Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht von MariLuna ================================================================================ Kapitel 1: Gegenwart – 3. Januarwoche – 20. Januar, Tag X - Warteräume in Krankenhäusern sind eine Qual und das nicht nur wegen der unbequemen Stühle ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Unruhig tigert Vizekommandant Hijikata Tōshirō von einer Ecke des Warteraumes in die andere. Immer wieder. Hin und zurück. Hin und zurück. Dabei zerknautscht er unbewusst seine eigene Uniformmütze in seiner rechten Hand, bis das Kaninchenfell jegliche Form verliert und ihm die Kanten des Abzeichens tief ins Fleisch schneiden. Er bemerkt es nicht einmal. Er hasst Krankenhäuser. Er hasst die unbekannten Geräusche, den Geruch nach Desinfektionsmitteln und die eifrige Geschäftigkeit der Ärzte, Pfleger und Schwestern. Er hasst die kryptischen Lautsprecherdurchsagen, die Codes, die hier verwendet werden, von denen jeder weiß, dass es Codes sind, aber alle so tun, als wären sie es nicht. Er hasst es, zu warten. Er hasst die Blicke der Fremden, die genau wie er hier warten. Er hasst es, wie sie ihn ansehen, wie ihre Blicke ihn tadeln, weil er nicht stillsitzt und so geduldig ist wie sie. „Nun beruhige dich doch mal...“ sein vorgesetzter Kommandant Kondō Isao ist einer dieser Wartenden, und als Hijikata mal wieder an ihm vorbeikommt, zupft er ihn am Ärmel seines Uniformmantels. Doch Hijikata wirft ihm nur einen wilden Blick zu und schüttelt ihn ab. „Ja“, meint da Okita Sōgo, der sich auf der gegenüberliegenden Sitzreihe lässig hingefläzt hat und schiebt sich seine Schlafmaske von den Augen, „dein Herumgerenne stört mich in meinem Schönheitsschlaf, Hijikata-san.“ Hijikata ignoriert den Truppenkapitän der ersten Division ganz bewußt und wirbelt stattdessen zu Kondō herum. „Ich soll mich beruhigen, ja? Nach allem, was passiert ist?“ Vielsagend deutet er zu der breiten Flügeltür, an der „nur autorisiertes Personal“ steht. „Zaki liegt da drinnen und ihr wollt, dass ich mich beruhige?“ Er weiß, dass er fast schreit und dass man so etwas hier nicht macht, aber er fühlt sich wie ein Luftballon kurz vorm Platzen. „Ich gehe.“ Okita erhebt sich, doch da ist Hijikata heran und gibt ihm einen Stoß vor die Brust, der ihn wieder zurück auf den Stuhl taumeln lässt. „Wage es nicht! Du bleibst hier! Ihr bleibt alle hier!“ „Ich habe noch Papierkram...“ versucht Kondō, stockt dann aber mitten im Satz, als er Hijikatas Gesichtsausdruck sieht. „Du bleibst. Wir bleiben alle. Das sind wir Zaki schuldig!“ Okita murrt. Es kratzt ihn an seiner Ehre, dass Hijikata ihn derart überraschen konnte. Normalerweise ist er derjenige, der so mit ihm umgeht, wahrscheinlich kam ihm deswegen nicht einmal der Gedanke, sich gegen diese Behandlung entsprechend zu wehren. Es liegt ganz bestimmt nicht daran, dass er sich schuldig fühlt oder so... „Was soll die ganze Aufregung?“ protestiert er daher. Und er weiß, dass das falsch ist, aber er kann nicht anders, denn Hijikata zu provozieren ist zu seiner zweiten Natur geworden: „Das ist doch nur eine -“ „Nur?“ unterbricht ihn Hijikata. „Nur etwas, bei dem Tausende weltweit täglich verbluten? Willst du das sagen, ja?“ „Du übertr-“ „Hijikata-san...“ Sasaki Tetsunosuke, der bisher nur stumm dagesessen hatte, versucht jetzt, schlichtend einzugreifen, auch, weil die anderen im Wartezimmer, die nicht zu ihrer kleinen Vierergruppe gehören, allmählich nervös werden. Die schwarz-goldenen Uniformen der Shinsengumi wirken von sich aus schon einschüchternd auf Zivilpersonen, ein ruppiges Benehmen macht es da nicht besser. Langsam geht er zu Hijikata hinüber und schenkt ihm sein zuversichtlichstes Lächeln. Er ist zwar nur ein Rekrut, aber er ist auch Hijikatas Assistent und als solcher weiß er inzwischen, welche Worte man bei ihm wählen muß, damit sein Blutdruck langsam wieder sinkt. „Ich bin sicher, Zaki ist in den besten Händen. Die Ärzte hier sind gut, sie wissen, was sie tun. Es wird bestimmt alles gut.“ Die Worte fühlen sich falsch an, noch während sie ihm über die Zunge rollen, doch er behält sein Lächeln bei, in der Hoffnung, es würde Hijikata etwas Zuversicht schenken. Auch, wenn er weiß, dass er kein Recht hat, so zu sprechen, denn anders als seine Vorgesetzten, kam er erst viel später hier an, aus eigener Initiative und nachdem Yamazaki schon hinter diesen Türen verschwand. Woher soll er also wissen, wie kompetent diese Ärzte wirklich sind? Er hat sie nicht einmal gesehen, geschweige denn mit ihnen gesprochen oder ihre Referenzen im Internet überprüft. Er kann nur hoffen und bangen wie alle hier. Und wie die im Hauptquartier zurückgebliebenen Kameraden, die ihm den Auftrag gaben, sie übers Mobiltelefon ständig auf dem Laufenden zu halten. Weil sie alle aus Erfahrung wissen, dass Kondō, Hijikata und Okita in ihrem Schockzustand nicht an so etwas denken werden. Hijikata starrt ihn für einen Moment einfach nur an, doch Tetsunosuke hat nicht den Eindruck, dass er ihn wirklich wahrnimmt. Und er fragt sich unwillkürlich, ob Hijikata ebenfalls - genau wie ihm - der Geruch und der Anblick von so viel Blut nicht mehr aus dem Sinn gehen will. Zaki war so bleich, so weiß, als wäre er schon tot und sie haben so viel Zeit verschwendet, bis einer von ihnen reagierte, weil sie es nicht glauben konnten, obwohl der Beweis doch dort direkt vor ihnen lag. Die einzige Entschuldigung, die sie haben, ist jene, dass man damit wirklich nicht rechnen konnte. „Wie konnte es nur soweit kommen?“ Aufstöhnend massiert sich Hijikata die schmerzende Stirn und nimmt die Hand schnell wieder fort, als er glaubt, Blut zu riechen. Egal, wie oft er sie sich inzwischen gewaschen hat, es scheint nicht wirklich etwas geholfen zu haben. „Zaki hätte ja auch etwas sagen...“ beginnt Okita, kommt jedoch nicht weit, weil Hijikata mit einem wütenden Zischen zu ihm herumfährt und mit seiner Uniformmütze nach ihm wirft. „Wage es nicht! Wir haben alle schuld! Wir alle! Und deshalb bleibt ihr genauso hier wie ich! Ist denn wirklich niemandem etwas aufgefallen? Tetsu?“ „Huh?“ Erschrocken, so plötzlich wieder in Hijikatas Fokus zu stehen, hebt Tetsunosuke abwehrend beide Hände. „Wieso ich? Wie hätte ich etwas bemerken sollen? Ich bin doch erst seit vier Monaten dabei. Ich kannte ihn vorher gar nicht. Wie sollte mir da etwas auffallen?“ Er versteht ihn ja, aber das ist unfair. Er hat am allerwenigsten etwas mit der ganzen Sache zu tun. Er und Yamazaki haben sich immer gut verstanden und Tetsunosuke hat Yamazaki immer als seinen „Lieblingsbruder“ innerhalb der Shinsengumi bezeichnet, aber das heißt doch nicht, dass sie sich gegenseitig ihre intimsten Geheimnisse anvertrauen. Vielleicht wäre ihm tatsächlich etwas aufgefallen, wenn er Yamazaki vor über einem Jahr kennengelernt hätte, aber das hat er nicht. Den Schuh können sich die anderen alleine anziehen. „Zaki ist eben unglaublich gut in seinem Job“, meldet sich da Okita wieder zu Wort, der nun Hijikatas Mütze mit dem Abzeichen des Vizekommandanten provokant auf seinem hellbraunem Schopf trägt. „Täuschen, tarnen, tricksen. Er hat dich fast ein Jahr an der Nase herumgeführt und du hast nichts bemerkt. Hijikata-san, du solltest dein Amt als Vizekommandant abgeben. Du bist eine Schande.“ „Und dir ist es natürlich sofort aufgefallen, ja?“ Höhnisch funkelt Hijikata ihn an und als Okita daraufhin nur schnaubt und sich demonstrativ wieder hinlegt und die Schlafmaske plus Mütze über die Augen zieht, wendet sich Hijikata wortlos von ihm ab. Doch anstatt wieder wie ein gefangener Tiger im Käfig hin und her zu laufen, lässt er sich diesmal schwer auf den Stuhl neben Kondō sinken und vergräbt das Gesicht in beiden Händen. „Kann es sein, dass wir Zaki ständig ... immer wieder und wieder einfach nur hängenlassen? Ich frage mich ... wäre das nicht bei der Morgenbesprechung passiert, sondern auf einer seiner Missionen, dann wäre ...“, ihm versagt die Stimme bei dem Gedanken daran und er schaudert unwillkürlich. „Nur, weil wir nie für Zaki da sind … wieso haben wir das nicht bemerkt?“ Kondō neben ihm schnieft laut. Im Gegensatz zu Hijikata schämt er sich nicht seiner Emotionen. Das mit dem Papierkram war nur ein Vorwand, weil ihn Krankenhäuser so sehr deprimieren. Von seinen Schuldgefühlen mal ganz abgesehen … und ja, die Sorge um Yamazaki bringt ihn fast um, von daher ist er ganz froh, etwas gefunden zu haben, das ihn von seinen eigenen Gefühlen etwas ablenkt, und so legt er Hijikata neben sich tröstend eine Hand auf die Schulter. Niemand hätte das, was heute passierte, verhindern können, aber die Schuld frisst sie dennoch auf. Jeden einzelnen von ihnen. „Tōshi, bitte... Hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Du hast doch etwas bemerkt. Als einziger von uns.“ Aber Hijikata schüttelt nur stumm den Kopf und vergräbt das Gesicht noch tiefer in seinen Händen, damit niemand seine Tränen sieht. Kondō meint es gut, aber es ist Tatsache: er hat versagt. Als Vorgesetzter, vor allem aber als Freund. Und derjenige, der den Preis dafür bezahlt, ist Yamazaki.   Kapitel 2: Vergangenheit – 1. Dezemberwoche – feiere nie mit der Mimawarigumi, denn die spielen nach eigenen Regeln -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------   Diese ganzen neuartigen Feste jedes Jahr. Dabei endet das Jahr nach dem gültigen Mondkalender erst in sieben Wochen. Sie haben noch nicht einmal Weihnachten! Stöhnend hält sich Vizekommandant Hijikata Tōshirō den Kopf. Diese sogenannte „Jahresendfeier“, das Bônenkai, gestern hatte es echt in sich. Nie wieder. Dieser blöde Matsudaira Katakuriko und seine Schnapsideen. „Feiert mit der Mimawarigumi zusammen“, hatte er befohlen, „das fördert die Zusammenarbeit.“ Dabei ist das wie die Zwangsverpaarung von Hund und Katze – von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Wieso hat er sich nur zu diesem Wetttrinken mit Mimawarigumi-Kommandant Sasaki Isaburo überreden lassen? Und wer hat eigentlich gewonnen? Grummelnd schlurft er weiter, auf dem Weg zum nächsten Aufenthaltsraum mit einer Kaffeemaschine. Fassungslos bleibt er auf der Schwelle stehen. Scheiß Mimawarigumi. Den Mist räum ich nicht auf. Missmutig kickt er eine der herumliegenden Flaschen beiseite. Und wie das stinkt! Angewidert rümpft er die Nase. Das ist mehr als der Gestank von Alkohol und Erbrochenem. Es ist strenger, herber und es dreht ihm den Magen um. Er will gar nicht wissen, woher das stammt. Urgh. Yamazaki kann das nachher sauber machen. Plötzlich sieht er etwas zwischen den Scherben einer Flasche glitzern. Seine Augen werden schmal, als er versucht, sie darauf zu fokussieren. Diese elenden Kopfschmerzen. Ihm fällt das Denken schwer. Vorsichtig geht er in die Knie und hebt es auf. Für die Dauer einer ganzen Minute starrt er einfach nur darauf. Es ist ein Armband. Ein silbernes, filigranes Kettchen mit einem Anhänger, auf dem das Sternzeichen des Wassermanns eingraviert ist. Es gehört Yamazaki. Dieser Baka. Er wird schlimmer heulen als damals, wo Sōgo sein Badmintonset zerhäkselt hat, wenn er bemerkt, dass es verschwunden ist. Er hängt an diesem blöden Kettchen. Ich hätte es ihm nie schenken dürfen, denkt Hijikata grimmig, während er es genauer untersucht. Ein Glied ist gerissen. Er seufzt erleichtert. Das ist schnell repariert.       Zehn Minuten und etwas mühevolle Arbeit mit einer Zange später steht er vor Yamazakis Quartier. „Oi, Yamazaki." Schwungvoll will Hijikata den Fusuma aufreissen, doch die Tür bewegt such keinen Zentimeter. Abgeschlossen? Echt jetzt? „Oi. Yamazaki!" wiederholt er und traktiert den Türrahmen mit Faustschlägen. „Mach auf! Die Türen abzuschließen ist verboten!" Und dafür gibt es einen guten Grund. Wieviel Zeit sollen sie unnötig mit der Suche nach dem Generalschlüssel verschwenden, wenn ein Kamerad krank oder verletzt in seinem Quartier liegt? Wenn jemand nicht gestört werden will, hängt er ein Schild raus. Sie sind alle Ehrenmänner und halten sich an diese Regel. Sich jetzt einzuschließen ist geradezu ein Affront! „Yamazaki! Mach auf! Zwing mich nicht, die Tür einzutreten!" Er muss noch lauter an die Tür schlagen und viermal mit Gewalt drohen, bis sich auf der anderen Seite etwas bewegt. Er hört das Rascheln von Stoff, aber selbst dann dauert es noch eine gefühlte Ewigkeit, bis er das Klicken des Türschlosses vernimmt und dann wird der Fusuma ein paar Zentimeter zur Seite geschoben. Ungeduldig greift Hijkata in die Lücke und stößt die Tür so weit auf, bis er bequem hindurchpaßt. Aus reiner Gewohnheit lässt er seine Blicke prüfend durch den Raum wandern und rümpft dann die Nase. Es ist sauber, aber chaotisch wie immer. Der einzige Platz, den Yamazaki peinlich ordentlich hält, ist sein Schreibtisch an der Wand. Die zerwühlten Decken auf seinem Futon beweisen, dass er bis eben noch geschlafen hat – und das nicht gerade sehr ruhig. Es riecht extrem nach Räucherstäbchen und das kommt ihm sofort verdächtig vor. Zum ersten Mal richtet er seinen durchdringenden Blick auf den Besitzer dieses Zimmers. Yamazaki steht ein paar Schritte von ihm entfernt, stützt sich mit einer Hand an der Wand ab und hält mit der anderen die Decke vor seiner Brust zusammen, in die er sich bis zum Hals wie eine Mumie gewickelt hat. Er hält den Kopf tief gesenkt und so zur Seite gedreht, dass seine Haare sein Gesicht wie einen Vorhang verdecken. Dieser Anblick versetzt ihm einen Stich in der Brust, den er jedoch tapfer ignoriert. „Hier, das gehört dir“, vielsagend läßt Hijikata das Kettchen vor ihm in der Luft baumeln. Nur zögernd greift Yamazaki danach. Seine Finger zittern, als er sie darum schließt und sich dann wieder hastig an der Wand abstützt, als könne er sich kaum auf den Füßen halten. Sieht so aus, als wäre es nicht nur für Hijikata eine wilde Party gewesen. Und plötzlich erinnert sich Hijikata wieder daran, dass Yamazaki von Sasaki Isaburo zu den Bakas von der Mimawarigumi zwei Räume weiter geschickt wurde, um ihnen neuen Sake zu bringen und er Yamazaki danach nicht wieder gesehen hatte. Ärger wallt in ihm auf. Auch wenn sie ausnahmsweise mal zusammen gefeiert haben, sind sie immer noch Konkurrenten und Yamazaki hätte sofort zu ihm und den anderen zurück kommen sollen. Dass er es nicht tat, nimmt er wirklich persönlich. Aus dem Stechen in seiner Brust wird Enttäuschung, gepaart mit dumpfer Wut und dem bitteren Geschmack des Verrates. „Oi, Yamazaki, da du ja augenscheinlich so viel Spaß mit denen von der Mimawarigumi hattest, setz dich in Bewegung und räum deren Müll weg.“ Bei dem Wort „Spaß“ ruckt Yamazakis Kopf regelrecht nach oben. Große, braune Augen starren ihn aus einem kränklich-blassem Gesicht an. Das heißt, nur ein großes braunes Auge, das andere ist zugeschwollen und ziert ein sehr schmerzhaft aussehendes, blaues Veilchen. „Oi, Zaki. Sag mir nicht, das waren diese Schnösel? Du hast dich hoffentlich wenigstens gewehrt?“ Der Sarkasmus in Hijikatas Stimme läßt Yamazaki wie unter einem Schlag zusammenzucken. Schnell senkt er wieder den Kopf. „Ich bin gefallen“, murmelt er kaum hörbar. Hijikata schnaubt nur. „Wohl kaum. Aber das kommt davon, wenn man, anstatt zu trainieren, immer nur Federball spielt.“ Yamazaki senkt seinen Kopf nur noch tiefer und diese demütige Haltung macht Hijikata nur noch wütender. „In einer Stunde ist der Raum wieder sauber, kapiert?“ Yamazaki beißt sich auf die Unterlippe. „Mir... geht's nicht gut“, wispert er. „Das ist dein Problem“, kommt es unbarmherzig zurück. „Wer feiern kann, kann auch die Konsequenzen tragen.“ Mit diesen Worten dreht sich Hijikata um und geht. Er braucht wirklich dringend eine Kopfschmerztablette.         