigkeit gearbeitet haben“, fragte der Junge vorsichtig hoffnungsvoll nach, „dann wird nun nichts Schlimmes mehr passieren, wenn Sie sie einsetzen?“ Der Brite wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn und irgendwie beruhigte dies Atsushi kein Stück. „Nun, es ist alles noch in der … sagen wir, Probephase. Aber ich konnte einige Dinge verbessern. Zum einen ist es mir jetzt in der Tat möglich, eine Zeitreise mit einem Transport durch den Raum zu verbinden. Ich konnte Sie gezielt durch ein Portal herbringen, weil sowohl ich, als auch Fräulein Sei eine gedankliche Verbindung zu Ihnen herstellen konnten. Auch wenn meine Zielgenauigkeit noch etwas mehr Treffsicherheit vertragen könnte, wie? Immerhin habe ich Sie in die Nähe Kyotos teleportieren können.“ Er kratzte sich nervös lachend am Hinterkopf und ignorierte die verstimmten Blicke Kunikidas und Atsushis. „Wie dem auch sei, solange jemand im Yokohama der Gegenwart an Sie denkt, kann ich Sie auch genau dorthin zurückschicken.“ „Moment“, warf Kunikida kritisch ein. „Solange jemand an uns denkt? Das klingt nach einem Haken.“ Hibbelig fummelte Wells daraufhin am Kragen seines Oberteils. „Also, zum anderen habe ich eine Lösung gefunden, das Auftreten von Anomalien bei Zeitreisen auf ein Minimum zu beschränken. Früher war das Öffnen der Portale und das Anvisieren der gewünschten Zeit das reinste Glücksspiel, was, wie Sie sich erinnern, zu ein paar Problemen geführt hat, aber als ich die beiden Damen damals erfolgreich zurück in die Heian-Zeit brachte, fiel mir etwas auf: Sie berichteten mir, dass die Kaiserin sie vermisst und daher immerzu an sie gedacht hätte. Deswegen verband ich die Zeitreisen mit einem Personenbezug, der auch die Teleportation durch den Raum ermöglicht. Allerdings gibt es da ein, zwei kleine Schwierigkeiten.“ Er lachte auffallend verdächtig. „Irgendetwas sagt mir, uns wird nicht gefallen, was da jetzt kommt“, bemerkte Ranpo zweifelnd. „Die Anomalien sollten nun nur noch im engsten Kreis der Zeitreisenden entstehen. Das heißt in Ihrem Falle wären zum Beispiel die restlichen Detektive von ein paar … Auffälligkeiten betroffen.“ „W-was genau heißt das?“ Atsushi überkam ein mulmiges Gefühl. „Ah, jetzt verstehe ich.“ Dazai ging ein Licht auf. „Die anderen könnten uns vergessen, richtig?“ „Waaaas??“, entfuhr es dem silberhaarigen Jungen entgeistert. „Und unsere Kollegen schlagen sich momentan wahrscheinlich mit ähnlichen Problemen wie beim letzten Mal herum“, fügte Dazai hinzu. „Sie verschwinden, altern in alle mögliche Richtungen, vergessen sich gegenseitig, all so ein Spaß, nicht wahr?“ Erneut kratzte sich Wells mit einem Finger an der Wange – und ließ dies seine Antwort sein. „Das ist doch genauso schlimm wie beim letzten Mal!“, rief Atsushi aus. „Da ist nichts dran verbessert!“ „Oh, doch, doch“, widersprach der Brite energisch. „Solange alle Anomalien in einem gewissen Rahmen bleiben, lässt sich alles wieder beheben. Ich habe mit meiner Fähigkeit große Fortschritte gemacht. Sie können unbesorgt sein.“ Er holte von neuem seine Armbanduhr hervor und warf einen fahrigen Blick darauf. „Denke ich.“ „Das klingt nicht gerade beruhigend!“ Atsushi schaute hilfesuchend zu Dazai, der die Uhr des Briten fest im Blick hatte. „Diese Armbanduhr ...“, sagte er, „zeigt die Ihnen an, wie weit die Anomalien bereits fortgeschritten sind?“ Erstaunt nickte Wells. „Oh? Sie sind sehr aufmerksam. In der Tat. Sofern die Anzeige meiner Uhr eine volle Stunde nicht überschreitet, kann ich so gut wie alles wieder in seinen Ursprungszustand zurückversetzen.“ Atsushi wollte angesichts dieser doch recht zuversichtlichen Aussage gerade erleichtert aufatmen, als er bemerkte, dass die Skepsis der anderen keineswegs nachgelassen hatte. Gab es etwa noch weitere Haken? „So weit die Theorie“, stellte Ranpo fest, „aber in der Praxis macht Sie irgendetwas schrecklich nervös. Raus damit, was läuft schief?“ Der Brite zuckte ertappt zusammen. „Kann man vor Ihnen denn gar nichts geheim halten?“ „Nein.“ Die Antwort des Meisterdetektivs war so knapp wie trocken, was Wells resigniert seufzen ließ. „Nun, in Ordnung. Es gibt da ein Problem, das ich selbst nicht ganz verstehe.“ „Oh, das klingt hoffnungsvoll“, warf Dazai spöttisch ein. „Die Anzeige meiner Uhr ist schon sehr viel weiter fortgeschritten, als ich im Vorfeld berechnet hatte“, gab Wells kleinlaut zu. „Meine Anwesenheit in dieser Epoche hatte bisher so gut wie keine Auswirkungen auf das Raum-Zeit-Gefüge, daher war ich auch sehr optimistisch, was das Herholen von Herrn Edogawa betraf. Selbst Ihr versehentliches Erscheinen hier dürfte nicht so große Ausschläge auf meinem Chronometer bewirken und doch … steht die Anzeige nun bereits bei fast 30 Minuten.“ „Bei fast 30 Minuten??“ Kunikida konnte nicht glauben, was er da gehört hatte. „Und bei einer Stunde wird alles unumkehrbar?? Da ist nicht mehr viel Zeit dazwischen!“ Als der Brillenträger, der ohne Brille herumlaufen musste, dermaßen laut wurde, verzog Sei das Gesicht. Sie hatte die Unterhaltung aufmerksam verfolgt, aber sie verstand die Obsession nicht, die Zeit so detailliert zu messen. Die Menschen aus der Zukunft schienen ja geradezu besessen davon zu sein, den Tag in solch lächerlich kleine Einheiten einzuteilen. Wells hatte sich auch einmal die Mühe gemacht, ihr und Murasaki seine Armbanduhr zu erklären. Den Teil über die Neunutzung seiner Uhr als Erweiterung seiner Fähigkeit hatten sie ja noch nachvollziehen können, aber Sei konnte sich lebhaft daran erinnern, wie Murasaki den Kopf geschüttelt und kritisch angemerkt hatte: „Und genau deswegen werden die Menschen der Zukunft so verrückte, hohe Häuser bauen und ihre Straßen mit entsetzlichem Lärm füllen. Weil sie sich von einem Armschmuck sagen lassen werden, was sie wann zu tun haben.“ „Können wir denn irgendetwas tun, um das Fortschreiten der Anzeige zu verhindern?“, fragte Atsushi, vor Stress mittlerweile in Schweiß gebadet, nach. „Sie müssen sich so unauffällig wie möglich verhalten“, forderte Wells eindringlich. „Wenn Sie in zu hohem Maße in den Lauf der Geschichte eingreifen, dann wird die Anzeige sich rasant füllen.“ „A-aber greifen wir nicht schon dadurch in den Lauf der Geschichte ein, indem wir Murasaki suchen? Ich meine, ich will ihr natürlich helfen …“ Wells winkte ab. „Das ist im Rahmen des Machbaren. Wäre es so vorgesehen, dass Fräulein Murasaki nicht gerettet werden sollte, dann hätte meine Uhr dies sofort angezeigt. Wenn Sie jedoch hier Dinge zerstören würden oder – Gott bewahre – jemanden töten würden … dann wäre die Anzeige im Handumdrehen bei einer Stunde.“ Ein aufgekratztes Stöhnen entwich ihm. „Und auch ein zu langer Aufenthalt von Ihnen in dieser Epoche wird dem Raum-Zeit-Gefüge schaden. Ich oder ein Weiterer sind wie gesagt harmlos, doch Sie alle vier sind auf Dauer zu viel. Zum Glück hat mein kleiner Lapsus nicht noch weitere Ihrer Kollegen herbefördert.“ Er lachte von neuem nervös. Die Detektive hörten den fahrig vorgetragenen Erklärungen des Briten mit zunehmender Beunruhigung zu. Schließlich fasste Kunikida sich angestrengt mit einer Hand an den Kopf. „Uns bleibt im Moment nichts anderes übrig als diesen wackligen Versprechungen zu vertrauen.“ „Verzeiht die Umstände, die mein Gesuch Euch bereitet“, sagte Sei schuldbewusst. „Du und Murasaki habt uns geholfen, als wir in Schwierigkeiten waren“, entgegnete Ranpo, „da ist es selbstverständlich, dass wir euch jetzt helfen.“ „Ich danke dir!“ Von diesen Worten aufgeheitert, strahlte die Hofdame. „Wir sollten uns nur beeilen“, fuhr der Meisterdetektiv fort. „Wer weiß, was in der Detektei gerade los ist. Außerdem wäre es wirklich eine Frechheit, wenn sie mich vergessen würden.“   Sei hatte sichtlich Spaß daran, Ranpo in die feinen Kleider zu stecken, die Wells ursprünglich von den Hofdamen geschenkt bekommen hatte. Trotz ihrer angespannten Lage musste Atsushi bei dem Anblick des schwarzhaarigen Kindskopfs in seidenen Gewändern lächeln. Ihr Plan stand und er beinhaltete, dass sie Ranpo weiterhin als Adligen ausgaben, der Sei im Palast einen Besuch abstatten sollte. Kunikida und Dazai, die von Wells ein paar hochwertigere Klamotten (die aber standesmäßig weit, weit unter dem waren, was Ranpo gerade trug) bekommen hatten, sollten die Diener des Edelherren Edogawa spielen und ihn in einer Sänfte bis hinter die Mauern des Kaiserpalastes tragen (was Fürst Edogawa außerordentlich gut gefiel). Während Ranpo so Zutritt zu Murasakis Quartier bekommen konnte, würden Dazai und Kunikida sich bei der restlichen Dienerschaft nach Informationen umhören. Nur Atsushi, für den keine bessere Kleidung mehr übrig war, musste draußen bleiben. Sei, die vorausgegangen war, informierte zum einen die Palastwachen an einem seitlichen Tor, dass sie Besuch erwartete und zum anderen den kaiserlichen Wagenmeister, dass ein Bote ihr Nachricht geschickt hätte, ihrem Besuch wäre auf dem Weg zu ihr der Wagen kaputt gegangen und ob man für den übrigen Weg nun nicht eine Sänfte vom Hof schicken könnte. „Atsushi“, sagte Dazai, als sie am vereinbarten Ort in der Nähe des Palastgeländes auf das Eintreffen der Sänfte warteten, „höre du dich bei den Wachen an den anderen Toren einmal um. Vielleicht haben wir Glück und einer von denen hat etwas bemerkt und ist in Plauderlaune.“ „I-ich soll ganz allein …? Ich kann mich doch gar nicht ausdrücken!“ „Ganz ruhig“, beschwichtigte Ranpo ihn. „Die Wachen werden dich eh für einen Bauerntrampel halten und sich daher nicht weiter um deine Ausdrucksweise kümmern. Deine Unscheinbarkeit kannst du nutzen, um sie in ein Gespräch zu verwickeln.“ „O-okay?“ „Außerdem kann Wells dir helfen“, fügte Ranpo hinzu, der in seinen edlen purpurfarbenen Beinkleidern und dem mehrlagigen Oberteil aus lila- und grünfarbigen Schichten wirklich aussah wie ein Adliger. „Ich werde auf den jungen Mann aufpassen“, tönte Wells und prompt raunte Kunikida Atsushi zu: „Pass bloß auf, dass dieses Nervenbündel nicht noch mehr Chaos anrichtet.“ Der silberhaarige Junge nickte. Und schluckte voller Anspannung. Hoffentlich ging das alles gut. Er und Wells entfernten sich von den drei anderen, als sie Bedienstete aus dem Palast herannahen sahen. So weit lief alles wie am Schnürchen. Ranpo stieg in die mitgebrachte Sänfte, Dazai hob den vorderen Teil und Kunikida den hinteren an und so trotteten sie den zwei Angehörigen des Palastes hinterher. Hoffentlich ging das alles gut. Wells führte Atsushi zum eindrucksvollen, gigantischen Südtor des Palastes. Von hier führte eine breite Straße in die Stadt und es waren eine Menge Menschen dort unterwegs. Mit offenem, staunenden Mund beguckte der Junge das riesige, hölzerne Tor, das mehrere Meter hoch und lang war. Es schien zwei Etagen zu haben und imposante Säulen stützten im Vordergrund das Gebilde. Das gesamte Gebäude war in einem knalligen, leuchtenden Rot gestrichen und auf dem Dach waren zwei goldene Verzierungen angebracht. So eine beeindruckende Konstruktion hatte er noch nie zuvor gesehen. „Faszinierend, nicht wahr?“, fragte Wells, als hätte er seine Gedanken erraten. „Dies ist das größte Tor des Palastes. Es wirkt, als sei es für die Ewigkeit gebaut.“ „Dann steht es heute noch?“ Der Brite legte nachdenklich seine Stirn in Falten. „Das ist eine gute Frage. Aber der heutige Kaiserpalast sieht, so weit ich informiert bin, eh anders aus. Er wurde wohl mehrmals von Bränden und ähnlichem heimgesucht.“ „Ah“, machte Atsushi, immer noch seine Augen nicht von dem beeindruckenden Bauwerk nehmend. „Nun, lass uns uns doch aufteilen“, schlug Wells vor. „Ich gehe weiter zum nächsten Seitentor und du bleibst hier, wo es dir doch so gut gefällt.“ Der Mann zwinkerte ihm zu und Atsushi fand, dass – obwohl der Kerl ein Chaot war und ständig Ärger machte – er doch alles andere als verkehrt war. „Ich hole dich wieder ab, wenn ich mich umgehört habe. Du darfst mir schließlich nicht verloren gehen.“ „Vielen Dank“, entgegnete der junge Detektiv erfreut und in der Hoffnung, dass Kunikida ihm dafür nicht den Kopf abreißen würde. Aber was sollte schon passieren? Wells hatte schließlich die ganze Zeit in der Vergangenheit gelebt, ohne dass sie in der Gegenwart davon etwas mitbekommen hatten. Doch, sicher war es in Ordnung, dachte Atsushi, als Wells davontrottete und er selbst seinen Blick wieder dem gigantischen Tor vor ihm zuwandte. Wann bekam man schon die Gelegenheit so etwas zu sehen? Plötzlich fröstelte es Atsushi. Als hätte sich auf einmal eine große, dunkle Wolke vor die Sonne geschoben. Perplex schaute er zum Himmel empor, doch die Sonne schien nach wie vor vom strahlend blauen Himmel. Wie seltsam. Das Frösteln kehrte zurück. Es wurde sogar stärker. Ein durch und durch mulmiges Gefühl machte sich abrupt in dem Jungen breit. Die Haare an seinem Körper stellten sich auf und ein Gefühl von Angst überkam ihn. Was war das, das er da spürte? Etwas Unheilvolles kam auf ihn zu, etwas, das sich bösartig anfühlte. Mordlust. Pure Mordlust. Panisch blickte Atsushi sich um. Woher kam das? Von wem ging diese finstere Aura aus? „MENSCHENTIGER!!“, hallte es grollend von der Straße. „BIST DU HIERFÜR VERANTWORTLICH?!“ Mit weit aufgerissen Augen starrte Atsushi auf den dunkelhaarigen jungen Mann, der von immensem Zorn erfüllt vor ihm aufgetaucht war. „D-das kann doch nicht sein … Akutagawa??“ Kapitel 4: Der Besuch des Fürsten Edogawa ----------------------------------------- Den dunklen, nächtlichen Himmel über Yokohama im Rücken, behielt Fukuzawa seine Mitarbeiter eisern im Blick. Kenji war mittlerweile älter als der Chef selber es eigentlich war und das schnelle Altern tat sogar seiner sonst stets guten Laune gehörigen Abbruch. Trotzdem war Kenji eben Kenji und er glaubte fest daran, dass die anderen das Problem schnell lösen würden. „Ich wünschte nur, es würde ganz bald geschehen“, hatte er schon mehrmals wiederholt und alles, was Fukuzawa und Yosano für ihn tun konnten, war, ihm Recht zu geben. Yosano selbst war immerhin bisher von keinen Veränderungen betroffen, wenn man davon absah, dass sie sich nicht mehr an Haruno erinnern konnte und sich langsam fragte, ob sie sich Tanizaki nur eingebildet hatte. Naomi war derweil der festen Überzeugung, nie einen schüchternen Rothaarigen gekannt zu haben. Dazai und Kunikida waren bereits aus ihrem Gedächtnis getilgt. Fukuzawas Augen wanderten zu Atsushis mit Haftnotizzetteln voll geklebten Schreibtisch und dem Mädchen – nein, der jungen Frau, die dort saß. Kyoka war um gute 20 Zentimeter gewachsen und um mindestens zehn Jahre gealtert. Ihre nun hochgewachsene Statur gab ihrer Erscheinung etwas Elegantes. Sie erwiderte seinen ernsten Blick kurz mit einem ebenso ernsten Gesichtsausdruck und widmete sich rasch wieder den Zetteln vor sich. Immer und immer wieder las sie sie durch. Seit Kenji vor einer Stunde gefragt hatte, wer denn Atsushi war, war Kyoka geradezu an ihrem Platz vor den Notizen festgewachsen. Schon vor Stunden hatte Fukuzawa dem Innenministerium, sowie allen momentanen Klienten Bescheid gegeben, dass die Detektei wegen Krankheit aller Angestellter bis auf weiteres geschlossen blieb. Er hasste es zu lügen, aber welche andere Option hatte er? Er hatte es damals eigenmächtig entschieden, Wells von dannen ziehen zu lassen, damit er die beiden Damen nach Hause bringen konnte. Jetzt dem Innenministerium zu sagen, dass sie genau deswegen Probleme hatten, kam damit nicht in Frage. Sowieso, wenn die falschen Leute von ihrer misslichen Lage erführen …. Als hätte es auf ein Stichwort gewartet, klingelte Fukuzawas Handy. Beim Blick auf die Nummer, die im Display angezeigt wurde, verfinsterte sich die Miene des Chefs drastisch. Äußerst widerwillig ging er ran. „Fukuzawa, alter Freund“, erklang Moris Stimme und entlockte ihm ein unzufriedenes Murren als Reaktion, was den Boss der Hafen-Mafia allerdings nicht weiter störte. „Ich wollte mich nur kurz erkundigen, ob ...“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause, „ … in der Detektei alles in Ordnung ist? Oder gab es irgendwelche Vorkommnisse in den letzten 24 Stunden?“ Fukuzawa stutzte. Wieso in aller Welt …? Mori konnte von ihrer Situation unmöglich wissen, außer …- „Was wollen Sie, Mori?“ „Aber nicht doch! Seien Sie doch nicht gleich so feindselig. Dass Sie meiner Frage ausweichen, deute ich dann mal als 'ja.'“ „Ich habe zu tun.“ „Huh? Nein, nein, einen Moment bitte! So ungesellig wie eh und je, wie? Na gut, ich komme gleich zur Sache. Es gibt da ein, zwei Dinge, die ich gerne mit Ihnen besprechen würde. Persönlich. Denn ich bin mir sehr sicher, dass dies das Misstrauen in unserem Gespräch in Sekundenschnelle in Luft auflösen würde.“ „Ich wüsste nicht, was ich mit Ihnen zu besprechen habe.“ „Oh, das wissen Sie sehr wohl. Wir sollten nämlich einmal über einen gemeinsamen Bekannten von uns sprechen. Einen Briten mit einer äußerst lästigen Fähigkeit …“ Die Miene des Chefs verriet seine Überraschung, doch seine Stimme blieb stoisch. „In einer Stunde vor dem britischen Konsulat im Harbor View Park.“   Die weißen Wände der großen Villa, in der das britische Konsulat seinen Sitz hatte, glitzerten im Mondschein. Auf dem Gelände herrschte um diese späte Stunde absolute Stille. Normalerweise verirrte sich auch niemand mitten in der Nacht in den frei zugänglichen, üppigen Garten, der sich vor dem Gebäude befand. Nur in dieser Nacht war es dort ungewöhnlich betriebsam. Yosano war verständlicherweise alles andere als begeistert, aber wenn die Vermutung ihres Vorgesetzten richtig war, dann hatten sie zeitgleich Grund zur Beruhigung und Beunruhigung. Aus dem Augenwinkel ließ sie ihren Blick im Schein der Straßenlaternen über diejenigen schweifen, die mitgekommen waren: ein Kenji mittleren Alters, eine Mitzwanziger-Kyoka und ein momentan etwa gleichaltriger Chef. Dies war der klägliche Rest des Detektivbüros, denn sie hatten nur Naomi in der Detektei zurückgelassen und momentan hoffte Yosano, dass diese auch noch da wäre, wenn sie wiederkamen. Auf sie zukommende Schritte ließen ihre Augen wieder nach vorne schnellen. Und als die Personen, zu denen die Schritte gehörten, einen Moment später vor ihnen auftauchten, musste sie sich zusammenreißen, nicht loszuprusten. Der klägliche Rest der Hafen-Mafia war bei ihnen angekommen. Mori sah aus, als stünde er kurz vor dem Oberschulexamen, was seiner sonst so düsteren Aura enormen Abbruch tat. Mit einem zu großen Anzug, der wirkte, als würde er ihn tragen und nicht andersherum, und der braven Kurzhaarfrisur machte er wirklich nicht den Eindruck, der gefürchtete Boss der Hafen-Mafia zu sein. Neben ihm stand Tachihara, der aussah wie immer, aber auf einem Arm ein schlafendes, schwarzhaariges Kleinkind in einem viel zu großen grauen Oberteil trug und an der anderen Hand einen griesgrämig dreinblickenden, kleinen Jungen im Grundschulalter hatte, dessen weißes Hemd so überlang war, dass es aussah wie ein Kleid. Trug der kleine Junge etwa ein Monokel am rechten Auge? „Tachihara, lass mich los. Das ist demütigend“, empörte das Kind sich. Der sichtlich gestresste Rothaarige haderte mit dieser Aufforderung. „Aber gerade eben auf der Straße hätte dich das Auto fast übersehen …“ „Entweder du lässt meine Hand los oder ich reiße sie dir vom Körper!“ Hastig ließ Tachihara den Jungen los und redete umgehend beschwichtigend auf ihn ein: „Bitte, nicht so laut, Hirotsu. Gin ist gerade erst eingeschlafen und wenn sie aufwacht, geht das Geschreie wieder lo-“ „WHÄÄÄÄÄÄ!! WHÄÄÄÄÄÄ!!“ „Verdammt!“, fluchte Tachihara und wog überfordert das Kleinkind auf seinen Armen. „Wie kann jemand, der sonst nie redet, so laut schreien??“ „Das …“ Yosanos Mundwinkel zuckten. „Das ist die Schwarze Echse?“ „Ich sehe, wir haben ein ähnliches Problem“, sagte Mori, ruhig wie immer, nachdem er einen kurzen, aber eindringlichen Blick auf seinen Gegenüber geworfen hatte. „Ich würde ja sagen, Sie sehen gut aus, Fukuzawa, aber ich glaube, unser Zustand ist eher bedenklich.“ Der Angesprochene ließ seine Augen von dem unfreiwillig komischen Anblick der Schwarzen Echse zum Boss der Hafen-Mafia wandern. „Es betrifft Sie also auch.“ Mori seufzte leise. „Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, darauf gehofft zu haben, dass Ihre Detektei auch von diesem Phänomen heimgesucht wird. Wir sind schließlich die einzigen, die das letzte Mal das Vergnügen mit Herrn Wells hatten.“ So gerne wollte Fukuzawa entgegnen: Und wessen Schuld war das?, doch er ließ es. Das half ihnen im Moment nämlich auch nicht. Stattdessen atmete er hörbar aus. „Der Rest der Stadt scheint nicht betroffen zu sein.“ „Noch nicht.“ Der Chef der Detektive stutzte. „Wie meinen Sie das?“ „Meine Leute lösen sich schneller in Luft auf als ich gucken kann“, antwortete Mori und klang mit einem Mal todernst. „Wenn die Hafen-Mafia als eine der drei Stützen der Stadt wegfällt, wird hier die Hölle losbrechen. Feinde und Mitbewerber meiner Organisation lauern in einem Stück darauf, dass wir auch nur den kleinsten Fehler machen und sie sich dann auf uns stürzen können. Wenn einer von diesen Leuten von unserer aktuellen Situation erfährt und dies für einen Angriff auf uns nutzt und daraufhin ein Machtvakuum in der Unterwelt entsteht, wird mit der Hafen-Mafia schlussendlich auch Yokohama untergehen. Ihr kleines Detektivbüro wird dann auch machtlos gegenüber so einem kriegsähnlichen Szenario sein.“ „Tolle Aussichten“, warf Yosano spöttisch ein. „Als wäre unser Tag noch nicht schlimm genug gewesen.“ „Wenn also unser nervöser Freund aus Übersee hierfür verantwortlich ist“, fuhr Mori fort, „dann müssen wir ihn schnell finden und seine Fähigkeit aufheben …“ Er stockte, sah zu den anderen Detektiven und letztlich wieder zu Fukuzawa. „Sagen Sie nicht, es hat Dazai erwischt? Und den vorlauten Meisterdetektiv auch? Auf die hatte ich meine Hoffnungen gebaut.“ „Wir haben die Vermutung“, antwortete Fukuzawa gefasst, „dass Wells nicht hier ist. Nicht in unserer Zeit.