Rose von tobiiieee ((Yuffies Version)) ================================================================================ Kapitel 3: All Too Well (Yuffies Version) ----------------------------------------- Der Tee dampfte aus der Tasse in Yuffies Händen. Sie starrte gedankenversunken in die grüne Flüssigkeit, während ihre anderen Sinne mehrere Jahre in die Vergangenheit reisten. Sie roch Brand und Blut. Sie hörte Schreien und Flehen, Krachen und Explosionen. Leute liefen im Staub durcheinander, übereinander, ineinander, aufeinander. Kinder kreischten erbärmlich. Angst verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den Gassen, Panik. Menschen waren eingekesselt.             Und dann, später, nach Tagen des Chaos – war da plötzlich diese … trügerische Stille. Jeder Atemzug war unerträglich laut zu hören. Der Krieg sollte zu Ende sein? Sie waren geschlagen? Sie konnte nicht ertragen, untätig herumzusitzen. Sie spürte die spitzen Steine unter ihren Füßen.             Yuffie tauchte vollends in ihre Erinnerung ein.             Sie lief durch die verlassenen Gänge, so schnell ihre kurzen Kinderbeine sie tragen konnten. Es war niemand da, niemand, der ihr sagte, was vor sich ging. Sie musste es selbst herausfinden. Wie wild lief sie den Weg hinab in Richtung des Dorfes, die Steine bohrten sich schwer in ihre Füße, dicker Rauch schlug ihr entgegen und sie hielt hustend an. Es dauerte lange Momente, bis sie, keuchend mitten auf dem Weg stehend, in sich aufnahm, was sie sah: Das Dorf war beinahe vollkommen zerstört, die Häuser niedergehauen, der Markt am Ende der Straße in Trümmern, die Gassen voll von denen.             Ohne nachzudenken, drehte Yuffie um, rannte weiter, aber nicht zurück, sondern wandte sich nach rechts, in Richtung Wald, wo die Jahrhunderte alten Bäume sie vielleicht beschützen würden, egal, was die Erwachsenen gesagt hatten, was der Wald alles verbarg. Atemlos kam sie am Waldrand zum Stehen. Sie spähte umher. Sie sah sie zwar nicht, aber sie spürte, auch hier waren Menschen. Nur – Feind oder Freund? Sie hörte Männerstimmen rufen, weit entfernt, sie konnte die Sprache nicht ausmachen. Vorsichtig schlich sie sich weiter, um sich zwischen den Bäumen zu verstecken, wollte den Streifen Niemandsland überqueren, da hörte sie aus dem Nichts schnelle Schritte, die von hinten auf sie zugehastet kamen. Noch ehe sie sich ganz umgedreht hatte, schlossen sich Arme um sie.             „Prinzessin!“ Sie erkannte Tsengs fassungsloses Gesicht. „Ihr solltet nicht hier sein, sie durchsuchen den Wald! Flieht! Sucht Zuflucht im Palast! Schnell!“ Sie verstand nur die Hälfte dessen, was er sagte, aber sobald er sie wieder freigab, lief sie davon, zurück, sie wollte sich beeilen, doch Geräusche nur Momente später hielten sie zurück. Sie drehte sich um.             „Tseng!“, kreischte sie. Schneller, als ihr rasendes Herz einen Satz machen konnte, verstand sie, was das Knäuel aus Männern auf dem Boden zu bedeuten hatte, zwei Soldaten von denen mit den Knien auf Tsengs Rücken, dessen Gesicht ins Gras gedrückt war, nun erhob sich einer von ihnen, nahm etwas von seinem Rücken … „Nein!“ Ehe sie es realisierte, war Yuffie zurückgerannt und warf sich blindlings zwischen die Männer, Tseng um den Hals, der nun auf dem Boden vor dem Wald hockte, die Arme schützend um sie legte, denn auch der zweite Soldat hatte sich aufgerichtet, Yuffie sah sich nach den beiden um – und ihr starrer Blick fiel geradewegs auf die Spitze des Gewehrlaufs, der auf sie gerichtet war. Sie wagte nicht, sich zu bewegen.             Tseng versuchte, sie hinter sich zu verstecken. „Nein, ihr versteht nicht“, flehte er die Männer an. „Lasst sie gehen, lasst sie nur gehen!“             Die Soldaten schienen nicht verstehen zu wollen. Beide richteten ihre Waffen auf sie. Einer der Soldaten bewegte etwas an seiner Waffe, sodass sie klickte. Yuffie starrte ihn regungslos mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr wurde schwindelig. Gleich würde es vorbei sein, so oder so. Tseng redete weiter wie von Sinnen auf die Männer ein, doch sie hörten nicht.             Da ertönte eine andere Stimme. „Was glaubt ihr, was ihr dort tut?“             Die Soldaten fuhren herum. „Sir!“ Ein Mann war hinter ihnen erschienen, anders gekleidet als die Soldaten, doch unverkennbar von denen. Ein Mann mit schmalem, weißem Gesicht und langem, schwarzem Haar. Ein Mann mit roten Augen. Einer von denen. Von dort. Vom grün glühenden Ende ihrer Welt.             „Yuffie.“ Yuffie blinzelte und schlug die Augen auf. Ihr Vater hatte sich zu ihr heruntergebeugt; eine Hand lag sanft auf ihrer Schulter, aber seine Augenbrauen waren leicht zusammengezogen. „Nicht einschlafen.“             Yuffie bemerkte, dass sie den Atem angehalten hatte. „Ich bin nicht eingeschlafen“, sagte sie, auch wenn sie sich dessen nicht sicher war.             „Natürlich nicht.“ Ihr Vater setzte sich ihr gegenüber auf den Boden seines Besprechungsraums. „Besser, du trinkst deinen Tee, bevor er kalt wird.“ Yuffie, noch ganz durch den Wind, befolgte den Ratschlag, um etwas zu tun zu haben. Der eben noch dampfend heiße Grüntee hatte nun die ideale Wärme zum Trinken. Yuffies Blick versank erneut in der Tasse in ihren Händen. Ganz gewiss, der Mann aus ihrer Erinnerung war derselbe Mann, dem sie in der Nacht begegnet war. Und ebenfalls gewiss war dies das erste Mal gewesen, dass sie sich seitdem wiedergesehen hatten. Erst jetzt wurde Yuffie klar, was all diese Dinge von damals zu bedeuten hatten. Wenn dieser Mann, wenn Vincent nicht eingeschritten wäre … Er hatte recht. Dafür sollte sie ihm danken. Umgehend.             „Mein Vögelchen, wo bist du mit deinen Gedanken?“, fragte sie ihr Vater mit einem etwas hilflosen Lächeln.             „Nirgends“, sagte sie. „Es war nur sehr früh heute Morgen.“             „Allerdings“, pflichtete er ihr bei. Dann: „Es gibt immer noch Sturmschäden zu beseitigen, darüber müssen wir uns Gedanken machen.“             Blitzschnell kehrten Yuffies Gedanken dorthin zurück, wo sie sein sollten. „Wir werden wohl wieder Rufus fragen müssen“, sagte sie kühl. Godos Gesichtsausdruck zeigte so etwas wie bedauernde Zustimmung.             „Es scheint, Shin-Ras Einmischung hat doch gelegentlich etwas Gutes.“ Yuffie erwiderte daraufhin nichts, sondern schürzte nur die Lippen. Sie leerten ihre Teetassen, bevor der erste Streitfall des Tages vorgelassen wurde.  Die Sonne war längst weit über ihren Zenit geschritten, als Yuffie ihre letzte geschäftliche Angelegenheit geklärt, das letzte Dokument unterzeichnet und mit Siegel versehen und dem letzten Einwohner zugehört und schnelles Handeln versprochen hatte. Die Türen wurden zugeschoben und sie und ihr Vater, der noch über Papieren auf einem Tisch gebeugt saß, waren die einzigen, die im Raum zurückblieben. Yuffie schloss die Augen und während sie mehrere sehr tiefe Atemzüge tat, spürte sie, wie eine bis dahin unbemerkte Anspannung von ihrem gesamten Körper abfiel: Sie ließ den Kopf und die Schultern etwas sinken, drückte die Knie nicht mehr so stark zusammen und ihre Eingeweide fühlten sich auch gar nicht mehr so verkrampft an wie nur Momente zuvor. Und Erschöpfung fiel über Geist und Seele.             Den ganzen Tag hatte sie sich nicht recht auf das konzentrieren können, was sie eigentlich tun sollte: Ständig tauchten ungebetene Erinnerungen und Gedanken in ihrem Kopf auf. Der Geruch von Rauch. Ein flüchtiger Eindruck von Grasflecken auf ihrer Kleidung. Wieder und wieder das Gefühl, ein Stein hätte sich in ihre Fußsohle gebohrt. Ein metallisches Klicken. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.              „Du bist fertig für heute?“, hörte sie ihren Vater fragen. Yuffie brachte nur ein stummes Nicken zustande. „Spatz, wenn du gehen möchtest, kannst du das ruhig, du hast deine Aufgabe hier erledigt.“ Yuffie ließ ihre zitternden Finger wieder sinken. Ihr Vater hatte von seiner Arbeit aufgeblickt und schaute sie durch den Raum an, die Augenbrauen zusammengezogen und die Stirn in Falten gelegt. Sie rang sich ein Lächeln ab, nickte noch einmal und kämpfte sich auf die Beine, um schwerfällig auf die Tür zuzugehen, die sie aufschob. Ihr Blick ging nach rechts und links: Der Korridor mit einer Treppe an jedem Ende war wie ausgestorben.             Sie wandte den Kopf zurück in Richtung ihres Vaters. „Ich denke, ich werde mich bis zum Abendessen etwas ausruhen.“             Ihr Vater sah noch einmal auf. „Tu das, mein Vögelchen“, sagte er lächelnd. Sie versuchte sein Lächeln zu spiegeln, scheiterte aber. Stattdessen schleppte sie sich den Korridor links voran, dann die Treppe hinauf und durch eine Schiebetür in ein Zimmer, das als einziges im Haus nur ihr vorbehalten war: Abgesehen davon, dass es ihr persönlicher Rückzugsort war, hatte es keinen speziellen Zweck und war daher mit verschiedenen Dingen wie etwa Regalen mit Schriftrollen, Steinen und Muscheln, mit Kissen und anderen Dingen ausgestattet, doch das Wichtigste für sie war in diesem Moment die gepolsterte Liege, auf die sie sich fallen ließ, obwohl sie wusste, dass davon ihr Gewand knittern würde: Sie hatte keine Kraft übrig, um sich darum zu scheren.             So lag sie da, nicht einmal froh, dass der Tag vorbei war, weil es auch jetzt nichts gab, das es besser machen konnte. Sie hätte sich auch gar nicht dazu aufraffen können, wenn es etwas gegeben hätte. Sie konnte nur wie tot liegen bleiben, bis es Zeit zum Abendessen wurde, etwas essen, obwohl sie nicht hungrig war, und dann auf die Nacht warten, die sie vielleicht beleben würde. Und vielleicht würde sie etwas Abwechslung erfahren, indem sie nachts wieder auf Vincent traf.              