Es ist noch sehr früh am Morgen, die Sonne ist gerade erst aufgegangen, aber es ist ruhig im Hauptquartier und das weiß Sasaki Tetsunosuke, von allen nur „Tetsu“ genannt, zu schätzen. Gähnend schlendert er mit einer Mülltüte zum Aufenthaltsraum der Offiziere hinüber. Er müsste hier nicht aufräumen, das hat ihm niemand befohlen, aber er hofft auf ein paar Alkoholreste. Er ist noch minderjährig – der einzige hier, eine Ausnahme - aber so lange alle anderen noch ihren Rausch ausschlafen, hat er vor, das auszunutzen. Er ist noch nicht lange bei der Shinsengumi und manche Regeln widersprechen seinem bisherigen Lebensstil, er umgeht sie also, wo er kann. Leider, wie er schnell feststellt, sind die Führungsoffiziere selbst beim Feiern sehr ordentlich, was ihren Müll angeht. Oder der letzte hat aufgeräumt, jedenfalls stehen die leeren Flaschen alle aufgereiht an der Wand, schon bereit für seine Mülltüte. Eine Bierflasche ist noch unberührt und die stellt er sofort nach draußen auf den Engawa. Er wird sie später mitnehmen. Der Raum ist auch sonst sehr sauber - keine Speisereste oder Erbrochenes auf den Tatami-Matten. Man könnte fast glauben, sie hätten nicht gefeiert, aber Tetsu weiß es besser, auch wenn er mit den anderen niedrigeren Ranges - so wie er einer ist – nicht hier, sondern drüben im Speisesaal die Sau rausließ. Er ist oft genug im Hof gewesen, um frische Luft zu schnappen, um sie zu hören. Auch wenn die nervigen Gäste von der Mimawarigumi mit ihrem Gegröle fast alles andere übertönt hatten. Teilweise klang das da drin eher wie in einer Bar voller Hooligans, die sich mit ihren Gegnern ein Wettsaufen mit anschließender Prügelei liefern. In Gedanken daran schnaubt er einmal laut. Typisch. In der Mimawarigumi dienen nur Adlige und dass diese schlimmer sind als der gemeinste Pöbel, hat er durch die Hand seines Halbbruders Isaburo schon sehr früh erfahren. Dieser arrogante, schmierige Schnösel. Als er die gefüllte Mülltüte nach draußen schleift, stellt er fest, dass zwei Räume weiter ebenfalls jemand mit Aufräumen beschäftigt ist. Sein müdes Hirn benötigt etwas Anlaufzeit, bis er ihn erkennt, aber dann verzieht sich seine Miene zu einem breiten Lächeln. Innerhalb der Shinsengumi trifft man selten auf jemanden, der in seiner Freizeit einen westlichen Kleidungsstil bevorzugt wie er, eigentlich nur einen einzigen. Auch wenn er ruhig mal Hoodies tragen könnte, die nicht drei Nummern zu groß sind, wie ein Sack an ihm hängen und ihm fast bis zu den Knien reichen. „Oi, Yamazaki-senpai", grüßt er ihn überschwänglich. Von all seinen neu gewonnenen „Bros" mag er den Spion am liebsten. Er ist freundlich zu ihm, hat immer ein nettes Wort und eine Engelsgeduld. Yamazaki scheint ihn nicht gehört zu haben. Tetsunosuke nimmt es ihm nicht krumm. Stattdessen beschließt er, ihm zu helfen. Nicht nur, weil die von der Mimawarigumi bestimmt mehr ungeöffnete Alkoholflaschen vergessen haben als Kondō & Co. Er schickt sich gerade an, durch den weit geöffneten Shoji zu treten, da wäre er beinahe mit Yamazaki zusammengestoßen. Er zerrt eine volle Mülltüte hinter sich her und wirkt dabei, als wäre sie viel zu schwer für ihn. „Oi, Senpai", grüßt Tetsu ihn zum zweiten Mal. Yamazaki zuckt zusammen und wirft ihm einen schnellen Blick zu, bevor er ein „Guten Morgen, Tetsu" murmelt und den Kopf wieder abwendet. Fassungslos starrt Tetsunosuke ihn an. Mitleid krampft sein Herz zusammen. Dieses blaue Auge muss verdammt schmerzhaft sein. Mal ganz abgesehen von diesen anderen Malen... Nach einem Moment des Zögerns nimmt Tetsunosuke sein vorschriftswidriges, weil viel zu großes Halstuch ab und reicht es ihm. Yamazaki starrt ihn nur fragend an, ohne es zu nehmen. „Für deinen Hals", vielsagend deutet Tetsunosuke auf seinen eigenen Hals. Und fügt, als Yamazaki immer noch nicht reagiert, erklärend hinzu: „Es gibt Idioten, die einem bei solchen blauen Flecken sofort sexuelle Perversionen unterstellen." Yamazakis Augen weiten sich kurz, dann nimmt er das Tuch mit einem dankbaren Nicken an. Zufrieden sieht Tetsunosuke zu, wie er es sich umlegt und die bösartig rot leuchtenden Fingerabdrücke um seinen Hals darunter verschwinden. „Du kannst es behalten", meint er dann in einem Anfall von Großzügigkeit. „Es steht dir sowieso viel besser als mir." Yamazaki senkt nur errötend den Kopf und zieht die Mülltüte weiter in den Hof, während Tetsunosuke die Ärmel hochkrempelt und entschlossen den Saustall hinter ihm betritt. „Ich helfe dir", erklärt er dabei einfach nur und versucht, nicht zu würgen, als ihn der Gestank mit voller Wucht trifft. Schon ein erster schneller Blick verrät ihm: es ist besser, sie reißen die Tatami-Matten heraus und verbrennen sie. Diese Flecken bekommt nicht einmal ein Spezialteam wieder weg. Er will nicht einmal darüber nachdenken, was das alles ist. Verschütteter Alkohol und festgetretene Essensreste auf alle Fälle, aber das meiste scheinen tatsächlich Erbrochenes und Blut zu sein. Und … anderes. Tetsunosuke versucht wirklich, nicht darüber nachzudenken. Auch nicht, welchen armen Teufel es wohl getroffen hat. Nicht zum ersten Mal ist er heilfroh, dass diese Art der Machtdemonstration bei der Shinsengumi absolut tabu ist. Aber so ist das nun einmal bei diesen blasierten Adligen, nach außen hin die Ehrenmänner spielen, aber im Inneren so verfault wie ein madiger Apfel. Anstatt weiter darüber nachzudenken, spuckt er nur in die Hände - wortwörtlich - und macht sich daran, die Tatami-Matten heraus zu reißen, während Yamazaki eine weitere Mülltüte mit leeren Flaschen und zerbrochenem Glas füllt. Tetsunosuke fällt schnell auf, dass er sich sehr vorsichtig und langsam bewegt, als würde ihn mehr schmerzen als nur sein Gesicht und der Hals. Und er redet nicht, aber andererseits erwartet Tetsunosuke das auch nicht von ihm - nicht mit dieser verletzten Kehle. Es ist nur ungewohnt, weil Yamazaki eine richtige Quasselstrippe sein kann und es macht Spaß, sich mit ihm zu unterhalten. Er hört immer zu, wenn Tetsunosuke ihm etwas erzählt und er weiß immer einen guten Rat. Heute aber muss Tetsunosuke wohl für sie beide reden. Aber das ist in Ordnung, denn Tetsunosuke ist auch eine Quasselstrippe und sein Geschwätz entlockt Yamazaki manchmal sogar ein kleines Lächeln. Auf diese Art geht beiden die Arbeit leicht von der Hand und es gelingt ihm, Yamazaki von seinem Unwohlsein abzulenken - jedenfalls glaubt Tetsunosuke das, bis Yamazaki plötzlich, nachdem er die letzte Mülltüte rausgezerrt hat, nicht mehr zurückkommt. Durch den offenen Shoji sieht Tetsunosuke, wie er sich mit einer Hand an einem Pfeiler der Überdachung festhält, nach vorne beugt und würgt. Besorgt lässt Tetsunosuke alles stehen und liegen und eilt an seine Seite. „Zaki-senpai?" Doch der richtet sich nur wieder auf und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund. Ein schneller Blick verrät Tetsunosuke, dass er nur Galle erbrochen hat, aber das beruhigt ihn nicht im Geringsten. „Weißt du was? Geh ruhig", sagt er mit einer vielsagenden Geste. „Ich mach das hier fertig." Immerhin hat sich Yamazaki übergeben, nicht wahr? „Geh ruhig. Geh. Gehgehgeh", wiederholt er immer ungeduldiger werdend, als Yamazaki sich nicht von der Stelle rührt und ihn einfach nur verwirrt anstarrt. Doch dann murmelt er ein tonloses „danke", verbeugt sich noch einmal und schlurft davon. Sein Gang wirkt sehr schwerfällig. Tetsunosuke nickt, mit sich und seiner Entscheidung zufrieden. Alles, was Yamazaki braucht, ist Ruhe. Ganz bestimmt. Mit diesen Gedanken macht sich Tetsunosuke wieder an die Arbeit. Ungefähr fünf Minuten später liegen nicht nur vier volle Mülltüten im Hof, sondern auch ein Haufen ruinierter Tatami-Matten. Und vier unangebrochene Alkoholflaschen stehen auf dem Engawa. Tetsunosuke wischt gerade mit einem Mopp über den alten Holzfußboden, als plötzlich Hijikata im Eingang steht. „Guten Morgen, Tetsu. Wo ist Yamazaki? Ich habe ihm befohlen, hier sauber zu machen, nicht dir." „Guten Morgen, Fukuchō", zwitschert Tetsunosuke frohgemut zurück. „Das meiste hier hat Yamazaki gemacht. Aber es geht ihm nicht gut, also habe ich ihn weggeschickt." Als er sieht, wie Hijikata daraufhin die Stirn runzelt, beeilt er sich hinzuzufügen: „Es geht ihm wirklich schlecht. Er hat sich übergeben. Das ist mehr als ein Kater. Ich glaube, er ist richtig krank. Vielleicht hat er eine Gehirnerschütterung? Sein blaues Auge und..." er unterbricht sich hastig. Gerade noch rechtzeitig ist ihm eingefallen, dass Hijikata lieber nichts von den Würgemalen wissen sollte. „... Mit solchen Gesichtsverletzungen ist nicht zu spaßen“, beendet er etwas lahm. „Wenn er dazu noch gefallen ist und sich den Kopf angeschlagen hat... Ich meine, weißt du, wer das war, Hijikata-san? Wer würde Yamazaki so schlagen?" Hijikata nimmt einen letzten Zug von seiner Zigarette und schnippt die Kippe dann in den Hof. „Zaki sagte, er sei gefallen." „Und das glaubst du ihm?" entfährt es Tetsunosuke ungläubig. Hijikata zuckt mit den Schultern. „Wenn Zaki mich lieber anlügt, anstatt mir zu sagen, wer das war und was passiert ist, kann ich ihm nicht helfen, Tetsu." „Aber-" „Es ist nicht das erste Mal, dass Yamazaki in eine Schlägerei gerät und niemandem etwas darüber erzählt. Es sei denn, es geschieht während der Ausübung seines Jobs. Er ist erwachsen, Tetsu. Und ich bin nicht sein Babysitter." Tetsunosuke nickt nur eingeschüchtert, obwohl er anderer Meinung ist. Irgendwie will es nicht in seinen Kopf, wieso Hijikata ihm damals vor seinem Halbbruder beistehen konnte, aber gegenüber Yamazaki jetzt diese Strenge walten lässt? Liegt das wirklich nur daran, dass Tetsunosuke noch minderjährig ist? „Tetsu." Hijikatas Stimme holt ihn aus seinen Gedanken. Er hebt den Blick und ist erstaunt, ein lobendes Lächeln auf Hijikatas Zügen zu sehen. „Es ist schön zu erleben, wie du dich um einen Kameraden sorgst. Mach weiter so. Das ist der Geist des Bushidos, dem wir in der Shinsengumi folgen." Glücklich über dieses Lob, strafft Tetsunosuke die Schultern und salutiert. „Yessir. Danke, Sir."   Kapitel 3: Vergangenheit – 1.-2. Dezemberwoche – wenn der netteste Mensch in der Shinsengumi plötzlich flucht wie ein Bierkutscher, ist die Endzeit angebrochen ---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------  Yamazaki verläßt in den folgenden drei Tagen nicht seinen Raum. Das einzige Lebenszeichen ist der Shoji, der manchmal einen Spalt breit offensteht, um frische Luft herein zu lassen. Manchmal sieht man ihn ins Bad oder in den Waschkeller gehen oder hinauskommen. Aber wann immer jemand in Sichtweite kommt, löst er sich regelrecht in Luft auf. Er bleibt dem Morgentraining fern, schwänzt die Morgenbesprechungen und erscheint nicht an seinem Arbeitsplatz. Dabei gibt es genug Papierkram, der sich stapelt und den Hjikata ihm gerne geben würde. Stattdessen erledigt Tetsunosuke diesen Job. Er arbeitet nicht so routiniert wie Yamazaki, aber er gibt sich Mühe. „Ich mache es gern“, erklärt Tetsunosuke mit seinem gewinnenden Lächeln, doch Hijikata wünschte, er würde das nicht sagen, denn damit macht er ihm nur ein schlechtes Gewissen. Er fühlt sich wie ein schlechter Vorgesetzter, wie ein schlechter Freund, weil da immer noch diese dumpfe Wut auf Yamazaki in seinen Eingeweiden nagt. Mehr als einmal muß er sich davon abhalten, in Yamazakis Zimmer zu stürmen und diesen aus dem Bett zu schmeißen, um ihn an den Ohren zur Arbeit zu schleifen. Deshalb hält er sich auch fern. Er weiß nicht, ob er sich wirklich zurückhalten kann. Und trotzdem findet er sich am dritten Abend vor Yamazakis Raum wieder, auf dem Boden sitzend, den Kopf an den Holzrahmen gelehnt und mit den Fingern über das Milchglas der Schiebetür tippend. „Zaki … komm endlich da raus. Kondō wird richtig deprimiert, weil er dir jeden Tag Essen vor die Tür stellt und du es nicht annimmst. Er fängt an, das persönlich zu nehmen. Du kennst ihn doch. Er macht sich Vorwürfe, ob er etwas falsch gemacht hat. Bitte erlöse uns von seiner Trauermiene und komm da raus. Oi, Zaki...“ fragend klopft er an den Fusuma, „lebst du noch? Brauchst du einen Arzt? Oder... Hör zu, wenn es etwas gibt, über das du reden willst – ich bin für dich da.“ Irgend etwas prallt von innen gegen das Holz und dann schreit Yamazaki: „Usero! Kutabare!“ Hijikata spürt, wie die mühsam unterdrückte Wut in ihm hochbrodelt. Er springt auf und reißt den – diesmal nicht abgeschlossenen - Fusuma zurück. „Oi! Hast du sie noch alle? Nicht in diesem Ton, mein Lieber!“ Erschrocken quietscht Yamazaki auf und weicht vor ihm zurück, bis er mit dem Rücken an die Wand stößt. Dort hockt er dann, ein Häuflein Elend, die Decke schützend vor sich und starrt mit großen Augen zu ihm auf. Hijikata sieht die hektischen roten Flecken auf seinen ansonsten so blassen Wangen, das inzwischen violette Hämatom um sein Auge und sein Ausbruch tut ihm sofort leid. „Zaki...“ langsam, um ihn nicht noch mehr zu erschrecken, läßt er sich vor ihm auf die Knie sinken und greift zögernd nach seinen Händen. „Nicht...“, beginnt Yamazaki mit zitternden Lippen. „... anfassen“, beendet er. Doch da hat Hijikata schon seine linke Hand umfasst. Im ersten Moment scheint Yamazaki regelrecht zu erstarren, doch dann entspannt er sich langsam. „Baka“, meint Hijikata nur, und während er mit der einen Hand seinen Puls überprüft, legt er ihm die andere prüfend auf die Stirn. Er ist etwas warm, aber das ist noch kein Fieber. Erleichtert läßt Hijikata ihn wieder los. Er versucht, ihm in die Augen zu sehen, doch Yamazaki weicht seinem Blick beharrlich aus. In Hijikatas Augen ist das mehr als verdächtig. Mißtrauisch sieht er sich in dem Raum um. Er hat sich nicht sehr verändert, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte – es riecht sogar immer noch nach Räucherstäbchen. Doch diesmal fällt ihm auch ein, welcher Duft das ist: Lavendel. Beruhigend, schlaffördernd, angstabbauend. Dann fällt sein Blick auf die Tablettenpackung neben dem Futon und seine Augen weiten sich. Hastig hebt er sie auf und liest den Aufdruck. „Schlaftabletten?“ entsetzt stöhnt er auf und untersucht die Blisterverpackungen auf Vollständigkeit. Es fehlen nur drei Tabletten, aber das beruhigt ihn trotzdem nicht. „Die nehme ich besser an mich.“ Yamazaki gibt nur ein tonloses Lachen von sich. „Angst, ich könnte mich umbringen, Fukuchō?“ „Ja“, erwidert Hijikata schonungslos ehrlich. „Dann“, kommt es dumpf zurück, „solltest du lieber mein Katana konfiszieren.“ Hijikata zögert kurz, doch dann geht er zur Ecke, wo Yamazakis Schwert an der Wand lehnt und nimmt es an sich. Yamazaki beobachtet ihn nur aus dunklen, müden Augen und kommentiert das alles mit einem völlig tonlosen: „Laß mich einfach nur in Ruhe.“ Tatsächlich geht Hijikata zur Tür. Doch auf der Schwelle dreht er sich noch einmal zu ihm um. „Heute, wenn Kondō dir dein Essen vor die Tür stellst, isst du es auf. Und morgen früh erscheinst du zur Morgenbesprechung. Das Training darfst du schwänzen, aber die Morgenbesprechung ist Pflicht, verstanden?“ Um Yamazakis Mundwinkel zuckt es kurz spöttisch. „Sonst Seppuku?“ Hijikata starrt ihn durchdringend an. „Nein, sonst schleife ich dich an dem Mopp, den du Frisur nennst, zu einem Arzt.“       Tetsunosuke wußte nicht, dass ein Spion so viel neben seinen offensichtlichen Ermittlungen zu tun hat, aber für ihn ist es selbstverständlich, seinem „Lieblingsbruder“ zu helfen, wo er kann. Er soll schließlich nicht sofort wieder krank werden – diesmal wegen Überarbeitung. Und den Mailpostkorb aufräumen und sortieren und das Nötigste ins System übertragen, das kann er auch, Von daher schreckt er regelrecht auf, als eine Tablettenschachtel auf seiner Tastatur landet. Irritiert nimmt er sie in die Hand. „Was soll'n ich damit, Bro?“ Vor Überraschung fällt er glatt in seinen Gangsta-Rapper-Slang zurück. Dafür fängt er sich von Hijikata einen Klaps auf den Hinterkopf ein. Doch im Gegensatz zu vielen anderen, fällt dieser heute sehr lasch aus. Tetsunosuke spürt ihn kaum. „Was kannst du mir darüber sagen, Tetsu?“ Tetsunosuke verbeißt sich die freche Bemerkung, ob sein Fukuchō den Beipackzettel nicht selber lesen kann und betrachtet die Schachtel dafür genauer, schließlich implizieren Hijikatas Fragen oft mehr als das Offensichtliche. „Das stammt aus meinem Vorrat, den ich damals mitgebracht habe.“ Und den Hijikata sofort konfisziert hatte. Soweit er weiß, hat Yamazaki mit den harmloseren Sachen die Apotheke der Shinsengumi aufgestockt und das harte Zeug vernichtet. Oder auch nicht, wie die Schachtel in seiner Hand beweist. „Ein Hammermittel. Es knockt dich besser aus als alles andere auf dem Markt. Wir haben es an reiche Salarymen vertickt, die unter Schlafstörungen litten. Immer auf eigene Gefahr, denn es ist nicht leicht zu dosieren, weil es etwas Zeit braucht, um zu wirken. Manchmal werden die Leute ungeduldig und denken, eine Tablette wirkt nicht und nehmen nach einer halben Stunde eine zweite. Und damit können sie sich dann regelrecht ins Koma schießen. Wie gesagt, ein Hammermittel. 'n Kumpel gab sie seiner Freundin, als die von drei Typen übel zugerichtet wurde. Damit schlief sie sich durch die Schmerzen. Sie schwört noch heute, ohne dieses Zeug hätte sie nie wieder einen Kerl an sich herangelassen und wäre jetzt nicht so glücklich in ihrer Beziehung. Keine Ahnung, was das eine mit dem anderen zu tun hat, aber ich schätze mal, weil sie die Schmerzen nicht bewusst mitbekam, war das Trauma nicht ganz so tief...“, verlegen hält er inne, als ihm bewußt wird, dass er schon wieder plappert. Vorsichtig sieht er zu Hijikata hinüber, der mit verschränkten Armen an der Wand lehnt und ihm aufmerksam zugehört hat. Seine Miene ist völlig blank und das bedeutet meist nichts Gutes. „Darf ich fragen, woher du das hast, Fukuchō?“ „Yamazaki.“ „Oh.“ Tetsunosuke zögert einen Moment, unsicher, was er davon halten soll. „Nun, er wird bestimmt vorsichtig sein, schließlich habe ich ihm dasselbe erzählt wie dir eben.“ Sicherheitshalber zählt er die Tabletten noch einmal durch und ist unwillkürlich erleichtert, als er feststellt, dass nur drei fehlen. „Tetsu … morgen, wenn Yamazaki in der Morgenbesprechung ist, wirst du sein Zimmer durchsuchen. Sieh nach, ob du noch etwas anderes findest.“ „Ich soll sein Zimmer durchwühlen?“ Alles in Tetsunosuke sträubt sich dagegen. Das verlangt sein Fukuchō nicht wirklich von ihm, oder? Das wäre ein riesiger Vertrauensbruch. Doch ein Blick in Hijikatas ernste Miene belehrt ihn eines besseren. „Glaubst du, dass er irgendwo …“, Tetsunosuke schluckt einmal schwer, und fühlt sich plötzlich schuldig, „Drogen versteckt?“ „Ich will nur sichergehen, das ist alles.“ „Yamazaki würde doch niemals Drogen nehmen. Dann würde er doch aus seinem Badminton-Verein fliegen.“ Und aus der Shinsengumi, aber das mit dem Badminton-Verein würde ihn wahrscheinlich viel mehr treffen. „Tetsu... ich will nur sichergehen.“ Hijikata seufzt einmal tief auf und streicht sich dann mit einer müde wirkenden Geste über die Augen. Tetsunosuke hat ihn noch nie so … bedrückt erlebt. „Zaki ist … es ist nicht seine Art, sich so lange zu verkriechen. Er weiß genau, wie sehr ich Disziplinlosigkeit hasse und trotzdem schließt er sich weg und meldet sich nicht einmal krank. Offiziell ist das, was er hier jetzt macht, unentschuldigtes Fernbleiben vom Dienst.“ Verwirrt runzelt Tetsunosuke die Stirn. „Aber... er sagte dir doch, dass es ihm nicht gut geht. Vielleicht dachte er, dass das als Entschuldigung reicht. Ich meine, normalerweise ist das doch auch so, oder?“ „Ja, stimmt schon, aber Zaki... ich weiß nicht, ich habe einfach ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Er verkriecht sich und nimmt diese Schlaftabletten. Nächste Woche soll er auf Mission sein und es gibt noch viel dafür vorzubereiten und normalerweise wird er gerade dann besonders hektisch, weil er alles doppelt und dreifach überprüft und niemandem dabei vertraut außer sich selbst. Und jetzt scheint er diese Mission einfach vergessen zu haben. Ich frage mich wirklich langsam, was auf dieser Feier passiert ist. Ob da mehr war als eine Prügelei zwischen ihm und einem von der Mimawarigumi.