“ Plötzlich fiel ihm etwas auf. Er hatte die ganze Zeit angenommen, dass die Detektei von den Anomalien betroffen war, weil Ranpo und die anderen in die Vergangenheit befördert worden waren, aber wieso in aller Welt war die Hafen-Mafia ebenso betroffen? „Erzählen Sie mir, was geschehen ist, bevor die ersten Anomalien bei der Hafen-Mafia aufgetreten sind.“ Nun war es an dem schwarzhaarigen Mann, zu stutzen. „Was passiert ist, bevor die Anomalien begannen?“ Mori überlegte kurz. „Wenn ich so darüber nachdenke, dann gab es ein Ereignis, das sich von den später aufgetretenen Anomalien unterscheidet. Am Vormittag war ich mit dreien meiner Leute in meinem Büro zu einer Besprechung, als plötzlich ein surrendes und zischendes Geräusch ertönte und eine Sekunde später meine Leute sich in Luft aufgelöst hatten. Kurz darauf verschwanden mehr und mehr Mitglieder der Hafen-Mafia. Als wir vorhin aufgebrochen sind, hatten wir auch eigentlich noch … diese Frau dabei, wie hieß sie doch gleich …?“ „Koyo, Sie meinen Frau Koyo“, flüsterte Tachihara, während er weiter Gin schaukelte. „War das ihr Name?“ Mori fasste sich nachdenklich mit einer Hand an sein Kinn. „Jedenfalls war sie plötzlich ebenso weg. Wie Sie sehen, vergessen wir uns gegenseitig, altern zu schnell oder werden wieder jünger.“ Er blickte an sich herunter und seufzte noch einmal. Dieses Mal noch tiefer als zuvor. „Wenn das so weitergeht, ist Elisechen bald größer als ich.“ „Chef“, fragte Kyoka erschrocken, als ihr und den anderen Detektiven bewusst wurde, was Moris Erzählung bedeutete, „heißt das etwa … Atsushi und die anderen könnten in der Vergangenheit auf Mitglieder der Hafen-Mafia treffen?“ „Mori“, wandte sich Fukuzawa - zum Erstaunen des Mafiabosses ungewohnt fahrig – an ihn, „welche Ihrer Leute haben sich in Ihrem Büro in Luft aufgelöst??“   „Der Weg ist weiter als ich gedacht hatte“, keuchte Dazai, die Sänfte über den großflächigen Palasthof tragend, während der weiße Kies des Geländes unter seinen von Wells geliehenen Sandalen knirschte. „Und Ranpo ist schwerer als ich gedacht hatte.“ „Ich kann dich hören“, nörgelte dieser aus dem Inneren der Sänfte. „Dazai, wenn du sonst schon keine Manieren hast, dann tu wenigstens jetzt so, damit unsere Tarnung nicht auffliegt.“ Kunikida rannten dicke Schweißperlen die Stirn hinunter, aber es war wenig überraschend, dass nichts auf der Welt ihn über Ranpos Gewicht klagen lassen würde. „Du hättest eigentlich sagen sollen, dass ich federleicht bin“, meldete sich ihr Pseudo-Adliger wieder aus der Sänfte und die Schweißperlen auf Kunikidas Stirn vervielfachten sich auf der Stelle. „J-ja, das wollte ich noch anfügen …“ Abrupt blieben die Hofbediensteten, die vorneweg gegangen waren, vor einem der Gebäude stehen. „Hier befinden sich die Quartiere der Hofdamen“, einer von ihnen zeigte auf das Gebäude, das wie viele der anderen hier aus dunklem Holz und weißem Gips gebaut worden war. Eine hölzerne Veranda war ihm vorgelagert und silbern glänzende Lehmziegel mit üppigen Verzierungen schmückten das Dach. Andere Bauten auf dem Gelände waren strahlend rot angestrichen und zu einer Seite ging es zu einem weiten, riesigen Teich, über den steinerne Brücken führten und der rundherum von Bäumen gesäumt war. Komplett planlos blieben auch die Detektive stehen. Hoffentlich wusste Ranpo, wie das weitere Prozedere ablaufen sollte. Sie wussten es nämlich nicht. „Mein Besucher darf eintreten“, ertönte da aus dem Inneren des Gebäudes die Stimme Seis und rettete sie damit. Dazai und Kunikida ließen die Sänfte vorsichtig zu Boden und Letzterer öffnete sogleich die Seitenklappe und reichte Ranpo eine Hand zum Aussteigen. Mit ungewohnt ernster Miene griff der Meisterdetektiv die ihm dargebotene Hand, stieg geradezu grazil aus der Sänfte und begab sich mit einer Anmut, welche die des Chefs beinahe in den Schatten stellte, zu der kleinen Treppe, die hinauf zum Eingang führte. „Ihr dürft euch entfernen“, rief Sei streng und die Palastangestellten verbeugten sich vor der Schiebetüre, die nur einen kleinen Spalt weit geöffnet war. „Kommt hier entlang“, wandte sich einer von ihnen an die zwei zu Dienern umfunktionierten Detektive, die nach ihrer nur kurzen Verschnaufpause wieder die Sänfte anheben durften, um sie wegzutragen. Aus dem Augenwinkel konnte Dazai noch sehen, wie die Schiebetüre geschwind aufgeschoben wurde, Ranpo eintrat und sie ebenso geschwind wieder zugeschoben wurde. „Er scheint in seiner Rolle als Edelmann ja richtig aufzugehen“, bemerkte er leise und feixend in Kunikidas Richtung, während sie das Quartier der Hofdamen hinter sich ließen. „Hoffentlich gefällt ihm diese Rolle nicht zu gut.“ Kunikida stöhnte.   „Das hat ja schon einmal vortrefflich funktioniert!“ Sei strahlte wie ein Honigkuchenpferd, nachdem sie Ranpo hineingelassen hatte. Von ihrer Strenge war nichts mehr zu sehen oder zu hören und auch die Anmut und Grazie ihres Besuchers war wie weggeblasen. Ranpo blickte drein wie immer. „Wo geht's lang?“ „Hier.“ Die beiden gingen schnellen Schrittes, um nicht von anderen gesehen zu werden, den Gang einige Meter hinunter. Dann schob Sei eine weitere Tür auf und sie und Ranpo betraten das Zimmer Murasakis. „Es ist so, wie ich es vorgefunden habe“, erklärte die Hofdame und blickte erwartungsvoll zu dem Meisterdetektiv. Ranpo zog seine Brille unter seinem Gewand hervor, atmete kurz erleichtert auf, weil sie noch da war, setzte sie auf und begann, seine Augen durch den Raum wandern zu lassen. Nur wenige Momente später entfuhr ihm ein „Ah“ und Sei guckte erstaunt zu ihm. „Ist dir etwas aufgefallen?“ Mit ernster Miene zog er seine Brille wieder aus und verstaute sie von neuem. „Ich denke, ich weiß jetzt, was passiert ist. Aber da ich mich hier nicht so gut auskenne, kenne ich die genauen Umstände nicht. Noch nicht.“ „Du bist unglaublich, Ran-“, wollte Sei sich gerade freuen, als die Tür von außen aufgeschoben wurde und sie erschrocken innehielt. „Ach, Sei, du bist hier. Mir war nämlich eben so gewesen, als hätte ich ein Geräusch vernommen.“ Eine Frau war in der Tür erschienen. Sie hatte helles, langes und wallendes Haar, trug genauso wie Sei mehrere Lagen edelster Kimonos übereinander und war von einer Schönheit, die nur als blendend beschrieben werden konnte. „Oh!“ Sie bemerkte Ranpo und hielt sich einen ihrer weiten Ärmel vor ihre untere Gesichtshälfte. „Du hast einen Besucher?“ Obwohl man ihren Mund nun nicht sehen konnte, konnte man spüren, dass die Frau Ranpo anlächelte … was Sei ganz und gar nicht gefiel. „Ja!“, rief sie hastig aus und klammerte sich in einer überstürzten Geste am linken Arm ihres Gastes fest, der von dieser Aktion merklich überrumpelt war und sie fragend anblinzelte. „Ich habe einen Besucher. Das ist … Fürst Edogawa. Er ist meinetwegen hier. Er ist mein Gast.“ „Schon verstanden.“ Die Frau kicherte, aber nicht auf überhebliche Weise. Sie schien viel eher tatsächlich amüsiert zu sein. „Ich würde dir doch nie einen Liebhaber abspenstig machen. Dass du so von mir denkst.“ „Das ist ja das Schlimme! Du machst gar nichts und sie laufen dir trotzdem alle hinterher!“ „Vielleicht weil ich so etwas Unschickliches nicht vor einem Kavalier anspreche?“ „Grrrr“, brummelte Sei und umklammerte Ranpos Arm noch etwas fester. „Ich laufe grundsätzlich nur denen hinterher, die mir etwas Gutes zu essen anbieten“, äußerte Ranpo unvermittelt in die Eifersüchteleien hinein. „Ich kann mich doch erinnern, dass mir hier etwas versprochen wurde.“ „Huh?“, machte Sei erstaunt. „Ah! Ja, natürlich! Ich bringe dir etwas aus meinem Zimm- ah! Da ich unterwegs war, ist da ja wahrscheinlich gar nichts Genießbares mehr!“ Die andere Frau kicherte erneut. „Ich habe heute Morgen erst frisches Obst in mein Zimmer gebracht bekommen. Vielleicht möchte der Herr davon etwas?“ Ranpo konnte hören, wie Sei mit den Zähnen knirschte. „Ja, möchte er“, antwortete der Meisterdetektiv unbeeindruckt. „Könntet Ihr mir etwas bringen?“ Die Dame verbeugte sich und huschte in den Nachbarraum. „Das … ist … schlecht ...“, murrte Sei bärbeißig. „Na ja, Obst ist nicht so toll, aber in Anbetracht der Tatsache, dass ihr wohl nichts Gezuckertes da habt, bleibt mir nichts anderes übrig.“ „Häh?“ Verdattert blickte sie zu ihm, während sie ihn immer noch festhielt. „Du denkst nach wie vor nur an das Essen und bist nicht überwältigt von der Schönheit Fujitsubos?“ „Ist das ihr Name?“, entgegnete Ranpo gleichgültig. „Nur zur Sicherheit: Zucker habt ihr wirklich keinen da, oder?“ Sei blinzelte und schüttelte perplex den Kopf. Er seufzte. „Wie ich befürchtet hatte.“ Im nächsten Moment kam Fujitsubo wieder hinein und hielt dem vermeintlichen Edelmann einen Teller mit Obststückchen hin. Mit erkennbar unzufriedener Miene griff Ranpo mit seiner freien Hand nach einem Stückchen Melone und warf es sich in den Mund – um zwei Sekunden später das Gesicht zu verziehen. „Das schmeckt wie Gurke.“ Ganz und gar nicht überraschenderweise waren ihm die Zitrusfrüchte zu sauer und selbst die Pflaumen wurden seinem Anspruch nicht gerecht. „Also“, sagte er schmatzend an Fujitsubo gewandt, „Ihr habt das Zimmer neben Murasaki?“ Die hellhaarige Hofsame stutzte angesichts dieser Frage. „Ja, so ist es.“ „Und Ihr hört ziemlich gut?“ Bei Fujitsubo fiel sichtlich der Groschen. „Fragt Ihr dies wegen Murasakis Verschwinden?“ „Ihr habt in der Nacht, in der sie verschwand ein Geräusch gehört, nicht wahr?“ Erneut stutzte sie, dieses Mal noch heftiger als zuvor. „In der Tat. Woher wisst Ihr das, mein Herr?“ Stolz tätschelte Sei mit einer Hand den noch immer umklammerten Arm des Meisterdetektivs. „Ist er nicht unfassbar klug?“ „Das Geräusch, klang es, als wäre etwas umgefallen?“ Fujitsubo nickte. „Ich war zu müde, um nachzusehen und dachte mir auch nichts weiter dabei. Die Wandschirme fallen zum Beispiel immerfort um, wenn irgendwo der Wind hineinweht.“ „Nur dass es kein Wandschirm war, sondern Murasaki.“ Erschrocken kniff Sei ihn in den Arm. „Was? Wie meinst du das?“ „Sie ist entführt worden“, antwortete Ranpo und versuchte vergeblich, seinen Arm ein wenig freizubekommen. „Aus einem Grund, den ich noch nicht kenne, ist sie ohnmächtig geworden und auf den Boden geknallt, als sie an ihrem Schreibpult gesessen hat. Auf der Tatami-Matte ist eine kleine Delle zu sehen. Gift würde ich allerdings ausschließen, denn hier ist nichts, mit dem sie das hätte zu sich nehmen können. Aber irgendetwas hat sie vor ihrer Ohnmacht leiden lassen, deswegen ist das Papier so unordentlich, als hätte sie im Schmerz danach gegriffen. Und es kam urplötzlich, sonst hätte sie nicht mitten in einem Buchstaben ihren Schreibprozess abbrechen müssen. Zum Schluss hat jemand sie über den Boden zur Tür hinaus geschleift.“ Nach diesen Erklärungen starrten die zwei Damen erschüttert zu Ranpo. „Dann … dann könnte es sein, dass sie … dass sie ...“, stammelte Sei. „Sie ist nicht tot. In dieser Zeit würde sich niemand die Mühe machen, eine Leiche fortzutragen. Warum auch? Forensiker muss hier keiner fürchten. Könnt Ihr Euch an noch etwas aus dieser Nacht erinnern?“ Er wandte sich wieder an Fujitsubo, die ihn völlig verwirrt anstarrte. Vermutlich verstand sie absolut nicht, was hier eigentlich vor sich ging. „Nicht viel. Ich war früh zu Bett gegangen …“ Angestrengt dachte sie nach. „Ich weiß nicht, ob das von Bedeutung ist, aber ich hatte zuvor mitbekommen, dass Murasaki sich in ihrem Zimmer verschanzt hatte, weil sie gehört hatte, dass Fürst Yugiri mal wieder zu Besuch am Hofe sei.“ „Yugiri? Wer ist das?“ Sei stöhnte entnervt. „Ein penetranter Kerl, der Murasaki ständig nachstellt. Aber sie ist nicht an ihm interessiert.“ „Woher weißt du davon?“, hakte Fujitsubo nach. „Aus ihrem Tagebu- ich meine …, ich … ähm ...“ Seis Augen schnellten verdächtig hin und her. „Du liest heimlich ihr Tagebuch?“ Fujitsubo hob kritisch eine Augenbraue und die andere Dame lachte nervös. „Nein, natürlich nicht.“ „Wo ist ihr Tagebuch?“, fragte Ranpo. „In ihrem Futon“, antwortete Sei wie aus der Pistole geschossen, ehe sie merkte, dass sie sich verraten hatte. Der dunkelhaarige Mann schaffte es endlich, dass sie ihn losließ, als er sich zu Murasakis Bett hinunter kniete und eine offene Stelle in dem Futon fand, aus der er tatsächlich das besagte Tagebuch hervor beförderte. Er schlug die letzten Seiten auf und schaute sie sich mit immer verkniffener werdendem Blick an. „Kannst du mir das vorlesen?“, wandte er sich an Sei. Die Bücher zu deren Lektüre der Chef ihn gezwungen hatte, waren in moderner Druckschrift und in modernem Japanisch geschrieben. Irgendetwas davon in Altjapanisch und in Handschrift zu lesen, war eine ganz, ganz, ganz andere Hausnummer. Sei nickte und nahm das Buch an sich. Derweil wunderte sich Fujitsubo mehr und mehr. Was für ein merkwürdiger Kavalier das doch war. Bat eine Frau, ihm vorzulesen. „Der letzte Eintrag ist von vor drei Tagen“, las die Hofdame vor, „hier steht: Fürst Yugiri sandte mir einen weiteren Brief und er ist genauso unverschämt wie alle vorigen, womöglich gar unverschämter. Ihm fehlt es an Anstand, kann er doch meine Ablehnung einfach nicht akzeptieren. Mir scheint, er sieht mich als eine Art Trophäe, die er seiner Sammlung an hübschen Frauen hinzuzufügen gedenkt. Ich werde so unverfroren sein, ihm nicht mehr zu antworten, versteht er doch eh nicht, was ich sage. Die gesamte Angelegenheit ist ein weiteres Zeichen dafür, wie unglückselig mein Dasein doch ist. Mir fällt es zunehmend schwerer, etwas zu finden, das mein Herz erfreut. Dass die Männer ein so ungebildetes und einfältiges Volk sind, macht es nur unerträglicher! Einzig der Gedanke an eine Zeit, in der ein Kavalier zwar schamlos ist, aber dennoch Herz und Verstand besitzt, schenkt mir noch ein wenig Zuversicht.“ Sei blickte von den Seiten auf, nachdem sie deren Inhalt fertig vorgetragen hatte. „Mehr steht dort nicht. Denkst du, Yugiri hat etwas mit ihrem Verschwinden zu tun?“ „Er ist auf jeden Fall unser Hauptverdächtiger. Aber würde ein Fürst hier einfach so hereinspazieren und eine von den Hofdamen davontragen können?“ Fujitsubo schüttelte den Kopf. „Gewiss nicht. Kein Fürst, den ich kenne, macht sich selbst die Hände schmutzig. Außerdem wüsste es doch jemand, wenn er über Nacht geblieben wäre. Er hatte am Abend ganz sicher den Heimweg angetreten, das wurde mir von den Dienern so erzählt.“ Ranpo kreuzte die Arme vor der Brust. „Tsk, der Kerl wollte sich ein Alibi verschaffen, bevor es so etwas wie Alibis überhaupt gibt. Sei, weißt du, wo dieser Yugiri wohnt?“ Die Angesprochene legte kurz nachdenklich den Kopf schief. „Ja, ich bin an der Stelle, an der es zu seinem Anwesen geht, einmal vorbei gefahren. Es ist ein wenig außerhalb … ah, aber Ranpo, wir können dort nicht einfach vorbeischauen. Es bräuchte einen Anlass, um Zugang gewehrt zu bekommen.“ Der Meisterdetektiv grinste verschmitzt. „Dann veranlassen wir halt einen Anlass. Vielleicht verkaufen wir Atsushi doch noch.“ „Oh“, machte Sei da, als ihr etwas einfiel. „Fujitsubo, sag, hast du noch ein paar Gewänder übrig, die du nicht brauchst?“ „Huh? Ja, eine riesige Truhe voll. Nimm dir, was du brauchst. Ich werde ständig mit Geschenken überhäuft.“ Ein zartes Lächeln legte sich auf das sorgenvolle Gesicht der Dame. „Ich verstehe fürwahr nicht, was hier eigentlich los ist, aber ich habe das Gefühl, dass dieser Kavalier hier plant, Murasaki zurückzuholen und das würde mich von Herzen freuen. Ich war bereits in Sorge, die ganzen Lästermäuler des Palastes hätten Recht und Murasaki hätte ihrer Melancholie nachgegeben und wäre vielleicht …“ Sie schüttelte den Kopf und lächelte noch etwas mehr. „Aber wenn dein außergewöhnlicher Liebhaber Recht hat, dann lebt sie noch.“ Stolz erwiderte Sei das Lächeln und ergriff von neuem Ranpos Arm. „Mein außergewöhnlicher Liebhaber hat immer Recht.“ Ranpo blinzelte sie erneut an. Kapitel 5: Ein böser Geist -------------------------- Dazai hatte sich mit dem Gesicht zuerst auf den Tatami-Boden fallen lassen. „Das ist eine grausame Art zu sterben“, jammerte er. „Du stirbst nicht gleich, wenn du mal körperlich arbeiten musst“, konterte Kunikida, als er sich neben ihn setzte. Während sie auf Ranpo warteten, durften sie sich in einem der Gebäude aufhalten. Die Türen waren an diesem heißen Tag weit aufgeschoben, sodass sie über die Veranda auf den Palasthof blicken konnten. „Dahingerafft von Muskelkater! Das stand als Methode nicht einmal in meinem Buch.“ Dazai drehte sich auf den Rücken und schlug sich theatralisch einen Handrücken gegen die Stirn. „Was wird denn nun aus meinem Vorhaben, mit einer schönen Frau Doppelsui- oh!“ Er unterbrach sich selbst und saß auf einmal kerzengerade da, als ein hübsches junges Mädchen, maximal im Alter Atsushis, hereinkam und ihnen Tee hinstellte. „Möchtest du vielleicht mit mir Doppelsuizid begehen, schönes Kind?“ Er nahm schamlos ihre Hand, nachdem sie den Tee abgestellt hatte. „Eh?“ Verdattert blickte sie ihn an und kam auch nicht mehr dazu, mehr zu antworten, denn Kunikida hatte seinem Partner eine gewaltige Kopfnuss verpasst, die Dazai zurück auf die Matte geschickt hatte. „Hast du eigentlich bei irgendetwas von dem, was wir hier besprochen haben, zugehört?!“ „Von wo kommt ihr her?“, fragte das Mädchen mit großen Augen, als sie sich zu ihnen hinkniete. „Eure Ausdrucksweise und euer Benehmen sind so … ungewöhnlich.“ Kunikida und Dazai tauschten einen Blick aus. „Aus dem Osten! Weit aus dem Osten!“, antworteten sie unisono. „Ah, da war ich noch nie“, entgegnete die junge Dienerin, als hätte dies das komische Verhalten der beiden Männer für sie vollständig erklärt. „Und der Fürst, dem ihr dient, kommt einen so weiten Weg, um die Dame Sei zu treffen?“ Sie hielt kurz inne und schaute sich um, bevor sie in einem Flüsterton hinzufügte: „Man munkelt hier ja, die Dame sei eine von denen mit besonderer Gabe. Weiß euer Fürst das?“ Die beiden Detektive wurden hellhörig. „Besondere Gabe?“ Dazai spielte den Dummen. „Was bedeutet denn das?“ „Manche nennen es 'Fähigkeit'“, wisperte das Mädchen, „und es befähigt zu Dingen, die einem normalen Menschen nicht möglich sind. Ob es ein Segen der Götter ist oder ein Fluch der bösen Geister weiß man allerdings nicht. Die Dame Sei und auch die Dame Murasaki sollen derart befähigt sein.“ „So?“, äußerte Dazai interessiert. „Was es nicht alles geben soll. Aber wie kommt man darauf, es könnte ein Fluch sein? Sicher tun die Damen nichts Böses?“ Die Dienerin schüttelte den Kopf. „Von den beiden habe ich noch nichts dergleichen gehört, aber im Umfeld von anderen soll es schon zu unheimlichen Vorfällen gekommen sein.“ „Andere?“ Kunikida runzelte besorgt die Stirn. Gab es hier noch weitere Befähigte? „Von der Dame Rokujo heißt es zum Beispiel, dass sie Leute mit Krankheit verfluchen kö-“ „Erzählst du den Gästen etwa Gruselgeschichten?“ Eine männliche Stimme unterband ihre Erzählung harsch. Ein junger, dunkelhaariger Mann war vor der Veranda aufgetaucht. Seine mehrschichtige, bunte Kleidung verriet, dass er zu den Bessergestellten gehörte. „Verzeiht, Herr, natürlich nicht.“ Das Mädchen verbeugte sich so tief, dass ihr Kopf den Boden berührte. „Verneigt euch, schnell!“, raunte sie den beiden anderen zu. „Das ist To no Chujo, der Sohn eines Kanzlers.“ Geschwind packte Kunikida Dazai am Hinterkopf und beugte diesen mit hinunter, als er sich selbst verbeugte. „Verzeiht unsere Unkenntnis“, stammelte der Blondschopf. „Auauauau, nicht schon wieder meine Haare“, jaulte währenddessen Dazai. To no Chujo lachte. „Erhebt euch ruhig wieder. Zu wem gehört ihr?“ „Fürst Edogawa aus dem Osten“, antwortete Kunikida und versuchte, seine Nervosität herunterzuschlucken. „Aus dem fernen, fernen Osten“, ergänzte Dazai. „Von dem habe ich noch nie gehört.“ Der Sohn des Kanzlers legte den Kopf schief. „Besucht er hier jemanden?“ „Die Dame Sei“, erwiderte Dazai und ihm entging nicht der Hauch von Unmut, der sich bei Erwähnung dieses Namens flüchtig über die Miene des Mannes gelegt hatte. „Kennt Ihr sie?“ „Ja. Die Kaiserin hat einen Narren an ihr gefressen.“ „Trotz ihrer … wie hieß es? Fähigkeit?“, hakte Dazai, in der Rolle des Dummen geradezu aufblühend, nach. To no Chujos Gesichtszüge wurden merkwürdig hart bei dieser Frage. „Ihr seid hier fremd, daher wisst ihr nicht, dass es verpönt ist, dieses Thema anzuschneiden.“ Sein strenger Blick traf die junge Dienerin. „Du hast ihnen nichts weiter gesagt, oder? Die Zunge sollte man dir herausschneiden.“ „Nein, Herr, ich habe kein Wort zu viel gesagt“, japste das Mädchen verängstigt. „Lasst ihre Zunge ruhig drin“, sagte Dazai süffisant lächelnd, während seine Augen To no Chujo fixierten. „Euer Gesicht hat Bände gesprochen, als ich das Wort 'Fähigkeit' erwähnt habe. Ihr wolltet diesem Mädchen sicher nicht den Mund verbieten, weil sie über Sei sprach. Jemand, der Euch nahe steht, ist auch ein Befähigter?“ To no Chujo schreckte ertappt zusammen. Argwöhnisch musterte er den fremden, dunkelhaarigen Bediensteten. „Eure Augen wirken, als sähen sie in mein Innerstes. Ihr seid ein wahrlich ungewöhnlicher Diener.“ In Dazais Lächeln mischte sich Affektiertheit. „Oh, bitte, Ihr seid zu gütig.“ Kunikida sah derweil angespannt zwischen den beiden anderen Männern hin und her. Dazai wusste, was er da tat, oder? Oder? „Unser Fürst“, fuhr der brünette Detektiv fort, „ist so klug, dass er daheim vielen als unheimlich gilt. Wer weiß, vielleicht ist er ja auch so ein Befähigter? Er würde meine Loyalität trotzdem nicht verlieren. Und dieser Diener hier würde für ihn sterben, wenn es sein müsste, nicht wahr?“ Kunikida nickte entschlossen. „Ihr seht also, wir sind frei von jeglichen Vorurteilen“, schloss Dazai. „Tsk.“ Der Sohn des Kanzlers schnalzte mit der Zunge. Er betrachtete den dunkelhaarigen Detektiv mit einer Mischung aus Neugierde und Beklommenheit. „Deine Worte sind geradezu einlullend. Ein gewöhnlicher Diener bist du sicherlich nicht. Dich umgibt die Aura eines Fuchses.