Umständlich und schwer atmend richtete Yuffie sich auf. Vincent. Er hatte recht: Sie sollte ihm wirklich danken. Umgehend, hatte sie sich noch am Morgen gedacht. Aber umgehend war keine Option: Sie hatte ihr Zuhause nicht zu verlassen, es war auf Anordnung ihres Vaters verboten. Niemand würde sie nach draußen lassen. Tagsüber musste es außerdem beinahe unmöglich sein, sich davonzuschleichen; probiert hatte sie es zwar noch nicht, aber sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie ungesehen das Haus verlassen, das Tor passieren und den Weg hinunter zum Dorf nehmen sollte.             Langsam sank sie wieder aufs Polster, wobei das Wappen von ihrer Brust rutschte und an der Kette an ihrer Seite hing. Umgehend würde es vielleicht nicht klappen – aber mit etwas Glück, dachte sie, und ihr Blick wanderte wieder zur Decke, in der folgenden Nacht ... „Mein Vögelchen“, sagte ihr Vater beim Abendessen, „das ist nur ein Spitzname – du sollst nicht wie eins essen.“             Yuffie betrachtete die Stäbchen in ihren Händen, die kaum drei Reiskörner aus der Schüssel vor ihr herausgeholt hatten. „Ich hab keinen Hunger“, sagte sie leise. Außerdem drückten ihre Kleider und ihre Schärpe auf ihren Magen.             „Du brauchst nicht noch dünner zu werden“, sagte ihr Vater vergnügt, „du kannst ruhig essen.“             Verwundert schaute Yuffie erst auf ihren Vater und dann an sich herunter, als sie schon Rufus‘ Hand auf ihrem Rücken spürte und seine Lippen an ihrem Ohr: „Und selbst wenn du noch so dick wärst, könntest du trotzdem essen, was immer du wolltest“, sagte er leise genug, dass nur sie es hörte. Sie wandte sich zu ihm um und sah in diese ungewöhnlichen Augen von der Farbe des Nachthimmels, an die sie sich noch immer nicht gewöhnt hatte; vielleicht nie gewöhnen würde. Dennoch deutete sie ein Lächeln an und Rufus nahm seine Hand von ihrem Rücken.             „Was tuschelt ihr beide da?“, fragte ihr Vater.             „Nichts“, sagte Yuffie schnell.              „Gar nichts“, sagte auch Rufus, längst wieder am Essen.             „Junge Liebe“, sagte Godo und schüttelte lächelnd den Kopf. Yuffies Brüder begannen zu kichern. Nur ins Tsengs vertrauten dunkelbraunen Augen sah Yuffie keine Heiterkeit: Denn er wusste es besser.             Bis zum Ende der Mahlzeit hatte Yuffie ihre kleine Reisschüssel geleert und genug vom Gemüse gegessen, um nicht als unhöflich zu gelten. Als ihr Vater die Tafel aufhob, folgte sie ihm auf den Korridor in Richtung des Archivs gegenüber seinem Empfangszimmer. „Vater?“, fragte sie. „Können wir kurz über etwas reden?“ Sie zog die Tür der Bibliothek hinter sich zu.             „Mein Vögelchen“, sagte ihr Vater, während er Schriftrollen mit alten Urteilen ihrer Vorfahren aus den Regalen zog, „was gibt es?“             „Wegen der Robe, die Rufus mir geschenkt hat ...“, sagte sie vorsichtig und deutete auf das rote Gewand, das sie trug, „meinst du nicht auch, sie ist unpassend?“             „Wie meinst du?“, fragte Godo, die Stirn gerunzelt über einer Schriftrolle.                       „Na ja, sie sieht nicht aus wie die Kleider, die wir sonst tragen.“             „Ach“, machte ihr Vater. Jetzt richtete sich sein Blick auf sie. „Rufus ist nicht von hier, der weiß so was eben nicht. Er hat es nur lieb gemeint, du solltest dankbar sein – am besten trägst du das Gleiche morgen noch mal, damit zeigst du, dass es dir gefällt.“             „Tut es aber nicht“, rutschte es Yuffie heraus, bevor sie sich zurückhalten konnte.             „Yuffie!“, wies sie ihr Vater also zurecht. „Das Kleidungsstück ist sehr schön und du siehst gut darin aus, es ist sehr angemessen und seine Pracht passt sehr wohl zu deiner Position.“             „Was das angeht ...“, sagte Yuffie leise.             „Was ist denn jetzt noch?“, fragte ihr Vater ungeduldig.             „Ich dachte nur ...“ Yuffie wand sich. „Vielleicht sind ja nicht immer so große, prächtige Gewänder ... nötig.“             „Yuffie Kisaragi, jetzt reicht es aber!“, brauste ihr Vater auf.             „Ich mein doch nur!“, sagte Yuffie verzweifelt. „Ich will nicht undankbar sein, nur – so viele Leute haben in diesem letzten Sturm so viel verloren –“             „Yuffie, jetzt hör mir mal zu!“, sagte ihr Vater in kalter Wut. „Du trägst die wertvollsten Kleider im ganzen Land, und gerade von dir hätte ich erwartet, dass du das zu schätzen weißt. Die Gewänder in deinem Besitz sind Tradition und teilweise lange vererbt. Es zeugt von Respekt, wenn du dich an die Regeln hältst, wie du dich als Prinzessin zu kleiden hast. Möchtest du Menschen, die dich aufsuchen, etwa in Lumpen gegenübertreten? Glaubst du wirklich, das wäre angemessener? Wutai hat ein Unglück erfahren, aber wir stehen weiter stark, und dafür sehen Leute zu dir auf. Was glaubst du, was es wirklich bringen würde, ausgerechnet jetzt mit Traditionen zu brechen? Nichts und wieder nichts, es würde die Leute nur in die Verzweiflung stürzen. Yuffie, ich bin enttäuschte von deiner Gedankenlosigkeit.