“ Tetsunosuke erinnert sich an die Würgemale auf Yamazakis Kehle und zögert. Vielleicht wäre jetzt der beste Moment, um dem Vizekommandanten davon zu erzählen. Doch dann entscheidet er sich doch dagegen. Sie waren deutlich zu sehen und wenn Yamazaki sie bis heute erfolgreich vor Hijikatas scharfen Augen verborgen hat, wird er einen guten Grund dafür haben. Und er wird den Teufel tun und seinem Lieblingsbruder in den Rücken fallen. Dass er sein Zimmer durchsuchen soll, reicht ihm schon. Er hofft nur, dass er nichts findet. „Hijikata-san ... ich bin sicher, was auch immer Yamazaki zu schaffen macht, seine Mission ist nicht in Gefahr. Er würde dich nie enttäuschen.“ Hijikata sieht nicht überzeugt aus. „Niemals“, bekräftigt Tetsunosuke in dem Bestreben, Yamazaki zu verteidigen. „Du weißt, dass er dich vergöttert. Manchmal glaube ich sogar, daß er … vielleicht ein kleines bißchen … oder auch etwas mehr …“, er grinst etwas schief, „in dich … verliebt ist?“ Hijikata starrt ihn für einen oder zwei Herzschläge einfach nur an. „Wie kommst du auf so einen Blödsinn?“ schnaubt er schließlich. Das denken alle hier. Aber laut antwortet Tetsunosuke nur mit einem lahmen: „Ist so ein Gefühl.“ Hijikatas blaue Augen werden schmal und seine Miene sehr, sehr finster. „Solche Gerüchte haben hier nichts zu suchen. Wenn ich mitbekomme, wer sie verbreitet, dann heißt es Seppuku für denjenigen, kapiert?“ Tetsunosuke versucht, nicht zu grinsen (denn ehrlich, das wäre dann ein Massenselbstmord und Hijikata stünde plötzlich ganz alleine da) und salutiert lässig. „Yessir.“       Nach Ende der Morgenbesprechung sitzt Kommandant Kondō noch mit Hijikata und Okita zusammen. Er wartet, bis alle den Raum verlassen haben und der Shoji hinter dem Letzten ins Schloß schnappt, dann holt er einmal tief Luft und meint bekümmert: „Das ist nicht unser Zaki.“ Man kann von Kondō Isao halten, was man will, aber er besitzt einen sechsten Sinn, wenn es um das Befinden seiner Männer geht. Einige sind ihm vielleicht mehr ans Herz gewachsen als andere, aber er sorgt sich um jeden. Und Yamazaki war schon immer ein Sonderfall für ihn. Er wurde nie richtig schlau aus ihm. Einerseits ist der Junge so still und introvertiert wie Shimaru Saito, ihr verschlossener, rothaariger Spion für innere Angelegenheiten, und andererseits fügt er sich in jede Gruppe so spielend ein, als habe er schon immer dazu gehört. Würde er nicht ständig und überall Badminton spielen und damit Aufmerksamkeit erregen, wäre er schnell nur einer von Vielen. Er ist engagiert und kompetent als Spion, aber dabei so bescheiden, dass man das alles leicht vergisst. Er ist jünger als alle denken, weil er bezüglich seines Alters gelogen hat, um der Shinsengumi beitreten zu können. Kondō ist es zwar schleierhaft, wie sie alle so dumm sein konnten, einen Siebzehnjährigen für volljährig zu halten und woher der Junge diesen perfekt gefälschten Ausweis hatte, aber das beweist nur mal wieder, wie gut Yamazaki im Täuschen ist. Und weil dem so ist, dauerte es ein paar Jahre, bis Kondō hinter die Fassade sehen konnte, doch jetzt macht ihm Yamazaki nichts mehr vor. Und das dort … war nicht der Zaki, wie er ihn kennt. „Habt ihr gesehen, wie abwesend er war? Dass Shimaru mit offenen Augen pennt, sind wir ja gewohnt, aber Zaki...?“ „Ich bewundere sein blaues Auge“, meint Okita und in seiner ansonsten gewohnt monotonen Stimme liegt tatsächlich ein Hauch von Sarkasmus. „Es hebt sich so schön von der krankhaften Blässe seiner Haut ab. Hätte er sich nur noch ein paar Tage länger in seinem Zimmer verkrochen, ginge er als neues Gespenst des Hauptquartiers durch. Warum hast du ihn gezwungen, herauszukommen, Hijikata-san? Wir hätten Eintritt verlangen können.“ Wenn Kondō es nicht besser wüßte, würde er Okita nach diesem Statement für herzlos halten. Da er aber weiß, dass dies Okitas Art ist, seine Sorge auszudrücken, gestattet er sich ein kleines Schmunzeln. „Zurück zur Arbeit wird ihm helfen. Er hat schließlich genug zu tun“, erklärt Hijikata. „So ganz allein in seinem Quartier hat er zu viel Zeit zum Grübeln und das tut ihm nicht gut. Mir reichen seine psychotischen Schübe nach zuviel Anpan, Milch und Isolation.“ Kondō und Okita nicken zustimmend. Es gibt einen Grund, wieso sie Yamazakis Missionen auf maximal dreißig Tage begrenzt haben. Am einunddreißigsten Tag einer Observierung klinkt sich etwas in seinem Gehirn aus und das endet selten gut. Niemand von ihnen hat Lust auf die ständige Wiederholung von etwas, das man am besten so beschreibt: Mission mehr oder weniger erfolgreich abgeschlossen und Yamazaki Sagaru irgendwo im Gaga-Land gestrandet. Es ist kein psychisches Problem, sondern eine Folge von einseitiger Ernährung und extremen Schlafmangel, das haben ihnen die Ärzte bestätigt, aber diese Erfahrungen haben sie sensibilisiert, wie fragil die Psyche eines Menschen sein kann. „Wenn ihn etwas bedrückt, wieso redet er dann nicht mit uns?“ fragt Kondō bekümmert. Das ist es, was ihn wirklich tief verletzt. „Zu wem soll er gehen?“ Okita mustert erst ihn, dann Hijikata skeptisch. „Die meisten seiner Probleme stehen doch im direkten Zusammenhang mit Hijikata-san. Übrigens: shinjimae, Hijikata.“ Hijikata verdreht nur die Augen. „Er weiß, dass er mit jedem Problem zu dir kommen kann, Isao“, erwidert er tröstend an Kondō gewandt. „Aber darüberhinaus hat Yamazaki immer alles mit sich selbst ausgemacht. So ist er nun einmal. Das darfst du nicht persönlich nehmen.“ In diesem Moment klopft es an den Shoji und auf Kondōs „herein“ schiebt sich Tetsunosuke in den Raum. „Ah, Tetsu“, hastig winkt Hijikata ihn näher. „Und? Hast du etwas gefunden?“ „Nein, Fukuchō. Nichts Auffälliges.“ Tetsunosuke ist seine Erleichterung regelrecht anzusehen. „Nur ein paar Kopfschmerztabletten und die gängigen Erkältungsmittelchen. Und er versteckt einen Dom Perignon in seinem Schrank.“ Beim Gedanken daran verbeißt er sich ein kleines Kichern. Das Schminkset, die Frauen-Kimonos plus Spitzenunterwäsche und die Perücken erwähnt er jetzt mal nicht, da es sich eindeutig um Yamazakis Verkleidungen für seine Tätigkeit als Spion handelt. Und er verrät auch nicht, dass seine Suche nur sehr, sehr oberflächlich verlief – Schrank auf, reingucken, Schrank wieder schließen kann man beim besten Willen nicht als gründliche Durchsuchung bezeichnen, aber mehr brachte er einfach nicht übers Herz. Hijikata bedankt sich und gibt ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er gehen kann. „Was war das eben, Tōshi?“ erkundigt sich Kondō verwirrt, nachdem der noch immer etwas übergewichtige Rekrut den Shoji hinter sich wieder geschlossen hat. „Ich habe Tetsu gebeten, Yamazakis Zimmer nach Drogen abzusuchen.“ „Was? Warum?“ „Nur sicherheitshalber, Kondō.“ Und als Kondō ihn nur auffordernd anstarrt, seufzt er einmal tief und gibt unwillig zu: „Yamazaki hat starke Schlaftabletten genommen. Ich habe sie ihm weggenommen und wollte nur sichergehen, dass er nicht noch andere Drogen versteckt hat.“ Okita starrt ihn düster an. „Shinjimae, Hijikata. Shinjimae.“ „Sōgo hat recht, Tōshi“, Kondō mustert ihn streng. „Ahem, natürlich nicht damit, dass du sterben sollst, aber anstatt Yamazaki hinterher zu schnüffeln hättest du ihn einfach darauf ansprechen können, meinst du nicht auch?“ „Kondō“, Hijikatas Stimme trieft nur so vor Spott, „wenn du meinst, das sei so einfach, dann rede du doch mit ihm, Kyokuchō.“       Kondō redet nicht mit ihm. Er sieht keine Notwendigkeit mehr dazu, da Yamazaki offensichtlich wieder bei der Arbeit ist und wie gewohnt im Hauptquartier herumwuselt. Er ist freundlich wie immer, lächelt wie immer und lacht, wenn man ihn auf sein Veilchen anspricht. Seine Standardantwort ist ein „du solltest mal den anderen sehen“ und das ist so typisch, dass sich Kondō langsam fragt, ob er nicht übertrieben reagiert hat. Was auch immer es war, anscheinend hat es sich eingerenkt. Hijikata teilt seine Meinung nicht, Tetsunosuke erst recht nicht und Okita hat seine ganz eigene Ansicht dazu, aber lieber würden sie sich alle drei die Zunge abbeißen, als ihren Kommandanten damit zu belästigen. Es würde ihm nur das Herz im Leibe umdrehen und er braucht sein fröhliches Gemüt und seinen Optimismus für Kommandantenangelegenheiten. Und für die reizende Shimura Tae natürlich. Und daher entgeht Kondo, dass Yamazaki weniger isst, sich seine Gespräche nur noch um die Arbeit drehen, dass er zusammenzuckt, wenn man ihn berührt und dass seine gute Laune nur aufgesetzt ist. Er bemerkt nicht, dass sein Lächeln niemals, wirklich niemals seine Augen erreicht. Augen, so dunkel, leer und tot wie die Leere hinter den bekannten Galaxien. In den fünf Tagen bis zu seiner Mission ist er nicht mehr als eine Kopie seiner selbst, aber eine so verdammt gute, dass er sogar Hijikata, Tetsunosuke und Okita mit jedem Tag mehr davon überzeugt, dass er es in den Griff bekommt. Vielleicht liegt es auch daran, weil er so verdammt ehrlich klingt, als er sich für sein Benehmen entschuldigt und es mit einer Gehirnerschütterung erklärt. Vielleicht aber liegt es auch schlicht und einfach nur daran, weil sie alle es glauben wollen.     Kapitel 4: Gegenwart – 3. Januarwoche - 20. Januar, Tag X – Das Leben zeichnet sich dadurch aus, dass niemand wirklich die Kontrolle hat ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------   Müde reibt sich Kondō Isao über die brennenden Augen. Er bekommt langsam Kopfschmerzen, wie immer, wenn er emotional gestresst ist. Ein Blick auf die Uhr verrät ihm, dass sie erst seit einer dreiviertel Stunde im Krankenhaus sitzen, aber ihm kommt es vor wie eine Ewigkeit. Langsam läßt er seinen Blick über seine Männer gleiten. Tetsu starrt in sein Smartphone und nach dem zu urteilen, was er manchmal vor sich hinmurmelt, sucht er sich im Internet Informationen über das zusammen, was Yamazaki hierher gebracht hat. Vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee, alles, was Kondō darüber weiß, ist, dass es erstens tödlich enden kann und zweitens eine gewisse Rekonvaleszenzzeit in Anspruch nimmt. Aber eigentlich will Kondō nicht darüber nachdenken, also wandert sein Blick schnell weiter zu Sōgo. Der Junge liegt noch immer da, nimmt dadurch drei Wartestühle gleichzeitig in Beschlag und tut so, als würde er schlafen. Doch Kondō kennt ihn besser. Er weiß, dass Sōgo genauso viel Angst hat wie sie alle hier, aber er weiß auch, dass sich vor allem Sōgo den Kopf darüber zermartert, wieso sie fast ein ganzes Jahr lang nicht bemerkt haben, dass ihr Zaki … nun ja, nicht mehr ihr Zaki ist. Nach seinem Kommentar gegenüber Tōshi vorhin zu urteilen, sieht Sōgo das in diesem Moment noch als persönlichen Affront, als eine Beleidigung seiner Intelligenz – das macht er oft, er projiziert seinen Ärger über sich selbst nur allzu gerne auf Tōshi – aber spätestens morgen wird Sōgo sich etwas ausgedacht haben, wie er Yamazakis Geheimnis zu seinem Vorteil ausnutzen kann. Wahrscheinlich, schießt es Kondō durch den Sinn, wird er versuchen, Zaki und Tōshi zu verkuppeln, wie er es immer mit Zaki und Tama versuchte. Und das wäre wirklich nicht das Schlechteste. Tōshi ist ein Hitzkopf. Er braucht jemanden mit einem beruhigenden Einfluß und da gab und gibt es keinen Besseren als Zaki. Denn egal wie sehr sich Hijikata auch immer wegen Zakis Badminton-Spleen und dieser Anpan-Milch-Diät ärgert, egal wie oft er Zaki piesackt, die beiden verbindet eine tiefe, innige Freundschaft – vielleicht nicht trotz sondern gerade deswegen. Seufzend richtet Kondō seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Stellvertreter neben sich. Er hat ihm immer noch eine Hand auf die Schulter gelegt und drückt jetzt noch einmal tröstend zu. Tōshi so unglücklich, so voller Selbstvorwürfe zu sehen, tut ihm in der Seele weh. Und ganz egal, wie sehr er versucht, es sich nicht anmerken zu lassen, wie gut er sein Gesicht in seinen Händen versteckt, Kondō weiß, dass sein ältester und bester Freund bittere Tränen vergißt. Und alleine das beweist ihm schon, wie tief das ist, was Tōshi mit Zaki verbindet – egal, ob dieser es sich eingestehen will oder nicht. Denn als Mitsuba damals starb, gelang es Tōshi viel besser, seine Tränen zu verbergen. Als Kondō an Sōgos junge, leider viel zu früh verstorbene Schwester denken muß, zieht er unwillkürlich Vergleiche zwischen ihr und Zaki. Auch Mitsuba war ein sanfter, stiller Mensch mit einem gütigen – und leider schwerkrankem – Herzen, aber sie hielt länger durch als die Ärzte ihr prophezeit hatten. Sie war zweifellos eine Kämpferin, und auch Zaki ist ein Kämpfer. Voller Selbstzweifel, mit einem Hang zur Melancholie, obsessiv bis zur Selbstaufgabe und mit einem eindeutigen Sprung in der Schüssel, wenn es um einen ominösen „Gott der Polizisten“ geht, aber auch jemand, der bis zum letzten Atemzug kämpft – wenn nicht für sich selbst, dann garantiert für andere. Vor allem für seinen Fukuchō. Tōshi ist der Grund, wieso Zaki noch bei uns ist. Kondōs Augen füllen sich wieder mit Tränen, als er an all das denken muß, was Zaki im letzten Jahr erdulden musste. Er kann sich nicht einmal im Ansatz vorstellen, wie belastend es gewesen sein muß, sich derart selbst zu verleugnen und dabei immer zu lächeln. Und das wäre vielleicht noch ewig so weitergegangen, wäre da nicht diese Sache … dieses abscheuliche Verbrechen geschehen. Entschlossen schiebt Kondō jeden Gedanken daran beiseite. Anstatt darüber zu klagen, will er sich lieber darauf konzentrieren, wie stolz er auf ihren Spion ist. Zaki ist daran nicht zerbrochen. Entschlossen presst Kondō die Kiefer zusammen. Auch jetzt wird Zaki nicht zerbrechen. „Zaki ist stark“, murmelt er in Gedanken versunken. Tōshi neben ihm nickt nur und schüttelt dann den Kopf. „So viel Blut...“, wispert er hinter seinen Händen. Kondō schluckt einmal schwer. Obwohl er das mit allen Mitteln verhindern wollte, stürmen jetzt die Erinnerungen wieder auf ihn ein und er kann sich nur dumpf wundern, wie schnell sich das ganze Leben um hundertachtzig Grad wenden kann. Dabei sollte man doch denken, bei seinem Job sollte er das gewohnt sein... Eine ganz normale Morgenbesprechung und plötzlich wird Zaki weiß wie der Schnee draußen, kippt zur Seite und liegt dann in einer sich schnell ausbreitenden Blutlache. Alle Anwesenden reagierten sofort, und auch jetzt noch verspürt Kondō großen Stolz auf seine Männer. Die Erste-Hilfe-Maßnahmen gerieten wirklich nur eine Minute ins Stocken, als jemand Zakis Hemd öffnete und sie alle einen deutlichen Blick auf den Körper darunter werfen konnten und ihnen dämmerte, woher all das Blut stammte. Es dauerte noch ein paar kostbare Sekunden, bis sie den Grund dafür kannten – es war Harada, älter und erfahrener als sie alle, der schließlich eine erste Diagnose stellte und dann gerieten sie nicht in Panik. Jedenfalls nicht nach außen hin. Ungeachtet ihres Entsetzens handelten sie unverzüglich. Sōgo holte einen Funkwagen. Harada wickelte Zaki in eine Decke (die sich schnell mit Blut vollsog), denn es war kalt und schneite und auch wenn es nur ein paar Meter bis zum Auto waren, wollten sie nichts zusätzlich riskieren. Jemand holte Mäntel und Mützen für Kondō, Tōshi und Sōgo und Kondō trug Zaki dann schnell zum Auto. Noch jetzt erinnert er sich, wie leicht und fragil sich dieser Körper in seinen Händen anfühlte. Und er erinnert sich, wie er in dieses weiße, stille Gesicht starrte und sich ein Teil von ihm immer wieder fragte: wie konnten wir das so lange nicht sehen? Mit eingeschalteter Sirene raste Sōgo durch Edo, während Kondō auf dem Beifahrersitz saß und mit dem Krankenhaus telefonierte, um sie anzukündigen. Tōshi hockte hinten auf dem Rücksitz, hatte Zaki in den Armen und jedes Mal, wenn Kondō einen Blick nach hinten warf, sah er, wie Tōshi ihren in beängstigender Geschwindigkeit ausblutenden Spion ein kleines bisschen fester an sich drückte. „Entschuldigen Sie?“ Die freundliche Stimme einer Krankenschwester reißt Kondō aus seinen Erinnerungen. Sofort heben er, Tōshi und Tetsu den Kopf und sogar Sōgo schiebt sich die Schlafbrille in die Stirn und richtet sich angespannt auf. Sie alle versuchen, in der freundlichen Miene der Krankenschwester zu lesen, doch sie ist ein Profi durch und durch. Nur die Art, wie sie eindeutig vor Kondō und Tōshi stehengeblieben ist, sagt ihnen, dass sie tatsächlich wegen ihnen hier ist und nicht wegen der anderen Wartenden. „Sind Sie Angehörige oder Freunde von Yamazaki-san...?“ Kapitel 5: Vergangenheit – 3. Dezemberwoche – Hilfe, wer bist du und was hast du mit meinem Spion gemacht? ----------------------------------------------------------------------------------------------------------   „Hm“, macht Kondō nachdenklich, führt die Stäbchen zu seinem Mund und suckelt an einem Oktopusstück, während sein Blick auf dem Papier in seiner anderen Hand hängt. Mit einer Mischung aus Faszination und Grausen sieht ihm Hijikata dabei zu. Alles in ihm verlangt nach einer Zigarette, aber das Schild über ihm weist dieses kleine Restaurant eindeutig als Nichtraucherzone aus. „Hm“, wiederholt Kondō, nimmt das Oktopusstück endlich richtig in den Mund und kaut es herunter. „Was sehe ich mir hier an, Tōshi?