“ Dazai antwortete mit einem siegessicheren Lächeln und To no Chujo öffnete erstaunt den Mund, als wäre es ihm endgültig nicht mehr geheuer, mit wem er da sprach. Geschlagen zuckte er mit den Schultern. „Mir wurde beigebracht, dass es weiser ist, sich nicht mit einem Fuchs zu messen.“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist meine Schwester, Aoi. Und mehr möchte ich dazu wirklich nicht sagen. Innerhalb des Palastes ist es ein offenes Geheimnis, aber ich bitte euch, dies für euch zu behalten.“ „Wir sind sehr verschwiegen“, erwiderte Kunikida bitterernst. „Lebt Eure Schwester hier im Palast?“ „Eigentlich ja, doch momentan hält sie sich meist lieber in den Anwesen außerhalb der Stadt auf.“ „Weil sie sich nicht mit den Damen Sei und Murasaki versteht?“, schlussfolgerte Dazai und verblüffte den anderen Mann damit von neuem. „Woher …?“ Er machte einen Schritt zurück, als würde die allwissende Aura, die von Dazai ausging, ihn zurückdrängen. „Habe ich es hier etwa mit einer Fuchsgottheit zu tun? Es scheint wirklich sinnlos, vor dir etwas verbergen zu wollen.“ Er war spürbar beeindruckt und gleichzeitig eingeschüchtert von diesem ungewöhnlichen Diener. „Nun gut. Die Kaiserin bevorzugt die beiden immerfort, davon brauchte meine Schwester eine Pause und daher ist sie mit ihrer Freundin, der Dame Rokujo, vor einer Weile aufs Land gefahren.“ „Huh?“, mischte sich die Dienerin wieder ein. „Die Dame Rokujo habe ich vor zwei Tagen des Nachts hier herumschleichen sehen.“ Kunikida und Dazai kamen gerade einmal dazu, einen alarmierten Blick auszutauschen, ehe laute Geräusche und Geschrei ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Klang das wie … ein Kampf?   „MENSCHENTIGER!! BIST DU HIERFÜR VERANTWORTLICH?!“ „D-das kann doch nicht sein … Akutagawa??“ Mehr konnte Atsushi erst einmal gar nicht herausbringen, denn – wie hätte es auch anders sein können – Akutagawa fackelte nicht lange und ging mit Rashomon auf ihn los. Als die Bänder Rashomons und vor allem der Teil seiner Fähigkeit, der aussah, als hätte er ein Gesicht, erschienen, kreischten die umstehenden Passanten panisch auf und auch die Wächter am großen Tor schrien verschreckt durcheinander. „Was ist das?? Ein Dämon?!“ „Ein böser Geist! Da kommt ein böser Geist aus diesem zornigen Mann!!“ So falsch lagen sie gar nicht, dachte Atsushi, während er dem ersten Angriff durch einen schnellen Sprung mit seinen Tigerbeinen auswich. Zum Glück hatte Akutagawa alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen, sodass seine eigene Fähigkeit für den Moment niemandem aufgefallen war. Allerdings – so entsetzt wie die Leute auf die Fähigkeit des Mafioso reagierten - musste dies auch unbedingt so bleiben. Direkt nach seiner Landung auf dem Boden hatte der junge Detektiv daher seine Beine rasch zurückverwandelt und rief den Passanten und Wächtern zu, sich schnell in Sicherheit zu bringen und die Bewohner der Stadt ließen sich nicht lange bitten und rannten eiligst davon. „Akutagawa!“, brüllte Atsushi seinem unfreiwilligen Erzfeind entgegen, der fast identische Kleidung wie er selbst trug – und darüber seinen gewohnten schwarzen Mantel. „Hör bitte auf!! Wir dürfen hier nicht kämpfen!“ „Was hast du getan, Menschentiger?? Mit welchem Trick hast du uns hergebracht und wieso??“ „Trick? Was für ein Trick?? Ich habe euch bestimmt nicht …. Moment mal. Uns??“ „Wenn du nicht antworten willst, dann werde ich dich dazu bringen, antworten zu müssen!“ Mit rasanter Geschwindigkeit flogen wieder Bänder Rashomons auf Atsushi zu. Die, die währenddessen den Boden berührten, rissen diesen auf und gruben tiefe Rillen in die Straße vor dem Tor. Zwei starke Tigerarme griffen nach den Bändern und hielten sie fest. Wenn er etwas zerstört, wird eine Katastrophe geschehen! Warum, warum nur musste ausgerechnet er hier auftauchen?! Die gewaltigen Kräfte Rashomons brachten Atsushis Arme zum Zittern. Akutagawa verstärkte den Druck, den die schwarze Bestie auf den Jungen ausübte und Atsushi musste langsam immer mehr und mehr zurückweichen. Jedoch ließ er nicht los, obwohl seine blanken Füße über den harten Boden schrubbten und ihm blutende Wunden dort zufügten. Trotzdem entschied sich Atsushi, so wenig wie möglich von seiner Fähigkeit zu zeigen. Solange er sich nur teilweise in den Tiger verwandelte, konnte er dies vor den Wachen, die noch am Tor standen, verbergen. Die Bänder transformierten sich plötzlich zu Klingen, die sich in Atsushis Arme rammten. Vor Schmerz aufschreiend, ließ er los und Akutagawa ging nur eine Sekunde später zum nächsten Angriff über. Aus dem Augenwinkel bekam Atsushi mit, wie die Wachen ihren Kollegen auf der anderen Seite zuriefen, Meldung zu machen und Verstärkung zu holen. Diesen Moment, in dem sie das Kampfgeschehen außer Acht ließen, nutzte er, um sowohl Arme als auch Beine in den Tigermodus zu versetzen und blitzschnell den Angriff Rashmons abzuwehren und zum Gegenschlag überzugehen. Akutagawa jedoch reagierte ebenso schnell und noch bevor Atsushi ihn erreichen konnte, flogen die Bänder wieder auf ihn zu. Der Detektiv konnte nichts anderes mehr tun, als zu einem Pfeiler am Tor zu springen, um sich von dort mit seinen kräftigen Beinen abzustoßen, um so Akutagawa erreichen zu können. Weil Rashomon ihn verfolgte, krachten die Bänder mit voller Wucht in mehrere Säulen des Tores und die dahinter stehende Konstruktion. Das Holz zerbarst und riesige Splitter und Trümmer flogen umher und rissen weitere Löcher in das stolze Gebäude. Ein lautes Knarren und Knarzen ertönte und nur einen Augenaufschlag später krönte ein mächtiger Knall die Zerstörungswut des Mafioso. Das prächtige Tor war zur Hälfte in sich zusammengefallen. Atsushi hatte es gerade so geschafft, vom Tor wieder wegzuspringen, bevor es auseinanderfiel, landete allerdings recht unsanft auf dem Boden zu Akutagawas Füßen. „Menschentiger“, knurrte dieser, aber das war in diesem Moment nicht das, was Atsushi am meisten beunruhigte. Das Tor war zerstört und vielleicht waren sogar die Wachen verletzt. Dies war genau das, was auf gar keinen Fall hätte passieren dürfen. Eine gewaltige Staubwolke breitete sich vom eingefallenen Prachtbau über sie aus und ließen Akutagawa und den am Boden liegenden Atsushi heftigst husten. „Scheiße! Akutagawa! Was hatte ich gesagt??“ „Meister, sind Sie verletzt??“ Zwei Stimmen drangen zu ihnen hindurch und kurz darauf konnte Atsushi erkennen, dass zwei Gestalten zu ihnen gelaufen kamen. „Was machst du denn für einen Mist??“ Chuuya hustete ebenso angesichts des Staubs. „Sind Sie verletzt?“, fragte Higuchi merklich besorgt. „Was ist denn … was macht der Menschentiger hier??“ „Was?“, stutzte Chuuya, dessen Outfit dem, das Dazai sich zuerst zusammengeklaut hatte, sehr ähnelte. Er hatte zudem aber noch ein Tuch auf seinen Rücken gebunden, in dem er offensichtlich etwas aufbewahrte. Seinen Hut etwa? Der Rothaarige sah hinab auf Atsushi, der sich gerade ein wenig aufrichtete. „Was zur Hölle??“ Oh nein! Auch noch Chuuya und Higuchi? Was machen die alle hier? Was soll ich nur tun? Ich darf unter keinen Umständen einen weiteren Kampf riskieren! „Hey! Hat euer verdammtes Büro damit zu tun?!“ Chuuya polterte sofort los und seiner zornigen Aura nach war zu befürchten, dass er gleich zum Angriff übergehen würde. „Wenn meine Waffe nicht verschwunden wäre, würde ich ihn auf der Stelle erschießen!“, pflichtete Higuchi ihm bei. Auch sie trug einen Kurzarm-Kimono mit passender, beigefarbener Hose dazu. „Ich werde aus ihm herausquetschen, was er mit uns angestellt hat“, grollte Akutagawa, als er plötzlich erschrocken zusammenzuckte und das noch herumwabernde Rashomon sich auflöste. „Na, na“, flötete eine Stimme, die allen vertraut war und über die sich Atsushi in diesem Moment über alle Maßen freute. „Egal wann, egal wo, du bist ein zeitloser Garant für Ärgernisse, Akutagawa.“ Die Staubwolke verzog sich langsam und Dazai, der Rashomon berührt hatte, kam zum Vorschein. Hinter ihm folgte Kunikida, dem es den Atem verschlug, als er sah, was geschehen war. „Grundgütiger!“, rief da ein weiterer Mann, der atemlos herangeeilt war. Wells schlug seine Hände über seinem Kopf zusammen, als er das zerstörte Tor sah. Dann erblickte er die drei Mafiosi und riss entsetzt die Augen auf. „Oh nein. Oh nein. Oh nein“, wiederholte er immerzu. „Ist jemand verletzt?“ To no Chujo kam angelaufen und mit ihm einige Wachen, die den anderen Wachen, die am Tor gestanden hatten, aus den Trümmern halfen. „Was ist hier vorgefallen?“ Erleichtert, dass niemand ernsthaft verletzt schien, erlaubte Atsushi es sich, auszuatmen. Doch er wusste, dass sie jetzt in richtige Schwierigkeiten geraten konnten. „Sind das die Verantwortlichen? Haben sie das Tor niedergerissen?“ To no Chujo blickte mit finsterer Miene zu den Leuten vor dem zerstörten Tor. „Ergreift sie!“ Atsushi schluckte. Was sollten sie jetzt nur tun? Sie saßen alle in der Falle und drohten, aufzufliegen. „Higuchi, tackle Kunikida“, raunte Dazai der Frau zu, ohne dass der weiter entfernt stehende To no Chujo ihn hören konnte. „Was?!“, entfuhr es Kunikida irritiert. „Stehst du noch auf unserer Seite?“ „Atsushi, lass dich von Akutagawa wieder zu Boden werfen“, fuhr Dazai unbeirrt fort, „und Chuuya, du verpasst mir eine.“ „HÄH?“ Chuuya guckte Dazai an wie ein Reh im Scheinwerferlicht eines Autos. „Du lässt es dir zweimal sagen, dass du mich schlagen sollst?“ Dazai grinste genüsslich. „Bestimmt nicht!“ Chuuya stürmte auf den Brünetten zu, während Akutagawa Higuchi ein Zeichen gab, das zu tun, was ihr aufgetragen worden war. „Hast du das verstanden, Menschentiger?“, wandte er sich an Atsushi, der zaghaft nickte. „Nicht alles, aber ich glaube, Dazai hat einen Plan.“ Kunikida ließ sich im stillen Vertrauen auf seinen Partner von Higuchi umwerfen und Atsushi bekam von Akutagawa einen (unnötig) harten Tritt in den Bauch, der ihn wieder zu Boden fallen ließ. Dazai fing Chuuyas Faustschlag mit einer Hand ab, zog ihn zu sich und flüsterte dem Rothaarigen ins Ohr: „Etwa 700 Meter südöstlich von hier steht etwas versteckt ein kleiner Inari-Schrein. Dort, in zwei Stunden.“ Dann gab er ein theatralisches „Ah, ich bin getroffen!“ von sich und fiel – nicht minder theatralisch – um. Angesichts dieser Performance blinzelte Chuuya einmal verwirrt, ehe er, Higuchi und Akutagawa das Weite suchten. Kapitel 6: Eine schöne Frau --------------------------- Naomi war verschwunden. Nachdem Fukuzawa Mori die Situation erklärt und ihm gesagt hatte, dass sie nichts weiter tun konnten, als auf die Rückkehr der anderen zu warten, hatten sich die kläglichen Reste des Detektivbüros und der Hafen-Mafia wieder in ihre jeweiligen Hauptquartiere begeben. Die vier übrigen Detektive hatten bei ihrer Heimkehr die gesamte Detektei abgesucht, doch Naomi schien sich wie Tanizaki und Haruno in Luft aufgelöst zu haben. „Sobald die anderen zurück sind, wird sie wieder auftauchen“, beruhigte Fukuzawa seine schwermütig seufzenden Mitarbeiter. Die Sonne war mittlerweile wieder aufgegangen und so langsam machte sich selbst in dem besonnen Chef eine immer größer werdende Unruhe breit. Er musste ihnen vertrauen, doch … was wenn sie es wirklich nicht mehr rechtzeitig schafften? Es war gut möglich, dass diejenigen, die auf diese Zeitreise geschickt worden waren, nicht einmal ahnten, dass sie einen Kampf gegen die Zeit kämpften. Mitten in diese wenig erbaulichen Gedanken stöhnte Kenji hörbar leidend hinein. „Yosano“, sagte er und blickte ganz elend drein, „mir geht es nicht so gut …“ Aufgeschreckt eilte die Ärztin an seine Seite. Kenji war geistig immer noch ein Kind, aber im Körper eines inzwischen gut und gerne über 60 Jahre alten Mannes. „Hast du Schmerzen? Kannst du mir sagen, wo?“, fragte Yosano so mitfühlend, wie man es nur zu sehr seltenen Gelegenheiten von ihr kannte. Kenji nickte schwach. „Es tut überall weh …“ „Komm, leg dich im Krankenzimmer etwas hin.“ Sie warf einen fast hilflosen Blick zurück zu Fukuzawa, bevor sie Kenji, sanft an den Schultern packend, aus dem Raum führte. Als Yosano kurze Zeit später wieder in den Büroraum der Detektei zurückkehrte, seufzte sie tief. In ihrer kurzen Abwesenheit hatte das Alter des Chefs einen weiteren Sprung rückwärts gemacht. Ein sehr jugendlicher Fukuzawa von maximal 14 Jahren stand bei Ranpos Schreibtisch und scheiterte an dem Versuch, seinen Kimono noch höher zu raffen. Es war einfach viel zu viel Stoff für einen Jungen seiner Größe, auch wenn Fukuzawa selbst als Kind von stattlicher Statur war. Wäre die Lage nicht so dramatisch, ging es Yosano durch den Kopf, wäre es ein richtig niedlicher Anblick. „Chef“, sagte sie ihm, als sie näher trat, „ziehen Sie doch Kenjis Sachen an. Das wäre weniger umständlich.“ Ihr Vorschlag traf auf wenig Gegenliebe. „Ich würde gerne wenigstens meine Kleidung anbehalten, wenn sich sonst alles ändert.“ „Oder Sie tauschen mit Kyoka. Ihr Kimono ist immerhin etwas kürzer.“ Die Erwähnte, die nun in ihren Dreißigern war, errötete und zog an ihrem Kimono, dessen Raffung sie vollends heruntergelassen hatte und der ihr trotzdem nur gerade einmal bis zur Mitte ihrer Waden ging. Fukuzawa schüttelte dezent den Kopf. Seine gestrenge Miene wirkte auf einem so jugendlichen Gesicht äußerst befremdlich. „Was ist mit Kenji?“ Yosano zuckte niedergeschlagen mit den Schultern. „Altersgebrechen. Es trifft ihn ziemlich hart, vermutlich weil es sich nicht um einen natürlichen Alterungsprozess handelt. Es geht viel zu schnell und sein Körper kommt damit nicht gut klar.“ Sie biss ihre Zähne aufeinander und ballte ihre Hände zu Fäusten. „Ich habe keine Ahnung, was ich dagegen tun soll.“ Eine unbehagliche Stille legte sich für einen Augenblick über die Detektei. Ihre Verzweiflung wuchs und ihre Zeit lief ab. „Sie werden es noch rechtzeitig schaffen.“ Kyoka versuchte, ihre eigene Angst abzustreifen. „Atsushi und die anderen werden es rechtzeitig schaffen.“ „Sie sind unsere einzige Hoffnung.“ Yosano löste ihre geballten Fäuste wieder und atmete kurz durch. „Eigentlich können wir uns sicher sein, dass alles gut werden wird, solange Ranpo da ist.“ Als sie dies sagte, fiel ihr das Stutzen des Chefs auf. Fukuzawa drehte sich zu dem Schreibtisch, an dem er stand, und blickte diesen gedankenversunken an. Sein Gesichtsausdruck wirkte, als würde ihn plötzlich etwas quälen, als wäre ihm plötzlich das Herz ganz schwer geworden. Alarmiert hakte Yosano sofort nach. „Ist etwas nicht in Ordnung?“ „Nein, es ist nichts ….“ Er schüttelte den Kopf. „Nur ...“ Fukuzawa schaute sichtlich gepeinigt zu der Ärztin. „Yosano ... wessen Platz ist das hier normalerweise?“ Sie starrte ihn entgeistert an.   „Die Angreifer sind also entkommen? Welch Ungemach!“ Kunikida warf Dazai einen giftigen Blick zu. Der Brünette sollte es mit seiner Theatralik mal nicht übertreiben. Welch Ungemach? Hatte Dazai vergessen, dass er einen einfachen Diener spielen sollte? „Die Wachen durchkämen die Stadt“, erwiderte To no Chujo. „Ich habe den ganzen Hofstaat über den Vorfall informieren lassen und die Kanzler haben eine Verstärkung der Wachtruppen anordnen lassen. Zum Glück sind der Kaiser und die Kaiserin momentan in ihrer Residenz außerhalb der Stadt. Lasst mich euch daher an ihrer Stelle für euren Mut danken, sich diesen Unholden entgegen zu stellen.“ Er drehte sich zu Ranpo, der herbeigeholt worden war. „Ihr habt wahrlich wackere Leute unter Euch, mein Herr.“ „Joa, sie sind manchmal recht nützlich“, antwortete dieser unbeeindruckt, was die im Hintergrund stehende Sei zum Kichern brachte. To no Chujo führte nachdenklich eine Hand an sein Kinn. „Die Wachen sagten, es hätte ausgesehen, als wäre ein böser Geist aus dem dunkel gekleideten Bauern gekommen. Und der hellhaarige Bauernjunge, der dort draußen war und auch davon gelaufen ist, bevor die Wachen ihn erreichen konnten, hätte sich mit einer unmenschlichen Geschwindigkeit fortbewegt.“ Kunikidas Sorgenfalten vertieften sich bei diesen Überlegungen. Je weniger Kontakt sie zu den Leuten in der Vergangenheit hatten, desto besser für die Gegenwart. Und demnach galt auch: Je weniger die Leute in der Vergangenheit über sie und ihre Fähigkeiten erfuhren, desto besser. Wenn jemand Atsushis Tigerform gesehen hatte, war er ratsamer, ihn zu verstecken, auch wenn er nicht zu den Verdächtigen gezählt wurde, die mit der Zerstörung des Tors in Verbindung gebracht wurden. Sie mussten sehr geschickt vorgehen- „Ein böser Geist? Ein Bauernjunge mit unmenschlicher Geschwindigkeit? Was für ein Unsinn.“ Ranpo gähnte gelangweilt. „Verzeiht, mein Herr, aber seid Ihr mit Befähigten vertraut?“, fragte To no Chujo. „Befähigte?“ Ranpo winkte ab. „Ja, gewiss. Aber es erscheint mir geradezu lächerlich, dass zwei dahergelaufene Bauerntrampel über solche Fähigkeiten verfügen sollten. Oder habt Ihr schon einmal davon gehört, dass außerhalb der höheren Kreise jemand eine solche Gabe besitzt?“ Der selbstbewusste Vortrag des Pseudo-Adligen brachte den tatsächlichen Adligen ins Grübeln. „Nein, in der Tat nicht … aber was haben die Wachen dann gesehen? Wie ist das Tor eingestürzt?“ „Es ist schrecklich heiß heute. Die Sonne hat ihnen zugesetzt. Und das Tor muss bereits vorher instabil gewesen sein. Ein Erdstoß hat es so wahrscheinlich zu Fall gebracht.“ „Ich habe keinen Erdstoß bemerkt“, entgegnete To no Chujo. „Oh, da war einer“, schaltete sich Sei verhalten ein, „ein geringer, doch spürbarer.“ Der Sohn des Kanzlers zweifelte an seinem eigenen Verstand. „Und ihr?“, Er wandte sich an Dazai und Kunikida. „Habt ihr einen bösen Geist gesehen?“ „Ein böser Geist?“ Kunikida schüttelte hastig den Kopf. „Nein. Aber sehr heiß ist es heute schon.“ „Nur ein paar Bauerntrampel“, antwortete Dazai. „Sie wollten wohl den kleinen Bauernjungen mit dem verschüchterten Blick ausrauben. Ja, sie sahen aus wie gewöhnliche Diebe.“ To no Chujo fasste sich mit einer Hand an den Kopf. „Was für wundersame, wundersame Ereignisse …“   „Und das hat er euch geglaubt?“ Atsushi guckte seine Kollegen mit großen Augen an. Sie hatten ihn ein paar Straßen weiter gefunden, nachdem sie das Palastgelände auf die gleiche Weise, wie sie es betreten hatten, wieder verlassen hatten (und Dazai ein weiteres Mal über „Tod durch Muskelkater“ gejammert hatte). In der hintersten Ecke einer Straße, wo niemand sie gerade sehen konnte, gab Ranpo Atsushi die von Fujitsubo gestiftete Kleidung und der Junge begann verschämt, sich am helllichten Tag und unter den Augen der anderen umzuziehen. Falls die Palastwachen nach Atsushi suchten, war es besser, wenn er sofort die Kleidung wechselte und so vom eventuell gesuchten Bauernjungen zum unbekannten Diener befördert wurde. Atsushi staunte über die Sachen, die er nun überstreifte. Wie weich sie waren! Kein Vergleich mit den kratzigen Kleidern, die sie den armen Farmern gestohlen hatten. Die Beklauten taten ihm jetzt doppelt leid. Wells hockte derweil kreidebleich auf dem Boden, umarmte seine Knie und wiederholte immer nur: „Oh nein. Oh nein. Oh nein.“ „Ranpo“, sagte Kunikida ernst, „woher wusstest du, dass in dieser Zeit nur Adlige Befähigte sind?“ Der Meisterdetektiv blinzelte ihn fragend an. „Häh?“ „Du hast doch gegenüber To no Chujo behauptet, nur Leute aus höheren Kreisen-“ „Ach so!“, rief Ranpo energisch aus. „Das war komplett erfunden!“ Für einen Moment lang spürte Kunikida seinen Herzschlag aussetzen. „Das … war … er-fun-den?“ Seine Augen zuckten auf eine Art, die ungesund aussah. „Von vorne bis hinten. Aber ...“ Der Schwarzhaarige zuckte mit den Schultern. „So ein Typ wie To no Chujo umgibt sich nur mit Adligen, mit dem einfachen Volk kommt der nicht in Berührung, woher soll der also wissen, dass Fähigkeiten nicht von der gesellschaftlichen Klasse abhängen?“ Dazai kicherte. „Du hast seine begrenzte Wahrnehmung der Wirklichkeit gegen ihn verwendet.“ „Er schien sowieso komplett durch den Wind zu sein, seit er mit einem meiner Diener gesprochen hat.“ „Tsk, Kunikida, was bringst du den armen Kerl auch durcheinander?“ „ER HAT DICH GEMEINT, DU ZEITLOSER QUÄLGEIST!!“ „Ähm.“ Atsushi war fertig mit seinem Kleiderwechsel und trug nun die hochwertige Kleidung eines Dieners am Hofe. „Sollten wir da nicht etwas machen?“ Er deutete zaghaft auf den am Boden kauernden Wells. „Und wieso in aller Welt sind Akutagawa, Chuuya und Higuchi hier?“ Dazai klatschte in die Hände. „Das werden wir jetzt herausfinden. Auf, auf, Herr Wells, uns läuft schließlich die Zeit davon, nicht wahr?“   Chuuya tippelte nervös mit einem Fuß (er und die beiden anderen hatten sich Schuhe geklaut) auf den Boden. „Wo bleibt der denn?“, grummelte er mit zusammengebissenen Zähnen. Er, Higuchi und Akutagawa warteten bei dem kleinen Schrein, den Dazai ihm genannt hatte. Von der recht entfernt liegenden Straße aus war von diesem Schrein nur ein winziger Teil einer Fuchsstatue zu erkennen, sodass die drei Mafiosi ihren Zielort fast verfehlt hätten. Vermutlich hatte Dazai genau deswegen diesen versteckten Platz zu ihrem Treffpunkt auserkoren. Und nur jemandem wie Dazai würde beim Vorbeilaufen ein so abgelegener Schrein überhaupt auffallen. „Da kommt jemand“, zischte Higuchi und ging sofort in Habachtstellung. „Das sind sie.“ Akutagawa blieb völlig cool. „Ich erkenne den Menschentiger an seiner nervigen Art zu gehen.“ Diese Bemerkung rief bei Chuuya ein ungläubiges Kopfschütteln hervor, bevor wenige Sekunden später die Detektive samt Wells um die Ecke kamen. „Der Brite hat eine Minute, um sich zu erklären“, begrüßte das rothaarige Führungsmitglied sie, „dann töte ich ihn mit meinen eigenen Händen.“ Wells zuckte zusammen und huschte hinter einen angespannten und wenig begeisterten Kunikida. „Na na“, wiegelte Dazai ab, „wir brauchen ihn noch für die Heimreise. Oder gefällt es dir hier so gut, dass du bleiben willst?“ „Ich verstehe es nicht“, wandte sich Atsushi an den Briten. „Warum sind diese drei hier?