“             Yuffie zuckte zurück. Sie verneigte sich tief vor ihrem Vater. „Bitte verzeih.“             „Und jetzt geh zu deinen Brüdern, wo du hingehörst“, sagte Godo. „Ich will nie wieder ein Wort davon hören.“               Ohne den Blick wieder anzuheben, richtete Yuffie sich auf und verließ das Archiv, woraufhin sie den Korridor weiter entlanglief und sich nach rechts wandte. Sie blieb vor der Tür zum Spielzimmer stehen und linste hinein: Tseng saß an einem Tisch und, das Gesicht in tiefer Konzentration, kümmerte sich um Korrespondenz, während Rufus, unbekümmert auf dem Boden sitzend, mit den Zwillingen spielte; von ihrem Lachen zu schließen hatten sie ihren Spaß.             Yuffie hingegen zitterte. Sie spürte ihr Herz pochen – ungefähr in ihrem Hals. Sie hatte ihren Vater nicht verärgern, nicht enttäuschen wollen. Alles, nur das nicht. Nein, sie wollte wirklich nicht undankbar, nicht respektlos sein. Sie fragte sich, was sie hatte erreichen wollen. Warum hatte sie überhaupt gesprochen? Es waren nur Kleider. Kleider, in denen sie sich unwohl fühlte, zugegeben. Aber am Ende des Tages eben doch nur Kleider. Kein Grund, Streit mit ihrem Vater anzufangen. Sie fühlte sich so unglaublich dumm. Schämte sich.              Statt ins Spielzimmer zu den andern zu gehen, nahm sie die Treppe nach oben und warf sich wieder auf ihr Polster. Später betrat sie, ihres Tagesgewandes und des Familienwappens entledigt, das über Nacht sicher aufbewahrt wurde, ihr Schlafzimmer, in dem Rufus sich auch gerade umzog.             „Du warst plötzlich verschwunden“, sagte er, als er sie bemerkte. „Hat dich das so getroffen, was dein Vater beim Essen gesagt hat?“             Yuffie setzte sich aufs Bett und überlegte, was Rufus meinte. „Oh, das“, sagte sie, als es ihr schließlich einfiel. „Ja, die Bemerkung war seltsam. Aber ich mach mir da keine Gedanken.“ Rufus setzte sich zu ihr. „Ich war immer zierlich, das ist nicht das Problem.“             „Da bin ich froh.“ Er beugte sich zu ihr und seine Lippen berührten ihren Kiefer. Sie zog allerdings ihren Kopf zurück. „Alles klar“, sagte Rufus, woraufhin er sich auf seine Seite des Bettes zurückzog. Sie löschten die Kerzen und Yuffie konnte beinahe dabei zusehen, wie Rufus im hereinfallenden Mondlicht allmählich in einen ruhigen Schlaf hinüberglitt. Sie selbst hingegen war hellwach.             Unter normalen Umständen wäre sie in dieser Nacht im Bett liegen geblieben. Ihr Vater war ohnehin bereits wütend auf sie, und falls sie erwischt werden sollte – was sie, da sie so aufgewühlt und neben der Spur war, nicht für unwahrscheinlich hielt –, würde ihn das nur weiter in seine Enttäuschung hineinziehen. Normalerweise würde sie das nicht noch extra riskieren.             Aber sie musste diese Nacht für ihren Versuch nutzen, Vincent aufzusuchen. Jedenfalls wollte sie das nicht weiter aufschieben; ihre kreisenden Gedanken hatten sie den ganzen Tag lang von ihrer eigentlichen Arbeit abgelenkt. Daher wollte sie die Aufgabe endlich erledigt wissen. Die Nacht mochte ungünstig sein – aber es würde ihr nicht helfen, noch länger abzuwarten. Mit einem Blick auf Rufus, um sicher zu sein, dass er nicht aufwachte, stahl sie sich aus dem Bett. Aus ihrem Zimmer nebenan holte sie ihren dunklen Mantel, mit dessen Hilfe sie sich aus dem Haus und dann durch das Tor schlich; hinter dem Lichtkegel, den die Fackeln warfen, atmete sie auf. Wieder einmal geschafft.             Doch entgegen ihrer Erwartung war Vincent nirgendwo anzutreffen. Sie war fest davon ausgegangen, dass auch er an einem Wiedersehen interessiert sein musste – warum sonst hatte er sie so auf ihre verbindende Vergangenheit hingewiesen? Aber egal, wo und wie lange sie suchte und wartete, er war nicht zu finden.             Yuffie kehrte an die Stelle zurück, in der sie sich in der Nacht zuvor über den Weg gelaufen waren, auch hier keine Spur. Über ihre Schulter aber schienen gerade die letzten Strahlen des grünlichen Glühens von unten aus dem Tal. Sie wandte sich um. Sollte sie ...?             Sie überquerte den Markt und verließ das Dorf in Richtung des Hügelrandes, an dem sie stehen blieb. Unten im Tal, auch dort, wo sie stand, bestens zu erkennen, breitete sich ein zweites kleines Dorf aus, eines aus großen und kleinen Zelten und, wenn sie sich nicht täuschte, sogar einem kleinen Haus, das nicht größer war als die größten Zelte des Lagers. Alles war hell erleuchtet von diesem seltsamen weißen Licht, dessen Ränder so grünlich waren. Dort unten musste Vincent zu finden sein.             „Nicht direkt“, hatte er gesagt, komme er aus dem Lager. „Aber irgendwie schon.