“ Er hat ein anstrengendes Mittagessen mit Matsudaira-san hinter sich, sein Gehirn arbeitet immer noch auf Sparflamme. Es hat irgendwo zwischen Matsudairas Gejammer über den neuen Freund seiner Tochter und den ständigen Aufforderungen an Kondō, endlich zu heiraten, abgeschaltet und springt jetzt nur mühsam wieder an. Er hasst diese regelmäßigen Essen mit Matsudaira, aber leider kann er das niemanden sagen und muß immer gute Miene zum bösen Spiel machen. Und dann, kaum ist Matsudaira fort, kommt Tōshi hereingeschneit mit diesem besorgten Blick. Manchmal wünscht sich Kondō ganz einfach nur Urlaub! „Das ist Yamazakis Bericht“, erwidert Hijikata in einem Tonfall, als würde das alles erklären. Nur tut es das leider nicht. „Stimmt etwas damit nicht?“ Kritisch runzelt Kondō die Stirn und starrt noch intensiver auf das Blatt. „Da steht doch alles drin, was drin stehen muß. Sogar in Tabellenform.“ In Gedanken klopft er sich auf die Schulter, denn es scheint eine gute Idee gewesen zu sein, ihrem Spion zu erlauben, ab sofort seinen Laptop auf seine Missionen mitzunehmen. „Eben.“ „Huh?“ verdutzt hebt Kondō den Blick und mustert seinen Stellvertreter irritiert. „Das verstehe ich nicht.“ Hijkata lehnt sich mit vor der Brust verschränkten Armen in seinem Stuhl zurück und starrt ihn aus seinen mitternachtsblauen Augen durchdringend an.. „Yamazakis Berichte sind normalerweise ellenlange Essays, keine stichwortartigen Aufzählungen in Tabellenform.“ „Hah? Aber ist das nicht genau das, was du immer von ihm verlangst? Ehrlich, Tōshi, ich verstehe das nicht. Liefert er Romane ab, ist dir das nicht recht und hält er sich an deine Anweisungen, bist du auch nicht zufrieden. Kann es sein, dass du nur einen Grund suchst, um ihn zu piesacken? Was ich, ehrlich gesagt, nicht dulden werde. Der arme Junge gibt sich wirklich Mühe, nun lobe ihn doch auch einmal dafür.“ „Ich piesacke ihn nicht.“ „Doch, Tōshi, das tust du. Und das ist nicht nett von dir. Der Junge himmelt dich an und du hast immer etwas an ihm auszusetzen. Irgendwann brichst du ihm deswegen noch einmal das Herz. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.“ Kondōs Gesicht bekommt diesen sehnsüchtigen Ausdruck, wie immer, wenn er an seine geliebte Otae-san denkt. Hijikata starrt ihn nur stirnrunzelnd an. „Sag bloß, dieses blöde Gerücht stammt von dir?“ „Ha? Welches Gerücht?“ „Schon gut“, sich die Nasenwurzel massierend, winkt Hijikata ab. „Wie auch immer, das ist nicht der Punkt. Yamazaki agiert nicht wie Yamazaki, und deshalb werde ich ihm einen Kontrollbesuch abstatten.“ „Sei nett zu ihm, Tōshi.“ „Ich bin immer nett“, zischt Hijikata und fügt dann noch ein nachdrückliches „Baka“ hinzu, bevor er ruckartig den Stuhl zurückschiebt, aufspringt und mit großen Schritten das Restaurant verläßt. Kondō sieht ihm nur kichernd hinterher und bestellt sich ein Bier.       Bah. Welch eine Drecksgegend. Angewidert rümpft Hijikata die Nase und fühlt sich angesichts der hier herumlungernden Gestalten in seinem schlichten Winteryukata regelrecht overdressed. Mist, er hätte sich über diese Gegend besser informieren sollen, in seiner traditionellen Kleidung fällt er hier auf wie ein bunter Hund. Denn die wenigen, die nicht in Jeans und Parka herumlaufen und einen Yukata wie er tragen, wirken schlichtweg derart heruntergekommen, dass er dagegen geradezu reich aussieht. Unwillkürlich tastet er nach der Pistole an seiner Hüfte. Weil er in zivil unterwegs ist, musste er sein Schwert im Hauptquartier lassen und ohne fühlt er sich richtiggehend nackt. Er legt etwas mehr Selbstsicherheit in seine Schritte, versucht, sich eine verpiß-dich-Aura zuzulegen und sucht nach der Bruchbude, in der sich sein Spion einquartiert hat. Im Eingangsbereich lungern Gestalten herum, bei denen sich selbst ihm die Nackenhaare sträuben, aber sie lassen ihn unbehelligt vorbei. Sie sind sogar ziemlich höflich und er fragt sich, ob er vorschnell über sie geurteilt hat. Im Treppenflur riecht es nach Betonstaub und Urin, es gibt obszönes Graffiti an den Wänden, aber ansonsten ist es erstaunlich sauber. Es ist düster und unheimlich und er fragt sich wirklich, ob Yamazaki nichts Besseres finden konnte. In der vierten Etage sucht er nach Apartment 4D und klingelt. Er wartet etwa zehn Sekunden, bis ihm die Tür geöffnet wird und sieht sich dann einem völlig Fremden gegenüber. Es dauert eine Weile, bis er in dem Mann mit diesen stumpfen Augen in dem dunkelgrauen Hoodie und verschlissenen Jeans seinen Spion wiedererkennt. Er muß zugeben, dass es immer noch einen Hauch von Befremden in ihm auslöst, sobald er Yamazaki in dieser westlichen Kleidung sieht, auch, wenn er seit fast einem Jahr regelmäßig so herumläuft. Hijikata kann sich einfach nicht daran gewöhnen. Vielleicht sollte er das Shinsengumi-Regelwerk um einen Punkt erweitern, nämlich den, dass auch in der Freizeit nur noch traditionelle japanische Mode neben der Uniform gestattet ist. Wortlos läßt Yamazaki ihn herein und wortlos schließt er die Tür hinter ihm wieder. Stumm geht er an Hijikata vorbei in das einzige Zimmer, wo er sich auf die breite Fensterbank setzt und durch die Jalousie hinüber auf das schräg gegenüberliegende Haus starrt. „Mein heutiger Bericht liegt dort. Ist aber noch nicht abgetippt“, ohne den Blick abzuwenden, deutet er auf seine Schlafstätte, auf der ein Schreibblock, ein Füllfederhalter und ein Laptop liegen. Stirnrunzelnd sieht sich Hijikata um. Yamazaki ist seit vier Tagen hier und er sieht nirgendwo eine Spur des üblichen Chaos aus Anpanverpackungen und Milchtüten. Genauer gesagt, sieht er gar keine Anpan und noch weniger Milchtüten. Er geht zu der kleinen Küchenzeile hinüber, öffnet den Kühlschrank und hätte beinahe erleichtert aufgeseufzt, denn da stehen sie, ordentlich aufgereiht: Anpan und Milch. „Diesmal musst du also nicht in den Supermarkt gehen um Vorräte zu kaufen“, bemerkt er, während er den Kühlschrank wieder schließt. „Und gerätst nicht in Gefahr, aufzufliegen.“ Dann erinnert er sich an Kondōs Worte. „Du hast dazugelernt. Sehr schön.“ „Wieso sollte ich rausgehen?“ erwidert Yamazaki, während er weiterhin aus dem Fenster starrt. „Ich fühle mich sehr wohl hier.“ Hijikata betrachtet ihn einen Moment still und irgend etwas krampft sich dabei in ihm zusammen. Dies hier ist nicht die richtige Umgebung für seinen Spion. Er gehört in die Wärme, ins Licht, nicht in diese triste Trostlosigkeit. Es ist nicht das erste Mal, dass er unter solchen Bedingungen observiert, aber das erste Mal, dass Hijikata dabei ein unheimliches Gefühl bekommt. Er tritt neben ihn und starrt ebenfalls aus dem Fenster. Das Gebäude, das Yamazaki überwachen soll, befindet sich genau schräg gegenüber und es sieht genauso herunter gekommen aus wie alles hier. Auf dem Gehweg spielt ein einsames Amato-Mädchen Himmel und Hölle. Es ist ein trauriges Bild, aber es paßt in diese Gegend. Beinahe gewaltsam reißt sich Hijikata von diesem Anblick los und richtet seine Aufmerksamkeit stattdessen auf das Halbprofil des jungen Mannes neben sich. Dessen Miene ist völlig undeutbar. „Ist sonst alles mit dir in Ordnung?“ fragt Hijikata, wartet und fügt dann, als er keine Reaktion erhält, betont scherzhaft hinzu: „Deine Berichte sind vorschriftsmäßig. Keine Essays diesmal?“ Doch nichts in Yamazakis Miene deutet darauf hin, dass der scherzhafte Unterton ihn irgendwie berührt. „Mir ist nicht nach Essays“, kommt es dagegen völlig monoton zurück. „Warum?“ Yamzaki antwortet nicht. „Warum ist dir nicht nach Essays?“ wiederholt Hijikata. Yamazakis Benehmen kratzt langsam an seinen Nerven. Es ist nicht dasselbe wie bei Sōgo, der ihn damit nur reizen will oder bei Shimaru, der mit offenen Augen schläft. Selbst Yamazaki im Gaga-Land reagiert auf irgend eine Art und Weise – meistens mit Gefühlsausbrüchen. Aber das hier fühlt sich an, als wäre Yamazaki weit, weit weg. „Zaki?“ Zögernd streckt Hijikata die Hand aus, doch dann gibt er sich einen Ruck und läßt sie schwer auf Yamazakis Schulter fallen. Und diesmal reagiert Yamazaki. Er zuckt wie unter einem Schlag zusammen und schüttelt seine Hand ab. „Ich bin einfach nur müde, Fukuchō.“ Hijikata betrachtet ihn genauer. Er sieht müde aus, aber die typischen dunklen Ringe unter seinen Augen fehlen diesmal. Vielleicht haben sie sich noch nicht herausgebildet. „Bist du wieder die ganze Zeit über wach? Du weißt, dass das nicht von dir verlangt wird. Das ist nur eine einfache Überwachung, du darfst auch mal schlafen.“ „Ich habe sie beobachtet. Zwischen zwei und sechs Uhr morgens tut sich da drüben nichts.“ Hijikata braucht ein paar Sekunden, um das Ungesagte zu verstehen und das irritiert ihn nur noch mehr. Seit wann drückt sich Yamazaki bitteschön so kryptisch aus? „Du schläfst also?“ hakt er nach. Yamazaki nickt einmal. „Ja. Zwischen zwei und sechs Uhr morgens.“ Stöhnend massiert Hijikata seine Nasenwurzel. Langsam bekommt er Kopfschmerzen von diesem Katz-und-Maus-Spiel. „Aber du bist müde? Zaki?“ Yamazaki antwortet nicht. Er hat die ganze Zeit über stur aus dem Fenster gestarrt, aber diesmal sieht Hijikata noch genauer hin. Sein Blick ist zwar auf das Zielobjekt gerichtet, aber er geht ins Leere. Doch dann ist es, als würde Yamazaki die aufsteigende Besorgnis seines Vorgesetzten spüren, denn plötzlich dreht er den Kopf und lächelt Hijikata an. „Es geht mir gut“, bestätigt er und sein Lächeln wird breiter, aber Hijikata glaubt ihm kein Wort und trifft eine Entscheidung. „Ich verkürze deine Mission. Wenn sich bis nächsten Dienstag dort drüben nichts Bahnbrechendes ereignet hat, kommst du zurück ins Hauptquartier.“ Am liebsten würde er ihn sofort mitnehmen, diese verdammte, trostlose Gegend vergiftet seinen Spion, aber diese Mission ist wichtig, er kann sie nicht ohne triftigen Grund von heute auf morgen abbrechen. Nächsten Dienstag ist Heilig Abend, und es gefiel ihm sowieso nie, dass Yamazaki das nicht bei ihnen im Hauptquartier feiern sollte. Er erwartet, dass seine Entscheidung Yamazaki aufwecken würde, und dass er protestiert, aber dessen Antwort besteht nur aus einem gedehnten „So ka.“ Jetzt ist Hijikata wirklich überzeugt, dass etwas nicht stimmt. Doch er weiß nicht, wie er richtig darauf reagieren soll. Sein erster Impuls ist Verärgerung, aber er ist nicht Vizekommandant, weil er seinen Impulsen nachgibt. Man könnte das meinen, so oft, wie er Yamazaki – wie Kondō es so schön ausdrückte – piesackt, aber er ist nicht ungerecht. Wenn er seinen Spion maßregelt, dann hat dieser es auch immer verdient. Und Hijikata bildet sich ein, einschätzen zu können, wieviel er Yamazaki von seinem Ärger spüren lassen kann. Und ja, das ist erstaunlicherweise sehr viel. Aber er weiß auch, womit er ihn wirklich verletzen kann, also vermeidet er solche kränkenden Beschimpfungen wie Sōgo und sein „Shinjimae“. Doch jetzt, mit Yamazaki in dieser Verfassung, fühlt er sich wie ohne Netz und doppelten Boden. „Ich komme übermorgen wieder vorbei, in Ordnung?“ Morgen wäre ihm lieber, aber da steht eine wichtige Razzia an und man weiß nie, welche Überraschungen einen da noch erwarten. Yamazaki starrt nur wieder aus dem Fenster. Es ist nicht sicher, ob er ihn überhaupt gehört hat. Und dann murmelt Yamazaki etwas, das wie „laßt mich doch alle in Frieden“, klingt, doch Hijikata beschließt, das zu ihrer beider Wohl einfach zu ignorieren. Zwei Minuten später steht er wieder unten auf der Straße und er weiß, es ist falsch, es könnte Aufmerksamkeit erregen, aber er kann nicht anders. Er muss den Kopf heben und hoch zu dem Fenster sehen, von dem er weiß, dass Yamazaki dort sitzt und vielleicht – aber wirklich nur vielleicht – diesen Blick entgegnet.       Als Hijikata zwei Tage später wieder vorbeischaut, trägt er diesmal selbst, um nicht wieder aufzufallen, auch Jeans, Hoodie und Parka. Und für einen flüchtigen Moment, nämlich, als Yamazaki ihm die Tür öffnet und ihn sieht, huscht ein ehrliches, kleines Lächeln über dessen blasse Züge. „Steht dir gut“, bemerkt er und für eine Sekunde ist der echte Yamazaki zurück. Doch nur allzu schnell ist seine Miene wieder genauso leer wie seine Augen. Wie schon vor zwei Tagen geht er zum Fenster und setzt sich auf das Sims, um hinauszustarren. Hijikata verspürt plötzlichen einen dicken Kloß in seiner Kehle und geht zur Küchenzeile hinüber, um sich etwas Milch aus dem Kühlschrank zu holen, um diesen Kloß einfach herunterzuspülen. Zuerst bemerkt er nichts, aber dann runzelt er irritiert die Stirn. „Zaki, warst du einkaufen?“ „Nein“, kommt es gleichgültig zurück. „Ich fühle mich hier sehr wohl.“ Hijikata starrt einen Moment lang auf den vollgestopften Kühlschrank und wirft dann die Tür zu. Seine Milch ist vergessen. „Zaki... dein Kühlschrank ist noch genauso voll wie vorgestern. Bitte sag mit nicht, dass er auch noch genauso voll ist wie vor sieben Tagen.“ Yamazaki gibt keine Antwort. Mit großen Schritten eilt Hijikata zu ihm, packt ihn am Oberarm und reißt ihn vom Sims herunter. „Hast in den letzten sieben Tagen überhaupt etwas gegessen? Irgend etwas?“ Yamazaki gibt einen erschrockenen Laut von sich und starrt Hijikata aus weitaufgerissenen Augen an. Für einen Moment erstarrt er förmlich, doch dann beginnt er zu keuchen. Seine rechte Hand fährt hoch zu seiner Kehle und aus dem Keuchen wird ein qualvoll klingendes hyperventilieren. „Zaki? Oi, Zaki!“ erschrocken packt Hijikata ihn an den Oberarmen, um ihn aufrecht zu halten. Aber als Yamazaki keuchend und nach Luft ringend zu Boden sinkt, macht er die Bewegung automatisch mit, bis sie beide auf dem Boden knien. Yamazakis Finger krallen sich so fest in Hijikatas Parka, dass er die Nähte krachen hört. Aber das, was zuerst wie ein haltsuchender Griff anmutet, wird plötzlich zu einem Stoß vor die Brust. Hijikata ist so überrascht, dass er das Gleichgewicht verliert, ihn loslässt und nach hinten fällt. „Was zum-“ Er verstummt, als er Yamazakis abwehrend ausgestreckten Arm sieht. Ein eindeutiges „Stopp“. Stopp, beweg dich nicht und Stopp, sag nichts. Es ist die perfekte Kopie seiner eigenen, gegenüber Yamazaki oft benutzten Geste. Mehr verwirrt als verärgert hält er sich zurück und beobachtet mit einer Mischung aus Besorgnis und Faszination, wie Yamazaki durch reine Willensanstrengung seine Panikattacke unter Kontrolle bekommt. „Nicht...“, bringt Yamazaki irgendwie durch scharfe und tiefe Atemzüge hervor, „...an...fas...sen...“ Hijikata nickt nur und zieht sich noch ein paar Zentimeter weiter zurück. Aufmerksam beobachtet er, wie sich sein Spion langsam wieder beruhigt. „Was, zum Teufel, war das eben?“ fragt er ihn dann. Yamazaki wirft ihm einen dunklen Blick zu. Die Schatten unter seinen Augen sind plötzlich wieder da und geben ihm ein müdes und wildes Aussehen zugleich. „Wenn du mich auch ungefragt anfasst...“ da liegt nur ein Hauch von Ärger in seiner Stimme, als fehle ihm für mehr die Energie. Und wahrscheinlich ist das auch so. Hijikata starrt ihn nur schweigend an. Auf seiner Stirn bildet sich eine steile Falte. Yamazakis Worte verärgern ihn, aber es hilft niemanden hier weiter, wenn er sich von seinen Gefühlen leiten lässt. Was dachte Yamazaki, was er vorhatte? Dachte er, er wolle ihn schlagen? Vielleicht hat Kondō doch recht und ich piesacke ihn? „Yamazaki...“, beginnt er, stockt dann aber verunsichert. Er möchte sich entschuldigen, weiß aber nicht, wie er das anfangen soll. Und wofür soll er sich entschuldigen? Er weiß doch nicht, wieso Yamazaki so heftig auf ihn reagiert. Sein Spion nimmt ihm die Entscheidung ab. „Es geht mir gut“, erklärt er plötzlich, stemmt sich in die Höhe und setzt sich wieder auf seinen bevorzugten Platz am Fenster. „Ich brauche nur etwas Zeit“, erklärt er dabei. „Und keinen aufdringlichen Fukuchō, der mich überwacht. Ich mache meinen Job, wie es von mir verlangt wird. Meine privaten Probleme beeinflussen das nicht. Außerdem habe ich ein Smartphone, du musst nicht hier vorbei kommen und den Aufpasser spielen. Ich kann mich melden, wenn etwas ist, verstehst du?“ Hijikata schluckt die sarkastische Antwort herunter, die ihm darauf in den Sinn kommt und zählt in Gedanken langsam bis fünf. „Gut, ich vertraue dir.“ Dafür fängt er sich von Yamazaki einen überraschten Blick ein und das macht ihn wirklich wütend, doch er beherrscht sich. „Du kannst mich jederzeit anrufen. Jederzeit. Und iss etwas. Bitte.“ Yamazaki nickt zwar, aber Hijikata bezweifelt, dass er es ehrlich meint. Als er ein paar Sekunden später die Wohnung verläßt, fühlt er sich so hilflos wie selten zuvor in seinem Leben. Es ist kein schönes Gefühl. Er kommt sich vor wie der schlechteste Vorgesetzte und Freund des ganzen Planeten.   Kapitel 6: Vergangenheit – 3. Dezemberwoche – Der feine Unterschied zwischen necken und piesacken liegt im Auge des Betrachters -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------     Noch am selben Abend sucht Hijikata Rat bei seinem ältesten und besten Freund. Und wie so oft in solchen Fällen sitzen sie sich dabei in Kondōs Quartier auf den Tatami-Matten gegenüber und Kondō kredenzt seine neueste Tee-Entdeckung. Diesmal ist es weißer Jasmin aus einer Region, von der Hijikata noch nie gehört hat. Hijikata ist eher nach einem guten Sake, aber er will Kondō nicht beleidigen. Kondō seinerseits weiß eigentlich schon seit heute Nachmittag, als Hijikata ins Hauptquartier zurückkehrte, dass diesen irgend etwas beschäftigt und hat seitdem nur auf diesen Moment hier gewartet. „Vielleicht habe ich ihn all die Jahre wirklich gepiesackt“, meint Hijikata ohne große Einleitung, während er nervös an seiner Zigarette zieht. Das ist das Gute an Kondō: wenn es darauf ankommt, versteht er Hijikata auch ohne Worte. Er weiß sofort, wen er meint. „Ah, Tōshi, du kennst doch Zaki – er wird es dir sicher verzeihen. Wenn er das nicht schon längst hat.“ Hijikata ist nicht überzeugt. Und es ist nicht das, was er gemeint hat. „Er hat einen Panikanfall bekommen, als ich ihn berührt habe. Gut, ich war etwas harsch zu ihm, das gebe ich zu, vielleicht habe ich ihn erschreckt...