“ Bedrückt und ängstlich kam Wells hinter seinem menschlichen Schutzschild hervor. „Als Fräulein Sei mich um den Gefallen bat, Herrn Edogawa herzuholen, dachte ich an die schlimmen Vorkommnisse beim letzten Mal. Wie die Mafia mich gezwungen hatte, meine Fähigkeit einzusetzen und daraufhin alles schief gegangen war.“ Er seufzte tief. „Und während ich das Portal öffnete, um den Detektiv zu teleportieren, dachte ich nur: Hoffentlich, hoffentlich muss ich nie wieder diesem Hut tragenden Grobian von der Hafen-Mafia begegnen ….“ Mit einer geradezu aberwitzigen Stille ruhten alle Blicke auf Wells, der nervös lachte. „Und so muss ich aus Versehen ein zweites Portal geöffnet haben, das ...“ „Den Hut tragenden Grobian und alle, die neben ihm standen, hierher befördert hat“, schloss Dazai für ihn. „Dazai?“, fragte Chuuya und alle anderen bildeten sich ein, Blitze in seinen Augen zucken zu sehen. „Ja?“ „Wann darf ich den Briten umbringen?“ Der brünette Detektiv lachte auf. „Leider haben wir dafür im Moment nicht die Zeit. Herr Wells, wollen Sie nicht erklären, was Akutagawas miserable Selbstbeherrschung angerichtet hat?“ Akutagawa schnaufte unzufrieden bei dieser Formulierung. Atsushi wurde es währenddessen schrecklich unwohl bei der Miene, die der Brite nun zog. So ernst hatte er ihn die ganze Zeit noch nicht erlebt. „Die Anzeige steht jetzt bei 47 Minuten.“ Atsushi und Kunikida zogen scharf die Luft ein und selbst Ranpo blickte besorgt drein. „Das ist … schlecht“, antwortete Dazai. Die drei Mafiosi verwirrte diese Szene. „Was redet ihr da, Detektive?“, hakte Higuchi ungeduldig nach. „Wieso guckt ihr, als stünde das Ende der Welt bevor?“ „Weil es das tut, nicht wahr?“, warf Akutagawa ein. „Wenn selbst Dazai die Sorgen ins Gesicht geschrieben stehen, dann wird etwas Schreckliches geschehen.“ „Das ist deine Schuld“, machte Atsushi ihm Vorwürfe. „Wenn du nicht das große Tor zerstört hättest, dann-“ „Das bringt jetzt nichts“, unterbrach Kunikida ihn. „Ihr müsst verstehen, dass unser Aufenthalt in der Vergangenheit Auswirkungen auf die Gegenwart hat. Unsere sowie eure Kollegen werden nun von den gleichen Anomalien wie beim letzten Mal heimgesucht. Und wenn sie alle uns vergessen, werden wir niemals nach Hause zurückkehren können.“ Die Mitglieder der Hafen-Mafia starrten voller Fassungslosigkeit auf die Überbringer dieser schlechten Nachrichten. „Was sollte das mit den 47 Minuten heißen?“, bellte Chuuya sie gleichermaßen wütend und irritiert an. „Wenn die Anzeige von Herrn Wells Armbanduhr eine Stunde überschreitet, kann er die Anomalien nicht mehr rückgängig machen“, erläuterte Atsushi bitter. „Wenn wir alle uns zu lange hier aufhalten und wir weiter hier herumtrampeln und Menschen oder Dinge zu Schaden kommen ...“ Sein Blick ging flüchtig zu Akutagawa, der darauf mit einem „Hmpf“ reagierte, „ … dann wird die Anzeige sich bald gefüllt haben.“ „So ein Scheiß!“, entfuhr es Chuuya. „Dann schick uns einfach zurück in die Gegenwart!“ Stimmt ja, kam es Atsushi erleichtert in den Sinn, Wells kann die drei einfach zurückschicken und wir bekämen mehr Zeit, Murasa- „Witzige Geschichte“, sagte Wells kleinlaut. Es gab noch mehr Haken?? „Weil ich meine Fähigkeit umgebaut habe, kann ich nicht mehr so leicht und vor allen Dingen schnell mehrere Portale hintereinander öffnen. Da das Öffnen der Portale jetzt von meiner Uhr gesteuert wird, muss sich die Uhr erst wieder aufladen, ehe das Erschaffen von neuen Portalen möglich sein wird.“ Stille legte sich über die Gruppe der Zeitreisenden. „Und ...“ Kunikida kniff mit zwei Fingern die Stelle zwischen seinen Augen und massierte sie angespannt, „und wann wird sie wieder aufgeladen sein?“ Dem Briten stand der Schweiß auf der Stirn. „Noch nicht so bald …“ Stille legte sich über die Gruppe der Zeitreisenden. Schon wieder. „Dazai?“, fragte Chuuya erneut und diesmal waren da eindeutig Blitze in seinen Augen zu sehen. „Ja?“ „ICH WERDE DEN BRITEN JETZT UMBRINGEN!!“ „Na na!“ Dazai hielt den wütenden Rothaarigen, der auf Wells losgehen wollte, fest. „Wir wollen doch mal schön weiter besonnen bleiben, nicht wahr?“ Wells kauerte wieder hinter Kunikida, während Chuuya wie ein Rohrspatz schimpfte und wild zappelnd versuchte, sich von Dazais Griff freizustrampeln. „Wäre alles nach Plan verlaufen“, erklärte der Brite entschuldigend, „dann wäre genug Zeit, dass die Uhr sich einfach wieder mit Hilfe von Solarenergie auflädt, aber unter diesem Umständen bräuchte es eine große Menge Energie in sehr kurzer Zeit, wie bei einer elektrischen Ladu-“ „In der Heian-Zeit werden wir aber keine Elektrizität finden!“, fiel ihm Akutagawa brüsk ins Wort. Dann blitzte etwas in seinen Augen auf. War ihm eine Idee gekommen?, fragte sich Atsushi überrascht. „Wir töten einfach drei der Detektive, dadurch gewinnen wir Zeit“, schlug der dunkelhaarige Mafioso ungerührt vor. „Hervorragende Idee, Meister!“, jubilierte Higuchi. „W-was?“ Atsushi verschluckte vor Schreck fast seine Zunge und Kunikidas Hand griff schon nach seinem Notizbuch, das er unter seinem Gewand versteckt hatte. „Das ist eine blöde Idee“, warf Ranpo seelenruhig ein. „Das würde unseren britischen Freund so sehr stressen, dass er euch, selbst wenn er wieder ein Portal öffnen kann, wahrscheinlich in die Steinzeit befördert. Ist doch so, oder?“ Trotz der angespannten Lage schlug Ranpo Wells gut gelaunt mit der flachen Hand auf den Rücken. „Äh, ja, ja! So ist es!“ „Räudiges, britisches Schoßhündchen“, knurrte Akutagawa, als sich ihnen nähernde Schritte alle jäh verstummen und innehalten ließen. Ein tiefer Seufzer war zu hören, bevor die Frau, die ihn ausgestoßen hatte, um die Ecke kam. „Das ist alles meine Schuld, verzeiht.“ Wie ein wandelnder Trübsinn, mit hängenden Schultern und gesenktem Blick, stand Sei vor ihnen. Natürlich hatten die Detektive ihr gesagt, wo sie sie finden konnte. „Ich wollte doch nur Murasaki helfen und jetzt seid Ihr und Eure Gefährten alle in Bedrängnis.“ „Gehört die zu euch, Detektive?“, ertönte Higuchis Stimme und ließ die Hofdame mit gespitzten Ohren aufhorchen. „Murasaki?“, hakte Akutagawa nach, der Sei wiedererkannt hatte. „Die andere Frau von damals?“ „Sie wurde entführt“, antwortete Atsushi, der zuvor über alles, was Ranpo, Sei, Dazai und Kunikida in Erfahrung gebracht hatten, informiert worden war. „Wir sind hier, um sie zu retten.“ „Oh, das ist eine Frau?“ Sei blinzelte Higuchi erstaunt an, die bei dieser Frage sofort die Fassung verlor. „Natürlich bin ich eine Frau, du dumme Pute!!“ Die Beleidigung komplett ignorierend, hellte sich Seis Gesicht auf und sie trat näher an Higuchi heran, um diese zu mustern, was der Kriminellen schrecklich unangenehm war. Anscheinend gefiel der Hofdame jedoch, was sie da sah. „Was macht die da?“, empörte sich Higuchi schrill in Richtung der Detektive. „Sagt ihr, sie soll das lassen!“ „Ja!“, rief Sei gänzlich unbeeindruckt aus und klatschte erfreut in die Hände. „Das könnte funktionieren!“ „Hast du einen Plan?“, fragte Ranpo erwartungsvoll. Sei nickte begeistert. „In Murasakis Tagebuch stand doch geschrieben, Yugiri sammele schöne Frauen wie Trophäen, erinnerst du dich?“ Ein breites Grinsen bildete sich prompt auf der Miene des Meisterdetektivs. „Das ist eine hervorragende Idee!“ Über alle Maßen erfreut über dieses Lob von Ranpo klatschte Sei erneut in die Hände und ließ daraufhin ein weiteres Mal ihren kritischen Blick über Higuchi schweifen. „Es wird zwar ein bisschen Arbeit, aber das kriege ich hin.“ Die blonde Frau überkam ein ungutes Gefühl. „Großartige Neuigkeiten, Atsushi!“, posaunte Ranpo heraus, „Wir müssen dich doch nicht verkaufen!“ „W-wie bitte?“ „Ahh~“, machte da Dazai, „ich verstehe. Ja, so machen wir es.“ „Häh?“ Überfordert sah Higuchi zu den anderen. „Wollt ihr etwa …?“ Auch Kunikidas zuerst fragender Blick klärte sich nun und er verzog das Gesicht. „Moralisch einwandfrei ist das nicht gerade.“ „Moment, Moment“, legte Chuuya (der sich immer noch in Dazais Griff befand) Einspruch ein. „Wieso glaubt ihr, wir würden euch helfen?“ „Weil ihr schön brav bei uns bleiben müsst, um nicht verloren zu gehen“, gluckste Dazai. „Oder stellt euch vor, Herr Wells würde euch tatsächlich woanders hinschicken, wenn ihr euch nicht benehmt und nicht brav mitspielt. Magst du eigentlich Dinosaurier, Chuuya?“ „Schon verstanden, du Mistkerl!!“, schnaufte der Rothaarige erzürnt. „Meinetwegen! Aber meinen Leuten darf nichts passieren!“ „Das ist für uns doch selbstverständlich“, entgegnete Dazai mit dem selbstgefälligsten Grinsen, das Chuuya je gesehen hatte. „Hmpf“, grummelte Akutagawa und zuckte mit den Schultern. Selbst Wells, der hinter Kunikida hervorlugte, nickte, als würde er einem Plan zustimmen, der überhaupt nicht geäußert worden war. Irritiert sah Atsushi von Person zu Person ihrer Gruppe und wie sie alle nacheinander zu verstehen schienen, was Sei für einen Plan hatte. Nur er und Higuchi guckten komplett planlos aus der Wäsche. Der silberhaarige Detektiv ging in seinem Kopf noch einmal alle Fakten durch, die zu diesem Punkt geführt hatten: Dieser Fürst Yugiri war hinter schönen Frauen her, weswegen er Murasaki entführt hatte. Man brauchte einen Anlass, um in das Anwesen dieses Fürsten zu gelangen. Sei war erfreut darüber, dass Higuchi eine Frau war. Was war den anderen da für eine Idee gekommen? … … … Oh. In dem Augenblick, in dem Atsushi zu begreifen begann, trafen sich sein und Higuchis Blick. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, verstand sie es nun auch. Entsetzt stieß Higuchi einen hysterischen Schrei aus. Kapitel 7: Der Dichtwettstreit ------------------------------ Kyoka sah ängstlich vor sich. Sie stand im Krankenzimmer und behielt Kenji fest im Blick. Mit schwerem Herzen ging sie zu dem Bett, in dem er lag und unruhig schlief. Es war offensichtlich, dass er selbst im Schlaf keine Ruhe vor seinen Schmerzen fand. In den wenigen wachen Momenten, die er in den letzten Stunden gehabt hatte, hatte Kenji sich an keinen der vier Zeitreisenden erinnern können. Zaghaft streckte Kyoka eine ihrer für sie ungewohnt großen Hände nach seinem Kopf aus. Sanft und behutsam strich sie über Kenjis schneeweiß gewordenes Haar, in der Hoffnung, dies könnte ihn ein wenig beruhigen. Sein Gesicht war fahl und von Falten durchfurcht und sein unregelmäßiger Atem rasselte bei jedem Atemzug. Wie alt mochte er inzwischen sein? Wie lange würde er noch durchhalten? Kyoka kam sich schrecklich hilflos vor. Ihr war es lieber, wenn Yosano bei ihm blieb, auch wenn selbst sie nicht viel für ihn tun konnte. Im Notfall, so war sich Kyoka sicher, würde Yosano aber schneller und besser reagieren können als sie. Kyoka riss sich von dem Anblick von Kenjis schwach und zerbrechlich gewordenem Körper los und ging wieder zu den anderen beiden verbliebenen Detektiven ins Büro. Schon im Flur hörte sie, dass die Diskussion, die bereits seit Stunden immer mal wieder auflebte, erneut im Gange war. Mit wachsender Verzweiflung versuchte Yosano, den Chef daran zu erinnern, wer Ranpo war. „Das ist doch nicht möglich, dass Sie Ranpo tatsächlich vergessen haben! Bitte, Chef, versuchen Sie, sich zu erinnern!“ Sie hatte ihm ausladend das Äußere des Meisterdetektivs geschildert, seine Verhaltensweisen, seine üblichen Gesten und Worte – ohne Erfolg. Fukuzawa, im oberen Grundschulalter und in seinem übergroßen Kimono und Haori-Mantel fast verschwindend, hielt sich angestrengt seinen Kopf mit beiden Händen und blickte immer gepeinigter drein. „Ich versuche es ja! Aber ich kann mich nicht entsinnen, demjenigen, den du beschreibst, je begegnet zu sein.“ „Er war das erste Mitglied der Detektei, ohne ihn würde es das Büro der bewaffneten Detektive überhaupt nicht geben. Ein Teiletat des Büros geht sogar immer für seinen Süßigkeitenhunger drauf, vielleicht erinnern Sie sich wenigstens daran?“ „Süßigkeiten? Sagtest du nicht, er sei 26?“ Die Ärztin stöhnte entnervt. „Das hat keinen Sinn.“ Sie stand wieder von ihrem Platz auf, wo sie sich, zunächst geschockt, dann immer mehr verzweifelnd, niedergelassen hatte. „Erinnern Sie sich denn noch an Kunikida?“ „An wen?“ Inzwischen konnte Yosano nichts mehr schocken. Als hätte sie diese Antwort erwartet, schüttelte sie lediglich den Kopf. „Dazai?“ Zwei große, ernste Augen blinzelten sie verständnislos an. „Atsushi?“ „Gehören die etwa alle zur Detektei?“ Fukuzawa wandte verstört seinen Blick ab. „Wenn das meine Leute sind … wie konnte ich sie dann vergessen?“ Der Anblick des so tieftraurigen Chefs schnürte Kyoka regelrecht den Hals zu. Sehr wahrscheinlich lag es an seinem jetzigen Aussehen, aber Fukuzawa wirkte, als würde er gleich anfangen zu weinen. „Es ist nicht Ihre Schuld, Chef.“ Yosano hatte auf dem Weg zum Krankenzimmer noch einmal gestoppt und sich dem erschütterten Jungen wieder zugedreht. „Ich weiß, dass Sie keinen von uns je vergessen würden.“ Sie lächelte betrübt. „Besonders nicht ihn, wo Sie ihn doch so sehr lieben.“ Fukuzawa konnte gerade einmal ihren Blick erwidern, bevor er erschrocken die Luft einzog. Auch Kyoka erschrak und von jetzt auf gleich breitete sich eine unbändige, nackte und kalte Angst in ihrem Innern aus. Yosano war verschwunden.   „Wenn du dich umdrehst, Menschentiger, töte ich dich.“ Atsushi hielt fast den Atem an, als er seinen Blick schnurstracks gen Boden richtete. Warum musste ausgerechnet Akutagawa neben ihm sitzen? Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, dass sein Erzfeind ein Gesicht machte, als würde er ihm gleich den Kopf abbeißen wollen. Alle Männer ihrer unfreiwilligen Reisegruppe saßen, den Rücken zum Inneren des Raumes gewandt, im Kreis auf dem Boden von Wells kleinem Haus und starrten die Wände an. In ihrer Mitte befanden sich Sei und Higuchi und Erstere werkelte gerade daran, Letztere „präsentabler“ zu machen. Sei hatte Fujitsubo um Hilfe gebeten, die daraufhin die gesamte riesige Truhe voller edler Gewänder aus dem Palast hatte bringen lassen. Die Kleider, die sich in der hölzernen Kiste befanden, waren allesamt mit duftendem Weihrauch eingeräuchert worden und Atsushis feine Nase protestierte beinahe bei einem so penetranten Geruch. Sei hingegen ging es sichtlich gegen den Strich, Fujitsubo um ihre Dienste zu bitten, doch für die Rettung Murasakis schluckte sie ihren verletzten Stolz hinunter. Fujitsubo hatte mit ihrer großen Beliebtheit bei wirklich jedem im Palast sogar einen Wagen samt Ochsengespann und Kutscher organisieren können, der ihnen nun zur Verfügung stand. „Ich will mir sicher nicht Higuchi angucken“, gab Atsushi auf Akutagwas Drohung hin zurück. „Hey!“, empörte sich die erwähnte Frau lautstark. „Willst du damit sagen, ich wäre nicht attraktiv, Menschentiger??“ „D-doch, natürlich-“, stammelte Atsushi perplex. „Menschentiger, das ist meine letzte Warnung“, knurrte daraufhin wieder Akutagawa und Atsushi war nach Schreien zu Mute. „Ich seh schon, ich seh schon“, meldete sich Dazai unverblümt zu Wort, „ihr braucht einen unbefangenen Dritten, der sich die Sache mal ansieh-“ „WAGE ES JA NICHT!!“ Kunikida und Chuuya brüllten ihn von beiden Seiten an und hielten seinen Kopf fest, damit er sich auf keinen Fall umdrehen konnte. „Auauau, was habt ihr immer mit meinen Haaren? Ist das ein Fetisch?“ Kurze Zeit später gab Sei endlich ihr Okay und die Herren der Runde durften sich den Damen wieder zuwenden. „Hi-higuchi?“, entfuhr es Chuuya atemlos, als er seine Untergebene betrachtete. Higuchi trug mehrere, farblich aufeinander abgestimmte Kimonos in den schönsten Pastelltönen, ihre Haare waren trotz ihrer kurzen Länge hochgesteckt und mit Haarnadeln und feinsten Stoffblüten geschmückt. Ihre Lippen leuchteten in einem edlen Rot – und wie sie von allen (inklusive Akutagawa) so angestarrt wurde – erröteten auch Higuchis Wangen und ließen sie noch hübscher aussehen. „Leider habe ich nichts zum Zähneschwärzen da“, beklagte Sei, doch Dazai winkte ab. „Bei manchen Schönheitsidealen ist es doch das Schönste, wenn sie sich überleben. Da fällt mir ein: Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal ernsthaft sage, aber … Higuchi, möchtest du mit mir Doppelsui-auuuuuuuuu!“ Zwei gleichzeitige Kopfnüsse ließen ihn verstummen. „Dafür ist jetzt eindeutig keine Zeit!“ Kunikida räusperte sich und zwang sich, seinen Blick von Higuchi zu nehmen. „Wir müssen die letzten Vorbereitungen treffen und dann aufbrechen.“ Auch Chuuya räusperte sich und tat sein Bestes, um an Higuchi vorbeizusehen. „Mir passt diese Zusammenarbeit immer noch nicht, aber wenn uns nichts anderes übrig bleibt, dann lasst es uns wenigstens schnell hinter uns bringen!“   Außerhalb der alten Hauptstadt, oben auf dem Rand eines steilen Hügels und umgeben von viel Wald, lag das Anwesen des Fürsten Yugiri. Es war natürlich um einiges kleiner als der Kaiserpalast, doch war die Bauweise der Gebäude ähnlich und Atsushi konnte seine staunenden Augen kaum von den kunstvollen Dächern nehmen, auf deren Ziegeln die Sonne in der Abenddämmerung glitzerte. Von Sei hatten sie erfahren, dass Yugiris Vater ein hohes Tier am Hofe gewesen war und der Sohn nun aus diesem Wohlstand und Einfluss Nutzen zog und selber Ambitionen hatte, ein noch höheres Tier zu werden. Durch das Eingangstor hatten sie es bereits geschafft. Ranpo hatte aus dem Inneren des Wagens beinahe losprusten müssen, als Kunikida ihren Tross bei den Wachen angemeldet hatte. „Fürst Edogawa ersucht ein Treffen mit dem Fürsten“, hatte Kunikida schrecklich steif und förmlich und Blut und Wasser schwitzend von sich gegeben. „Er kommt mit einer Bitte und einem höchst … höchst en-entzückenden Geschenk.“ Atsushi lag es fern, Kunikidas Darbietung zu bewerten, denn er war froh, dass er nicht das Reden hatte übernehmen müssen. Da ansonsten momentan nur noch Akutagawa zu Fürst Edogawas Dienerschaft gehörte, war es unausweichlich gewesen, dass Kunikida das Sprechen übernahm. Es half auch nicht gerade, dass Akutagawa noch mürrischer guckte als er es sonst sowieso schon tat. Nicht nur, weil er Ranpos Diener spielen musste (und die Diener den ganzen Weg hier hoch neben dem Wagen hatten herlaufen müssen), sondern auch weil er auf Dazais Geheiß hin von ihm und Chuuya überredet worden war, seinen Mantel abzulegen. Der passte schließlich so gar nicht ins altertümliche Bild und außerdem mussten sie es um jeden Preis verhindern, dass Akutagawa ein weiteres Mal die Selbstbeherrschung verlor und irgendetwas zerstörte. Irgendwo zwischen Chuuyas „Es ist ein Befehl deines Vorgesetzten“ und Dazais „Tust du es für mich?“ hatte der dunkelhaarige Mafioso tatsächlich seinen Mantel ausgezogen. Ranpo entstieg mit der gleichen Anmut, die er zuvor bereits an den Tag gelegt hatte, dem Wagen und hielt der verdatterten Higuchi sogar eine Hand hin, um ihr beim Aussteigen zu helfen. „Ich lass mir doch nicht von einem der Detektive helfen“, zischte sie. „Wir wollen mal nicht unsere Rolle vergessen, oder?“, entgegnete Ranpo schelmisch und Higuchi ergriff widerwillig und miesepetrig seine Hand. „Habt Ihr noch Gepäck dabei?“, fragte einer der Wachen. „Oh ja, das ist ebenso ein Geschenk für euren verehrten Herrn“, antwortete Ranpo überschwänglich. „Meine Diener können das hineintragen.“ Die Wachen nickten und die wenig begeisterten Diener machten sich ans Werk, die schwere Kleidertruhe aus dem Wagen zu hieven. Kunikida war sich sicher, sich schon mehrere Muskeln beim Einladen dieser Truhe gezerrt zu haben, sie nun wieder herauszunehmen und auch noch zu tragen, würde ihn wahrscheinlich umbringen. Und er wusste, dass dieser Umstand einem gerade das größte Vergnügen seines Lebens bescherte. So wie sein Leid ihm immer Vergnügen bereitete. Fürst Edogawa wies den Kutscher an, zurückzufahren, was dieser sofort befolgte. Die Wachen übergaben daraufhin Ranpo und Higuchi, die sich ständig ins Gedächtnis rufen musste, sich verschämt einen Ärmel vors Gesicht zu halten, den Dienern Yugiris, welche die zwei und deren keuchende Bedienstete in ein Empfangszimmer geleiteten. Es war unschwer zu erkennen, wer von den Anwesenden im Raum der Herr der Hauses war. Fürst Yugiri saß auf einem dunkelroten Brokatkissen und war in der Gesellschaft zweier Damen. Er war ein stattlicher Mann in seinen Dreißigern, mit längeren, dunkelblonden Haaren und einigen Grübchen im Gesicht, die ihn jünger und recht reizvoll aussehen ließen. Seine leuchtend roten und gelben Gewänder ähnelten in der Machart stark denen, die Ranpo gerade trug. Yugiri blickte erstaunt auf, als die unerwarteten Gäste eintrafen. Seine Diener hatten die Besucher angekündigt und so musterte der Fürst den vorangehenden Ranpo erst einmal eindringlich, ehe sein Blick auf die hinter dem Meisterdetektiv stehende Higuchi fiel und die Muskeln um seinen Mund freudig zu zucken begannen. „Fürst Edogawa, ja? Ihr wollt mich sprechen?“ Yugiri blieb auf seinem Kissen sitzen und machte eine Handbewegung, nach der einer seiner Diener umgehend ein weiteres edles Kissen gegenüber von Yugiri auf dem Boden platzierte. „Bitte, setzt Euch.“ Der Fürst deutete auf das Kissen und Ranpo machte es sich umgehend auf diesem bequem. „Ähem ...“, keuchte Atsushi, immer noch dabei helfend, die schwere Truhe zu tragen. Er trug den vorderen Teil, Kunikida den hinteren und Akutagawa hielt die Mitte der riesigen hölzernen Kiste hoch. „M-mein Herr, verzeiht, aber ...“ Atsushis Blick ging nach hinten zu der Truhe. „Hm?“ Ranpo legte den Kopf leicht schief. „Ach so. Lasst sie einfach hier herunter.“ „Vorsichtig“, zischte Akutagawa den beiden anderen zu, was Kunikida aber nur halbherzig befolgte und die Truhe eher unsanft zu Boden gleiten ließ. Für alle anderen Anwesenden musste es glatt so wirken, als hegte der große Blonde einen Groll gegen diese Kiste. „Ich wundere mich“, sprach Yugiri überrascht und gleichzeitig interessiert, „was wohl ein mir vollkommen unbekannter Adliger aus dem Osten von mir will?