“             Vielleicht war er also doch gar nicht dort. Und vielleicht war es diese Möglichkeit, die Yuffie an Ort und Stelle fesselte. Oder vielleicht war es doch die Aussicht, sich im Dunkeln an ein bewaffnetes Militärlager heranzuschleichen. Die Idee kam ihr wahnsinnig vor. Dennoch blieb sie stehen, anstatt umzudrehen und zurückzulaufen. Wenn sie nicht Nacht für Nacht für Nacht auf gut Glück nach Vincent suchen wollte, sah sie keine andere Möglichkeit, als zu ihm zu gehen. Aber irgendetwas, das wohl oder über sehr eng mit einer sehr bestimmten Erinnerung an einen Gewehrlauf zusammenhing, hielt sie davon ab, den Hügel herabzusteigen. Alles hatte seine Zeit. Und dies war nicht die richtige, um sich an einen Militärposten heranzuschleichen. „Ich glaube, Papa ist sauer auf mich.“             „Ach was.“             „Er schickt mich doch sonst nicht raus, nur weil es nichts zu tun gibt.“ Yuffie pausierte nachdenklich. „Außerdem gibt es immer irgendetwas zu tun.“             „Ich dachte eigentlich, Ihr wärt hier, weil Ihr gestern nicht da wart.“             „Woher soll er das denn wissen?“              „Ihr glaubt auch, wir würden nicht miteinander reden, oder?“ Tseng bedachte sie auf der Decke, die sie im Innenhof ausgebreitet hatten, um darauf sitzend ihre Brüder beim Spielen zu beobachten, mit einem verschmitzten Lächeln. Unwillkürlich erwiderte sie es erleichtert.             „Ja, stimmt, glaub ich“, sagte sie scherzeshalber. Tseng schüttelte amüsiert lächelnd den Kopf und richtete seinen Blick wieder auf die Zwillinge, während Yuffie tief durchatmete. Also hatte ihr Vater sie nur früher entlassen, damit sie Zeit mit ihren Brüdern verbringen konnte, und nicht um sie loszuwerden, weil er noch immer genervt war. Beruhigt sank sie gegen Tsengs Schulter, woraufhin er ihr einen vorsichtigen Kuss auf ihr hochgestecktes Haar gab.             Bei Tseng waren die Dinge immer so entspannt. Sie musste nicht aufpassen, was sie sagte oder wie sie saß. Es war immer so gewesen, so lange, wie sie sich erinnern konnte: Was immer ihre Eltern gerade durchmachten, Tseng hatte Zeit für sie. Wenn sie, noch ein Kind, hinfiel und sich das Knie aufschlug, half Tseng ihr auf und wusch mit ihr den Kratzer aus; wenn sie Bauchschmerzen hatte, holte Tseng ihr Tee aus der Küche und strich ihr über den Kopf, bis es besser wurde; wenn etwas sie störte, konnte sie es ihm sagen, ohne dass er wütend wurde; wenn es ihr einfach nicht gut ging, konnte sie schweigend neben ihm sitzen und irgendwann ging es ihr wieder gut. Egal, woran sie sich erinnerte, irgendwo war Tseng, meist im Hintergrund, leise, aber dort, wo sie ihn sehen und wo er sie bestärken konnte.             „Hab ich dir gesagt, dass ich froh bin, dass du da bist?“, fragte Yuffie, wobei sie zu Tseng nach oben schaute. Der lächelte zwar, mied aber ihren Blick.             „Nicht sentimental werden, Prinzessin“, sagte er nur. Yuffie setzte sich wieder aufrecht hin. Mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Sie war sich nicht sicher, warum Tseng so abweisend war. Vielleicht war ihm dieselbe Erinnerung durch den Kopf gegangen wie ihr am Tag zuvor: Dass nicht viel gefehlt hatte und er wäre tatsächlich nicht mehr da gewesen. Wenn nicht ... Vincent ...             Sie seufzte. Sie war wieder bei ihrem alten Problem angekommen. Wie sollte sie ihn finden? Sie hatte natürlich einen Anhaltspunkt: das Militärlager. Rufus ging dort täglich ein und aus, theoretisch hätte sie ihn fragen können – aber nicht, ohne zu erklären, dass sie auf Vincent getroffen war, weil sie sich jede Nacht davonschlich. Selbst hingehen konnte sie auch nicht ohne Weiteres, weder tagsüber noch nachts.             Sie war mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass es vielleicht möglich war, sich auch am Tage ungesehen aus dem Haus und bis zum Tor zu schleichen. Aber danach würde man sie irgendwann von der Mauer aus auf dem Weg zum Dorf sehen. Und falls das nicht, dann würden die Dorfbewohner sie unweigerlich irgendwann sehen, selbst wenn sie nicht durch die Straßen, sondern am Dorf vorbei lief. Und nicht nur sollte sie das Haus nicht ohne Grund verlassen, sondern auch das Dorf nicht ohne Anlass aufsuchen. Und das Militärlager war vollkommen verboten. Sie wusste das alles. Und dennoch suchte sie nichts weiter als das eine Schlupfloch, das es ihr erlauben würde, am Tag ins Tal hinabzusteigen, ohne erwischt zu werden.             Denn sie hatte es sich längst in den Kopf gesetzt, endlich ins Tal zu gehen, auf das sie schon so lange neugierig war. Zwar konnte sie sich nicht überwinden, sich dem Lager nachts im Dunkeln zu nähern, aber sie sagte sich, dass es tagsüber schon sicher sein würde; immerhin hatte es keine Vorfälle gegeben, seit es unten im Tal installiert war. Also würde ihr schon nichts passieren. Wenn sie nur einen Weg fand.             