“ seine Stimme verklingt, während er nachdenklich dem Rauch seiner Zigarette nachsieht und sie schließlich mit einem tiefen Seufzer im Aschenbecher neben sich ausdrückt. „Bist du sicher, dass das nicht nur an seiner Anpan-Milch-Diät liegt?" gibt Kondō zwischen zwei Schluck Tee zu bedenken. „Es wäre zwar etwas früh, aber immerhin reden wir hier von Zaki.“ Hijikata seufzt ein weiteres Mal und schüttelt den Kopf. „Eher nur Milch-Diät. Es sah nicht so aus, als hätte er in der ganzen Zeit irgendeinen Anpan auch nur angefasst.“ Das lässt Kondō die Stirn runzeln. „Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Damit verletzt er seine eigenen Regeln. Vielleicht", fährt er zögernd und mit einer gewissen Hoffnung fort, „hat er aber auch nur eingesehen, dass es keinen Gott der Polizisten gibt.“ Das wäre eigentlich nur von Vorteil - für sie alle. Aber Hijikata schüttelt betrübt den Kopf. „Kondō... ich befürchte, dass er überhaupt nichts gegessen hat.“ Oh. Kondōs Stirnrunzeln vertieft sich, doch dann gewinnt seine optimistische Grundeinstellung über sein beginnendes Unbehagen. „Da hast du es. Hunger. Wahrscheinlich ist das der Grund für seinen Anfall." Aber Hijikata sieht nicht überzeugt aus, also beugt sich Kondō zu ihm vor und legt ihm beruhigend eine Hand aufs Knie. „Tōshi, Yamazaki ist ein guter Spion. Und er ist sehr ehrgeizig. Nach allem, was ihm in der Vergangenheit passiert ist, wird er diese Mission nicht aufs Spiel setzen. Er wird es nicht riskieren, vor Hunger ohnmächtig zu werden. Früher war er vielleicht leichtsinnig, aber das letzte Jahr lief wirklich gut. Seine letzten Missionen waren immer erfolgreich“, fährt er mit unüberhörbarem Stolz fort. „Hab etwas Vertrauen in den Jungen.“ Hijikatas Wangenmuskeln verspannen sich sichtlich. Es ärgert ihn, dass Kondō tatsächlich annimmt, dass er seinem Spion nicht vertrauen könnte. Darum geht es gar nicht! „Ich mache mir nun einmal Sorgen um ihn", erklärt er. „Er ist … anders. Irgend etwas … beschäftigt ihn seit dem Bônenkai.“ „Vielleicht hat einer aus der Mimawarigumi sich nicht nur mit ihm geprügelt, sondern auch etwas gesagt. Du weißt, wie fies sie sein können.“ Fies ist untertrieben. Diese Adligen sind regelrecht bösartig. Trotzdem kann er sich nicht wirklich vorstellen, was da passiert ist, nachdem Yamazaki zu den Mimiwarigumi hinüberging, um ihnen Sake zu bringen, damit sein Spion jetzt ein derart auffälliges Benehmen zeigt, versteht aber auch nicht, wieso Yamazaki ihm nichts sagt. „Aber wenn es so ist, wieso redet er dann nicht mit mir darüber?" bricht es schließlich gequält aus ihm hervor. „Bin ich ihm wirklich so ein schlechter Freund, Kondō?“ Er weiß, er ist ruppig und viele halten ihn für kaltherzig, aber Yamazaki weiß es doch besser, oder nicht? Sie kennen sich doch schon seit sechs Jahren und sind genauso lange befreundet. Ja, er hatte sich aus gewissen Gründen in den letzten Monaten ein wenig von Yamazaki distanziert, aber bisher hatte er nicht das Gefühl, dass es seinen Spion wirklich störte. Nicht so sehr jedenfalls, dass es ihre Freundschaft beeinflusste – die Hijikata übrigens als etwas sehr Kostbares empfindet. Aber vielleicht hat er sich da ja auch geirrt. Nachdenklich kratzt sich Kondō am Kopf und nimmt einen langen Schluck von seinem Tee. „Nun ja", meint er dann gedehnt, „vielleicht fühlt er sich … ersetzt." Und als Hijikata ihn daraufhin nur verdutzt anstarrt, fährt er hastig fort: „Durch Tetsu. Bevor Tetsu zu uns kam, war Yamazaki so etwas wie dein inoffizieller Assistent und ich könnte mir vorstellen, dass er sich jetzt abgeschoben fühlt.“ Wütend funkelt Hijikata ihn an. „Oi, du warst es doch, der Tetsu zu meinem Assistenten gemacht hat!“ Als ob das seine Schuld wäre! Und als ob Yamazaki sich durch so etwas gekränkt fühlen würde. Er war froh darüber, schließlich hatte er dadurch weniger Arbeit und konnte sich mehr auf seine Spionagetätigkeit konzentrieren. Und hatte mehr Zeit für sein verflixtes Badminton. Jedenfalls machte er den Eindruck. Oder nicht? Zu Hijikatas großen Leidwesen ist sich Kondō weder einer Schuld bewusst, noch von seiner Idee abzubringen. „Für Yamazaki muss es wie eine Zurückweisung gewesen sein, wo er dich doch so vergöttert. Ach, unerwiderte Liebe als solche ist schon schwer zu ertragen, aber wenn man dann noch durch jemand anderen ersetzt wird... ja, das tut weh.“ Er seufzt einmal tief und schwer. Entgeistert starrt Hijikata ihn an. Immer, wenn dieses Thema aufkommt, fängt sein Herz ganz wild an zu pochen, was ihn nur noch mehr verärgert. Und in diesem Moment könnte er Kondō für diese Bemerkungen die Zunge herausreißen. „Fängst du schon wieder an mit diesem Schwachsinn?“ „Du musst dich mehr anstrengen", belehrend hebt Kondō die Hand. „Du hast ihn schwer gekränkt. Geh mit ihm essen. Oder ins Kino. Knüpfe die zarten Bande eurer Verbindung neu, aber diesmal etwas fester. Zeig ihm, was er dir bedeutet. Du wirst sehen, dann wird alles gut.“ „Oi, sag mal, hat Sōgo dir was in den Tee getan?“ „Shinjimae, Hijikata. Höre auf unseren Kyokuchō", ertönt auf einmal eine wohlbekannte Stimme und hinter einem Paravent schlendert Okita Sōgo hervor. „Yamazaki hat besseres verdient als dich. Kondō-san, vielleicht sollten wir Tama einladen, damit sie unseren Zaki auf andere Gedanken bringt.“ Hijikata blinzelt verwirrt, fasst sich aber schnell wieder. Bei jemanden wie Okita Sōgo gewöhnt man sich an alles. Auch daran, dass dieser an den unmöglichsten Orten auftaucht. Kondō nimmt es ebenfalls sehr gelassen. „Das ist eine gute Idee, Sōgo.“ Hijikata kann es nicht glauben, in welche Richtung dieses Gespräch schon wieder geht. Da hat er ernsthafte Sorgen und die albern nur herum. „Hört endlich auf, ihn mit dieser Robot-Maid verkuppeln zu wollen. Das ging schon einmal schief. Außerdem hat er etwas Echtes verdient. Etwas aus Fleisch und Blut." „Tōshi", verlegen lachend hebt Kondō beide Hände. „Das war doch nur ein Scherz. Nicht wahr, Sōgo?" „Sicher", grinst Okita. „Nur ein Scherz." Hijikata glaubt ihnen kein Wort.       So sehr er es auch versucht, eine Bemerkung von Kondō geht ihm nicht aus dem Kopf. Also fragt Hijikata seinen Assistenten am nächsten Tag, als dieser ihm seinen Kaffee bringt - und ihn natürlich nicht die richtige Menge an Mayonnaise garniert, denn das kann wirklich nur Yamazaki. „Tetsu... Du verstehst dich doch gut mit Zaki, oder? Hat er dir gegenüber jemals erwähnt, dass er sich von mir unfair behandelt fühlt? Oder", er zögert kurz, denn diese Frage fällt ihm wirklich schwer und er will nicht, dass Tetsunosuke sich dadurch angegriffen fühlt, „bitte entschuldige, aber ich weiß nicht, wie ich das anders fragen soll ...", er holt einmal tief Luft und sieht Tetsu offen und gerade ins Gesicht, „dass er glaubt, ich hätte ihn durch dich ersetzt?" „Was? Oh nein!" Überraschenderweise antwortet Tetsunosuke sehr schnell. Er lacht und winkt ab. „Yamazaki macht das nichts aus. Ich hab ihn tatsächlich mal dasselbe gefragt, weil ich nicht wollte, dass er mich hasst, weil ich ihm seinen Job weggenommen habe. Weißt du, was er sagte?" Und als Hijikata nur fragend die Augenbrauen hochzieht, fährt er mit einem breiten Lächeln fort: „Er sagte, es sei besser so. Es sei besser, wenn er nicht mehr so eng mit dir zusammenarbeit, das würde eure Freundschaft entlasten." Mit der Entfernung wächst ja die Liebe, das war genau das, was er damals dabei dachte und auch auch heute noch denkt, aber das sagt er wohlweislich lieber nicht. „Das hat er gesagt?" „Ja." Seufzend starrt Hijikata in seinen Kaffee. „Also piesacke ich ihn doch." „Nein!" wehrt Tetsunosuke sofort ab. „Nicht doch. Also...", nervös kratzt er sich am Nacken, „... von außen mag das so aussehen, aber... Ihm macht das wirklich nichts aus. Es gehört irgendwie dazu, nicht wahr? Ist ein wichtiger Teil eurer Beziehung." Hijikatas Stirnrunzeln verrät ihm, dass er das letzte Wort vielleicht etwas auffällig betont hat, also räuspert er sich verlegen und geht dann zu seinem Arbeitsplatz an der entgegengesetzten Wand hinüber, um sich dort an seinen Computer zu setzen und eifrig in die Tasten zu schlagen. Er kann Hijikatas Blicke in seinem Rücken spüren, doch er ignoriert sie tapfer. Zu seiner großen Erleichterung ist das Thema für Hijikata damit erledigt.   Kapitel 7: Gegenwart – 3. Januarwoche – 20. Januar, Tag X – die Wahrheit ist wie gammeliger Käse im Kühlschrank, der irgendwann nicht mehr zu übersehen ist -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------     „Zaki!“ Die nette Schwester kam nur für einen Zwischenbericht, letztendlich mussten sie zweieinhalb Stunden warten, bis sie Yamazaki endlich sehen dürfen und jetzt ist Kondō der erste, der ins Krankenzimmer stürmt. Er hat es so eilig, dass er die Stationsschwester, die ihnen die Tür aufhält, beinahe umrennt. Hijikata, Okita und Tetsunosuke folgen ihm etwas zögerlicher. Als sie den Raum betreten, beugt sich Kondō schon über das Bett, um ihren Spion in eine ungeschickte, aber ehrliche Umarmung zu ziehen, soweit es der Infusionsschlauch zuläßt. „Nicht so stürmisch“, tadelt die Schwester in einem so gestrengen Tonfall, dass Kondō sofort zurückweicht und sich wie ein gescholtener Schuljunge auf einen Besucherstuhl neben dem Bett fallen läßt. „Nicht alle auf einmal“, erklärt sie noch und mustert sie alle mit einem so abfälligen Blick, bevor sie den Raum verläßt, dass Okita ihr am liebsten den Stinkefinger zeigen würde. Was bitteschön sollte dieser Blick und erst recht dieser Tonfall? Wer glaubt sie, wer sie ist? Und wer, glaubt sie, wer sie sind? So eine blöde Ziege. Langsam richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf die kleine Szene vor sich. Kondō hat seinen Stuhl dicht an das Bett herangezogen und hält Yamazakis linke Hand in seinen großen Pranken, den Mund zu einem breiten, erleichterten Lächeln verzogen. In seinen Augen schimmert – neben den obligatorischen Tränen - die für ihn so typische Wärme, wofür ihn seine Männer so lieben. Tetsunosuke steht am Fußende, dreht seine Uniformmütze nervös in den Händen und lächelt ebenfalls. Doch er fühlt sich sichtlich unwohl in seiner Haut, aber ob das ganz allgemein an Krankenhäusern liegt oder an dem Anblick Yamazakis in diesem Bett, ist nicht ganz klar. Hijikata jedoch … unwillkürlich wandert Okitas Blick zu ihm hinüber. Er steht auf Yamazakis anderer Bettseite, die Hände in seinen Manteltaschen vergraben und trägt diesen grimmigen ich-wünschte-ich-wär-überall-nur-nicht-hier-Gesichtsausdruck und Okita würde ihm dafür am liebsten einen Tritt geben. Glaubt der Baka wirklich, irgend jemand würde nicht das verräterische Rot in seinen Augen und auf seinen Wangen sehen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen? Okita beschließt, sich neben Tetsunosuke zu stellen, denn von hier hat er alle – einschließlich Yamazaki – gut im Blick. Langsam läßt Okita seinen Blick über die Formen von Yamazakis Körper wandern, die sich deutlich unter der cremefarbenen Bettdecke abzeichnen, und bleibt für einen Moment auf Yamazakis Oberkörper hängen, um dann in diesem immer noch sehr blassen Gesicht zu landen. In Yamazakis hellbraunen Augen schimmert wieder diese Dunkelheit und plötzlich fällt Okita ein, wo er das vor kurzem schon mal gesehen hat. Der erste Weihnachtstag. Der Moment, wo Yamazaki sein Geschenk auspackte und die beiden Wakazashi zum Vorschein kamen. In dieser Sekunde veränderte sich etwas in seinen Augen. Der melancholische, manchmal so erschreckend leere Ausdruck, den er bis zu diesem Zeitpunkt seit einigen Wochen spazierentrug, verschwand und machte dieser stählernen Dunkelheit Platz. Als habe in dieser Sekunde eine Idee in ihm Gestalt angenommen, die sich zu einem knallharten Entschluß wandelte. Natürlich. Verdammt. Wie konnte ihnen das nur entgehen. Zaki, du Bastard. Täuschen, tarnen, tricksen. Du bist gut. Verdammt GUT. Okita nickt einmal, um zu signalisieren, dass er es endlich begriffen hat, aber er ist sich nicht sicher, ob Yamazaki ihn wirklich verstanden hat. Denn alles in allem wirkt Zaki sehr erschöpft und furchtbar müde. Eine ganze Weile lang sagt niemand im Raum ein Wort und diese verlegene Sprachlosigkeit wird allmählich unerträglich. „Ich bin immer noch ich“, räuspert sich Yamazaki schließlich mit einer Stimme, in der sowohl Bitterkeit wie auch Erheiterung mitschwingen. Hijikata holt einmal tief Luft und blickt dann offensiv aus dem Fenster. Ihm ist das ganze deutlich mehr als unangenehm. „Wie sollen wir dich nennen?“ fragt er dabei leise, zögert kurz und fügt dann, beinahe lautlos hinzu: „Shisako?“ Yamazaki zuckt nur mit den Schultern. „Was spricht gegen Zaki, wie immer?“ Dann richten sich große, hellbraune Augen auf den Kommandanten. „Soll ich die Shinsengumi verlassen?“ „Du hattest eben eine …“ Kondō schnappt nach Luft und drückt die Hand zwischen seiner so fest, dass Yamazaki sie mit einem leisen Winseln sofort aus seinem Griff zieht. „Und das ist das Einzige, was dir Sorgen macht?“ „Soll ich die Shinsengumi nun verlassen oder nicht?“ wiederholt Yamazaki stur. „Ich muß das wissen. Ich brauche eine Sicherheit in diesem Leben. Es ist mir egal, was ihr entscheidet, ich kann mit beidem leben … na gut, mit einem Rausschmiß nicht so gut, aber auch damit werde ich irgendwie klarkommen ... ich brauche nur Klarheit.“ „Bleib, wenn du willst“, antwortet Hijikata, bevor Kondō etwas dazu sagen kann. Und Kondō, der der einzige hier im Raum ist, der das wirklich entscheiden kann, nickt nur zustimmend. Und Okita weiß plötzlich mit derselben unerschütterlichen Sicherheit wie es die Tiere wissen, wenn ein Erdbeben naht, dass Hijikata. sollte Yamazaki doch gezwungen werden, die Shinsengumi zu verlassen, seinen Posten freiwillig räumen wird. Und das sollte Okita eigentlich freuen, denn dann könnte er Vizekommandant werden, aber das ist nicht die Art, wie er diesen Posten bekommen will. Hah! In Okitas karmesinroten Augen blitzt es gefährlich auf. „Ja, bleib. Du hast uns über ein ganzes Jahr lang an der Nase herumgeführt, einen besseren Spion finden wir nie, wenn du sogar nicht vor deinen eigenen Freunden halt machst“, erklärt Okita, sieht dabei aber weder Kondō noch Yamazaki, sondern ganz allein nur Hijikata herausfordernd in die Augen. Glaubt dieser Baka, er sei der einzige hier, der so denkt? Yamazaki schnaubt einmal laut und lacht dann einmal hohl auf. „Soll das ein Witz sein? Während ihr dem Dekoboko-Kult durchs All gefolgt seid, ist euch nicht einmal aufgefallen, dass ich nicht mit an Bord war! Ihr habt mich zurückgelassen. Freunde, echte Freunde machen so etwas nicht! Ihr habt mich vergessen, wie immer!“ Betretenes Schweigen breitet sich im Raum aus. Beschämt beißt sich Okita auf die Unterlippe. Zaki hat recht. Alles, was geschehen ist, die ganzen Lügen, das haben sie sich selbst zuzuschreiben. „Gomen“, entschuldigen sich Kondō und Hijikata gleichzeitig. Sogar Tetsunosuke, der damit gar nichts zu tun hat, murmelt ein leises „sorry“. Doch Yamazaki gibt nur ein Brummen von sich, lehnt sich schwer in die Kissen zurück und starrt an die Decke. „Sie wollen mich über Nacht dabehalten. Sichergehen, dass ich ihnen nicht doch noch abkratze oder so. Sie haben mir eine Woche strenge Bettruhe verordnet und die nächsten vier Wochen absolut keinen Streß. Sie meinen, das verstärkt die Blutungen.“ „Du blutest immer noch?“ platzt es aus Kondō entsetzt heraus. Doch dann zieht er unter Yamazakis schiefen Blick den Kopf zwischen die Schultern und entschuldigt sich murmelnd. Tetsunosuke hat verlegen den Blick abgewendet und in Hijikatas Augen glitzert es wieder so verräterisch. Und Okita überlegt gerade, ob es irgend jemanden auffällt, wenn er in die Blutbank einbricht und noch ein paar Beutel entwendet. Sicherheitshalber. Denn, verdammt – Yamazaki ist immer noch bleich wie der Tod. Dabei hat Yamazaki, laut der Schwester – der netten vom Empfang, nicht diese Gewitterziege draußen – schon zwei Transfusionen erhalten. Wissen die Ärzte wirklich, was sie hier tun? Yamazaki bedeckt die Augen mit dem linken Unterarm und seufzt einmal laut und tief auf. „Ich wußte, dass ich nicht ewig so weitermachen kann. Aber dass ihr es so herausfindet, hätte ich mir nie träumen lassen. Das ist so … entwürdigend.“ „Ja, Zaki“, entfährt es Okita und seine Stimme trieft dabei nur so vor Sarkasmus. „Schäm dich. Schäm dich, dass du die Tatami-Matten und unser Auto vollgeblutet hast. Hijikata-san, befiehl Zaki, Seppuku zu begehen.“ „Zaki“, wiederholt Hijikata mit einem schwachen Lächeln, „Seppuku für dich.“ Und dann hören sie etwas, was sie schon seit langer, langer Zeit nicht mehr gehört haben: Yamazaki lacht. Es ist ein herzhaftes, ansteckendes Gelächter und so laut, dass es sofort wieder diese Ziege von Schwester auf den Plan ruft. Glücklicherweise bleibt die unhöfliche Schwester nicht lange und es ist nicht klar, welcher Todesblick sie genau verschreckt hat: Okitas oder Hijikatas. Jedenfalls schließt sie schnell wieder die Tür hinter sich, jedoch nicht, ohne eine Schimpftirade losgelassen zu haben, in der dreimal das Wort „unschicklich" vorkam. Zu ihrer aller Überraschung schwimmen nach dieses Worten plötzlich Tränen in Yamazakis Augen. Der Anblick reißt Hijikata aus seiner Lethargie und er fasst nach Yamazakis rechter Hand. Sehr, sehr vorsichtig verschlingt er ihre Finger miteinander. Er sagt nichts, es ist nur diese kleine, sehr vielsagende Geste und ein warmes Lächeln. Daraufhin blinzelt Yamazaki einmal und lächelt mit nicht mehr ganz so feuchten Augen zurück. Als Tetsu das sieht, dreht er sich schnell um und tippt in sein Smartphone: „Zaki + Hijikata“ mit einem Herzchen-Smilie. Diese kurze Nachricht schickt er dann an Harada, seinem derzeitigen Verbindungsmann zum Rest der Shinsengumi. Ob Harada diese Information mit den anderen teilt, überlässt Tetsu dessen Urteil. „Uh, Zaki?" unterbricht Kondō die sich ausbreitende Stille vorsichtig. „Gibt es jemanden, den wir benachrichtigen sollen?" Yamazaki sieht ihn mit gerunzelter Stirn an und Kondō präzisiert schnell, mit jedem Wort unsicherer werdend und mit wilden Gesten: „Du hattest eben ... Und es wird wohl keiner von uns... Dein Freund, Zaki. Sollen wir deinen Freund benachrichtigen?" Nicht nur Yamazaki starrt ihn sprachlos an. Wenn auch alle aus verschiedenen Gründen. Tetsu, weil bei ihm der Groschen nur langsam fällt, Sōgo, weil er wirklich über die lange Leitung seines ansonsten so geliebten Kommandanten erstaunt ist und Hijikata, weil bei ihm erst jetzt die gesamte Tragweite der Geschehnisse ankommt. Sie sind manchmal wirklich dumm und begriffsstutzig, schießt es Sōgo spöttisch durch den Kopf. Yamazaki öffnet einmal den Mund, schließt ihn dann wieder und öffnet ihn erneut. Und diesmal kommt etwas heraus, in einem viel zu ernsten, gelassenen Tonfall. Unter dieser ruhigen Oberfläche brodelt es. Da wartet ein gewaltiger Nervenzusammenbruch am Horizont und jeder von ihnen besitzt einen kleinen, egoistischen Teil in sich, der dann nicht dabei sein will. Aber noch ist es nicht so weit. „Es gibt keinen Freund, Kondō-san. Es gab auch nie einen. Das geschah ganz bestimmt nicht freiwillig und ich bin genauso überrascht davon wie ihr.