“ Ranpos Augen glänzten spitzbübisch. „Ich will nicht lange drumherum reden: Ich trage mich mit dem Gedanken, am Hofe mitzumischen und bin daher auf der Suche nach jemandem mit politischem Einfluss.“ „Oh ho!“, rief Yugiri amüsiert aus. „Was für direkte Worte, welch schöne Abwechslung zu dem steifen Gehabe am Hofe. Daher will ich ebenso ehrlich mit Euch sein: Ihr wollt als jemand von außerhalb ein Amt bekleiden? Das ist ein schwieriges Unterfangen.“ „Nicht wenn man einen mächtigen Fürsprecher hat“, erwiderte Ranpo schlagfertig und ließ Yugiri erst stutzen und dann laut lachen. „Ihr scheint Euch gut informiert zu haben, wenn Ihr mich als Euren Verbündeten auserkoren habt. Warum denkt Ihr, ich würde Euch helfen?“ Während er dies alles sagte, wanderten seine Augen immer wieder zu der immer noch im hinteren Teil des Raumes stehenden Higuchi. Ranpo grinste noch eine Stufe verschmitzter. „Ihr habt mein Geschenk doch bereits bemerkt, oder etwa nicht?“ Atsushi, Akutagawa und Kunikida rückten ein Stück von Higuchi weg, die bei diesen Worten begann, eine (zum Glück nur für sie spürbare) Mordlust auszustrahlen. „Ahh~“, machte Yugiri erfreut, „ich hatte es bereits gehofft. Eine Schönheit fürwahr. Wenn auch schon ein bisschen alt.“ „Hat der gerade 'alt' gesagt??“, knurrte Higuchi aufgebracht in ihren Ärmel hinein. „Zum Ausgleich dafür“, sagte Ranpo unumwunden, „habe ich noch ein paar erlesene Gewänder mitgebracht.“ „Zum Ausgleich?!“ Higuchi biss ungesehen in den Stoff ihres Ärmels und ließ Atsushi milde in Panik geraten. Hoffentlich geht das gut, dachte er zum wiederholten Male seit ihrer Ankunft in der Vergangenheit. Aber wer sonst hätte die Frau spielen sollen, mit der sie sich bei dem Fürsten anbiedern wollten? Yugiri kannte Sei von seinen Besuchen im Palast, sie kam deswegen nicht in Frage. Atsushi konnte sich nach wie vor nicht mit dem Gedanken anfreunden, Higuchi als „Geschenk“ anzubieten, selbst wenn das Mafiamitglied ihm nicht sympathisch war. Dieses Vorgehen war für ihn moralisch alles andere als in Ordnung, doch Ranpo hatte ihm erklärt, dass vor eintausend Jahren die Männer des Hochadels viele Ehefrauen gehabt hatten, weil sie damit ihren Wohlstand hatten zeigen wollen. Und genau aus diesem Grund boten sie diesem schmierigen Kerl jetzt Higuchi als weitere Nebenfrau an. „Wie heißt du, schöne Frau?“, richtete sich Yugiri an Higuchi. „Higu- ich meine, Ichiyo“, antwortete sie und versuchte, mit einem schlecht gespielten schüchternen Lachen ihren Lapsus zu überdecken. „Ichiyo“, der Fürst lächelte sie an, „komm näher und setz dich zu uns.“ „Urgh“, entfuhr es Higuchi leise und aus nächster Nähe konnte man ihre Abneigung förmlich spüren. „Higuchi“, raunte Akutagawa ihr für den Fürsten unhörbar zu, „enttäusche mich nicht.“ Eine plötzliche Röte stieg wieder in die Wangen der jungen Frau und wild entschlossen – und etwas unbeholfen in den mehrlagigen Kimonos – stapfte sie zu Yugiri und ließ sich bei ihm, Ranpo und den anderen Damen nieder. Zu ihrer rechten Seite saß eine junge, schwarzhaarige Frau ihres Alters, die sie kaum eines Blickes würdigte. Der blassblaue Kimono, den sie zuoberst trug, machte die Frau noch bleicher als sie es sowieso schon war. Zu Higuchis anderer Seite saß eine in Blutrot gekleidete Dame mit dunkelbraunen Haaren, die älter als sie war und eine Miene machte, als würde sie die Blondine gleich fressen wollen. „Ah, ich hatte schon befürchtet, du wärst zu schüchtern.“ Yugiri lachte selbstgefällig. „Aber zum Glück scheinst du das nicht zu sein. Ein wenig Schüchternheit mag ich ja, doch wenn die Frauen zu schüchtern sind, sind sie doch recht langweilig, findet Ihr nicht, Fürst Edogawa?“ „Langeweile ist mir zuwider“, antwortete Ranpo, ohne tatsächlich auf die Frage zu antworten. Yugiri schien über diese Reaktion mehr als erfreut zu sein. „Ihr seid ein kluger Zeitgenosse! Wir sollten uns bei einem Spiel besser kennen lernen, aber erst würde ich noch gerne einen Blick auf die mitgebrachten Gewänder werfe-“ Yugiri stockte, als Atsushi sich panisch auf die Truhe stürzte und auch die beiden anderen Diener unerklärlicherweise plötzlich erschrocken dreinblickten. „Stimmt etwas nicht?“, hakte der Fürst verwundert nach. „Nicht doch“, entgegnete Ranpo gelassen, „wenn Ihr einen Blick IN die Truhe werfen wollt, könnt Ihr das gerne tun. IN der Truhe herrscht wahrscheinlich durch unsere lange Reise nur etwas Durcheinander.“ „Das ist nicht weiter tragisch.“ Yugiri schüttelte den Kopf und wies einen seiner Diener an, den Deckel der Truhe anzuheben. Auf Ranpos subtiles Zeichen hin zog Atsushi sich von der Kiste zurück. Er, Kunikida und Akutagawa hielten den Atem an, als der Diener den massiven Deckel hochhob. „Oh?“ Yugiri blinzelte, als er die geöffnete Truhe von seinem Platz aus betrachtete. „Das sieht wirklich chaotisch aus.“ Hastig schaute Atsushi in die Truhe hinein. Die unzähligen Kleider darin lagen kreuz und quer übereinander, als hätte jemand sie hastig dort hinein geschmissen oder darin gewühlt, aber ansonsten war nichts Besonderes zu sehen. Atsushi atmete hörbar aus. „Bringt sie in das Zimmer unseres Gastes. Vielleicht ist irgendetwas dabei, mit dem ich ihre Laune heben kann“, befahl der Fürst und seine Diener schickten sich an, die Truhe wegtragen zu wollen. Sie ächzten, als sie sie hochhoben. „Wie viel Kleidung ist denn da drin?“, stöhnte einer von ihnen. „Das muss ja schwerer Stoff sein.“ Unter den nervösen Blicken Atsushis und Kunikidas trugen sie die Kiste davon. „Nun denn“, Yugiri klatschte in die Hände, „wir wollten gerade eine Partie kai-awase spielen. Vielleicht möchte Ichiyo gegen meine Besucherin Aoi antreten?“ Die Frau im blassblauen Kimono verzog das Gesicht, als sie „Besucherin“ genannt wurde. „Mir ist nicht mehr nach Spielen. Rokujo, tritt du bitte für mich an.“ Die Dame im blutroten Kimono nickte bedächtig und ihre Miene wurde sogar noch strenger. „Sehr gerne. Ich will nur hoffen, die Dame aus dem Osten ist mit dem Spiel vertraut. Mir ist es neu, dass man so weit weg vom Hofe sich gediegen zu amüsieren weiß.“ Ihr Tonfall war so abfällig, dass Higuchi sich zusammennehmen musste, um ihr nicht „Ich mach dich gleich mit meinen Fäusten vertraut!!“ entgegen zu schreien. „Natürlich kenne ich das Spiel“, antwortete Higuchi so aufgesetzt freundlich und mit einem so forcierten Lächeln, dass es den Zeitreisenden einen Schauer über den Rücken jagte. Rokujo breitete zwei Dutzend Muschelschalen auf dem Boden aus und Atsushi wunderte sich, dass Higuchi dieses Spiel kennen sollte. Er hatte keine Ahnung, was in aller Welt da vor sich gehen sollte – und wie es sich schnell herausstellte: Higuchi auch nicht. Rokujo machte Punkt um Punkt und geizte nicht mit immer beißender werdender Häme gegenüber ihrer Mitspielerin, der von Runde zu Runde mehr Schweiß auf der Stirn stand. „Mir scheint, ihr ist dieses Spiel doch nicht so vertraut“, äußerte Yugiri, sichtlich enttäuscht von der vermeintlich erschreckend niedrigen Intelligenz der Frau. Higuchi verlor eine weitere Runde und endgültig die Nerven. „Verdammte Schei-“ „Ha ha!“, lachte Ranpo in ihren Kraftausdruck hinein und übertönte ihn so. „Es ist doch immer wieder dasselbe mit ihr. Sie tut so, als würde sie nicht wissen, dass man die Muschelhälften suchen muss, die zueinander passen, nur um die Gastgeber nicht zu verärgern, indem sie gewinnt.“ Higuchis Gesichtsausdruck in diesem Moment ließ sich mit nichts Geringerem als dem kleinen Wort „Aaah~“ beschreiben und auch bei Atsushi fiel der Groschen. Antikes Memory also. Akutagawa und Kunikida waren in der Zwischenzeit damit beschäftigt, sich eine Hand gegen die Stirn zu schlagen. So lange es nicht viel schlimmer als das wird, fallen wir immerhin nicht auf, dachte Letzterer, als eine weitere Frau den Raum betrat. Sie hatte lange, wallende, schwarze Haare und trug zuoberst ein dunkelblaues Gewand, das mit Gold besetzt war. Ihre Mimik war ähnlich streng wie die Rokujos, doch kam bei ihr noch eine deutliche Bitterkeit hinzu. „Jemandem absichtlich gewinnen zu lassen, spricht nicht für sie“, sagte sie mit spitzen Lippen. „Du kannst unmöglich Gefallen an so jemandem finden, oder Yugiri?“ „Kokiden, meine Liebste“, erwiderte der Fürst, „sicher hat Ichiyo andere Qualitäten, mit denen sie unser Haus bereichern könnte.“ Die hinzugekommene Frau schüttelte abwertend den Kopf. „Ich bin gelangweilt. Könnt ihr nicht etwas spielen, das mich unterhält?“ Erneut klatschte Yugiri in die Hände. „Wonach steht dir der Kopf, Liebste? Du hast immer so vorzügliche Ideen.“ Kokiden grübelte einen Augenblick lang, dann lächelte sie ein kaltes Lächeln. „Ein Dichtwettbewerb. Aber damit die Dame aus dem Osten sich nicht wieder verstellen muss, soll sie gegen jemanden von ihren Leuten antreten.“ Kokidens eisiger Blick wanderte zu den drei Dienern des Fürsten Edogawa. „Oh, der Junge mit dem dümmlichen Gesichtsausdruck. Sei du ihr Mitspieler.“ Akutagawas Blick ging sofort zu Atsushi und Kunikida bereute, was er eben gedacht hatte. Atsushi selbst blinzelte ein paar Mal, bevor er langsam begriff und fragend auf sich zeigte. „Wer soll sonst gemeint sein, Menschentiger?“, brummte Akutagawa und schubste ihn nach vorne zu der Gruppe der Sitzenden. Vor Verlegenheit und Überforderung fast eingehend, sahen sich Higuchi und Atsushi mit großen Augen an. Keiner von beiden hatte auch nur den geringsten Schimmer, was sie nun tun sollten. „Nur um uns den lokalen Gepflogenheiten anzupassen“, kam Ranpo ihnen zu Hilfe, „wird ein Thema vorgegeben, zu dem jeder dann abwechselnd einen Vers dichten muss oder steht den beiden die Themenwahl frei?“ Bei der erneut subtil vorgetragenen Erklärung atmeten beide Teilnehmer erleichtert auf. Kokiden hob kritisch eine Augenbraue. „Ich will ein Thema vorgeben. Wie wäre es mit 'eine unerwünschte Nebenbuhlerin'?“ Das ist nicht so subtil, ging es Atsushi durch den Kopf. So langsam blickte er hier durch. Kokiden schien eine Ehefrau Yugiris zu sein; Rokujo vermutlich eben so, nur Aoi nicht, was dieser wiederum allerdings nicht gefiel, wenn man das Gesicht bedachte, das sie gemacht hatte, als sie „Besucherin“ genannt worden war. Es hatte den deutlichen Anschein, dass die Ehefrauen nicht noch weitere Frauen hier haben wollten. „Wir warten“, sagte Kokiden hochmütig und schaute dabei Higuchi an. „Häh?“, entfuhr es der Blondine, die sich daraufhin hastig räusperte. „Äh, ja, ähm …“ Oje, ob Higuchi einen Vers zustande kriegt? Atsushi schluckte. Ob ICH einen Vers zustande kriege?? „Mir zerreißt es das Herz“, trug Higuchi mit überraschend fester Stimme vor, „dass ich ihr, die meinem Liebsten zu nahe kommt, nicht das Herz herausreißen kann.“ Während sie abwartend zu Atsushi sah, wunderte dieser sich, wie ungeahnt poetisch ihre Zeilen waren – und doch ihrer dunklen Mafiaseele treu blieben. „Äh“, stotterte er selbst, „vielleicht muss ich sie auch nicht gleich töten und es lässt sich mit ihr reden, dass sie ihn nicht weiter … äh, behelligt ...“ Im Hintergrund hörte Atsushi das Geräusch von zwei Händen, die von neuem gegen zwei Stirne geschlagen wurden. Dichtet ihr doch mal aus dem Stand heraus! „Was redest du da für einen Müll, Menschentiger?“, fauchte Higuchi leise in seine Richtung, bevor sie laut weiter dichtete: „Hell brennt nur das Feuer meiner Liebe für ihn, dessen schwarzes Haar nur meine zarten Hände berühren dürfen.“ Dessen schwarzes Haar …? Ging es noch eindeutiger?? Der junge Detektiv warf über seine Schulter einen Blick zurück auf Akutagawa, der ungerührt dreinblickte. Er hatte wahrscheinlich keine Ahnung …. „Darum wünsche ich mir, dass sie jemand anderen findet“, fuhr Atsushi diplomatisch fort, „der ihre Liebe erwidert.“ „Ansonsten jage ich sie, wie ich einen Tiger jagen würde, der meinen Weg immer und immer wieder kreuzt“, schloss Higuchi bedrohlich. Wäre dies ein Manga, dachte Ranpo angesichts der ausbleibenden Reaktionen, würde nun das lautmalerische Geräusch für Stille in Großbuchstaben über ihnen erscheinen. „Das war … interessant“, sagte Yugiri schließlich perplex. „Wie anders die Gedichte aus dem Osten doch sind. Vielleicht bestreiten die nächste Runde zwei aus unseren Reihen, dann seht ihr die Unterschiede selbst.“ Erleichtert atmete Atsushi aus. Hoffentlich war seine öffentliche Erniedrigung hier nicht umsonst gewesen und es verschaffte ihm die nötige Zeit für den zweiten Teil ihres Plans. Hoffentlich. Kapitel 8: Murasaki ------------------- Murasaki war sich nicht sicher, ob die zwei Diener, die eine Truhe hereingetragen hatten und dann wieder gegangen waren, Einbildung gewesen waren oder nicht. Was real war und was nicht, entzog sich schon lange ihrer Einschätzung. Sie konnte nicht einmal sagen, wie lange, denn auch ihr Zeitgefühl hatte sich in Luft aufgelöst. Vielleicht waren erst ein paar Tage vergangen, seit sie aus ihrem Zimmer im Palast hierher gebracht worden war, vielleicht waren auch bereits Wochen vergangen. Sie wusste es nicht. Seit diesem Abend, als sie beim Schreiben so plötzlich Schmerzen und hohes Fieber bekam, kam ihr alles nur noch vor wie ein Fiebertraum. Schwach und entkräftet lag sie seitdem in diesem Zimmer in Yugiris Anwesen. Sie war zu schwach, um aufzustehen und sie hatte begonnen, sich damit abzufinden, hier ihr Ende zu finden. Wenn es so war, dann gab es nichts mehr, das sie dagegen tun konnte, doch es bekümmerte sie zutiefst, sich nicht mehr von den wenigen Vertrauten, die sie im Palast hatte, verabschieden zu können. Dies war ihr letzter Wunsch, aber Murasaki wusste, wie unwahrscheinlich die Erfüllung von diesem war. Alles, was sie nun noch hoffte, war, dass die Krankheit, die Rokujos Fähigkeit ausgelöst hatte, sie bald von ihrem Leid erlösen würde. So tat sie es auch als ein Resultat ihres lebensbedrohlichen Fiebers ab, Geräusche aus dem Innern der Truhe zu hören. Ein Ächzen, ein Rumpeln - und eine Stimme. „Erstickt von Klamotten, die mit Räucherwerk behandelt wurden“, erklang es dumpf aus der Kiste. „Das stand auch nicht in der 'Anleitung zum perfekten Selbstmord.' Ich sollte dem Autor einen Brief schreiben und um eine Ergänzung bitten.“ Das Gerumpel in der Truhe wurde lauter und Murasaki drehte, so gut sie konnte, ihren Kopf in deren Richtung. Diese Stimme … das musste das Fieber sein! Wieso sonst sollte sie jetzt ausgerechnet seine Stimme hören? Von Angst ergriffen beobachtete sie mit glasigen Augen, wie der schwere Deckel sich langsam anhob und sich schließlich ganz öffnete. Ein paar Kleidungsstücke flogen heraus und plötzlich erhob sich ein Mann aus der Truhe, blieb darin sitzen und schüttelte missmutig seine dunklen, braunen Locken. „Scha … schamloser … Kavalier?“, hauchte Murasaki ungläubig. Das Fieber. Ganz bestimmt. „Huh?“ Dazai stutzte, dann sah er in die Richtung, aus der die Frage gekommen war und seine Mimik hellte sich auf. „Murasaki! Was für ein Glück! Ich dachte, ich müsste Sie noch suchen gehen!“ Dem nicht trauend, was ihre Augen wahrnahmen, versuchte Murasaki sich aufzusetzen, aber ihr schwach gewordener Körper ließ sie direkt vornüber fallen. Geistesgegenwärtig kletterte Dazai aus der Truhe, eilte zu der Frau und bekam sie noch an den Schultern zu fassen, bevor sie ganz umkippen konnte. In dem Moment, in dem er sie berührte, zuckte sie vor Schmerzen zusammen und krallte sich an ihm fest, als ein schwarzer Nebel ihren Körper ruckartig verließ und sich im nächsten Augenblick in Luft auflöste. Vorsichtig hob Murasaki ihren Kopf. Strähnen ihrer langen, lila-schwarzen Haare waren vom Fieber ganz nass und klebten an ihrer Stirn, doch nun sah sie mit wieder klarer gewordenen Augen zu dem Mann, der sie immer noch behutsam festhielt. Ein paar Mal öffnete sie den Mund, als wollte sie etwas sagen, tat es aber doch nicht und schloss ihn wieder, während sie Dazai sprachlos anblickte. „Wie fühlen Sie sich?“, fragte er nach einer kurzen Weile und Murasaki konnte erst einmal nichts anderes tun, als verdattert den Kopf zu schütteln. „Da besteht kein Zweifel … Ihr seid es wirklich … oder?“, brachte sie letztendlich hervor und der Hauch eines noch ungläubigen Lächelns legte sich auf ihr Gesicht, in das allmählich Farbe zurückkehrte. „Ich weiß nicht, wie das möglich sein kann, aber Ihr seid es wahrhaftig. Ihr habt schließlich gerade Rokujos Fähigkeit aufgehoben.“ Dazai erwiderte das zarte Lächeln. „Dann lagen wir mit unserer Vermutung richtig, was die Fähigkeit dieser Rokujo betrifft.“ „Aber … was macht Ihr hier? Wie kommt Ihr … oh, doch nicht etwa …?“ Murasaki dämmerte, was geschehen sein musste und der brünette Detektiv bestätigte ihre Annahme auf der Stelle. „Sei hat uns mit Wells Hilfe hergeholt. Na ja, eigentlich wollte sie nur Ranpos Hilfe, aber Kunikida, Atsushi und mich gab es kostenlos mit dazu. Und noch ein paar Leute, die leider vom Umtausch ausgeschlossen sind.“ „Ich verstehe nur die Hälfte von dem, was Ihr da sagt.“ Murasaki blinzelte ein paar Tränen weg, die sich in ihren Augen sammelten. „Aber ich kann es kaum fassen, dass Sei um meinetwillen solche Mühen auf sich genommen hat.“ „Glauben Sie es ruhig. Können Sie aufstehen?“ Murasaki nickte und machte Anstalten, sich zu erheben, doch ihr Körper war noch zu geschwächt und ihre wackligen Beine gaben sofort nach, als sie diese belasten wollte. „Hoppla!“ Dazai fing sie ein weiteres Mal galant auf. „Verzeiht“, entschuldigte sich die Hofdame, „diese krankmachende Fähigkeit scheint nicht ohne Nachwirkungen zu sein. Am liebsten würde ich dieser Hexe mit dem Gesicht eines Ochsenfrosches-“ Sie unterband ihre Schimpftirade selbst und räusperte sich verlegen, obwohl Dazai von diesem Wutausbruch recht belustigt war. „Was genau ist eigentlich passiert?“ „Rokujo hat sich an mich herangeschlichen und mich mit ihrer Fähigkeit verflucht. Ich war so schnell geschwächt, dass ich nicht einmal mehr meine Fähigkeit einsetzen konnte. Dann haben sie und die Dame Aoi mich hergebracht, weil dieser widerwärtige Schleimfrosch-“ Dazai grinste von neuem amüsiert. „- weil Fürst Yugiri“, fuhr sie fort, „mich dazu überreden wollte, seine Frau zu werden. Er dachte wohl, ich würde irgendwann nachgeben, wenn die Krankheit mein Leben bedrohte.“ „Wieso helfen die zwei Fürst Schleimfrosch überhaupt?“ Die flapsige Bemerkung brachte Murasaki tatsächlich ein wenig zum Lachen. „Rokujo macht alles, was er sagt, weil sie fürchtet, seine Gunst zu verlieren und Aoi erhofft sich, seine Gunst zu gewinnen. Sie stellt ihm schon seit Ewigkeiten nach und wurde bisher nicht von ihm erhört. Er hat ihr wohl eine Heirat in Aussicht gestellt, wenn sie ihm bei dieser Sache hilft.“ „Und Kunikida sagt, meine Flirtereien seien verwerflich.“ Dazai zuckte vergnügt mit den Achseln, ehe er einen von Murasakis Armen um seine Schulter legte, um ihr so dabei zu helfen, auf den Beinen zu bleiben. „Wissen Sie etwas über die Fähigkeit von Aoi?“ Sie nickte. „Sie ist der Eures Kameraden Tanizaki nicht unähnlich. Aoi erschafft ein Trugbild, das andere die Szenerie verändert wahrnehmen lässt. Sodass niemand Aoi oder die Missetaten, die sie begeht sieht oder hört. So brachten sie mich, von anderen unbemerkt, hierher.“ „Verstehe. Wie eine manipulierte Überwachungskamera, die den leeren Tresorraum zeigt, während in Wahrheit die Diebe längst darin sind.“ „Ich werde jetzt so tun, als hätte ich das verstanden.“ Die Hofdame atmete erleichtert aus und ihre Mimik entspannte sich endlich. „Ich kann nach wie vor nicht glauben, dass Ihr hier seid, um mir zu helfen.“ Dazai lächelte sie erneut an. „Wir sollten langsam verschwinden. Sonst wird Higuchi noch die nächste Frau Schleimfrosch.“ „Dieser Widerling bekommt den Hals niemals voll. Dabei ist seine erste Frau, Kokiden, die Eifersucht in Person. Ich befürchtete die ganze Zeit bereits, dass sie mir nach dem Leben trachten würde, selbst wenn ich die Krankheit überlebte.“ Sie begannen, sorgsam einen Fuß vor den anderen zu setzen, als Dazai plötzlich etwas einfiel, er sich noch einmal umdrehte, nach einem der achtlos auf den Boden geschmissen Kleidungsstücken bückte und ein zusammengeknautschtes, schwarzes Stoffbündel vom Fußboden aufhob. „Fast vergessen. Da wäre aber jemand sauer geworden.“ Er lachte und klemmte sich das Stoffbündel unter seinen Arm.   Ranpo wusste, was passiert war, als Rokujo mit einem Mal erschrocken zusammenzuckte. Dies war der schlechtere Fall, den sie sich vorgestellt hatten, doch sie hatten befürchtet, dass die Anwenderin es bemerkte, wenn ihre Fähigkeit aufgelöst wurde. Rokujos misstrauischer Blick kreuzte den des Meisterdetektivs, bevor sie sich an ihren Ehemann wandte: „Yugiri, mir scheint, wir sollten nach unserem anderen Gast sehen.“ Der Angesprochene hob verwundert eine Augenbraue. „Warum das?“ „Es muss etwas vorgefallen sein.“ „Das, was meiner Meinung nach wünschenswert wäre oder etwas anderes?“, fragte Kokiden kühl. „Nein, etwas anderes“, antwortete Rokujo hastig. „Das ist noch nie passiert. Als wäre es aufgelöst worden.“ „Aufgelöst?“ Ungeachtet seiner Gäste sprang Yugiri auf. „Das ist doch gar nicht möglich! Hast du einen Fehler gemacht?“ „Gewiss nicht!“, entgegnete Rokujo aufgebracht und erhob sich ebenfalls. „Es macht viel mehr den Eindruck, es hätte sich jemand von außen eingemischt.“ Seelenruhig stand Ranpo an dieser Stelle auf. „Wenn Ihr gerade anderweitig beschäftigt seid, will ich Euch gar nicht weiter stören.“ Erleichtert atmete Atsushi im Hintergrund leise aus. Allem Anschein nach hatte Dazai Murasaki gefunden und die Fähigkeit Rokujos aufgehoben. Es lief alles nach Plan und sie mussten nur noch schnell hier verschwin- „Einen Augenblick.“ Kokidens eisige Stimme durchschnitt seine Gedanken. „Was für ein seltsamer Zufall. Gerade als Ihr und Eure … wunderliche Gefolgschaft Eure Aufwartung macht, kommt es zu diesem Zwischenfall?“ Ihre dunklen Augen fixierten Ranpo und die anderen Zeitreisenden. „Wer seid Ihr in Wahrheit?“ „Vielleicht hat jemand aus dem Palast sie hergeschickt“, warf Aoi ein, die bei diesem Gedanken ebenso hochschreckte und noch blasser geworden war. „Ich sagte doch, diese schrecklich neugierige Hofdame Sei könnte ein Problem werden. Niemand hatte mir Gehör schenken wollen!