Ihren Vater einfach um Erlaubnis zu bitten war, wie sie am Vortag herausgefunden hatte, egal, was Tseng sagte, keine Option. Ihre einzige Möglichkeit bestand darin, sein Verbot zu umgehen, ohne dass er davon Wind bekam. Und wie das funktionieren sollte, das musste sie herausfinden.             Tseng holte sie aus ihren Gedanken, indem er sich neben ihr rührte und sich erhob. „Ich denke, wir wechseln besser nach drinnen, es gibt gar keinen Schatten mehr.“ Die Sonne war hinter dem Wald hervorgekommen und stand nun direkt über dem Dorf, sodass tatsächlich keine Schatten mehr in den Hof fielen. Während Tseng die Zwillinge ins Spielzimmer komplimentierte, erhob auch Yuffie sich.             „Ich bring die Decke wieder nach oben“, sagte sie, während sie diese gebückt zusammenfaltete. Tseng nickte ihr zu und sie gingen zusammen nach drinnen; Yuffie durchquerte das Spielzimmer und den Korridor und ging die Treppe nach oben, die ihrem Zimmer am nächsten lag. In ihrer kleinen Kammer legte sie die Decke oben auf ein Regal, ehe ihr Blick gewohnheitsmäßig zum Fenster ging.             Und dann kam ihr eine Idee.             Erneut eine wahnsinnige Idee.             Aber es war diese Idee, die ihr bisher am machbarsten erschien.             Was, wenn sie sich zum Tor stahl und dann an der Mauer entlangging und anschließend in den Wald lief, um in dessen Sichtschutz am Dorf vorbeizukommen, bis sie am Ende der Ebene angekommen war und unentdeckt den Hügel hinabsteigen konnte?             Wie in Trance schritt sie auf das offene Fenster zu und krallte die Hände in dessen Rahmen. Der Wald. Er sollte angeblich unfassbar gefährlich sein. Ihr ganzes Leben hatte sie das gehört. Eine dicke Mauer mit Wachen darauf umgab ihr ganzes Zuhause nur, um die Gefahren des Waldes draußen zu halten. Und doch war der Wald eine Möglichkeit, nicht gesehen zu werden. Eine potentiell tödliche Gefahr. Aber ansonsten hatte sie am Tage keine Option. Und nachts zu gehen, das hatte sie ja schon festgestellt, war ebenso potentiell tödlich. Also musste sie sich entscheiden, wo sie im Falle eines Falls lieber sterben wollte.             Und von einem Teil ihrer Heimat getötet zu werden kam ihr besser vor als von denen.             „Ich kann es wenigstens versuchen“, sagte sie sich abwesend. Wenn einer von denen wieder sein Gewehr auf sie richten sollte, würde es kein Zurück geben; sollte sie im Wald auf ein Hindernis stoßen, konnte sie vielleicht immerhin davonlaufen.             Ihre Hände, die noch immer den Fensterrahmen festhielten, begannen zu zittern.             Hiermit wurde es echt. Riskant. Wenn sie jetzt ging, lief sie so vielen Gefahren direkt in die Arme. Und alle konnten mit ihrem Tod enden, nicht zuletzt, wenn man sie erwischte. Natürlich würde man sie nicht töten im engsten Wortsinne. Aber einsperren. Oder unter ständige Bewachung stellen. Nie wieder würde sie dann unter den Sternen spazieren.             Bei dieser Vorstellung lief ein Schauer durch Yuffies gesamten Körper. Wenn es etwas gab, das sie bei Verstand hielt, dann war es das Wissen, sich zumindest nachts unbeobachtet und frei bewegen zu können. War es das wirklich wert? Sie schüttelte den Kopf und schob den Gedanken beiseite.             Es gab mehrere mögliche Wege. Sie konnte die Treppe nehmen, die sie heraufgekommen war. Danach konnte sie durch dieselbe Tür gehen, durch die sie allmorgendlich zum Badehaus lief – die Möglichkeit verwarf sie sofort: Beim Durchqueren des äußeren Hofs zum Tor würde sie garantiert von der Wache gesehen werden, die auf der Mauer patrouillierte. Stattdessen konnte sie durch den inneren Hof laufen: „Aber Karui und Teiso sind im Spielzimmer und Tseng könnte mich durch die offene Tür sehen“, widersprach sie sich selbst. „Im Esszimmer ist vielleicht noch niemand ... dann hinter den Büschen im Hof zum Ausgang ... das könnte klappen ...“             Die Treppe vor ihrem Zimmer schied also aus. Vorsichtig schob sie ihre Tür auf: Wie sie geahnt hatte, war niemand zu sehen. Ihr Vater war immerhin noch in seinem Arbeitszimmer unten, ihre Brüder unter Tsengs Aufsicht im Spielzimmer und Muttern lag wie eigentlich immer im Bett. Und genau an ihr musste Yuffie vorbei. Sie schob die Tür behutsam hinter sich zu, ging an der Treppe vorbei und schlich den Korridor entlang, der am Zimmer ihrer Eltern vorbeiführte. Bedächtig verharrte sie an der Tür, regungslos, ohne zu atmen. Eine Hand am Papier, lauschte sie.             „Mama ...“, hauchte sie in die absolute Stille hinein. Wie erwartet bekam sie keine Antwort. Sie ließ die Hand und den Kopf sinken. Ihre Atmung ging so leise wie möglich, als sie an ihre Mutter dachte, krank im Bett in der Dunkelheit, ungesehen, ungehört. „Mama.“ Sie hörte noch immer nichts. Sie musste ihren Weg zur anderen Treppe fortsetzen, die sie auf der anderen Seite herunterführen würde. Langsam, zögernd setzte sie sich in Bewegung. Am Ende der Treppe angelangt, sah sie wieder die offen stehende Tür zum Arbeitszimmer.             