“ Nach diesen Worten herrscht eine erdrückende Stille. In dem Moment, wo Hijikata sich schwer auf die Bettkante sinken läßt und Yamazakis Hand noch fester hält, löst sich aus Kondōs Kehle ein wahrer Klagelaut, als auch für ihn endlich alle Puzzleteile an ihren Platz fallen. „Shiiii-chaaaaan!“ Weinend wirft er sich übers Bett und umarmt seinen Spion. „Es tut mir soooo leiiiiid! Sag mir, wer es war und ich werde ihn dafür in Stücke hacken!“ Oje. Na gut, doch nicht alle Puzzleteile. Spöttisch verdreht Sōgo die Augen. Yamazaki kichert nur. Es klingt ein wenig gestresst und atemlos, weil Kondō nicht gerade ein Fliegengewicht ist. Hastig greift Hijikata ein und schiebt Kondō rigoros von Yamazaki herunter. Kondō seinerseits wird sich plötzlich bewußt, wo sich sein Oberkörper gerade befand, wird hochrot im Gesicht und weint noch heftiger, als er sich, beschämt Entschuldigungen murmelnd, wieder auf seinen Stuhl zurückzieht. Während Hijikata seinen Kommandanten böse anfunkelt, schenkt Yamazaki diesem nur ein schiefes Lächeln. „Sie sind schon tot, Kondō-san. Dafür habe ich gesorgt.“ „Sie?“ wiederholt Kondō und schluchzt herzerweichend. „Es war mehr als einer? Oh, Shi-chan...“ Yamazaki seufzt nur tief, tätschelt Kondōs Hand – das einzige, was aus dieser Position heraus erreichbar ist – und mustert sie dann alle der Reihe nach verlegen. Schließlich bleiben diese hellbraunen Augen auf Hijikata liegen und da ist er wieder, dieser dunkle Blick. „Es war auf dem Bônenkai.“ Überrascht zucken Sōgos Augenbrauen in die Höhe. Er hat nicht damit gerechnet, dass Yamazaki irgendwann wirklich mit der Wahrheit herausrückt. „Erinnert ihr euch noch, wie ich den Weißröcken Sake bringen solle? Nun... Zuerst haben sie mich nur herumgestoßen, dabei haben sie mein Hemd zerrissen, hier, direkt über der Brust...“ vielsagend tippt eine in diesem Moment furchtbar zerbrechlich wirkende Hand auf besagte Körperstelle, „... sie sahen alles und waren nicht mehr zu bremsen. Glaubt mir, ich habe mich gewehrt, aber es waren einfach zu viele.“ Am Bônenkai. Hijikata wird blaß. Und er war nur zwei Räume entfernt. Nur zwei Räume... und dann hat er Yamazaki am nächsten Morgen auch noch angeschrien. Auch Tetsunosuke wird plötzlich etwas bleich. Er erinnert sich daran, wie er oft genug im Hof stand und den Lärm hörte, den die Mimawarigumi veranstaltete. Wenn er doch nur einmal hingegangen wäre... oder sich am nächsten Morgen mehr um Zaki gekümmert hätte... Okitas Miene dagegen zeigt wieder diese typische Ausdruckslosigkeit, aber seine Finger umklammern das Bettgestell so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten. Er hat die losen Enden in den letzten Stunden zwar schon längst verknüpft, aber das heißt nicht, dass ihn Yamazakis Worte kalt lassen. Ganz im Gegenteil. „Als sie fertig waren, haben sie mich einfach in den Hof geworfen und alles, woran ich denken konnte, war, dass mich hoffentlich niemand so sieht. Mir tat alles weh und doch war ich gleichzeitig völlig taub.“ Aus Kondōs Kehle löst sich ein kleiner, winselnder Laut. Er denkt nur daran, dass es nur zwei Räume weiter geschah und wenn er das geahnt hätte... oh, wenn er das geahnt hätte... Hijikata dagegen spürt, wie etwas in ihm bei diesen Worten zerbricht. Es ist dieser Tonfall und diese Wortwahl, diese Art, Emotionen preiszugeben, so typisch für Yamazaki und genau das, was Hijikata in den letzten Wochen so vermisste. Wie gebannt hängt er an diesen vollen Lippen, die sich so bescheiden perfekt in dieses Gesicht mit den mandelförmigen, hellbraunen Augen einfügen. Diese Porzellanhaut, diese zarte Knochenstruktur, die sich nicht viel von dem unterscheidet, was er jahrelang vor Augen hatte und doch erscheint ihm nun alles anders. Wie konnte er das nicht bemerken? Im letzten Jahr muß ein richtiger Schleier vor seinen Augen gelegen haben. Unwillkürlich festigt er seinen Griff um Yamazakis Finger. Mit jedem weiteren von Yamazakis … nein, berichtigt er sich, Shisakos Worten wird ihm das Herz immer schwerer. „Den ganzen Weg zu meinem Quartier hatte ich nur den Gedanken, dass mich hoffentlich, hoffentlich niemand von meinen Kameraden, von euch, so sieht. Ich habe mich so furchtbar geschämt. Erst viel später bemerkte ich mein blaues Auge und die Würgemale. Dass sie ein Video davon gemacht hatten, habe ich gar nicht bemerkt, erst, als dieser … Sukebe es herumschickte.“ Yamazaki holt einmal tief Luft. „Aber jetzt sind sie tot und ich fühle mich tatsächlich befreit. Ich bin endlich darüber hinweg und dann passiert das hier.“ Enttäuschung und Wut schwingen in Yamazakis Stimme, dann ein wütendes Schnauben, gefolgt von etwas, das wie eine Mischung aus Knurren und trockenem Aufschluchzen klingt. Bestürztes Schweigen folgt diesem Geständnis, ein Schweigen, in dem jeder versucht, das Gesagte irgendwie zu verdauen. Aus einem Impuls heraus hebt Hijikata Yamazakis Hand hoch zu seinen Lippen und küsst sie stumm. In seinen blauen Augen schimmert es feucht, Kondō weint wieder und Tetsunosuke sieht richtig grün im Gesicht aus. „Ihr Glück, dass sie schon tot sind“, meint Sōgo plötzlich mit einer Stimme, die vor Kälte nur so klirrt. Er sucht Yamazakis Blick, hält ihn fest und zeigt sein bösartigstes Grinsen. „Wenn ich sie in die Finger bekommen hätte, wären sie nicht so schnell gestorben.“ Kapitel 8: Vergangenheit – 23. Dezember – Warum trägt die Mimawarigumi bei all ihrer schmutzigen Wäsche eigentlich ausgerechnet Weiß? -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------     Während der Morgenbesprechung ist es streng verboten, sein Mobiltelefon eingeschaltet zu lassen. Es sei denn, man ist Vizekommandant Hijikata Tōshirō und ist seit Tagen nervös wegen eines gewissen Spions und möchte unbedingt erreichbar sein, wie man es versprochen hatte. Und dann klingelt das Telefon tatsächlich und Hijikata ist zuerst so verdutzt, dass er erst beim zweiten Mal begreift, dass es seines ist. „Hijikata-san", bemerkt Okita, „Handys sind während Besprechungen verboten." Hijikata hört gar nicht hin, denn der einprogrammierte Klingelton gehört genau zu demjenigen, den er gleichzeitig befürchtet und erhofft hat. Ein schneller Blick auf das Display bestätigt es. Hastig nimmt er den Anruf entgegen. „Yamazaki?" Sobald ihm der Name von den Lippen geschlüpft ist, wird es mucksmäuschenstill im Raum. Sogar Okita klappt den Mund wieder zu. Und Kondōs Miene wird richtig düster vor Sorge. „Hijikata-san..." Yamazaki klingt atemlos und panisch. Es klingt, als würde er rennen. Unwillkürlich springt Hijikata auf und drückt das Handy fester an sein Ohr. „Hijikata... Ich muss hier weg. Die Weißröcke funken uns gerade dazwischen. Sie kesseln das Viertel ein. Ich... schick dir ein Video." Hijikata rennt förmlich aus dem Raum und Kondō ist ihm dicht auf den Fersen, nachdem er Okita befahl, die Stellung zu halten. „Zaki? Ich hol dich. Wo bist du?" „Cat Café." „Was?" „Ich schick dir die Adresse, wenn ich da bin. Sieh dir das Video an. Ich muss jetzt auflegen. Melde mich." „Sei vorsichtig." Doch ihm antwortet nur noch das Freizeichen. Inzwischen haben sie einen Funkwagen erreicht. Obwohl er nur knapp nach Hijikata dort ankommt, setzt sich Kondō ans Steuer, denn egal wie gefasst Hijikata jetzt wirkt, kennt Kondō ihn jedoch besser und er ist einfach zu aufgewühlt, um jetzt ein Auto zu fahren. „Wohin, Tōshi?" fragt Kondō, während er den Motor startet. „Ich weiß nicht... Erstmal Richtung Hafenviertel." Kondō wirft ihm einen kurzen Blick zu, während er den Wagen vom Hof fährt. Hijikata starrt wie gebannt in sein Handy und soviel Kondō erkennen kann, spielt er ein Video ab. Mehr sieht er nicht, weil er sich auf den Verkehr konzentrieren muss. „Was ist los, Tōshi?" erkundigt er sich, als er lange genug auf eine Erklärung gewartet hat. Hijikata reibt sich über die Stirn und seufzt einmal tief. „Die Mimawarigumi hat unseren Fall sabotiert. Sie haben in unserem Zielobjekt eine Razzia durchgeführt. Und nicht nur das - es gab eine Explosion, nachdem sie das Gebäude stürmten. Yamazaki hat alles gefilmt und ist jetzt quasi auf der Flucht." Kondō nickt verstehend. Erste Regel für Spione: nicht erwischen lassen. Wenn die Mimawarigumi die Vorschriften befolgt – wovon er ausgeht – werden sie Straßensperren errichtet haben. Andererseits sind sie die Mimawarigumi, nicht die Shinsengumi. Die Mimawarigumi wühlt nicht im Dreck – sie werden also nur die offiziellen Straßen absperren und die unzähligen kleinen Neben- und Hintergassen, die oft nicht breiter sind als einen Meter, nicht berücksichtigen, geschweige denn den Blick nach oben auf die Dächer richten. Und Yamazaki ist ein sehr umsichtiger Spion – er hat garantiert mindestens fünf verschiedene Fluchtwege parat. „Yamazaki weiß, was er tut“, versucht er, seinen Stellvertreter zu beruhigen. „Natürlich tut er das.“ Hijikatas Antwort fällt barscher aus als erwartet, aber Kondō nimmt es ihm nicht krumm. Es zeigt ihm nur, wie besorgt Hijikata um Yamazaki ist. Mit der größtmöglichen Geschwindigkeit und eingeschalteter Sirene benötigen sie zehn Minuten, um die äußeren Grenzen des Hafenviertels zu erreichen. Es werden sehr lange zehn Minuten für Hijikata und nicht ganz so lange für Kondō, denn der hat wenigstens den Straßenverkehr, auf den er sich konzentrieren kann. Kurz bevor sie eine Kreuzung erreichen und sich Kondō gezwungen sieht, nach einer expliziten Richtung zu fragen, piept Hijikatas Handy. Die dreißig Sekunden an der roten Ampel genügen ihm, um eine Route festzulegen. „Nach links“, dirigiert er und schnalzt genervt mit der Zunge, als er weiter vorne an der nächsten Kreuzung eine Straßensperre und einen Mimawarigumi-Wagen stehen sieht. „Vor der Straßensperre die erste rechts. Da ist eine kleine Einkaufpassage mit Tiefgarage. In einem der Läden dort wartet Yamzakai auf uns. Es ist nicht mehr weit.“ „Aber es ist direkt bei der Absperrung?“ schlußfolgert Kondō wenig begeistert. Glücklicherweise hat er die Sirene schon an der Kreuzung abgestellt und wenn Fortuna noch ein kleines bißchen länger auf ihrer Seite ist, bemerken die Männer von der Mimawarigumi ihren schwarz-weißen Funkwagen gar nicht. Sie haben nichts zu verbergen, sie können jederzeit mit ihrer Dienstmarke wedeln, aber diese hochnäsigen Spinner würden nur unnötige Fragen stellen und sie könnten dadurch kostbare Zeit verlieren. „Es ist inzwischen in den Nachrichten“, erwidert Hijikata und öffnet auf seinem Smartphone den Live-Stream einer Nachrichtensendung. „... zwei Verletzte und ein Toter“, ertönt die Stimme der allseits bekannten und beliebten Starreporterin und ehemaligen Wetterfee Ketsuno Ana. „Auf der Suche nach weiteren Verdächtigen hat die Mimawarigumi begonnen, ihre Absperrungen auf das gesamte Hafenviertel auszuweiten...“ Kondō seufzt einmal tief auf, als er das hört. „Auf der Rückfahrt geraten wir garantiert in eine Mausefalle. Kann Zaki sich nicht bis zu uns durchschlagen?“ Hijikata zuckt nur mit den Schultern. Inzwischen haben sie die Tiefgarage erreicht. Kondō stellt den Wagen auf dem nächstbesten freien Parkplatz ab und dann gehen sie durch einen kleinen Treppenflur und betreten eine wirklich nur sehr kleine Passage mit maximal zehn Geschäften, und erstaunlicherweise wimmelt es dort noch nicht von den Männern der Mimawarigumi. Aber das wird sich wahrscheinlich sehr bald ändern. Die Passage ist nur mäßig besucht und das ist sehr untypisch für diese Jahreszeit, immerhin ist übermorgen Heilig Abend. Aber die Leute hier verfolgen bestimmt auch die Nachrichten und außerdem sind die weißen Fahrzeuge der Mimawarigumi nicht zu übersehen. Sie finden das Cat Café schnell und ausnahmsweise ist es Kondō, dem ein lachendes „typisch Zaki" entschlüpft. Hijikata lächelt nur angespannt. Ihm ist nicht nach Lachen zumute, auch wenn Kondō da zweifellos recht hat. Wer hat auch schon mal von einem Café gehört, in dem Katzen leben? Richtige Katzen, keine Amanto. Andererseits heißt es ja auch, dass Amanto-Katzenwesen die irdischen Katzen nicht ausstehen können. Unwillkürlich schüttelt er den Kopf, als er über die Schwelle tritt und sofort einer sehr neugierigen, grauen Fellnase ausweichen muss. Die Jungunternehmer von heute kommen auf wirklich komische Ideen. Er glaubt nicht, dass sich das durchsetzen wird. Obwohl er Katzen sehr mag, mehr jedenfalls als Hunde. Yamazaki als bekennender Katzenliebhaber jedenfalls fühlt sich hier bestimmt wohl. Apropos... Wo steckt er überhaupt? Suchend sehen sich Kondō und Hijikata um. Es dauert eine Weile, bis sie ihn an einem der hinteren Tische, nahe am Notausgang, entdecken und das liegt auch nur daran, weil er in seinem Parka und den Jeans so ungewohnt aussieht. Dazu die tief ins Gesicht gezogene Kapuze seines Hoodies... Er versucht eindeutig, nicht aufzufallen, nur leider gelingt ihm das diesmal nicht so gut. Er strahlt regelrecht Angst aus, so wie er dasitzt, sich förmlich in sich selbst verkriechend und seinen Armeerucksack schützend auf seinem Schoß umklammernd. Die Panik hat ihn voll im Griff, und das hat eine Siamkatze angelockt, die nun vor ihm auf dem Tisch sitzt und ihn neugierig anmaunzt. Hijikata unterdrückt den Impuls, zu ihm zu rennen und ihn in den Arm zu nehmen. Kondō ist da weniger zurückhaltend, auch wenn er es bei einem kumpelhaften Klaps auf die Schulter belässt. Obwohl Yamazaki das kommen sehen muß, zuckt er bei der Berührung trotzdem kurz zurück. Hijikata bemerkt es mit einem Stirnrunzeln, beschließt aber, dem später auf den Grund zu gehen. Im Moment haben sie dringendere Probleme. „Bist du okay, Zaki? Können wir los?" Zu seiner großen Überraschung schüttelt Yamazaki mit dem Kopf und umklammert seinen Rucksack noch fester. „Ich... kann nicht..." Dabei sieht er jedoch nicht Hijikata oder Kondō an, sondern an ihnen vorbei. Und seine Augen sind so groß und dunkel und voller Angst. Irritiert wirft Hijikata einen Blick über seine Schulter, sieht, wie die beiden Mimawarigumi in ihren strahlendweißen Uniformen das Café betreten und versteht. „Keine Sorge, meine Damen und Herren", erhebt der Jüngere der beiden gönnerhaft die Stimme, „das ist nur eine Personenkontrolle. Zeigen Sie uns Ihre Ausweise und wenn Sie nichts zu verbergen haben, wird alles gut." Wortwahl und der hochmütige Tonfall zeigen, wie wenig er von seinem Job wirklich versteht. Hijikata kann sich ein abfälliges Schnauben nicht verkneifen. Doch dann sieht dieser Schnösel sie und während sein Kollege beginnt, die wenigen Gäste und die Angestellten nach ihren Papieren zu fragen, eilt er direkt auf sie zu. „Kondō-san, Hijikata-san, welche Überraschung. Und so passend." Er grinst kumpelhaft und nestelt sein Mobiltelefon aus seiner Manteltasche. „Ich will euch schon seit drei Wochen etwas fragen. Dieses junge Ding, das auf der Party war, wo habt ihr sie gefunden? Die war ja echt ein Zuckerstück. Wir hätten sie gerne für unsere Weihnachtsfeier." Er hält sein Handy, als erwarte er, Hijikata und Kondō würden jederzeit Nummern mit ihm tauschen. In diesem Moment ähnelt er auf geradezu unheimliche Art und Weise seinem Kommandanten Sasaki, der mit seinem Smartphone regelrecht verwachsen ist und jeden als „Mail-Freund" haben will. „Da war kein Mädchen", erwidert Hijikata ungnädig. Er bezweifelt nicht, dass die von der Mimawarigumi oft und viel feiern, sicher verwechselt der Jungspund da etwas. Und es ist beleidigend zu behaupten, dass die Shinsengumi leichte Mädchen bei ihren Feiern engagiert. Wer so etwas will, soll gefälligst in Yoshiwara oder Kabukicho danach suchen. „Oh?" macht der Junge verdutzt. „Doch", meint er dann hartnäckig und tippt eifrig auf seinem Handy herum. „Natürlich. Warte, ich hab hier ein Video. Da, schau..." Vielsagend hält er Hijikata sein Handy entgegen. Unwillkürlich richtet Hijikata seinen Blick auf das kleine Display und sogar Kondō macht einen neugierigen Schritt nach vorne. Schon die ersten Sekunden verraten ihnen, dass der Junge hier mit einem Porno prahlt. Ein lautes Keuchen schreckt sie auf, aber in diesem Moment sind sie sich nicht sicher, ob es von hinter ihnen oder vom Video stammt. Lautstark schiebt Yamazaki seinen Stuhl zurück und springt auf. „Wir müssen gehen." Der Mimawarigumi-Offizier mustert ihn stirnrunzelnd. „Gehört der zu euch?" „Ja", erwidert Hijikata, froh über die Unterbrechung. „Und er hat recht. Wir müssen wirklich gehen." Mit diesen Worten packt er Yamazaki am Oberarm und drückt sich zusammen mit ihm an dem Jungspund vorbei. Yamazaki folgt ihm so dicht auf den Fersen, dass er seinem Atem deutlich hören kann. Viel zu schnell und viel zu tief. Unwillkürlich befürchtet Hijikata, dass er wieder zu hyperventilieren