“ Yugiri blickte derweil verwirrt von einer Person zur nächsten. „Meint ihr etwa, diese Leute sind … unmöglich!“ Der Fürst schaute voller Entsetzen zu Ranpo, der seinem Blick gelassen standhielt. Higuchi schlich derweil im Hintergrund zu den anderen zurück, die angespannt abwarteten, in wie weit die Situation nun eskalieren würde. Nur sehr langsam dämmerte Yugiri, dass hier etwas im Verborgenen vorgegangen war und plötzlich entwich seiner Kehle ein lautes Japsen. „Die Truhe … war da jemand in der Truhe??“ „Sie haben eine Truhe mitgebracht?!“, fauchte Kokiden. „Sie müssen jemanden eingeschleust haben, der diese lästige Murasaki holen soll! Yugiri, du Narr! Dich kann man keinen Moment aus den Augen lassen! Wenn ans Licht kommt, was du zu tun versucht hast, wird dich dies deine Stellung kosten!“ Mit hochrotem Kopf knetete Yugiri seine nervös zitternden Händen und blickte flehentlich zu der aufgebrachten Frau. „Liebste, das wäre aber schlecht für uns! Kannst du nicht etwas tun?“ Ein wütendes Stöhnen kam über ihre Lippen. „Es ist doch immer das gleiche mit dir! Wieso musste mich so ein liebestoller Taugenichts zur Frau nehmen und nicht jemand von höherem Rang?“ Tiefe Zornesfalten bildeten sich auf ihrer Stirn, als sie zu der davon schleichenden Higuchi schaute. „Rokujo! Kümmere dich um die hohle Nuss!“ Sich sofort angesprochen fühlend, wirbelte Higuchi verärgert herum. „Was fällt der alten Schachtel ein, mich so zu nennen?!“ Mehr Dampf konnte die Blondine nicht mehr ablassen, bevor sie mit weit aufgerissenen Augen eine Art schwarzen Nebel auf sich zurasen sah, der aus dem Körper der Frau mit dem blutroten Kimono gekommen war und der mit einer höllischen Geschwindigkeit in sie hineinflog. Im Bruchteil einer Sekunde verschwamm alles vor Higuchis Augen. Sie spürte ein aus dem Nichts kommendes, hohes Fieber in sich aufsteigen und konnte gerade einmal erschrocken scharf die Luft einziehen, ehe sie die Kontrolle über ihren so schnell geschwächten Körper verlor und zu Boden zu fallen drohte. In dem Moment, in dem sie zu fallen begann, aktivierte Atsushi seine Fähigkeit, sprintete mit seinen Tigerbeinen los und fing sie auf, noch bevor Akutagawa aufgeschreckt ihren Namen zu Ende hatte ausrufen können. „Sie haben einen mit einer Fähigkeit unter sich!“, schrie Aoi in den Tumult hinein. „Wer in aller Welt seid Ihr??“ Blitzschnell zog Yugiri einen Dolch unter seinem Gewand hervor, griff mit der anderen Hand Ranpo und drückte diesem drohend die Klinge gegen die Kehle. „Ha ha“, lachte Ranpo unbeeindruckt. „Ihr seid etwa eintausend Jahre zu früh, um es mit mir aufnehmen zu können!“ Kunikida holte geschwind sein Notizbuch unter seiner Kleidung hervor und … erstarrte. „Mein Füller … ist weg!“ „Das ist aber jetzt schlechtes Timing“, maulte Ranpo, immer noch vollkommen die Ruhe bewahrend, als fünf Diener Yugiris hineinstürmten, die vom Lärm alarmiert worden waren. „Jemand hat uns diese Betrüger auf den Hals gehetzt“, erklärte der Fürst ihnen eilig. „Sie wollen unseren Gast entführen! Durchsucht die Residenz!“ Die ihrem Herrn treu ergebenen Diener nickten und rannten von neuem los, während Atsushi überlegte, ob er es mit seiner Schnelligkeit schaffen konnte, Yugiri zu überwältigen. Der junge Detektiv kam jedoch nur noch dazu, einen kurzen Blick auf den Fürsten zu werfen, als dieser plötzlich verschwand – genau wie die drei Damen und Ranpo. Außer ihm, Akutagawa, Higuchi und Kunikida war niemand mehr im Raum. „Was …?“, stutzte Kunikida. „Ist das eine Fähigkeit? Ranpo! Bist du hier noch irgendwo?“ Niemand antwortete ihm. Atsushi übergab die bewusstlose Higuchi in Akutagawas Arme. „Er muss noch hier sein! Ich kann ihn noch riechen!“ Mit einem Mal horchte Akutagawa auf. Was war das, was in der Luft lag? Ein Knistern? Als würde ein Gewitter über sie hereinbrechen. „Menschentiger!“, warnte er ihn lautstark und keinen Augenaufschlag später schoss ein aus dem Nichts kommender Blitz auf Atsushi zu und schlug nur wenige Zentimeter neben dem knapp ausgewichenen Jungen ein. Ein qualmendes, schwarzes Loch klaffte nun im Boden. „Wie unerfreulich“, ertönte Kokidens eiskalte Stimme, als sie plötzlich vor den beiden jungen Männern auftauchte und ein elektrisches Knistern sie umgab. „Ein Mensch, der Eigenschaften mit einem Tiger teilt? So etwas kennt man doch sonst nur aus den alten Geschichten aus China.“ Eine weitere Befähigte?, dachte Kunikida angstbesetzt. Und ausgerechnet jetzt hatte das Raum-Zeit-Gefüge seinen Füller verschlungen. Angespannt biss er seine Zähne zusammen. „Du da.“ Kokidens finsterer Blick landete auf ihm. „Hast du auch solche Reflexe?“ „Kunikida, Vorsicht!“, schrie Atsushi, als Kokiden ihre rechte Hand hob und einen Blitz genau in die Richtung des Idealisten schleuderte.   Dazai stoppte abrupt. „Schamloser Kavalier?“, hakte Murasaki, immer noch auf ihn gestützt, besorgt nach. „Klingt, als würde unser Wunsch, kampflos zu entkommen, nicht erfüllt“, antwortete er gefasst. Weder er, noch die Hofdame kannten den Grundriss von Yugiris Anwesen und das Zimmer, in dem Murasaki festgehalten worden war, hatte mitten im Gebäude gelegen, sodass sie durch einen der Flure schleichen mussten, um einen Raum zu finden, der sie nach draußen bringen konnte. „Sie ist weg!“, hörten sie einen Diener hinter sich laut vermelden und kurz darauf waren schnelle Schritte in ihre Richtung zu vernehmen. „Zwischenstopp!“, flötete Dazai und schob eiligst die nächste Schiebetür auf und Murasaki und sich selbst in den Raum hinein. Ein weiterer Raum ohne Verbindung nach draußen. Murasaki deutete zu einem im Zimmer stehenden Wandschirm und flink huschte Dazai mit ihr dahinter. Die Schiebetür wurde hastig aufgeschoben und die zwei Flüchtigen hielten, auf dem Boden kauernd, den Atem an. „Nichts!“, ertönte es und die Tür ratterte wieder zu. „Sind Eure Kameraden in einen Kampf verstrickt worden?“, fragte Murasaki flüsternd nach und Dazai nickte. „Atsushi und Kunikida ziehen Gefahr an wie das Licht die Motten. Es ist wirklich unmöglich, die zwei mal einen Moment aus den Augen zu lassen.“ „Verzeiht. Das ist meine Schuld.“ Der traurige Tonfall der Dame ließ Dazai überrascht stutzen. „All dieser Ärger nur meinetwegen“, fuhr die Frau fort, während Tränen sich in ihren Augenwinkeln sammelten. „Ja“, entgegnete Dazai nonchalant, „all dieser Ärger nur Ihretwegen.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause und schmunzelte. „Weil Sie den Ärger wert sind, Murasaki.“ Sie sah ihn mit großen Augen an. „Wenn Sie sich Ihres Wertes bislang gar nicht bewusst waren, dann hat die ganze Sache doch wenigstens insofern etwas Gutes, als dass Sie sich jetzt dessen bewusst werden“, ergänzte Dazai. Die Hofdame blickte ihn einen weiteren Moment lang sprachlos an, als ihre Tränen begannen, sich den Weg aus ihren Augen über ihr Gesicht zu bahnen – und sie mitten durch ihre Tränen zu lächeln anfing. „Da kommt mein Leben mir mitunter so freudlos vor, dass ich die Welt am liebsten meiden möchte und dann riskieren gleich so viele Menschen ihr Leben für jemanden wie mich. Nun wird mir so warm ums Herz, dass ich denke, doch noch menschliches Gefühl zu besitzen.“ Der Detektiv erwiderte abwartend erst ihren Blick, dann ihr Lächeln und schüttelte letztlich seinen Kopf. „Für menschliches Gefühl bin ich nicht der richtige Ansprechpartner, aber ich kann Ihnen sagen, ich sehe Sie viel lieber lächeln als weinen.“ Er half ihr wieder vom Boden hoch. „Oh, schamloser Kavalier“, seufzte Murasaki, „Ihr seid mindestens so ahnungslos wie ich.“ Ohne darauf zu reagieren, verließ Dazai mit ihr wieder das Zimmer.   „Was war denn das?“ Sei wirbelte erschrocken in die Richtung des Anwesens, als sie von dort einen gewaltigen Krach ausmachte. Sie und Wells standen auf der der Stadt zugewandten Seite des Hügels, auf dem Yugiris Residenz thronte. Bei Seis panischer Bewegung hatte die Laterne, die sie trug und die ihre einzige Lichtquelle in der dunklen Nacht war, zu flackern begonnen. „Fräulein Sei, vorsichtig bitte. Das Feuer der Laterne darf nicht erlöschen, wir können sonst das Zeichen nicht entzünden“, ermahnte der Brite sie höflich und gestresst. „Ist es fertig?“, fragte die Hofdame und hielt die Laterne wieder etwas höher, um sich anzusehen, woran Wells gearbeitet hatte. Auf die nicht bewaldete, freie Fläche, auf der sie standen, hatte der Brite mit Holz und Stroh ein großes Kanji-Schriftzeichen gelegt. Wells nickte und kratzte sich nervös am Kinn. „Ich wundere mich jedoch, warum Herr Dazai ausgerechnet dieses Kanji wollte.“ „Er wirkt doch recht klug, er wird sich etwas dabei gedacht haben.“ Sei zuckte mit den Schultern. „Bei den beunruhigenden Lauten, die von dort oben kommen, sollten wir es jetzt entzünden.“ Ohne weiteres Zögern nahm Wells einen trockenen Zweig, hielt ihn in die Flamme der Laterne und steckte mit dem nun brennenden Holz alle Teile des Schriftzeichens in Brand. Das Kanji für „klein“ loderte lichterloh und von weitem hervorragend sichtbar auf dem Berg auf.   „Kunikida!“, schrie Atsushi voller Panik durch den Rauch, den der Blitzeinschlag Kokidens verursacht hatte. Der Idealist war durch den heftigen Blitz durch die papierne Schiebetür hindurch nach draußen geschleudert worden. „Der war erfreulicherweise kein Problem. Um den Tigerjungen kümmere ich mich zuletzt.“ Kokiden lenkte ihren eiskalten Blick an Atsushi vorbei und auf Akutagawa, der die geschwächte Higuchi auf den Armen trug. „Akutagawa!“, rief Atsushi ihm entgegen. „Lauf weg!“ „Meister ...“ Beim keuchenden Klang von Higuchis schwacher Stimme, sah der dunkelhaarige Mafioso zu ihr. Die Blondine rang nach Luft, ihre Augen waren glasig und der Schweiß stand ihr auf der Stirn. „Meister … lassen Sie mich zurück und retten Sie sich ...“ Akutagawas Blick wurde noch finsterer als er es die meiste Zeit eh schon gewesen war. „Klappe, Higuchi“, knurrte er erbarmungslos, bevor er zu Atsushi hinüber brüllte: „Menschentiger, erledige du das! Ich muss Dazai finden!“ Noch bevor Kokiden ihre Hand ein weiteres Mal heben konnte, war Atsushi mit seinen Tigerbeinen losgespurtet, hatte sich auf sie gestürzt und sie mit seinen kräftigen Tigerarmen auf den Boden gepinnt, während Akutagawa mit Higuchi aus dem Raum gestürmt war. Ein Diener stellte sich dem Mafia-Duo im Gang in den Weg, doch einen einfachen Menschen konnte Akutagawa auch ohne seinen Mantel ausschalten. Er hatte so viel Tempo beim Laufen aufgenommen, dass er problemlos zu einem Sprung ansetzen konnte und den Diener mit einem gezielten Tritt gegen den Brustkorb auf die Matte schicken konnte. Tatsächlich hatte er sich noch zurückhalten müssen, denn normalerweise hätte er mit so einem Sprungtritt den Mann auch töten können – aber dies durfte er hier ja nicht. Durch die körperliche Anstrengung musste Akutagawa husten und so verstärkte er nach seiner Landung den Griff um Higuchi wieder, da sie ihm beinahe aus den Armen geglitten wäre. Rasant bog er um die nächste Ecke, als plötzlich ein brünetter Mann aus einem Nebenflur herausgeschossen kam und Akutagawa abrupt abbremsen musste, um nicht in ihn hineinzukrachen. Noch bevor er richtig hinsehen konnte, wer da in seinen Weg gesprungen war, flog ein großes Stück schwarzer Stoff auf ihn und begrub Higuchi und ihn darunter. Wütend zog er sich mit einer Hand den Stoff vom Gesicht und merkte dabei, was er da in der Hand hielt. Seinen Mantel. Seinen absolut ekelhaft penetrant nach Weihrauch stinkenden Mantel. „Ich sagte doch, das Husten erkenn ich von weitem.“ Als Akutagawas Sicht wieder frei war, stand Dazai dünkelhaft grinsend vor ihm. Neben ihm lehnte an einer Wand die Frau, die damals beim Beinahe-Weltuntergang dabei gewesen war. Das musste sie sein, diese Murasaki. Besorgt blickte diese zu der ohnmächtigen Higuchi in Akutagawas Armen. „Hat Rokujo deine Gefährtin erwischt?“ Murasaki schaute zu Dazai, der daraufhin einen Schritt auf Akutagawa zu machte und Higuchi mit einer Hand gegen die Wange tätschelte. „Hey, aufwachen, was soll denn dein Vorgesetzter denken, wenn du bei der Arbeit schläfst?“ Bei der Berührung durch Dazai entstieg aus Higuchis Körper der gleiche schwarze Nebel, der zuvor Murasaki besessen hatte und mit einem Schlag erwachte Higuchi, riss die Augen auf, blinzelte Akutagawa an, realisierte, wo sie sich befand und … wurde beinahe erneut ohnmächtig. Der dunkelhaarige Mafioso setzte sie ungerührt auf dem Boden ab, bevor er seinen Mantel wieder anzog und nun Rashomon benutzte, um Higuchi zu stützen, weil sie noch wacklig auf den Beinen war. Da sie im Gegensatz zu Murasaki nur kurz unter dem Einfluss von Rokujos Fähigkeit gestanden hatte, waren die Auswirkungen glücklicherweise nicht so verheerend wie bei der Hofdame. Dass ihr Kopf noch knallrot war, war wohl eher auf die vorangegangene körperliche Nähe zu ihrem Vorgesetzten zu schieben. „Akutagawa, vielen Dank, Sie haben so viel auf sich genommen, um mir zu helfen“, sagte die Blondine und ignorierte dabei, dass der Angesprochene mit nicht mehr als einem „Hmpf“ reagierte. „Das kann nicht wahr sein!“, hallte plötzlich eine zornige Stimme durch den Gang. „Meine Fähigkeit wurde von neuem ausgetrieben?! Was für ein Zauber ist das?!“ Rokujo schnaubte vor Wut und ließ erneut einen schwarzen Nebel aus ihrem Körper fahren, der auf die anderen zuraste. Rokujo zog eine siegessichere Grimasse, als der Nebel geradewegs auf Dazai zusteuerte, der sich schützend vor Murasaki gestellt hatte. Sie stutzte, als sie das süffisante Lächeln des Brünetten bemerkte. Der Nebel prallte an ihm ab und löste sich sofort wieder in Luft auf. „Zauberhaft, nicht wahr?“, flachste Dazai, während die erschütterte Rokujo ihn verständnislos anstarrte. „Was …? Wie kann das …? Wieso …?“ „Bei Dazai darf man niemals nach dem 'Wieso' fragen“, kommentierte Akutagawa arrogant, ehe Bänder von Rashomon nach vorne preschten und die erschrockene Dame im blutroten Kimono einwickelten. „Nicht töten“, erinnerte Dazai ihn beiläufig und Akutagawa gab ihm ein genervtes Grummeln zur Antwort. Als nur noch Rokujos Gesicht aus Rashomon herausguckte, trat Higuchi an sie heran und holte mit einer Faust zum Schlag aus. „Niemand lässt mich vor Akutagawa schlecht aussehen.“ Sie schlug Rokujo bewusstlos. Kapitel 9: Ein Gewittersturm ---------------------------- Atsushi biss vor Schmerzen die Zähne zusammen. Ohne Unterlass zuckten Blitze aus Kokidens Körper, den er nach wie vor auf den Boden pinnte. Die Elektrizität fuhr in schmerzhaften Schlägen durch seinen Körper, als würde er immer und immer wieder in eine Steckdose fassen. Der Übelkeit erregende Geruch von verbranntem Fell lag in der Luft. „Du bist mir momentan ein Dorn im Auge, Tigerjunge“, presste Kokiden hervor. „Du hast keine Ahnung, was für mich auf dem Spiel steht. Wenn die Schandtaten dieses Narren ans Licht kommen und er bestraft wird, verliere ich ebenso alles.“ „Das tut mir sehr leid“, entgegnete Atsushi angestrengt, „aber ich kann Sie trotzdem nicht ziehen lassen.“ Ein dunkles, leeres Lachen entwich der Frau. „Ich habe mir dieses Leben nicht ausgesucht und dennoch liegt mir daran, es zu behalten. Ein anderer Mann wollte mich nicht, nur Yugiri, dieser Schwerenöter. Eine Stellung am Hofe blieb mir ebenso verwehrt. Während jemand Hochmütiges wie diese Murasaki von der Kaiserin privilegiert wird.“ „Murasaki ist ganz und gar nicht hochmütig. Sie ist freundlich, mutig und hilfsbereit“, widersprach Atsushi vehement. „Pah! Eine ekelhafte Besserwisserin ist sie! Mit all den Dingen, die sie weiß, die sie gelernt, die sie gelesen hat. Hat niemand ihr beigebracht, dass es sich als Frau nicht schickt, mehr zu wissen als ein Mann?“ Betroffen schüttelte der junge Detektiv den Kopf. Was für eine absurde Einstellung dies war. So leid ihm Kokiden auch tat (für sein elendiges Dasein nichts zu können und doch weiterleben zu wollen, war ihm sehr vertraut), aber wie auch Akutagawa schien Kokiden die völlig falschen Schlüsse aus dem eigenen Elend gezogen zu haben. „Seinen Hass an anderen auszulassen ist falsch“, sagte er ihr voller Überzeugung. Ein weiterer abschätziger Laut kam über die Lippen der Frau. „Ein Tigerjunge, der über Moral predigt … du scheinst wirklich einer alten Geschichte entsprungen zu sein.“ Atsushi konnte das finstere Lächeln auf ihrem Gesicht nicht sehen. „Zeit, dich dahin zurückzuschicken!“ Mit einem Mal entlud sich eine große Menge an Elektrizität aus Kokidens Körper und schleuderte den überrumpelten Atsushi in hohem Bogen von sich. Er flog mit voller Wucht durch den solideren Gipsteil der Wand und krachte auf den Boden draußen vor dem Gebäude. Seine Muskeln zuckten durch die elektrischen Schläge, die er abbekommen hatte und er konnte sich kaum aufrichten. Gerade einmal so schaffte er es, sich auf alle Viere hoch zu stemmen und sich hastig umzublicken. Es war Nacht geworden und obwohl der Bereich außerhalb der Gebäude durch zahlreiche Steinlaternen gut ausgeleuchtet war, erschwerten die bunten Lichter, die durch die Stromschläge Atsushi vor Augen tanzten, ihm die Sicht. Kunikida war in die gleiche Richtung geschleudert worden. Er musste hier irgendwo sein. Doch er konnte ihn nirgends ausmachen. „Kokiden, Liebste!“, erklang stattdessen Yugiris aufgebrachte Stimme. „Vorsicht! Mein Haus!“ Aus dem scheinbaren Nichts war der Fürst, der immer noch Ranpo als Geisel in seiner Gewalt hatte, aufgetaucht. Eine seiner Hände hielt dem erstaunlich gelassen aussehenden Meisterdetektiv weiterhin den Dolch an die Kehle, die andere hielt ihm … den Mund zu. Hatte Ranpo etwa selbst in einer so bedrohlichen Lage nicht sein vorlautes Mundwerk halten können? Die Dame Aoi stand gekrümmt neben den beiden und schnappte nach Luft. Die Anwendung ihrer Fähigkeit schien ihr Schwierigkeiten zu machen, sodass die flüchtende Gruppe wieder sichtbar geworden war. Kokiden trat durch die zertrümmerte Wand nach draußen. „Das hättest du dir vorher überlegen sollen. Wo hast du Rokujo gelassen?“ „Sie soll Murasaki wieder verfluchen“, antwortete der Fürst und seine Frau rollte entnervt mit den Augen. „Wir müssen uns zuerst der Eindringlinge entledigen.“ „Gewiss, Liebste! Sie werden sich ergeben, wenn sie nicht wollen, dass ihrem Kameraden etwas zugefügt wird. Das sehe ich doch richtig?“ Yugiris Augen wanderten triumphierend zu Atsushi, der alarmiert zu ihm blickte. „Tun Sie ihm bitte nichts“, bat er den Fürsten so ruhig wie es ihm möglich war. „Wir werden sicher eine friedliche Lösung fin-“ Ein lautes, krachendes Geräusch unterbrach Atsushis Bitte unsanft. Die Aufmerksamkeit aller Anwesenden schnellte zu der Quelle des Lärms. Eine weitere Wand war hinter ihnen eingestürzt. Gleichzeitig flogen auf einmal die Diener und Wachen, die im Haus nach Murasaki und dem unbekannten Eindringling hatten suchen sollen, mitsamt der ausgeknockten Rokujo, auf den Platz vor dem Anwesen. Eine Art schwarzer Bänder hatte sie eingewickelt und recht grob auf die Erde geschmissen. Während diese rätselhaften Ereignisse alle in ihren Bann zogen, schrie der Fürst mit einem Mal auf. Ein Schlag gegen den Hinterkopf hatte ihn getroffen, keinen Augenaufschlag später wurde ihm der Arm mit der Klinge nach hinten gerissen. Eine Hand hatte geschickt sein Handgelenk gepackt und übte so viel Druck darauf aus, dass Yugiri den Dolch fallen lassen musste. Vor Schreck und Schmerz ließ auch seine andere Hand von Ranpo ab und im gleichen Moment, in dem der Meisterdetektiv von ihm wich, drehte der Angreifer die Hand, die den Fürsten gepackt hatte, mit einem kräftigen Ruck herum und warf Yugiri hart zu Boden. „Das hat aber gedauert, Kunikida“, beschwerte sich Ranpo trotz seiner Rettung bei dem Blonden, der sich hinterrücks an den Fürsten angeschlichen und ihn attackiert hatte. Dann kickte der Schwarzhaarige den Dolch spielerisch weg. „Entschuldige, Ranpo.“ Kunikida atmete tief aus. Teile seiner Kleidung und die Spitzen seiner Haare waren angesengt. Zudem hatte er eine Wunde auf der Stirn. Aber, so dachte Atsushi voller Bewunderung für den Älteren, so etwas konnte Kunikida nicht aufhalten. Kokiden zog scharf die Luft ein, als sie ihn erblickte. „Was geht hier vor?! Ihn hatte ich doch erledigt!“ „Ich habe vielleicht nicht Atsushis Reflexe“, antwortete der Idealist unbeeindruckt, „aber unterschätzen sollte man mich trotzdem nicht.“ Mit einem Ausdruck von Panik in den Augen richtete sich die erschöpfte Aoi derweil wieder auf. Man konnte ihr ansehen, was sie vorhatte. Wenn ihre Fähigkeit andere unsichtbar machen kann und sie sie von neuem einsetzt, ging es Atsushi alarmiert durch den Kopf, kann sie zu Kokiden laufen und sie wieder verstecken. Dann kann Kokiden aus der Deckung heraus angreifen …! Das darf ich nicht zulassen! Hastig versuchte Atsushi die Muskeln in seinen Beinen unter Kontrolle zu bekommen, um Aoi aufhalten zu können, doch sie zuckten immer noch wie wild und wollten ihm nicht gehorchen. Verdammt! Gerade als ein immenses Angstgefühl in Atsushi hochstieg, sprintete jemand an ihm vorbei hin zu Aoi. „Whoa, Kunikida“, staunte Dazai, während er Aoi mehr oder weniger über den Haufen rannte und die überrumpelte Dame festhielt, „du hast eben so cool geklungen! Warum machst du das nicht öfter?“ „Wer ist das denn nun schon wieder?“, zürnte Kokiden. „Aoi! Worauf wartest du?! Benutze deine Fähigkeit!“ „Das versuche ich ja! Doch es will nicht gelingen!“, antwortete die Frau sichtlich und hörbar verzweifelt, während sie versuchte, sich von Dazais Griff zu befreien. „Ihr solltet aufgeben“, erklang plötzlich die Stimme Murasakis hinter Kokiden. Sie, Higuchi und Akutagawa kamen hinter den Trümmern des halb eingestürzten Hauses hervor. „Argh! Du!“ Kokiden knirschte verärgert mit den Zähnen. „Ich habe Verbündete, von denen ich mir gar nicht bewusst war, dass ich sie habe“, fuhr Murasaki fort und schickte ein flüchtiges Lächeln in Dazais Richtung. „Daher … es ist vorbei. Wenn Ihr Euch nun ergebt, werde ich beim Kaiser ein gutes Wort für Euch, Rokujo und Aoi einlegen und ihr werdet lediglich für einige Zeit in die Verbannung geschickt.