Ohne das kleinste Geräusch zu verursachen stahl sie sich wie sonst am Morgen ins Esszimmer, steckte allerdings erst probeweise den Kopf hinein: Es war richtig von ihr gewesen anzunehmen, dass noch niemand da war. Sachte setzte sie auf dem Reisstroh einen Fuß vor den andern und lief am Tisch vorbei zu der Schiebetür, die in den Hof führte: Hier hechtete sie hinters Gebüsch auf der rechten Seite, das Herz wild pochend, als sie durch die Blätter lugte: Durch die offene Tür auf der anderen Seite hörte sie die Stimmen ihrer Brüder aus dem Spielzimmer. Langsam schlich sie hinter dem Gebüsch an der Hauswand entlang, bis sie am Durchgang zum äußeren Hof ankam, der allerdings zwischen den Gemächern, Arbeits- und Aufenthaltsräumen der Palastbediensteten hindurchführte: Sie musste einige Momente warten, bis die Luft rein war.              Schnell schlich sie sich durch den Durchgang, und als sie im äußeren Hof angekommen war, drückte sie sich rückwärts an die Hauswand: Es war kein weiter Weg bis zum Tor, sie konnte es in wenigen Schritten erreichen, aber sie musste Acht geben, dass sie weder von drinnen noch von der Mauer aus entdeckt wurde: Falls irgendjemandem auffallen sollte, dass sie nicht auffindbar war, würde jedem, der sie hier draußen gesehen hatte, klar sein, dass sie sich weggeschlichen hatte, und dann würde es vorbei sein mit ihrer Freiheit.             Sie sah sich atemlos links und rechts um: Auf dem kurzen Weg zum Tor gab es keinerlei Deckung. Wenn sie es schaffen sollte, das Tor ungesehen zu passieren, würde sie an der Mauer entlangkrauchen müssen, allerdings musste sie zuerst zum Tor gelangen. Doch sich davonzustehlen war ihre leichteste Übung, es war ja auch niemand zu sehen … Einen Schritt nach dem andern wagte sie über das Grün. Sie musste sich nur –             „Prinzessin!“ Yuffie zuckte zusammen. Nicht ausgerechnet diese Stimme. Sie hatte nicht daran gedacht, hinter sich zu schauen, ob ihr jemand folgte. Ertappt drehte sie sich um. „Ich dachte, ich hätte etwas Rotes vorbeihuschen sehen. Wo wollt Ihr denn so plötzlich hin? Ich dachte, Ihr bringt nur die Decke weg?“, fragte Tseng sie skeptisch; er hatte die Arme missbilligend verschränkt. Genauso, wie sie sich für gewöhnlich ganz gut davonstehlen konnte, hatte er ein Talent dafür, wie aus dem Nichts aufzutauchen.             „Das hab ich auch. Ich wollte mich nur ein bisschen bewegen“, log Yuffie. „Nur ein wenig hin und her gehen, weißt du?“             Tsengs Augenbrauen hoben sich leicht. „Verständlich“, erwiderte er. „Immerhin habt Ihr den ganzen Tag gesessen …“             „Ja, genau“, stimmte Yuffie vielleicht etwas zu schnell zu. Sie verstand Tsengs Blick, den er ihr daraufhin zuwarf. Er hatte sie durchschaut. Sie versuchte, ihn mit großen traurigen Augen auf ihre Seite zu ziehen. Tseng seufzte irritiert auf.             „Ich vermute, Ihr befindet Euch auf Eurem Zimmer?“ Yuffie nickte begeistert. Tseng seufzte erneut tief, als konnte er nicht glauben, was er tat, aber er nickte mit dem Kopf in Richtung des Tores, durch das Yuffie eilends hindurchschlüpfte.             Sie begann die Luft ihrer Freiheit zu atmen. Langsam begann ihr Abenteuer, sie zu begeistern. Sie drückte sich leicht gebeugt mit dem Rücken an die Mauer und spähte ihren weiteren Weg aus. Sie musste sich nun links querfeldein zum Wald durchschlagen. Der Weg war nicht kurz, das Risiko, erwischt zu werden, nicht gering. Ihr Magen kribbelte. „Los geht’s!“, flüsterte sie sich selbst zu.             Sie drückte sich weiter an der Mauer entlang, die Augen immer auf den Waldrand gerichtet, der bedrohlich näherkam. Mit schnell schlagendem Herzen machte sie sich so klein wie möglich, kroch beinahe über das Gras, die Ohren jederzeit gespitzt: War das der Wind? Waren es Schritte? Atemlos verharrte sie, in ihrem roten Gewand deutlich zu sehen, sollte jemand vorbeikommen. Doch es waren wohl nur ihre Nerven. Flugs stahl sie sich weiter zum Wald hin, sie kam an die Biegung, die die Mauer machte, lugte um die Ecke: Auf dem Streifen Gras, der Mauer und Waldrand voneinander trennte, war nichts und niemand zu erkennen, keine tödliche Kreatur, aber auch kein Mensch.             Ihr Blick ging hoch an den Bäumen, die in ihren Augen hundertmal so groß wirkten wie sie selbst. All die Geschichten aus ihrer Kindheit kamen ihr wieder in den Sinn und sie war wie festgefroren. Noch konnte sie umkehren. Lieber riskieren, jemandem in die Arme zu laufen, als im Wald aufgefressen zu werden. Wenn sie die freie Wahl hatte, hätte sie sich natürlich für nichts davon entschieden. Aber nun stand sie hier, die Bäume vor ihr sicher so alt wie die Zeit selbst, und wer wusste schon, wie schrecklich die Geheimnisse zwischen ihnen waren. Sie war plötzlich gar nicht mehr so erpicht darauf, es herauszufinden.             