beginnt und beschleunigt seinen Schritt. „War schön, euch zu sehen", verabschiedet Kondō sich betont fröhlich, als er dem Mimawarigumi-Offizier zum Abschied nochmal auf die Schulter klopft. „Gute Arbeit. Bis zum nächsten Mal." Völlig überrumpelt lässt dieser sie ziehen, doch kurz, bevor sie das Café verlassen, ruft er ihnen noch nach: „Ich schick einfach eine Message an alle!" „Was hat er damit gemeint?" will Kondō wissen, sobald sie draußen sind. „Weiß ich nicht", grummelt Hijikata und zieht Yamazaki Richtung Tiefgarage. „Und es ist mir auch egal. Alles okay?" wendet er sich dann an Yamazaki, der immer noch beunruhigend schnell atmet. Yamazaki ist blaß und auf seiner Stirn glänzt kalter Schweiß, doch er geht nur schneller und nun ist er es, der Hijikata zieht. „Ich will nur weg hier", erklärt er dabei. Er rennt fast die Treppe zur Tiefgarage hinunter und ist als erster am und im Funkwagen. Kondō und Hijikata werfen sich einen kurzen Blick zu, verzichten jedoch auf ein Kommentar. Wie schon auf der Hinfahrt setzt sich Kondō jetzt auch wieder hinters Steuer, während sich Hijikata - nach einem kurzen, inneren Zögern - auf den Beifahrersitz setzt. Sein erster Impuls sah vor, dass er zu Yamazaki nach hinten geht und ihn ganz fest in den Arm nimmt, aber das wäre für sie beide nun doch zu peinlich geworden. Stattdessen wirft er, während Kondō das Auto aus der Tiefgarage fährt, einen Blick über die Schulter nach hinten. „Geht's wieder besser?" Yamazaki umklammert immer noch seinen Rucksack als wäre es sein kostbarster Besitz auf dieser Welt. „Will nur hier weg...", murmelt er dabei, immer noch atemlos. Es wird aber langsam besser, wie Hijikata erleichtert feststellt. „Ich kann die Weißröcke nicht ausstehen", fügt Yamazaki dann noch ungewohnt heftig hinzu. „Wegen dem, was auf der Feier passiert ist?" hakt Hijikata vorsichtig nach. Ihn beschleicht allmählich das unangenehme Gefühl, dass es da nicht nur um Faustschläge ins Gesicht und gemeine Worte ging. Yamazaki rollt sich quasi um seinen Rucksack herum zusammen. „Sie sind einfach da aufgetaucht“, erklärt er dabei, ohne auf Hijikatas Frage einzugehen. „Haben die ganze Operation versaut. Wenn sie die Wohnung finden und in den Kühlschrank sehen, werden sie meine Anpan entdecken und wissen, dass ich da war... Ich hätte es vernichten müssen. Tut mir leid." „Wen interessiert's?" schnaubt Hijikata nur und winkt betont gleichgültig ab. „Die haben uns ins Handwerk gepfuscht, nicht umgekehrt. Kondō-san wird deswegen Beschwerde bei Matsudaira einreichen, nicht wahr?" „Natürlich", stimmt ihm Kondō sofort zu. „Es ist nicht deine Schuld, Zaki. Du hast alles richtig gemacht." Yamazaki bedankt sich mit einem kleinen Lächeln. „Ich schreibe den Bericht, sobald ich im Hauptquartier bin." „Das hat keine Eile", winkt Kondō sofort ab. Für eine Weile herrscht Schweigen im Auto, das für einen kurzen Moment noch einmal sehr angespannt wird, als sie die Straßensperre an der Kreuzung passieren, aber sie werden anstandslos durchgelassen. Yamazaki atmet hörbar auf. „Du benimmst dich wie ein Krimineller", schmunzelt Hijikata. „Ich mag sie eben nicht", kommt es leise zurück. Hijikata will gerade etwas Witziges darauf erwidern, da klingeln sein und Kondōs Handy gleichzeitig. Überrascht runzelt Kondō die Stirn, aber da er fahren muss, lässt er sein Handy stecken. „Was ist das?" fragt er Hijikata neugierig, während dieser sein Smartphone herausnestelt. Der wirft nur einen Blick darauf und stöhnt auf. „Ich fasse es nicht. Dieser Schwachkopf hat mir tatsächlich das Video geschickt.Und er fragt auch noch dreist, ob wir ihm ihre Nummer geben." Ungefragt langt er in Kondōs Jackentasche, holt dessen Handy heraus und ächzt, nach einem schnellen Blick aufs Display, noch einmal auf. „Dir auch. - Und was ist mit dir, Zaki?" fragt er mit einem Blick nach hinten. Es kommt keine Antwort, aber ein Blick in Yamazakis entsetztes Gesicht und wie das Handy in seinen Händen zittert, genügt. Fassungslos schüttelt Kondō den Kopf. „Woher haben die unsere Nummern?" „Will ich gar nicht wissen", erwidert Hijikara zähneknirschend. „Ich besorg mir eine neue. -Oi, Zaki! Siehst du dir das etwa an? Bist du pervers, oder was?" „Ich... nein", stammelt Yamazaki und lässt sein Handy schnell wieder in seiner Tasche verschwinden. Aber seine Wangen sind verdächtig rot geworden. „Ich glaub, unser Zaki braucht eine Freundin", erklärt Kondō in einem neckischen Singsang und wirft einen grinsenden Blick in den Rückspiegel. Yamazaki wird knallrot und umschlingt seinen Rucksack noch fester. Und plötzlich sieht er aus, als wäre er den Tränen nahe. „Kondō, lass das", tadelnd schnalzt Hijikata mit der Zunge und wechselt das Thema. „Du hast sicherlich Hunger, Zaki. Wir haben bestimmt noch etwas Miso-Suppe übrig. Aber wenn du willst, können wir auch schnell am nächsten Supermarkt halten und etwas kaufen." Yamazaki schüttelt den Kopf. „Können wir bitte einfach nur nach Hause?" Hijikata dreht sich diesmal etwas länger um und mustert ihn zum ersten Mal genauer. Ist er dünner geworden? Auf jeden Fall hat er sich wieder zwei schöne, dunkle Augenringe herangezüchtet. „Gut", entscheidet er dann. „Fahren wir ohne Umwege ins Hauptquartier. Wo du mir mündlich Bericht erstattest - bei einer Miso-Suppe. Und das ist ein Befehl." Yamazaki nickt kleinlaut. „Hai, Fukuchō."       Yamazaki ißt wie ein Spatz. Und er braucht eine ganze Viertelstunde für eine lächerliche Schale. Und sein mündlicher Bericht danach unterscheidet sich nicht von seinen schriftlichen: kurz, knapp, präzise und absolut sachlich. So absolut untypisch. Doch innerlich ist er ein Wrack. In seinen Augen liegt immer noch dieselbe Leere wie vor einigen Tagen. Doch diesmal flackert auch nackte, mühsam unterdrückte Panik in ihnen. Und während er mit dieser tonlosen, leisen Stimme spricht, spielt er unablässig mit dem silbernen Kettchen an seinem Handgelenk herum. Je länger er ihm gegenübersitzt, desto mehr schnürt es Hijikata die Kehle zu. Der arme Junge braucht dringend Urlaub. Zum Glück ist morgen Heilig Abend und danach fangen die Feiertage an. Zwar gibt es für die Shinsengumi keine Feiertage per se, doch Urlaub steht jedem zu, also ist über die Feiertage das Hauptquartier nur zur Hälfte besetzt. Und Yamazaki als einer der wenigen, der hier auch wohnt und lebt, wird in einem eher stillen Hauptquartier hoffentlich jene Ruhe finden, die er so dringend nötig hat. Obwohl noch viele Fragen offen stehen, vor allem die, was zum Teufel mit Yamazaki eigentlich los ist, stellt er sie nicht und schickt seinen Spion einfach ins Büro, um seinen Bericht zu schreiben. Danach will er ihm frei geben, aber das will er ihm erst später sagen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Nachdem er Yamazaki fortgeschickt hat, sitzt Hijikata noch eine Weile im Speisesaal, raucht und spielt, tief in Gedanken versunken, mit der leeren Miso-Schüssel herum. Eine laute Stimme, gefolgt von einem Lachen holt ihn zurück ins hier und jetzt. Er blinzelt verdutzt und muss zu seiner großen Überraschung feststellen, dass er wohl länger da gesessen hat als gedacht, denn der Speisesaal füllt sich allmählich mit den ersten Mittagsgästen. „Ja, ein süsses Ding", hört er jemanden sagen. „Aber ein Gangbang? Danke nein, nichts für mich." „So sind sie eben, die Flachzangen von der Mimawarigumi. Kriegen nichts allein geregelt." „Leute, also, für mich sah das nicht freiwillig aus." „Sag ich ja. Nur Gewalt und Zwang, mehr kennen die nicht." „Selbst wenn ich ihre Nummer hätte, würde ich sie denen bestimmt nicht geben." Entsetzt hebt Hijikata den Kopf. Das Video. Sie reden übers Video. Oh nein, bedeutet das etwa, es wurde an alle hier verschickt? Entschlossen springt er auf. Diesem moralischen Verfall muss sofort Einhalt geboten werden.       Tetsunosuke fühlt sich sehr unwohl. Yamazaki sitzt wieder an seinem gewohnten Schreibtisch, denselben, an den Tetsu in den letzten Tagen saß und arbeitet an seinen Missionsberichten. Eigentlich sollte er schon längst damit fertig sein. Nun, man kann nicht arbeiten, wenn man weint. Er versucht es zu verbergen, aber Tetsunosuke hört sein Schniefen und sieht, wie er sich immer wieder über die Augen wischt. Tetsu wollte ihn vorsichtig darauf ansprechen, aber Yamazaki hat nur gelächelt und Tetsunosuke will sich nicht aufdrängen. Er kann mit weinenden Menschen schlecht umgehen und will es nicht noch schlimmer machen. „War Hijikata wieder gemein zu dir?" ist das einzige, was er ihn ganz zu Anfang zu fragen wagte. Aber Yamazaki schüttelte daraufhin so heftig mit dem Kopf, dass er ihm sofort glaubte, als er ihm versicherte, dass Hijikata nichts damit zu tun hätte. Ehrlich gesagt, konnte sich Tetsunosuke das auch nicht vorstellen, aber er musste das fragen. Seitdem haben sie nicht viel miteinander geredet, aber Tetsunosuke reicht ihm immer mal wieder neue Taschentücher, ab und an auch mal einen Tee und versucht, ihm das Gefühl zu vermitteln, dass er jederzeit für ihn da ist. Er kann mit Tränen eben wirklich schlecht umgehen. Yamazaki hat sich gerade wieder etwas gefasst, da betritt Hijikata mit einem Wäschekorb voller Smartphones das Büro. „Zaki..." Er legt den Korb auf seinem Schreibtisch ab, stutzt dann aber, als er Yamazakis rote Augen sieht. „Alles in Ordnung?" Yamazaki schenkt ihm ein kleines Lächeln, eines dieser Art, das er nur Hijikata zeigt und das allen hier immer wieder verrät, wie tief seine Gefühle für seinen Vizekommandanten wirklich sind. Ich würde alles für dich tun, verspricht dieses Lächeln. Tetsunosuke weiß nicht, wieso Hijikata es nie erkennt. „Hai, Fukuchō. Was hast du da für mich?" Hijikata zögert kaum merklich. „Hier sind die Handys aller Männer“, erklärt er dann in einem ungewohnt sanften Tonfall. „Kannst du sie bitte auf dieses Video untersuchen und es dann so löschen, dass es restlos verschwunden ist?" „Warum konnten die das nicht selbst, warum muss ich ...“ begehrt Yamazaki zuerst auf, verstummt dann aber mitten im Satz, schluckt einmal und senkt dann gehorsam den Kopf. „Hai, Fukuchō." Zögernd legt ihm Hijikata eine Hand auf die Schulter und drückt, als Yamazaki nicht unter dieser Berührung zusammenzuckt, einmal kurz zu. „Danke, Zaki. Du bist der einzige, dem ich damit vertraue. Ich weiß nicht, ob die Männer die Datei nicht irgendwo verstecken und nur behaupten, sie hätten sie gelöscht.“ Yamazaki nickt verstehend und fischt sich das erste Handy aus dem Haufen heraus. „Kann ich vielleicht helfen?" bietet sich Tetsunosuke eifrig an. „Mit Handys kenne ich mich aus.“ „Nein, Tetsu“, wehrt Hijikata ungewohnt scharf ab. „Dafür bist du noch zu jung." Tetsunosuke zieht eine Schnute, gibt sich aber widerspruchslos geschlagen. Vorerst. Wenn Hijikata den Raum verlassen hat, wird er Yamazaki trotzdem dabei helfen, egal, was Hijikata sagt. Im Moment begnügt er sich damit, aus einem Schrank einen Pappkarton zu holen, um dort die „bereinigten“ Handys zu sammeln. „Zaki...“, beginnt Hijikata vorsichtig, „... sag mal, kann es sein, dass du das Mädchen kennst?“ Yamazakis Finger über einem Display stockt kurz und sekundenlang scheint er mit sich zu kämpfen, doch dann nickt er. „Flüchtig“, gibt er leise zu. „Ich kann dir versichern, dass sie das nicht freiwillig gemacht hat.“ „Hat sie es der Polizei gemeldet?“ Yamazaki lacht einmal kurz und bitter auf. „Ihr Wort gegen das von sechs Adligen von der Mimawarigumi? Das wäre sozialer Selbstmord.“ Hijikatas Wangenmuskeln verspannen sich kurz und seine blauen Augen werden schmal. Seine Hände ballen sich zu Fäusten und öffnen sich dann wieder, als er die angehaltene Luft mit einem leisen Zischen wieder ausstößt. Er ist nicht der einzige, den so etwas wütend macht. Auch Tetsunosuke, der nur still danebensteht und die Ohren spitzt, fühlt, wie es in ihm brodelt. Er muss die Details nicht wissen, um zu verstehen, worum es geht. Es ist immer dasselbe mit diesen Adligen. Sie nehmen sich, was sie wollen und kommen ungestraft damit davon. „Ich verstehe... brauchst du etwas Zeit, möchtest du dich um sie kümmern? Können wir dir irgendwie dabei helfen?“ „Huh?“ verdattert starrt Yamazaki seinen Vizekommandanten an, und dann schleicht sich eine verlegene Röte auf seine Wangen. „Nein, danke, so eng bin ich nicht mit ihr. Sie kommt erstaunlich gut selbst zurecht. Sie ist verdammt stark, verstehst du? Sie hat ihren Traumjob, in den sie sich voll reinhängt. Der und ihre Kollegen und Freunde geben ihr Halt. Sie packt das schon. Nur dieses Video...“ düster starrt er auf das Smartphone in seinen Händen, „... wenn das viral geht, wenn sie jemand darauf erkennt... das ist, als würde man sie erneut ...“ seine Stimme bricht. Verärgert über sich selbst, wischt er sich über die nassen Augen und drückt dann entschlossen auf die Löschtaste, bevor er das Handy in die von Tetsunosuke gehaltene Box legt. „Fukuchō... Kann Matsudaira nicht etwas dagegen unternehmen? Ihnen wenigstens ein Disziplinarverfahren anhängen oder so?“ „Ich werde Kondō fragen, ob er den Alten darum bittet, bezweifel aber, dass viel dabei herauskommt.“ „Ja“, murmelt Yamazaki düster, „ich auch.“     Kapitel 9: Vergangenheit – 25. Dezember – Verkleide dich als Frau, wenn du deinen Vizekommandanten durcheinander bringen willst ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- „Zaki...“ schwungvoll öffnet Hijikata den Fusama und erstarrt dann regelrecht auf der Schwelle. „Wow...“, bricht es aus ihm heraus, gefolgt von einem erstickten: „Was?“ und einem hastigen: „Sumimasen.“ Dann versagt ihm die Stimme. Fassungslos starrt er auf den Anblick, der sich ihm bietet. Zuerst wird er geblendet von dem schimmernden, kunstvoll bestickten blau-goldenen Kimono, dann wandert sein Blick über einen schmalen, zarten Nacken, der plötzlich von einem wahren Wasserfall von kastanienrotem Haar verdeckt wird, als die Person, zu der diese Haare gehören, bei seinem Eintreten die Hände vom Hinterkopf nimmt. „Oh. Fukuchō.“ Mit einem strahlenden Lächeln dreht sich Yamazaki zu ihm um. „Ich probiere gerade meine neueste Verkleidung aus. Was meinst du? Haare offen oder lieber einen Zopf?“ Vielsagend hält er sich die Haare wieder zusammen. Hijikata starrt ihn für volle zehn Sekunden einfach nur an. Wahnsinn, ist das einzige, was ihm durch den Kopf schießt. Immer wieder und wieder. In einer richtigen Endlosschleife. „Ich...“, bringt er schließlich mit trockener Kehle heraus und räuspert sich ein paar Mal. „Haare offen, definitiv.“ Niemand außer mir darf diesen Nacken je wieder sehen, fährt es ihm in einem plötzlichen Anfall von Eifersucht durch den Sinn. Bewundernd lässt er seine Blicke jetzt ganz offen über die Gestalt seines Spions wandern. Yamazaki hat einen verdammt guten Geschmack und er weiß genau, wie er etwas tragen muß, um wie eine täuschend echte Frau auszusehen. Und eine bezaubernd hübsche noch dazu. Nur die beiden Wakizashi in seinem Obi stören das Gesamtbild etwas. Doch weil es genau jene Kurzschwerter sind, die Kondō, Okita und er ihm heute zu Weihnachten geschenkt haben, sieht er über diesen kleinen Stilbruch großzügig hinweg. Yamazaki ist ganz vernarrt in die Dinger, er hat sie seitdem nicht ein einziges Mal mehr aus der Hand gelegt. Und in seinen Augen liegt jetzt wieder dieses schwache Glitzern, das Hijikata seit Langem so schmerzlich vermisst hat. „Hm“, macht Yamazaki plötzlich, zieht sich die Perücke vom Kopf und fährt sich mit gespreizten Fingern durch sein nackenlanges, schwarzes Haar. Und für einen Augenblick vergißt Hijikata glatt das Atmen. „Wärst du eine Frau, würde ich dich sofort um ein Date bitten“, platzt es ungewollt aus ihm heraus. „Oh?“ Verschämt senkt Yamazaki den Kopf, während ihm das Rot in die Wangen kriecht. Bezaubernd. Bezaubernd. Bezaubernd. Hijikata räuspert sich einmal. „Wie auch immer“, meint er dann betont forsch und mit sehr, sehr rauher Stimme. „Mach dich fertig. Wir müssen auf Patrouille.“ Noch ein letztes Mal läßt er seine Blicke über Yamazakis Gestalt wandern, dann reißt er sich regelrecht von diesem Anblick los und wirbelt auf dem Absatz herum. „Ich warte draußen. Beeil dich.