“ „U-und was ist mit mir?“ Yugiri war nach dem Wurf durch Kunikida wieder zu sich gekommen und stand wackelig auf. „Wenn Ihr Glück habt, landet Ihr nur bis ans Ende Eurer Tage auf einer sehr, sehr einsamen Insel im Südwesten.“ Murasakis Lächeln wurde beinahe süffisant. Da ließen sie die Geräusche von heraneilenden Schritten aufhorchen. „Murasaki! Murasaki!“ Sei kam aus der Dunkelheit der Umgebung außerhalb des Anwesens auf sie zugerannt und lief ihr in die Arme. „Du bist mitgekommen, um mich zu retten?“, fragte Murasaki erstaunt. Die andere Hofdame nickte aufgeregt und richtete sich stolz auf. „Mir liegt es ja fern anzugeben, aber wer glaubst du denn, ist das Genie hinter deiner Rettung?“ „Und du bist den ganzen Berg hinaufgelaufen?“ Seis Haltung wurde noch ein Stück stolzer, bevor ein schrecklich keuchender Brite sich zu ihnen gesellte, dem der Schweiß aus allen Poren triefte. „Fräulein Sei, Sie sind nicht gerade ein Leichtgewicht“, japste Wells elendig und Atsushi spürte, wie seine Augen bei dieser Szene zu zucken begannen – ganz unabhängig von den Elektroschocks, die er erhalten hatte. Die Hofdame hatte sich offensichtlich von Wells tragen lassen. Seis Ähnlichkeit zu einem gewissen Meisterdetektiv war ihm schon länger aufgefallen. Ob Ranpo Vorfahren aus Kyoto hatte? „Das ist nicht akzeptabel.“ Kokidens Stimme war zu einem unheilvollen Grollen geworden. „Ich werde nicht akzeptieren, meine Stellung zu verlieren, weil diese hochmütigen Weiber aus dem Palast mir in die Quere gekommen sind.“ Aus heiterem Himmel füllte sich die gesamte Luft um Kokiden herum mit einem lauten elektrischen Knistern und aus jeder Faser ihres Körpers zuckten grelle Blitze. Alle Anwesenden konnten gerade einmal realisieren, welche Gefahr dort drohte, als sie bereits begann, auf sie niederzuprasseln. In ihrer unbändigen Wut schleuderte Kokiden dutzende Blitze wahllos in sämtliche Richtungen. Geistesgegenwärtig riss Kunikida Ranpo zu Boden und auch Dazai schmiss sich mit Aoi auf die Erde, während Akutagawa sich und Higuchi hinter Rashomon als ihrem Schutzschild in Sicherheit brachte. Sei und Murasaki ließen sich ebenso geschwind auf den Boden fallen. Nur der unglückliche und in seiner Bewegungsfähigkeit eingeschränkte Atsushi war zu langsam und so spürte er wie ein schmerzhafter Schlag ihn traf, die Elektrizität qualvoll durch seinen Körper jagte und er für einen kurzen Augenblick das Bewusstsein verlor. Die mächtige Kraft des Tigers holte ihn allerdings sofort zurück und hatte, wie es schien, ihn fürs Erste vor lebensbedrohlichem Schaden bewahrt. Derweil schrie Yugiri gepeinigt auf, als ein Blitz ihn erwischte, doch nicht einmal das konnte Kokidens Toben noch Einhalt gebieten. Ein weiterer Blitz schlug nahe der beiden Hofdamen ein und erwischte Wells, der durch die Wucht des Einschlags rückwärts stolperte und den Abhang hinter ihnen herunterfiel. „Fähigkeit: Kopfkissen!!“ Durch Seis unverzügliche Reaktion tauchte aus dem Nichts ein mehrere Meter breites Kopfkissen auf, das sich zwischen zwei im Abhang stehenden Bäumen verkeilte und den herabstürzenden Briten auffing. Endlich verstummten die Blitze. Vor Wut und Anstrengung schnaubend, schnappte Kokiden nach Luft. Das zornige Funkeln in ihren dunklen Augen war noch nicht erloschen. Sie würde nicht aufgeben. Dies war jedem der Anwesenden unmissverständlich klar. Von Angst erfüllt blickte Atsushi zu der rasenden Frau. Wenn noch ein Blitz ihn traf, würde selbst er das nicht mehr überleben. Und auch die anderen waren weiterhin in Gefahr. Er musste doch irgendetwas- „Atsushi“, sagte Dazai vollkommen ruhig, als er den Kopf hob und feststellte, dass die Dame, die er mit umgeworfen hatte, das Bewusstsein verloren hatte. „Keine Angst, es ist gleich vorbei. Wir spielen jetzt unseren letzten Trumpf aus.“ Er rückte von Aoi weg und sein Blick traf den Murasakis, die ihn fragend anschaute, als plötzlich ein Beben zu spüren war. Seltsam, wunderte sich Atsushi, das Beben fühlt sich wütend an. Wie kann ein Beben sich wütend anfühlen? Und das scheint auch kein normales Erdbeben zu sein … „DAZAAIIII!!“, grollte es erbost und lärmend aus der Dunkelheit. „DU ELENDER MISTKERL!! ICH WERDE DAS KANJI SCHON ERKENNEN?? EIN KANJI, DAS GERADE ICH VERSTEHEN WÜRDE?? DAFÜR WIRST DU BÜßEN!!“ Mit schweren, stampfenden und aufgebrachten Schritten kam ein fuchsteufelswilder Chuuya bei ihnen an. Die durch seine Fähigkeit verstärkten Schritte hatten das wütende Beben verursacht. „Du hast es erkannt, oder nicht?“, entgegnete Dazai sichtlich vergnügt. „Noch einer??“ Kokiden wirbelte wutentbrannt zu dem Neuankömmling herum. „Das wird euch auch nicht mehr helfen!“ Die Luft um sie herum knisterte abermals. „Chuuya! Akutagawa“, rief Dazai ernst, „deaktiviert eure Fähigkeiten!“ Verdattert und überrumpelt taten der Rotschopf und Akutagawa wie ihnen geheißen worden war und nur eine Millisekunde später zuckten erneute Blitze aus Kokidens Körper und bevor sie beginnen konnten, wie ein weiterer Regen aus Elektroschocks auf die Gruppe niederzugehen, riss Murasaki die Augen weit auf, als sie begriff. „Fähigkeit: Prinz Genji!!“ Kokiden konnte nur noch fassungslos auf die leuchtende, in ein goldenes Gewand gekleidete Gestalt starren, die vor ihr erschien und vor der sie bewegungsunfähig auf die Knie ging. „Das … hochmütige Weibsbild besitzt ... tatsächlich eine Fähigkeit?“, war das Letzte, das über Kokidens Lippen kam, ehe sie ohnmächtig wurde. Heilfroh atmete Atsushi aus. Endlich machte sich Erleichterung in ihm breit. Für ganze fünf Sekunden. Dann hörte er schnell heraneilende Schritte und laute Rufe. Alarmiert blickte Atsushi wieder zu Dazai, der vom Boden aufstand und zufrieden in die Richtung schaute, aus der die Geräusche kamen. „Das hast du gut gemacht, Chuuya. Braves Hündchen.“ „ICH WERDE DICH GLEICH SO DOLL VERDRESCHEN, DASS DU DIR WÜNSCHEN WIRST, BEI DEN DINOSAURIERN ZU SEIN!!“ Kurz nach dem wütenden Ausruf des Rothaarigen eilten mehrere mit Lanzen und Schwertern bewaffnete Männer auf den beleuchteten Teil des Geländes. Es waren die Wachen aus der Stadt. „Da vorne! Das ist einer der Männer, die dabei waren, als das Tor zusammengefall-“, rief einer von ihnen und hielt inne, als er sich näher umsah. „W-was ist denn hier …?“ „Aha!“ Ranpo erhob sich vom Boden und klopfte sich den Staub von der Kleidung ab. „Da seid ihr ja endlich. Richtet dem Kaiser aus, dass Fürst Yugiri und seine Vasallen eine der Hofdamen entführt haben und außerdem mich, Seine Durchlaucht Fürst Edogawa aus dem Osten, zu ermorden versucht hat.“ „Diese Geschichte ist wahr“, pflichtete ihm Murasaki bei, die hinzukam, um den verwirrten Wachen eine Kurzfassung der Ereignisse zu schildern, in der sie geschickt Zeitreisende und deren Fähigkeiten außen vor ließ. Die Wachen nickten, schüttelten ungläubig den Kopf, nickten erneut, sahen zwischendurch zu Dazai und Kunikida (einige der Wachen erkannten sie vom Vorfall am Tor wieder), dann zu Ranpo, der hoheitsvoll dastand und nickte, und fingen schließlich damit an, den bewusstlosen und verletzten Yugiri, sowie sein gesamtes Gefolge einzusammeln und fortzubringen. Akutagawa und Higuchi waren längst hinter den Trümmern des Gebäudes in Deckung gegangen, sodass sie von den Wachen nicht bemerkt worden waren. Atsushi saß immer noch auf dem Boden und blinzelte erstaunt das Geschehen an. Deswegen war Chuuya in der Stadt geblieben. Dazai hatte etwas von einem „Geheimauftrag“ für ihn geredet und jetzt erst verstand Atsushi, worin dieser bestanden hatte: Chuuya sollte die Wachen, die in der Stadt nach ihm und den beiden anderen Mafiosi suchten, auf ein Zeichen hin herlocken, damit diese Yugiri und seine Mittäter verhaften konnten. „Was soll mit diesem hier geschehen?“, fragte einer der Wachen mit Blick auf Chuuya. „Der?“, erwiderte Ranpo abwinkend. „Der ist nur ein Bauerntrampel, der, wie man sieht, gänzlich ungefährlich ist. Doch ich will euch gerne helfen und lasse meine Diener auf ihn aufpassen, wenn wir ihn in die Stadt zurückbringen. Ihr seid ja mit Fürst Yugiris Gefolge ausgelastet.“ Bei Ranpos arroganter Rede knirschte Chuuya immer stärker mit den Zähnen und platzte beinahe, als Dazai auf das Stichwort des Meisterdetektivs ihn auch noch festzuhalten begann. Da Murasaki Ranpos Vorschlag bekräftigte, waren die Wachen geschwind überzeugt und zogen mit ihren Gefangenen von dannen, während die Zeitreisenden und die Hofdamen auf dem Gelände des Anwesens zurückblieben. Sei stand an dem Abhang, den Wells hinabgestürzt war und beobachtete, wie Kunikida sich vorsichtig dort hinuntertastete, um nach dem Briten zu sehen. Wenn dem Chaoten etwas zugestoßen war, dann steckten sie noch tiefer in der Klemme, als sie es sowieso schon taten. Im schlimmsten Fall würden sie auf ewig hier …. Kunikida stockte. Nein, das durfte er erst gar nicht denken. Behutsam machte er einen kleinen Schritt vor den nächsten, damit er nicht auch noch den Hang herunterrutschte. Die Nacht neigte sich langsam dem Ende zu, doch noch war alles in Dunkelheit gehüllt und er konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Umso mehr erschrak er, als plötzlich eine Hand nach ihm griff und ihn an seinem Gewand packte. Ein gellendes Kreischen entwich seinem Mund, auf das jemand mit einem ebenso schrillen Schreien reagierte. „Herr Wells?“, fragte Kunikida, nachdem er sich gesammelt hatte. „Herr Kunikida?“, antwortete der Brite außer Atem. Kunikida stöhnte und zog den anderen Mann auf seinem Weg zurück nach oben mit. Sei applaudierte freudestrahlend, als die beiden Männer wieder bei ihr angelangt waren. Wells hatte ein paar Kratzer und Schrammen davon getragen, aber im Großen und Ganzen schien er nicht sehr verletzt zu sein. Die Hofdame half Kunikida, den Briten abzustützen und zu dem Rest der Gruppe zu bringen. „Hat einer von euch Detektiven gerade eben wie ein kleines Mädchen geschrien?“ Higuchi hob kritisch eine Augenbraue, als sie und Akutagawa aus ihrem Versteck hervorkamen und sich zu den anderen gesellten. „Die Detektei ist und bleibt eine Lächerlichkeit.“ Akutagawa hustete – noch viel schlimmer als sonst, weil der penetrante Weihrauchgestank seines Mantels ihm nicht gerade gut tat. In der Zwischenzeit hatte Dazai den wild strampelnden Chuuya losgelassen und stattdessen Atsushi vom Boden aufgeholfen. „Geht es Ihnen gut, Herr Wells?“, fragte der Junge besorgt, als er bemerkte, wie Wells fassungslos auf das halb eingefallene Gebäude blickte. „Mir ist nichts weiter passiert, danke, Junge. Der Blitz hat mich nicht voll erwischt. Aber hatte ich nicht gesagt, dass ihr nichts mehr kaputt machen sollt?!“ Akutagawa zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Dazai sagte, ich dürfte die Wand zerstören, wenn das Haus eh schon dabei ist, zusammenzufallen.“ Auf einmal wurde Wells noch etwas bleicher und fummelte hastig seine Armbanduhr aus seinem Oberteil. „Grundgütiger!!“, rief er so laut, dass alle zusammenschreckten. „55 Minuten!! Die Uhr steht bei 55 Minuten!! … Huh?“ Er stutzte plötzlich, kniff die Augen zusammen und hielt sich das Ziffernblatt direkt vor sein Gesicht. „Wie ist denn … das ist ja … sehr kurios … sehr kurios …“ Angstschweiß bildete sich auf Atsushis Stirn. Bestimmt war schon wieder irgendetwas geschehen, dass ihre Situation noch schlimmer machen würde. Es war kaum zu glauben, dass dies überhaupt noch möglich war! „Oh Gott“, stöhnte Kunikida in das Gemurmel des Briten hinein. „Jetzt sagen Sie schon, was nun schon wieder ist! Ist die Uhr kaputt? Haben Sie vergessen, wie Ihre Fähigkeit funktioniert? Macht Ihre Fähigkeit vielleicht Urlaub?“ „Öhm, nein.“ Wells blickte verdattert zu ihnen und grinste plötzlich über das ganze Gesicht. „Der Blitz hat zwar mich nicht voll erwischt, aber meine Uhr hat genug Elektrizität abbekommen und ist nun wieder voll aufgeladen!“ Für einen langen Moment war nichts außer dem nächtlichen Grillenzirpen zu hören. Dann fasste Dazai sich mit einer Hand an den Kopf und lachte gequält. „Der Mann macht sogar mich fertig.“ „Ist es möglich, die grimmigen Herren und die unziemliche Dame zuerst zurückzuschicken?“, fragte Sei aus dem Blauen heraus. „Oh, dann hätten wir mehr Zeit uns zu verabschieden, nicht wahr?“, hakte Murasaki nach und Wells nickte enthusiastisch. „Gerne, gerne! Bei voller Aufladung sind zwei Portale hintereinander kein Problem! Wenn Sie sich dort zusammenstellen würden ...“ Wells dirigierte mit seinen Händen Akutagawa, Chuuya und Higuchi, damit sie sich an einem Platz zusammen stellten. Widerwillig folgten sie seinen Anweisungen. „Wenn Sie wieder Mist bauen“, brummte Akutagawa, „finde ich Sie, egal wo oder wann Sie sind und nehme Sie Stück für Stück auseinander, bis von Ihnen kein einziger Partikel mehr übrig ist.“ „Ich will einfach nur nach Hause!“, maulte Chuuya dazwischen. „Weg von diesen ganzen Verrückten!“ „Moment mal, was heißt hier unziemlich??“ Higuchi hatte gerade noch Gelegenheit, die Beleidigung zu verstehen, als die Luft um die Dreiergruppe herum zu surren und zu zischen anfing. „Ich danke euch für eure Hilfe!“ Murasaki schickte noch ein Winken in ihre Richtung, bevor das Portal sich öffnete und die drei verschluckte. „Ahh~“, machte Wells zufrieden, „ist das ein schönes Gefühl, wenn alles funktioniert.“ Atsushi warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Sind Sie absolut sicher, dass gerade alles funktioniert hat?“ „Na ja“, Wells kratzte sich am Kinn, „so ganz sicher kann man sich da nie sein. Aber fürs Erste bin ich schon zufrieden, dass ich wieder ein Portal öffnen konnte.“ Der junge Detektiv schluckte. Das stellte den Mann bereits zufrieden?? Daraus konnte man auf gar keinen Fall folgern, dass die drei Mitglieder der Hafen-Mafia wirklich wieder in der Gegenwart und in Yokohama gelandet waren! Das hieß auch für ihre eigene Rückreise nichts Gutes. Vor Atsushis innerem Auge spielte sich ein Film ab, in dem Kunikida von einem Tyrannosaurus Rex gejagt wurde. „Nun“, Murasaki richtete ihren Blick auf die Detektive, „mir fehlen die Worte, um angemessen auszudrücken, wie dankbar ich für das bin, was Ihr getan habt. Ihr seid wahrlich besonders.“ „Jaha“, erwiderte Ranpo breit grinsend, „aber ich bin am besondersten.“ „Mancher hier ist eher sonderbar.“ Kunikida warf Dazai einen schiefen Blick zu, der darauf allerdings lediglich mit einem strahlenden Grinsen reagierte. „Das Büro der bewaffneten Detektive hilft immer denjenigen, die in Not sind“, sagte Atsushi mit einer Mischung aus Freude und Erleichterung. „Außerdem hatten Sie noch etwas gut bei uns, weil Sie und Sei uns damals gerettet haben.“ Die warmherzig vorgetragenen Worte des Jungen zauberten ein sanftes und freudiges Lächeln auf Murasakis Gesicht. „Zu wissen, dass es Menschen wie euch geben wird, ist ein erhebendes Gefühl.“ „Das höre ich öfters.“ Trotz seines stolzen Tonfalls verschränkte Ranpo lässig die Hände hinter seinem Kopf. Wahrscheinlich hörte er so etwas tatsächlich öfters. „Wirklich? Ich nie. Seltsam“, wandte Dazai ein und kassierte dafür eine weitere Belehrung von Kunikida. „Das sollte dir endlich mal zu denken geben!“ „Ah, Ranpo“, sagte Sei plötzlich. „Da ist noch eine Sache, die ich dich fragen wollte.“ Der Angesprochene blinzelte sie aufmerksam an. „Möchtest du nicht vielleicht hier bleiben?“ „W-was?“, entfuhr es Atsushi und Kunikida gleichzeitig. Murasaki schüttelte missbilligend den Kopf. „Auf was für abwegige Gedanken kommst du denn nun?“ Die kritisierte Hofdame wehrte sich umgehend: „Nein, nein, es ist nicht abwegig! Ich habe Wells gefragt und er meinte, es würde kein Problem darstellen.“ Hoffnungsvoll schaute sie wieder zu Ranpo, der für seine Verhältnisse ungewohnt sprachlos aussah. „Es wird zwar schwierig, dir den gewünschten Zucker zu besorgen, aber amazura-Süßungsmittel sollte ich herbeischaffen können. So viel du möchtest! Natürlich hättest du auch meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Überlege mal, wie nützlich deine Fähigkeit in dieser Zeit sein würde. Wir könnten zusammen unzählige Fälle lösen, an denen sich sonst nicht einmal jemand versucht. Du würdest am Hofe bestimmt gehörig Eindruck ma-“ „Sei“, unterbrach Ranpo ihren Redeschwall ernst. „Tut mir leid, aber ich muss nach Hause zurück. Dort werde ich auch gebraucht. Sehr sogar.“ Atsushi wurde ganz bekümmert bei dem traurigen Anblick, den die Hofdame nun abgab. Ihre Miene enttäuscht zu nennen, war nicht einmal ansatzweise die richtige Umschreibung. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ihre Lippen, auf die sie sich selbst biss, zitterten. Murasaki atmete hörbar aus. „Dummes Ding.“ Sie griff nach Seis Hand und drückte diese sanft. „Er kann doch nicht hier bleiben.“ „Ich hatte es bereits befürchtet“, entgegnete die andere Dame und unterdrückte ein Schluchzen. „Aber ...“ Sie zuckte mit den Achseln und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich wollte dennoch fragen.“ „Ich für meinen Teil“, sprach Ranpo ernst weiter und für einen Moment bildete Atsushi sich ein, dass der Meisterdetektiv genauso betrübt aussah wie Sei, „bin sehr froh darüber, dass ich dich noch einmal wiedertreffen konnte.“ Er machte eine kurze Pause, nach der sein breites Lächeln auf sein Gesicht zurückkehrte. „Das war sogar schöner als sämtliche Süßigkeiten und Snacks der gesamten Welt durchzuprobieren!“ Ranpos aufrichtige Worte, gepaart mit seinem Lächeln zeigten als Aufmunterung sichtlich Wirkung. Der Blick der traurigen Dame weitete sich voller Erstaunen wieder, nachdem sie dies von ihm gehört hatte. Sei wischte sich die Tränen weg, die gedroht hatten, aus ihren Augen zu fallen, und nickte. „Das waren schönere Worte als jedes Gedicht, das ich je geschrieben bekam.“ „Nur um das gleich zu klären“, warf Kunikida in Richtung von Wells ein, „wir bitten darum, uns von zukünftigen Zeitreisen auszuschließen. Und Sie lassen am besten die Finger von Ihrer Fähigkeit.“ Wells räusperte sich verlegen. „Botschaft angekommen.“ „Ooooh, Kunikida“, jaulte Dazai. „Das war unsensibel von dir. Sei und Ranpo hatten gerade so einen schönen Moment.“ „Die Uhr tickt leider.“ Wells zeigte auf seine Armbanduhr. „Sie müssen los, sonst kommt es noch zu Komplikationen.“ „'Komplikationen' ist das letzte Wort, das ich aus Ihrem Mund hören will!“, polterte der Idealist weiter. Das ist mehr als wahr, seufzte Atsushi innerlich, als es um ihn und die anderen drei herum zu surren und zu zischen begann. „Ah, Herr Wells“, fiel es dem silberhaarigen Jungen noch ein, „denken Sie daran, die restlichen Kleider aus der Truhe an die Familien, denen wir die Kleidung gestohlen haben, zu verteilen?“ Während Wells nickte, blickte Kunikida verwundert Atsushi an. „Wann habt ihr das denn besprochen?“ „Als du Chuuya geholfen hast, Dazai in die Truhe zu stopfen.“ „Murasaki“, rief Dazai schnell noch aus, „Vergessen Sie bitte nicht, dass Sie den Ärger wert sind!“ Die Dame antwortete gleichermaßen geschwind: „Vergesst Ihr bitte nicht, dass wir dies gemeinsam haben!“ Sei und Ranpo tauschten ein letztes, mit einem Hauch von Wehmut besetztes Lächeln aus, ehe nur noch die zwei Hofdamen und Wells auf dem Platz standen. „Gehen wir nach Hause“, sagte Murasaki, drückte Seis Hand ein weiteres Mal und wandte ihren Blick von der aufgehenden Sonne ab, bevor sie sich mit den beiden anderen auf den Heimweg machte. Kapitel 10: Epilog: Ein altes Märchen ------------------------------------- Michizo Tachihara war den Tränen nahe. Er stand im Morgengrauen im Büro des Bosses und wog mit zunehmender Panik die ohne Unterbrechung schreiende Gin in seinen Armen hin und her. Sie war so klein geworden, dass sich Tachiharas Brustkorb bei ihrem Anblick schmerzhaft zusammenzog. Die Ärztin aus der Detektei hatte ihnen bei ihrem Treffen gesagt, dass die Existenz derjenigen, die sich zurückentwickelten, irgendwann ausgelöscht würde. Wenn nicht bald ein Wunder geschah, so war sich Tachihara sicher, dann würde genau dies mit Gin passieren. Und nicht nur mit ihr. Der überforderte und übernächtigte Blick des Rothaarigen ging zu dem Baby, das er auf einem der Sessel abgelegt hatte und dessen Lärmpegel dem von Gin in nichts nachstand. „Hirotsu, nicht wieder herunterrollen!“ Er eilte zum Sessel und schob den brüllenden Säugling zurück auf die Sitzfläche. Sollte er ihn doch auf den Boden legen? War es da nicht zu kalt? Hirotsu war vor einigen Stunden zu einem kreischenden Baby geworden, das sich durch nichts beruhigen ließ, egal, was Tachihara versuchte. Zuvor war wenigstens noch ein Büroarbeiter der Hafen-Mafia bei ihm gewesen, der selber Kinder hatte und ihm geholfen hatte, bevor auch er sich in Luft aufgelöst hatte – so wie der Großteil der Hafen-Mafia. Tachihara wusste nicht einmal, ob überhaupt noch jemand außer ihm da war. Dies war also das unrühmliche Ende einer so stolzen Organisation. Sein Blick ging schlagartig zum Boden, als ihn dort jemand am Hosensaum zog. „Buuu brääh mjem guuh“, klagte das schwarzhaarige Kleinkind dort unten mit unzufriedener Miene. Kurz nachdem Hirotsu zu einem Wickelkind geworden war, hatte auch Mori einen heftigen Sprung rückwärts gemacht und war zu einem Kleinkind geworden, dass nur noch zum Krabbeln und unverständlichem Brabbeln in der Lage war. „Boss, es tut mir leid, ich habe keine Ahnung, was Sie sagen.“ „Brääääh. Brääääh. Bräääääh.“ Der kleine Mori sah mit riesigen Kulleraugen zu ihm hoch, als würde er sich erhoffen, dass dies irgendwie bei der Verständigung helfen könnte – tat es aber nicht. „Bitte seien Sie leise, sonst wird Hirotsu nur wieder laut-“ „WHÄÄÄÄÄ!! WHÄÄÄÄÄÄ!!! WHÄÄÄÄÄÄ!!!