Mit einem Mal hörte sie hinter sich doch eindeutig Geräusche, Stimmen diesmal: Bedienstete, die den Palast verließen. Panik überfiel sie, ihr Denken erstarb. Ihr Körper reagierte nur: Wenn sie nicht in ein paar Momenten gesehen werden wollte, musste sie jetzt rennen. Sofort.             In einem kopflosen Lauf überquerte sie den Streifen Gras, der sie noch vom Wald trennte, und machte nicht Halt, bis sie zwischen den Bäumen angekommen war, den sausenden Wind in den Ohren, die aufgewühlte Erde zwischen ihren Zehen. Keuchend verschnaufte sie zwischen den Bäumen. „Das war ja vielleicht doch gar nicht so schlecht“, sagte sie zu sich, als sie etwas zu Atem gekommen war. Sie horchte: Es schien nicht, als ob ihr jemand folgen würde.             Erleichtert richtete sie sich auf, ließ ihren Blick um sich herum schweifen, über die Bäume, durch den Wald. Und seltsamerweise konnte sie keine Bedrohung ausmachen. Behutsam wandte sie sich um und wollte gerade ein Stück weiter in den Wald hineinspazieren, als sie zu Tode erschrocken abrupt stehen blieb und sofort einen Satz zurückmachte: Beinahe wäre sie geradewegs in ein mächtiges Spinnennetz gelaufen, dessen Besitzerin, so groß wie Yuffies Gesicht, mittendrin prangte, zwei der Hinterbeine drohend erhoben.             „Ganz ruhig!“, sagte Yuffie zu der Spinne, während sie sich vorsichtig und langsam zurückbewegte, ohne aber den Schutz der Bäume zu verlassen. „Ich geh schon! Kein Grund, mich anzugreifen.“ Sie glaubte zu sehen, dass die Spinne sich beruhigt hatte, als sie den Wald fast wieder verlassen hatte. Endlich wagte auch Yuffie wieder Luft zu holen. Sie musste vorsichtiger durch den Wald laufen, allerdings musste sie auch tiefer hineingehen, damit die rote Farbe ihres Gewands von den Bäumen geschluckt wurde und nicht von außen gesehen werden konnte. „Ich hätte mich einfach vorher umziehen sollen“, murrte Yuffie.             Sie fand einen anderen Weg in den Wald hinein, ehe sie eine scharfe Wendung nach rechts machte und so in einigem Abstand parallel zu dem Pfad lief, der sie ansonsten ins Dorf geführt hätte. „Ich darf den Wald nicht zu früh wieder verlassen“, ermahnte sich Yuffie, während sie sich behutsam durchs Unterholz arbeitete. „Sonst sieht man mich vom Dorf aus, was ich ja gerade mit diesem Waldspaziergang zu vermeiden versuche.“ Yuffie fühlte sich zunehmend wohl zwischen den dicht stehenden Bäumen, zwischen den Vögeln, die davonstoben, den Echsen, die eilends davonliefen, den Blumen, die sich an den Stämmen entlangschlängelten. Nur wenn sie nach oben sah und zwischen den Baumkronen kaum etwas vom Himmel erkennen konnte, wurde ihr etwas mulmig: Es war fast, als wäre sie wieder von den Wänden und Mauern umgeben, denen sie gerade entflohen war.             Sie entfernte sich weiter und weiter. Es brauchte ein wenig kühlen Kopf, um abzuschätzen, wann sie weit genug gegangen war: Sie wusste, sie konnte den Weg zum Dorf im Schlaf finden, aber ihr Herz pochte derart schnell, ihr Verstand arbeitete plötzlich so blitzartig, dass schon eine Ewigkeit vergangen schien, als sie noch gar nicht lange unterwegs gewesen sein konnte. Sie musste ruhig bleiben. Alles richtig machen.             Alles richtig machen.             Yuffie grinste.             Alles richtig machen, das konnte sie.             Nun wusste sie: Sie würde noch ein Stück gehen, dann musste sie auf Höhe des Dorfes sein. Wenn sie dann noch einmal dieselbe Strecke zurücklegte, musste sie weit genug entfernt sein, um am Rande ihres Universums angekommen zu sein.             Die zweite Hälfte des Weges verging viel schneller als die erste. Langsam, immer darauf bedacht, niemandem in die Arme zu laufen, begab sie sich zurück zum Waldrand und steckte ihren Kopf nur ein wenig zwischen den Bäumen hervor: Wie sie erwartet hatte, war sie hinter dem Dorf herausgekommen, nah genug, um es zu sehen, doch weit genug entfernt, um nicht genau gesehen zu werden. Das Gras vor ihr ging allmählich in einen sanften Hügelabhang über und fiel ins Tal hinab, in die Feuerschale, die sie nachts so häufig bewundert hatte. Tagsüber glühte daran freilich nichts. Nur die Sonne am Horizont hinter dem Hügel begann langsam ihren Weg nach unten.             Bevor Yuffie aus dem Wald hervortrat, betrachtete sie ihre Situation: Sie war verbotenerweise davongelaufen, aber Tseng deckte sie, sie hatte den Wald durchquert, der seine ganz eigenen Gefahren barg, um nicht durchs Dorf laufen zu müssen, in das sie ohne explizites Anlegen nicht gehen sollte, und war nun sogar kurz davor, sich nach unten ins Tal zu begeben, wo sie erst recht nicht hingehörte, und ganz klar war ihr nicht, was sie unten erwartete.             Yuffie schaute ein Mal links und rechts, ob die Luft rein war, und verließ ohne groß nachzudenken, aber mit vor Aufregung wild pochendem Herzen den Wald. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)