“ Hirotsus ohrenbetäubender Lärm ließ auch Gin noch stärker brüllen. Tachihara wog sie mit zitternden Händen weiter in seinen Armen und blinzelte ein paar Tränen weg, die sich in seinen Augen formten. Er hatte schon mehrfach darüber nachgedacht, die Kinder sich selbst zu überlassen und einfach abzuhauen. Doch obwohl er diesen Gedanken in den letzten Stunden so oft gehabt hatte, stand er immer noch hier bei ihnen. Ein sirrendes Geräusch, das mit einem Mal zu hören war und immer lauter wurde, ließ seine Alarmglocken schrillen. Was war das denn nun schon wieder? Tachihara überlegte, ob er sich die Kinder schnappen und sie in Sicherheit bringen sollte, doch da verschwamm vor ihm die Luft, sie flimmerte wie sie es sonst an einem sehr heißen Tag in der Stadt tat, und plötzlich - „Ahhhh!“ Rumms! In einem hohen Bogen fiel Chuuya Nakahara aus dem Nichts in das Büro und donnerte auf den Boden. Keine Millisekunde später flog Higuchi hinterher und landete auf ihm. Nur Akutagawa fing sich elegant mit aus Rashomon geformten Stützen ab und landete sanft auf beiden Beinen. „ … Häh?“, war alles, was Tachihara im ersten Moment sagen konnte. Dann bemerkte er, dass Gin aufgehört hatte zu schreien und seine Augen schnellten zu dem kleinen Bündel in seinen Armen … das wieder gewachsen war. Sein Blick ging zu Hirotsu, der nun wieder ein Kleinkind war und ihn ziemlich verdattert vom Sessel aus anschaute. „Ihr seid wieder da.“ Klein-Mori war ebenso wieder ein bisschen älter und applaudierte mit seinen winzigen Händchen; sichtlich erfreut, sich wieder verständlich machen zu können. Chuuya blickte auf und erhob sich vom Boden, nachdem Higuchi peinlich berührt von ihm heruntergestiegen war. „B-Boss?“ „Ja?“ Mori erwiderte erwartungsvoll Chuuyas Blick, während er – trotz seines niedlichen Äußeren - seine übliche Mimik und Haltung annahm. Das Führungsmitglied jedoch war so sprachlos beim Anblick des Mini-Moris, dass er ihn nur mit offenem Mund anstarren konnte. „Das … das ist nicht wahr … Hirotsu?“ Higuchi hatte währenddessen den kleinen Jungen auf dem Sessel bemerkt, der sie mit gestrenger Miene musterte. „Buh“, war die einzige Antwort, die sie von ihm erhielt. „Hi-higuchi“, stammelte Tachihara mit weit aufgerissenen Augen, als er sich die Vorgesetzte näher besah. „Wie-wie siehst du denn aus?? Und wieso stinkt es hier so entsetzlich nach Weihrauch?? Was in aller Welt ist hier lo-?“ „Tachihara.“ Akutagawa fiel ihm harsch ins Wort. Auch sein Blick war noch unterkühlter als sonst. „Hältst du da gerade meine Schwester im Arm?“ Alle anderen blickten nun verwundert zu dem jungen Mann mit dem Pflaster auf der Nase. Selbst das kleine Mädchen Gin schaute erstaunt zu ihrem Babysitter hinauf. So ruppig war Akutagawa nun auch wieder nicht gewesen, dass Tachihara so heftig darauf reagieren musste. „Hey“, richtete Chuuya tadelnd an ihn, während er seinen verbeulten Hut aus dem Tragetuch auf seinem Rücken nahm, „seit wann bist du denn so eine Heulsuse?“ Tachihara schüttelte den Kopf und versuchte vergebens, seine restlichen Tränen zurückzuhalten.   Vor Angst zitternd beugte sich Kyoka über Kenji und überprüfte, ob er noch atmete. Sie selbst holte erst wieder Luft, als der unruhig schlafende Kenji dies auch getan hatte. Er hatte Aussetzer in seiner Atmung und die am ganzen Körper bebende Kyoka hatte keine Ahnung, was sie dagegen tun sollte. Bevor Yosano vor einer gefühlten Ewigkeit verschwunden war, hatten sie noch darüber gesprochen, dass es nicht viel Sinn machte, ihn in ein Krankenhaus zu bringen, denn sie alle wussten ja, dass es nur einen Weg gab, das Leben des Freundes zu retten. Ihm blieb kaum noch Zeit und Kyoka fühlte, wie sich vor Angst ihr Brustkorb zusammenschnürte. Sie war ganz allein mit einem sterbenden Kenji und einem immer weiter schrumpfenden Chef. Panisch bemerkte sie plötzlich das Fehlen des Jungen, der eigentlich neben ihr stehen sollte. Die Frau lief in den Flur zurück und riss die Tür zum Büro auf. „Chef!“, keuchte sie atemlos. „Ich hatte Sie doch gebeten, bei mir zu bleiben!“ Der etwa siebenjährige Junge, der dort im Büro stand, guckte sie perplex an. Fukuzawa hatte letzten Endes doch irgendwann den Kampf gegen die Stoffmassen seines Kimonos aufgegeben und Kenjis Kleidung angezogen, aber selbst diese war ihm inzwischen viel zu groß und wie er allein in den übergroßen Sachen Kenjis in der Mitte der Detektei stand, machte er einen vollkommen verlorenen Eindruck. „Mir war nur so, als ...“ Sein Blick schweifte durch den großen, menschenleeren Raum. Dann schüttelte er verzagend den Kopf. „Ich weiß nicht einmal, worauf ich eigentlich warte.“ Der Anblick brach Kyokas Herz. „Kommen Sie“, sagte sie mit erstickter und bebender Stimme, „wir bleiben bei Kenji.“ Am liebsten hätte sie ihn an die Hand genommen, doch auch wenn er aussah wie ein kleines, verlassenes Kind – das war immer noch ihr stolzer und ehrenwerter Chef, der da vor ihr stand. Urplötzlich riss Fukuzawa erschrocken die Augen auf und auch Kyoka erstarrte vor Entsetzen, als ein sirrendes Geräusch aus dem Nichts ertönte. Ihre vorigen Bedenken über Bord werfend, packte sie den überrumpelten Jungen, zog ihn zu sich zurück und stellte sich schützend vor ihn, als die Luft flimmerte und einen Wimpernschlag später Kunikida ausspuckte, der auf den Boden donnerte. Atsushi flog gleich hinterher und landete auf dem Älteren, bevor Dazai wiederum auf alle beide drauf flog und Ranpo schließlich obenauf weich landete. Atsushi traute sich kaum, seine Augen zu öffnen. Wahrscheinlich stand vor ihnen bereits ein gutes Dutzend hungriger Dinosaurier. „Sind wir tatsächlich zurück?“ Bei Kunikidas ungläubiger Frage öffnete der Junge seine Augen doch. Zaghaft. Sehr zaghaft. Eine wunderhübsche Frau mittleren Alters stand vor ihm und starrte ihn entsetzt an. Sie schien den Atem angehalten zu haben. Ein kleiner, silberhaariger Junge im Grundschulalter und in Kenjis Klamotten stand neben ihr und musterte sie alle mit großen Augen. Verwirrt blinzelte Atsushi sie vom Boden aus an. Waren sie hier wirklich richtig? Die Frau schluckte und begann zu weinen. Er beäugte sie näher. Die Frau trug zwei Zöpfe und einen roten Kimo- … nein. Atsushis Kinnlade klappte nach unten, als er endlich begriff, wer da vor ihm stand. Das war nicht … das konnte nicht … und der Junge … nein … oder doch?? „Huh“, machte Ranpo, immer noch auf den drei anderen thronend und den Blick auf den kleinen Jungen gerichtet, „das ist jetzt nicht wahr.“ „Geht ihr endlich von mir herunter??“, schimpfte der zuunterst liegende Kunikida. „Euer Gewicht und Dazais Weihrauchgestank ersticken mich gerade!“ Die drei waren gerade von ihm heruntergestiegen, als es 'Plopp!' machte und Yosano plötzlich wieder im Büro stand. „Was …?“ Verdattert blickte sie sich um und hielt sich eine Hand vor die Nase. „Uargh, was ist das für ein strenger Geruch?“ Ein weiteres 'Plopp' erklang und Naomi saß wieder auf ihrem Platz, um eine Sekunde später ihrem ebenso wieder aufgetauchten Bruder um den Hals zu fallen. „Bruderherz!!“ Sie schmiss sich auf den verdutzten Rothaarigen, der nicht wusste, wie ihm geschah. „Es tut mir so leid! Naomi wird dich nie wieder vergessen!“ „Huh? Was?“ Tanizakis Augen wanderten hastig von einer Person zur nächsten. „Ihr seid wieder da! Ist alles wieder in Ordnu- du meine Güte, ist das der Chef?? Und das Kyoka??“ Die beiden Erwähnten erwachten aus ihrer Schockstarre und tauschten einen erschrockenen Blick aus, den Yosano sofort verstand. „Was ist mit Kenji?!“, fragte sie panisch, während sie bereits auf dem Weg in den Flur war. „Hier war wohl eine Menge los“, bemerkte Dazai. „Kyo-kyoka?“ Atsushi war an die Frau herangetreten und kam sich erstaunlich klein neben ihr vor. Kyoka errötete, als Atsushi sie mit ungläubigen Augen anblickte, aber nichtsdestotrotz überwog ihre Erleichterung und sie drückte ihn in einer Umarmung an sich, die nun wiederum Atsushi erröten ließ. Schnelle Schritte eilten aus dem Flur heran und Haruno stürzte in den Büroraum. „Ah, was für ein Glück! Ihr seid wieder da!“ Sie atmete erleichtert aus, bevor sie Fukuzawa erblickte und ihre Miene entgeisterte Züge annahm. „Chef? Sind Sie das etwa??“ In diesem Moment kam Yosano wieder herein und Fukuzawa und Kyoka hielten von neuem den Atem an - bis die Ärztin lächelte. „Kenji geht es schon besser“, sagte sie sichtlich erleichtert. „Er ist zwar noch im Rentenalter, aber dafür wach. Und gerade hat er mich gefragt, ob ich etwas zu essen für ihn hätte. Das ist bei ihm ein mehr als gutes Zeichen.“ Ein kaum wahrnehmbares Lächeln bildete sich daraufhin auf Fukuzawas Gesicht, als er sich den vier Zeitreisenden zuwandte. „Willkommen zu Hause. Ihr seht so aus, als hättet ihr viel erlebt. Yosano, Kunikida und Atsushi scheinen verletzt zu sein. Kümmere dich bitte um sie. Ist bei euch alles in Ordnung, Dazai und Ranpo?“ „Abgesehen davon, dass mich jeder auf meinen neuen Duft hinweist, ja“, antwortete Dazai achselzuckend. Nur Ranpos Mimik war verkniffen. „Ist dies etwa die hier gebräuchliche Art einen Fürsten zu empfangen?“, fragte er empört. „Fürsten?“, stutzte Fukuzawa. Ihm war Ranpos edle Kleidung nicht entgangen, doch das erklärte die Frage des eigentlich Jüngeren nicht. „Ich, Seine Durchlaucht Fürst Edogawa, habe jawohl deutlich mehr Respekt verdient!“ Die Detektive tauschten verstörte Blicke aus. Was redete Ranpo da nur? Und wie redete Ranpo plötzlich? „Ranpo?“, hakte Kunikida beunruhigt nach. „Du weißt, dass du nicht wirklich ein Fürst bist, oder?“ „Was für ein Frevel! Und das aus dem Munde eines niederen Dieners!“ Tanizaki, Naomi, Haruno und Kyoka tauschten nervöse und fragende Blicke aus, während Yosano eine ihrer Hände aus ihren Handschuhen befreite und Ranpo gegen die Stirn hielt. „Fieber hat er keins.“ Besorgt löste sich Atsushi aus Kyokas Umarmung. „Ist das vielleicht eine Nebenwirkung vom Zeitreisen? Hält er unsere Scharade jetzt für die Realität?“ Niedergeschlagen fasste Kunikida sich mit einer Hand an den Kopf. „Das war so klar! Es musste noch etwas schief gehen!“ Er packte Ranpo an den Schultern und sah ihn eindringlich an. „Du bist kein Fürst, Ranpo. Das war nur gespielt. Du bist einer der bewaffneten Detektive, erinnerst du dich?“ Entrüstet wischte der angebliche Adlige sich Kunikidas Hände von den Schultern. „Einer der bewaffneten Detektive? Mach dich nicht lächerlich!“ Voller Entsetzen beobachtete Atsushi diese Szene und warf Dazai einen hilfesuchenden Blick zu. Dazai jedoch war angesichts einer so kritischen Entwicklung ganz entspannt. Wie konnte er jetzt so ruhig bleiben? Ranpo hatte offensichtlich einen Schaden davon getragen. Wie sollten sie das denn reparieren? Sie konnten Wells schließlich nicht erreichen. Was sollte nun aus Ranpo wer- Bevor er seinen Gedanken zu Ende denken konnte, gab Fukuzawa ein leises Seufzen von sich und ging zu Ranpo hin. Aufgrund seiner kleinen Größe musste er zu dem Schwarzhaarigen aufschauen. „Ranpo“, sagte er streng und es war bemerkenswert und grotesk zugleich, wie er mit seiner hellen Jungenstimme trotzdem einschüchternd wirken konnte, „du bist natürlich nicht nur einer der bewaffneten Detektive, sondern der größte Meisterdetektiv aller Zeiten. Das wolltest du doch hören, oder?“ Die Mimik des vermeintlichen Fürsten blieb ernst. „Und?“ Der Chef seufzte erneut. „Und ich habe nicht vergessen, dass ich dir ein Essen schulde.“ Schier endlos scheinende Sekunden verstrichen, in denen alle Augen gespannt auf Ranpo ruhten. „Ha ha ha!“, rief dieser freudig grinsend aus. „Dann ist alles gut!“ „Was?“, entfuhr es Atsushi. „Das … das war nur …?“ „Hast du von Ranpo etwa etwas anderes erwartet?“, merkte Dazai amüsiert an. „Er liebt die große Bühne eben.“ Erleichtert schüttelte Yosano den Kopf. „Was bin ich auf eure Erzählungen gespannt.“ Sie deutete Atsushi und Kunikida an, ihr ins Arztzimmer zu folgen. „Einen Moment“, entgegnete Letzterer, „ich will endlich wieder meine Brille tragen.“ Er schritt zu seinem Schreibtisch, öffnete eine Schublade, nahm eine Ersatzbrille heraus und setzte sie auf. „Meine alte Brille ist zerbrochen, als der Blitzschlag mich durch die Luft geschleudert hat … was ist denn das?“ Er blinzelte seinen Schreibtisch an. Die gesamte Oberfläche war mit Haftnotizzetteln beklebt, auf denen Dinge über ihn geschrieben standen. Neben seinem Namen und seinem Aussehen fanden sich dort lauter Beschreibungen seines Charakters: „Von Pünktlichkeit besessen“, „Von seinem Notizbuch besessen“, „Von seinen Idealen besessen“, „Von Rachefantasien an Dazai besessen.“ Das war doch Kyokas Handschrift. Er warf ihr einen kritischen Blick zu, worauf sie prompt wieder errötete. „Tut nur so böse, ist in Wahrheit lieb und aufopfernd“, las Kunikida zuletzt und bemerkte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete. „Hey, ich habe auch welche“, äußerte Dazai überrascht, als er zu seinem eigenen Tisch blickte und sich die Notizen durchlas. „1. Hobby: Selbstmord, sehr schlecht darin“, „2. Hobby: Kunikida ärgern, sehr gut darin“, „Verstehe ihn nicht ganz“, „Atsushi mag ihn sehr“, „Ist ein guter Mensch.“ Dazai blinzelte den letzten Zettel erstaunt an und deckte ihn mit einer Hand ab. „Anscheinend hat Kyoka mit diesen Merkzetteln versucht, uns nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.“ Ranpo fischte sich eines der Blätter von seinem Platz. „'Süßigkeitenjunkie'“, las er laut vor, „das halte ich aber für übertrieben.“ Er nahm sich zwei Weitere. „'Hat ein ansteckendes Lachen', ja, das ist schon besser. 'Kopf und Seele des Büros', das trifft es sehr gut!“, rief er aus und lachte vergnügt. Atsushi sah in der Zwischenzeit zu seinem Tisch, der über und über voll geklebt war. „Schüchtern, aber auf süße Weise“, „Freundlich und hilfsbereit“, „Tut für seine Mitmenschen alles“, „Hat das reinste Herz der Welt“, „Liebenswertester Mensch auf Erden.“ „Hört bitte auf, sie zu lesen!“, flehte Kyoka mit hochrotem Kopf und Atsushi wandte sich ihr mit seligem Blick wieder zu. „Kyoka, danke. Und nicht nur fürs Nicht-Vergessen.“   Kunikida beobachtete jede Bewegung von Kenji mit Argusaugen. Es war inzwischen mehr als ein halber Tag seit ihrer Rückkehr vergangen und Kenji hatte sich so weit erholt, dass er wieder bei den anderen im Büro sitzen und ordentlich futtern konnte. Immer noch in Kunikidas Kleidung. Nun erneut ein Mann mittleren Alters und mit jeder Stunde, die verging, sich weiter verjüngend, biss Kenji ein übergroßes Stück eines Currybrötchens ab. „Daf fmeckt fo lecker, Kunikida!“, sagte er fröhlich und mit vollem Mund, sodass Krümel und Curry auf die geborgte Kleidung des Idealisten fielen. „Willft du fiffer nifftf?“, ergänzte er kauend, während der Angesprochene flink Servietten auf dem eigentlich Jüngeren ausbreitete. „Nein … danke.“ Kunikida verabschiedete sich gedanklich von seinem Ersatzanzug, als ein großer Tropfen Currysoße sich geschickt an den Papiertüchern vorbei auf die Hose manövrierte. Nach dem, was Yosano und Kyoka allerdings Dramatisches erzählt hatten, konnte er ihm nicht einmal böse sein. Die Hauptsache war, dass Kenji außer Gefahr und wieder frohen Mutes war. Atsushi betrachtete die Szene mit einem Schmunzeln und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Kyoka, die nur wenige Jahre älter als er selbst war, ihn besorgt musterte. „Tun die Verbrennungen noch weh?“, fragte sie und er schüttelte sogleich den Kopf, um sie zu beruhigen. „Es kribbelt noch ein bisschen komisch, aber der Tiger leistet ganze Arbeit.“ „Wie es aussieht“, schaltete sich Yosano ein, „kommen wir alle ohne bleibende Schäden davon.“ Zum Glück hat auch die Gegenwart keine Schäden davon getragen, dachte Atsushi, als ihm plötzlich siedend heiß etwas einfiel. „Tanizaki, kannst du schnell etwas für mich überprüfen?“ „Huh?“ Angesichts der plötzlichen leichten Panik in der Stimme des Silberhaarigen blinzelte Tanizaki ihn verdutzt an. „Ja, natürlich. Was denn?“ „Kannst du etwas zum südlichen Tor des alten Kaiserpalastes in Kyoto herausfinden?“ Tanizaki tauschte bei dieser Anfrage einen irritierten Blick mit seiner Schwester aus und zuckte mit den Schultern, ehe seine Finger über die Tastatur seines Computers flogen. „Hmm, mal sehen … hier habe ich etwas. Es hat wohl mal ein gigantisches Tor am südlichen Teil des Palastgeländes gegeben, aber das ist vor etwa eintausend Jahren bei einem Erdbeben zerstört worden. Hilft dir das weiter?“ „Bei einem Erdbeben?“ Atsushi klang merkwürdig erleichtert, worauf die Geschwister erneut irritierte Blicke austauschten. „Ist das etwas Gutes?“, hakte Naomi nach. „Ja! Ich meine, nein, natürlich nicht, aber es ist besser als die Wahrheit.“ „Muss ich bei dir auch mal Fieber messen?“ Yosano zog skeptisch eine Augenbraue nach oben. In diesem Moment betrat der Chef wieder das Büro und hielt mit missmutiger Miene sein Handy an sein Ohr. Er war nun etwa Ende 20 und die Detektive hatten sich geschworen, Stillschweigen darüber zu bewahren, dass Haruno vor einer guten Stunde gegen eine Wand gelaufen war, weil sie Fukuzawa im Gehen zu lange angestarrt hatte. „Aha. Nein, dagegen kann man nichts machen.“ Er legte auf. „Wenn Sie so dreinblicken, war das Mori“, schlussfolgerte Yosano. „Bei der Hafen-Mafia normalisiert sich wohl auch alles“, antwortete Fukuzawa knapp. „Außerdem wollte er wissen, was man gegen Akutagawas Weihrauchgeruch unternehmen könnte.“ „Das wüssten wir auch gerne“, warf Kunikida ein und blickte zu Dazai, der am offenen Fenster sitzen musste. „Hast du dich auch wirklich ordentlich gewaschen?“ Der Brünette schnupperte an seinem eigenen Arm. „Ich habe sogar alle Verbände gewechselt. Ich wette, Akutagawa stinkt noch schlimmer, weil er sich bestimmt weigert, seinen Mantel in die Wäsche zu geben.“ Da bemerkte Fukuzawa Ranpo, der erstaunlich ruhig neben einer ungewöhnlich vollen Chipstüte auf einem der Sofas lag und in einem Buch las. Einem Buch. Das allein war schon seltsam genug, sodass der Chef näher herantrat, um den Titel lesen zu können. Als er ihn las, stutzte er heftig. „Ranpo“, sagte er ernst, „fühlst du dich nicht gut?“ „Hmm?“ Der Meisterdetektiv guckte von seiner Lektüre hoch. „Doch, wieso?“ „Du liest eine Gedichtsammlung aus der Heian-Zeit.“ „Darf man hier nicht in Ruhe lesen, was man will?“ Schmollend widmete er sich wieder dem Buch. Verdattert blickte Fukuzawa ihn noch einen Augenblick lang an, bevor er sich Yosano zuwandte. „Siehst du ihn dir bitte mal an?“ „Chef“, flüsterte Yosano und winkte ihn näher zu sich heran, „nach dem, was die anderen erzählt haben, hat Ranpo wahrscheinlich Liebeskummer.“ „Liebeskummer??“ Fukuzawa riss die Augen weit auf. Sie hätte ihm genauso gut gerade gesagt haben können, dass Ranpo beschlossen hätte, Zenpriester zu werden. „Die Hofdame Sei“, erklärte die Ärztin leise. Der Ältere starrte sie noch einige Sekunden lang ungläubig an. „Verstehe“, gab er ihr schließlich zur Antwort. Dann ging er wieder zu dem Meisterdetektiv. „Ranpo.“ „Hmm?“ Der Angesprochene blickte erneut aus dem Buch hoch. „Was denn noch?“ „Ich hätte jetzt Zeit für unser Essen.“ Der Jüngere ließ seine Lektüre etwas sinken. „Wirklich?“ Fukuzawa nickte. „Wirklich.“ „Dann ...“ Ranpo setzte sich auf und legte das Buch auf die Couch. „Dann lese ich das später weiter.“ Leben kehrte wieder in seine Mimik zurück, als er sich seine Mütze aufsetzte, die er sich, wie seine gewohnte Kleidung, von zu Hause geholt hatte. Neugierig hob Atsushi derweil das Buch auf und sah es sich an. „Mir ist eben eingefallen, dass ich, als ich klein war, mal ein Märchen gelesen habe, das in der Heian-Zeit geschrieben worden ist“, erzählte er gedankenverloren. „Es handelt von zwei Prinzessinnen, deren friedliches Reich von einem Schleimfroschdämon bedroht wird.“ „Ein Schleimfroschdämon?“ Dazai stutzte und richtete sich interessiert auf. „Ja“, fuhr Atsushi fort, und wurde leicht nervös, weil alle ihm gespannt zuhörten, „und um den Dämon zu verjagen, kommen ihnen vier Helden von außerhalb zu Hilfe. Ein listiger Fuchs, eine kluge Katze, ein cholerisches Äffchen und ein ...“ Er stockte plötzlich und wurde kreidebleich. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Kyoka alarmiert. „J-ja, a-alles in O-ordnung, d-denke ich“, stammelte Atsushi und seine Augen zuckten. „Ein was?“, fragte Naomi nach. „Wer gehört noch zu der Heldengruppe?“ „Ein listiger Fuchs“, wiederholte der silberhaarige Junge aufgeregt und sah zu Dazai, der süffisant lächelte. „Eine kluge Katze“, sein Blick ging zu Ranpo, der zu grinsen begann. „Ein cholerisches Äffchen“, seine Augen wanderten zu Kunikida, dessen Venen mit einem Mal alle auf seiner Stirn hervortraten. „Und ein … kleiner weißer Tiger!!“, rief Atsushi aus und die restlichen Detektive blinzelten ihn verwundert an. „Aber-aber wie kann das sein?? Ich habe diese Geschichte vor Jahren gelesen! Lange bevor wir Murasaki und Sei begegnet sind!“ „Das ist der Haken bei Zeitreisen“, sagte Dazai dezent amüsiert und mit den Schultern zuckend. „Wir haben die beiden zwar erst vor kurzem getroffen, aber gleichzeitig ist es eintausend Jahre her, dass wir bei ihnen waren. Das Märchen, das du als Kind gelesen hast, gibt es wohl, weil wir durch Wells Murasaki und Sei begegnet sind. Alles, was passiert ist, gehört somit zum Lauf der Geschichte.“ „Ich bin mir nicht sicher, da wirklich durchzublicken.“ Atsushi seufzte und schaute wieder auf das Buch in seinen Händen. „Ich weiß nur, dass ich froh bin, ihnen allen begegnet zu sein.“ Ein Lächeln formte sich auf seinem Gesicht. „Und dass wir jetzt wieder alle hier zusammen sind.“ Eine bedächtige, selige Stille legte sich über das Büro der bewaffneten Detektive – für einen kurzen Moment zumindest. „Genug mit dem sentimentalen Gewäsch!“, plärrte Ranpo in die andächtige Ruhe hinein. „Da wartet ein Essen auf mich!!“ Ja, dachte Atsushi entgegen Ranpos Ausruf gefühlsselig, während er dabei zusah, wie der Meisterdetektiv den Chef aus dem Büro drängelte. Hier und jetzt will ich sein. Er ließ seinen Blick wieder zu den anderen Detektiven schweifen. Hier, bei diesen Menschen, diesen listigen, klugen, cholerischen, sich kümmernden, herzlichen, liebevollen Menschen, wollte er seine Zeit verbringen – und ein Teil ihrer Geschichte sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)