“     Yamazaki ist daran schuld, wenn er noch zum Kettenraucher wird. Ziemlich unglücklich über das Durcheinander, das plötzlich in ihm tobt, saugt Hijikata an seiner dritten Zigarette innerhalb von fünfzehn Minuten. Aber ihm geht dieser Anblick einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ich will das nicht. Nicht schon wieder. Er ist mein Untergebener. Mein FREUND. Leider ist irgend etwas in ihm da anderer Meinung und plötzlich sind all diese Gefühle wieder da, die er damals hatte, als der Dekoboko-Kult alle Männer in Frauen und alle Frauen in Männer verwandelte und er Yamazaki zum ersten Mal in seiner weiblichen Gestalt sah. Es war merkwürdig, unter all den Sexbomben, in die sich die Männer der Shinsengumi auf einmal verwandelt hatten, war Yamazaki bestenfalls niedlich – zu gewöhnlich, zu kleine Brüste, im Gesicht immer noch zu sehr Sagaru – aber Hijikata bekam jedes Mal Herzklopfen, wenn er ihn sah. Weshalb er ihn mied, so gut es ging. Und er hatte weiß Gott genug eigene Probleme, als sich auch noch damit herum zu plagen. (Er war dick, wurde deswegen vor allem von Sōgo gemobbt und litt sehr darunter, aber das verdrängt er erfolgreich.) Hijikata hat schwer gekämpft, um auf der freundschaftlichen Basis zu bleiben und seit sie wieder Männer sind, kein einziges Mal mehr daran gedacht. Bis auf heute. Er wirft einen verstohlenen Seitenblick zu dem jungen Mann neben sich. Es schneit, und der Anblick der Schneeflocken, die sich in Yamazakis Haaren und Wimpern verfangen ist für sein Herz genauso Gift wie die Fellmütze, der Schal und der lange Shinsengumi-Mantel, alles so stinknormale, langweilige Sachen, die Yamazaki überraschend gut stehen. Hijikata beißt die Zähne zusammen und dabei seine Zigarette entzwei. Während er die Einzelteile angewidert ausspuckt, fragt er sich, was er den Göttern bitteschön angetan hat, dass sie ihn so bestrafen? Oder bricht etwas in seinem Inneren jetzt einfach nur zusammen, weil er sich in den letzten dreieinhalb Wochen unterschwellig ständig Sorgen um Yamazaki machen musste und er jetzt, wo sich alles wieder zum Besseren wendet, wieder etwas lockerer lassen kann? Bah, nein. Ich hätte nur einfach nicht Kondōs verdammten Glühwein trinken sollen. Er zwingt sich dazu, an etwas anderes zu denken und sich auf die Umgebung zu konzentrieren. Sie sind noch nicht weit vom Hauptquartier entfernt, aber weil heute Feiertag ist, sind nur wenige auf den Straßen. Der wenige Zentimeter hohe Neuschnee verleiht allem einen feierlichem Flair und zum ersten Mal fühlt es sich wirklich an wie Weihnachten. Von allen importierten, neuartigen Festen ist ihm Weihnachten das Liebste. Wer mag das nicht? Anderen mit kleinen Geschenken eine Freude zu machen, selbst beschenkt zu werden, gutes Essen, mit Freunden, mit der Familie zusammen zu sitzen und Glühwein zu trinken? Gut, früher fand er es einfach nur lästig, aber seitdem er herausgefunden hat, dass es Menschen gibt, die sich über kleine Aufmerksamkeiten einen wahren Wolf freuen können, macht es ihm Spaß, die richtigen, die passenden Geschenke herauszufinden und zu verteilen. Sein „Lieblingsopfer“ seit fast genau zwei Jahren ist dabei Yamazaki Sagaru. Das silberne Armkettchen war das erste, gefolgt von weniger extravaganten und eher praktischen Geschenken wie die Bücher, die er unbedingt haben wollte oder ein neues Badminton-Set, aber jetzt wollte er ihm unbedingt etwas ganz besonderes schenken, also haben er, Kondō und Okita für diese Wakizashi zusammengelegt und die Freude in Yamazakis Gesicht war das Schönste, was er seit langem gesehen hatte. Abgesehen von Yamazakis Nacken natürlich. Urgh. Ganz falscher Gedankengang. Der Geruch von gerösteten Maronen steigt ihnen in die Nase, und als der dazugehörige Imbiß vor ihnen auftaucht, gibt Hijikata seinem Impuls nach und kauft eine große Portion, die er Yamazaki wortlos in die Hand drückt. Dann setzen sie sich auf die kleine Bank davor. Da sie die einzigen Kunden sind, bleiben sie ungestört. Während Yamazaki die Maronen isst, sieht Hijikata ihm dabei aufmerksam zu und es dauert nicht lange, bis Yamazaki das irritiert. „Fukuchō, bitte... starr mich doch nicht so an.“ „Ach, es ist nur gut, dich essen zu sehen“, gibt Hijikata in einem Anfall von Sentimentalität zu. „Ich habe mir schon Sorgen gemacht.“ „Gomen“, Yamazaki verbeugt sich kurz im Sitzen. „Ich war in letzter Zeit nicht ganz ich selbst. Aber das ist vorbei.“ „Ist es das?“ „Ja. Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe.“ Den letzten Satz murmelt er nur. „Bitte?“ fragt Hijikata stirnrunzelnd, der zwar die Worte gehört aber deren Sinn nicht verstanden hat. „Nicht wichtig“, winkt Yamazaki hastig ab und wechselt schnell das Thema. „Gefällt dir der Schal?“ Unwillkürlich zupft sich Hijikata besagten Schal zurecht. „Ja, danke.“ „Das Blau betont deine Augen. Und die eingestickten Glückssymbole werden dich beschützen. War echt mühsam, aber ich glaube, es hat sich gelohnt.“ „Du hast den selbst genäht?“ Yamazaki nickt nur stolz. Hijikata starrt erst ihn verblüfft an und dann den Schal. Mit zunehmender Ehrfurcht betastet er die filigranen, goldenen Stickereien. „Erstaunlich. Wann hast du das gelernt? Und vor allem: wann hattest du die Zeit dazu?“ Yamazaki lächelt nur verschmitzt. „Ich habe so meine kleinen Geheimnisse...“ In der Tat. Aber so sehr er es auch versucht: es will Hijikata nicht gelingen, sich Yamazaki mit Nadel und Faden vorzustellen. Außer, wenn er seine Erste-Hilfe-Kenntnisse herauskramt und den Sanitäter mimt. „Hat dir deine kleine Freundin dabei geholfen?“ Yamazaki zerbeißt krachend eine Marone und zwinkert ihm zu. „Vielleicht ein bißchen...“ Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wirkt er richtiggehend vergnügt. „Du kannst sie jederzeit besuchen, wenn du möchtest.“ Aber Yamazaki schüttelt nur mit dem Kopf. „Sie ist zur Zeit bei dem Mann, den sie liebt. Da würde ich nur stören.“ Sie hat also einen Freund? Hijikata weiß nicht, warum ihn das so erleichtert – außer dem offensichtlichem Grund vielleicht, dass es einfach besser ist, wenn man in ihrer Situation zu dieser Jahreszeit nicht allein ist. „Dann ist's ja gut. Woher kennst du sie eigentlich?“ „Hm … Erinnerst du dich noch an den Dekoboko-Kult? Als alle schon zurückverwandelt wurden, nur wir nicht und wir dann in Kabukicho gearbeitet haben? Ihr habt mich immer losgeschickt, um Damenbinden und Tampons zu besorgen.“ Hijikata spürt, wie ihm bei diesen beiden Worten das Blut ins Gesicht schießt und fragt sich unwillkürlich, wieso Yamazaki so locker darüber reden kann. Aber der wird ja nicht einmal ein kleines bisschen Rot. „Als ich zum ersten Mal ratlos vor dieser riesigen Auswahl stand, hat sie mir geholfen. Sie arbeitet für eine Werbefirma und war für eine Fotoaktion da. Sie sagte sogar, ich sei ziemlich fotogen.“ „Shisako war ja auch richtig niedlich.“ „Danke. Aber wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Ich sehe in jedem Geschlecht langweilig aus. Aber das hilft mir in meinem Job.“ „Red keinen Blödsinn!“ Aus irgend einem Grund wird Hijikata richtig wütend, als er ihn so reden hört. „Shisako war niedlich. Und du wärst es auch, wenn du aufhören würdest, dir diese Augenringe zu züchten.“ „Oi, Augenringe sind die einzigen Ringe, die ich jemals in meinem Leben bekommen werde, also sag nichts gegen meine Augenringe.“ Das klingt so … so … Hijikata fehlen für einen Moment glatt die Worte. „Du redest heute wirklich viel Blödsinn“, schnaubt er schließlich. Zu seiner großen Überraschung kichert Yamazaki nur und schiebt ihm als Friedensangebot die Maronentüte zu. Und nur, damit Yamazaki selbst nicht aufhört zu essen, nimmt sich Hijikata auch eine. Natürlich zückt er erst seine Mayonnaiseflasche und garniert sie großzügig mit der weißen Köstlichkeit – von Yamazaki dabei belustigt beäugt - bevor er sie isst. Dann, ganz plötzlich, hält ihm Yamazaki eine Marone entgegen. „Kann ich es auch mal mit Mayo probieren?“ Glücklich, dass es endlich jemanden gibt, der bereit ist, ihm – vielleicht – auf dem Weg des Mayonnaise-Abhängigen zu folgen, kommt Hijikata dieser Bitte nach. Er beobachtet Yamazakis Miene ganz genau, als dieser das Experiment wagt und er sieht den Moment, als Yamazakis Geschmacksknospen geradezu überwältigt werden. „Das schmeckt wirklich gut“, ruft Yamazaki erstaunt aus. „Sag ich doch“, nickt Hijikata selbstzufrieden, lehnt sich über den Tisch und wischt ihm mit dem Daumen einen Mayonnaisetropfen aus dem Mundwinkel. Ohne genauer darüber nachzudenken, führt er den Daumen dann zu seinem eigenen Mund und leckt ihn ab. Erst Yamazakis entgeisterter Blick macht ihn darauf aufmerksam, dass er soeben einen riesengroßen Fauxpas begangen hat. Doch dann zuckt doch nur ein kleines Lächeln um Yamazakis Lippen und er widmet sich dem kläglichen Rest seiner Maronen (mit Mayonnaise), als wäre nichts geschehen. Und Hijikata ist ihm dafür sehr, sehr dankbar.       Als sie eine Stunde später von ihrer Patrouille zurückkehren, bringt Hijikata seinen Spion bis zu dessen Zimmertür, bevor er sich von ihm verabschiedet – als wäre dies hier ein Date. Doch er ist schon wieder in seinem eigenen Quartier, als ihm das auffällt. Ja, er wird definitiv nie wieder Kondōs Glühwein trinken. Denn eines ist mal sicher: Okita muss ihm bei der Zubereitung geholfen und irgend welche komischen Drogen dazugemischt haben.     Kapitel 10: Gegenwart – 3. Januarwoche – 20. Januar, Tag X – Der Elefant im Raum wird kleiner, je mehr man sich auf ihn konzentriert ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------   Sie sind gerade mal eine halbe Stunde im Krankenzimmer, als Kondō langsam unruhig wird. Diese drückende Atmosphäre im Raum verunsichert ihn und außerdem bekommt er langsam das Gefühl, dass sie Tōshi und Shi-chan allein lassen sollten. Die beiden haben bestimmt einiges zu klären und sie stören nur dabei. Und so drückt er noch ein letztes Mal Shi-chans Hand, räuspert sich einmal und erhebt sich aus diesem unbequemen Besucherstuhl. „Ich sollte gehen. Ich habe noch einiges zu tun.“ „Kondō-san...“ mit einem überraschend starken Griff hält Yamazaki ihn am Handgelenk zurück. „Kannst du mir ein paar Klamotten holen? Ich würde lieber in meinen eigenen Sachen hier liegen als in diesem dünnen Hemdchen.“ „Natürlich. Gerne.“ „Und … ahem... packst du eine Packung ordentliche Binden mit ein?“ Shisako ist die ganze Sache sichtbar unangenehm, aber sie schafft es trotzdem, Kondō tapfer in die Augen zu sehen. „Das, was die hier haben ist echt … ich fühl mich einfach nicht wohl damit...“ Kondō ist hochrot im Gesicht, doch er schafft ein kleines Lächeln. „Natürlich. Gerne.“ „Es“, sie holt einmal tief Luft, „...im Einbauschrank liegt eine Box, auf der Steuerunterlagen steht, da drin findest du alles.“ Kondō nickt. Er ist nicht der einzige im Raum, dem die Verlegenheit das Blut ins Gesicht getrieben hat. Sogar Okitas Wagen ziert eine leichte Röte. Und Tetsunosuke neben ihm wird rot wie eine Tomate, weil er sich an diese besagte Schachtel sehr gut erinnert. Er hat sie bei seiner angeordneten Zimmerdurchsuchung gesehen und jetzt fragt er sich, was wohl geschehen wäre, wenn er hineingesehen hätte. Ob das irgend etwas von dem, was danach geschah, verhindert hätte. Aber irgend etwas in ihm bezweifelt das. Außerdem – wer sieht schon in eine Box, auf der „Steuerunterlagen“ steht? „Ich bleibe hier“, erklärt Hijikata, ebenfalls mit einer zarten Röte auf seinen Wangen, aber dafür mit einer sehr entschiedenen Miene. Als ob es irgend jemand hier wagen würde, ihm zu widersprechen! Und so verabschieden sich Kondō, Okita und Tetsunosuke von ihrem Spion und versprühen dabei den typischen, erzwungenen Optimismus, wie jeder, der einen geliebten Menschen in der Obhut des Krankenhauspersonals zurücklassen muß und dennoch zugleich erleichtert ist, dass man nicht selbst hier liegt. Yamazaki schnauft einmal, als sich die Tür hinter den dreien geschlossen hat und meint dann sarkastisch: „Es war schon immer mein heimlicher Wunsch, dass mein Kyokuchō in meiner Unterwäsche kramt.“ Hijikata schmunzelt nur und streichelt sanft über die Hand, die in seiner liegt. Er sitzt noch immer auf der Bettkante und mustert Yamazakis Miene vor sich besorgt. Ein Teil von ihm wird diese Erinnerung von diesem totenblassen, leblosen Gesicht nicht los. Auch jetzt noch erscheint ihm Yamazakis Gesichtsfarbe viel zu weiß, die Augen zu groß und zu dunkel und die Finger in seinen viel zu zerbrechlich. Dass er mindestens genauso intensiv gemustert wird, wie er Yamazaki mustert, wird ihm erst bewußt, als diese sanfte, leise Stimme an seine Ohren dringt. „Danke, dass du bei mir bleibst. Ich weiß, du hasst Krankenhäuser...“ „Ich kann dich doch jetzt nicht alleine lassen“, entgegnet Hijikata entsetzt und drückt dabei – ohne sich dessen bewußt zu sein - Yamazakis Hand in einer geradezu verzweifelt anmutenden Geste an seine Brust. „Ich habe dich so oft im Stich gelassen. Am Bônenkai. Und danach. Und das ganze letzte Jahr. Das passiert mir nie wieder. Das schwöre ich dir. Ab sofort bin ich immer und jederzeit für dich da.“ Shisako nickt nur stumm, aber in ihren Augen liegt leiser Zweifel und Hijikata kann es ihr wirklich nicht verübeln. Aus ihrem Augenwinkel löst sich eine Träne und ohne groß darüber nachzudenken, wischt er sie ihr fort. „Warum hast du nie etwas gesagt?“ erkundigt er sich schließlich leise und nur mit einem kleinen Hauch von Vorwurf. Sie schnieft einmal und fährt sich mit der freien Hand über die nassen Augen. „Über das, was beim Bônenkai passiert ist oder darüber, dass ich eine Frau bin?“ „Beides.“ Sie schweigt einen Moment und starrt einfach nur reglos vor sich in die Luft. „Ich konnte es nicht“, meint sie schließlich und klingt dabei so verloren, dass Hijikata sie gerne in die Arme genommen hätte. Aber er ist nicht Kondō. Wenn es darum geht, seine Gefühle auszudrücken, war er schon immer etwas hilflos. Vor allem gegenüber Frauen. Das einzige, was er sich in diesem Moment traut, ist, ihre Hand zu halten und einen kleinen Kuß auf den Handrücken zu drücken. „Ich wollte es, aber … Erinnerst du dich noch an den Tag, als ihr von eurem kleinen Weltraumausflug zurückkamt, alle wieder in euren normalen, ach so männlichen Körpern? Und ich stand mit dem Besen im Hof?“ „Nicht wirklich...“, gesteht er nach einem Augenblick angestrengten Nachdenkens beschämt. „Eben“, kommt es schnippisch und zugleich traurig zurück. „Ich trug nur einen Yukata und hatte einen Pferdeschwanz. Und du siehst mir mitten ins Gesicht und sagst: Zaki, hol mir Zigaretten. Da wurde mir klar, dass ich nur darauf achten muß, dass mich niemand von euch nackt sieht, um weiter Yamazaki Sagaru für euch zu sein. Ein weiter Hoodie in der Freizeit und die Uniformjacke immer offen tragen, damit meine Brüste nicht auffallen, die glücklicherweise ziemlich klein sind. Und meine Hüften sind zum Glück nicht sehr breit. Ihr erwartet, Yamazaki Sagaru zu sehen, wenn ihr mich anseht, also, wenn ich nicht auffalle, nicht mehr aus der Reihe tanzen, also kein Badminton mehr im Hauptquartier spiele, immer schön in der Menge untertauche, dann seht ihr alle wirklich nur den guten, alten, langweiligen Yamazaki Sagaru. Okay, es hat auch geholfen, daß ich meine Missionen immer mit meinen monatlichen Beschwerden abgestimmt habe“, um ihre Lippen zuckt ein grimmiges Lächeln und in diesem Moment begreift er, dass sie mit voller Absicht dieses Frauenthema anspricht. Genau wie vorhin bei ihrer Bitte an Kondō. Es ist ihr peinlich und unangenehm, aber es verschafft ihr auch eine gewisse Genugtuung. Und das kann er ihr wirklich nicht verübeln. „Mit Unterleibskrämpfen in einem verlassenen Drecksloch zu hocken ist wirklich tausendmal besser, als im Hauptquartier so zu tun, als wäre alles in Ordnung.“ „Es tut mir leid“, entschuldigt er sich ehrlich. Er fühlt sich schuldig, schließlich war er selbst mal kurzzeitig eine Frau und hat all diese Unpässlichkeiten am eigenen Leibe erlebt, aber anscheinend ohne wirklich etwas daraus gelernt zu haben. Nicht ein einziges Mal hat er in den letzten Stunden ernsthaft darüber nachgedacht, was dieses letzte Jahr wirklich für Yamazaki bedeutet haben muß. „Aber es war auch praktisch“, fährt sie grimmig fort, „denn als Frau kommst du viel einfacher und schneller an Informationen heran.“ „Es tut mir leid.“ „Dich trifft keine Schuld. Ich bin nun einmal, egal ob als Mann oder als Frau so langweilig, dass man mich vergisst, so lange ich nicht direkt vor einem stehe. Wenigstens hatte ich im letzten Jahr mehr Erfolge als je zuvor.“ Hijikata würde ihr gerne widersprechen und ihr sagen, dass gerade diese Gewöhnlichkeit ihren Reiz ausmacht, aber er bezweifelt, dass sie ihm das glauben würde. Dann wird ihm bewußt, was sie noch gesagt hat und sofort zieht sich etwas in ihm schmerzhaft zusammen. Er zögert, doch dann platzt es aus ihm heraus: „Hast du mit den Zielpersonen -“ Mitten im Satz wird ihm bewußt, was er da fragt. Erschrocken hält er inne, doch sie zeigt nur wieder dieses grimmige Lächeln. „Ob ich mit ihnen geschlafen habe? Nein. Ich hatte mehr als eine Gelegenheit dazu, aber ich bin ein anständiges Mädchen.“ Von einem Moment zum anderen kippt ihre Stimmung völlig. Ihre spöttisch-grimmige Fassade reißt und darunter ist sie nur verletzt und todunglücklich. Plötzlich kämpft sie mit den Tränen. „Zumindest war ich das...“ Ihre Stimme zittert und Hijikata fühlt sich furchtbar, als er hilflos mit ansehen muß, wie sie so qualvoll langsam vor ihm zusammenbricht. „Es tut mir leid.“ Sie schüttelt den Kopf, aber nicht, weil sie seine Entschuldigung nicht akzeptiert, sondern, weil sie gerade um den letzten Rest ihrer Fassung kämpft. Es ist ein verlorener Kampf. „Fukuchō... kannst du nicht einfach vergessen, dass ich eine Frau bin und mich einfach nur als Zaki sehen?“ Doch, das kann er machen. Und so lehnt er sich nur zu ihr herunter und nimmt sie ganz fest in seine Arme.       Erstaunlicherweise, stellt Kondō bei sich fest, hat er überhaupt keine Probleme damit, in Sagaru jetzt Shisako zu sehen. Das einzige, was ihn jetzt in Verlegenheit bringt, ist ihre Bestellung von Frauenhygieneartikeln und die Bitte, Wechselwäsche einzupacken. Er hat noch nie in den Kleiderschränken einer Frau herumgekramt, nicht einmal in Otae-sans. Aber da er diesmal ausdrücklich darum gebeten wurde, muss er da jetzt wohl durch. Eine Frau in der Shinsengumi... Wie soll ich Matsudaira das bloß schmackhaft machen? Und die anderen? Wie werden sie reagieren? Sie mögen Yamazaki, jeder mag Yamazaki, aber werden sie Shisako willkommen heißen? Kondō hat Vertrauen in seine Männer, sie werden sie nicht belästigen, oder Schlimmeres... Unwillkürlich beißt Kondō die Zähne zusammen und ballt die Hände. Niemals werden sie das. Sie sind nicht solche Mistkerle wie die Mimawarigumi. Oh ich könnte ... Ich habe solche Lust, zu Sasaki zu fahren und ihm dafür den Hals umzudrehen... In diesem Moment durchfährt es ihn wie ein Blitz und er bleibt mitten im Schritt stehen. „Ist es unsere Schuld? Hat Shi-chan ihr Baby verloren, weil sie die Videos ansehen musste? Wegen dieses ganzen Falles? War das zuviel Streß für sie?" Sōgo, der hinter ihm geht und wegen dessen plötzlichen Stopps beinahe in ihn hineingelaufen wäre, knurrt einmal leise auf und geht an ihm vorbei. Er hat es eilig, das Krankenhaus zu verlassen, denn er hasst Krankenhäuser, vor allem dieses, in dem seine Schwester gestorben ist. „Sowas passiert, Kondō-san", knurrt er dabei. Streß? Natürlich ist Shisako gestresst. Sie musste verdammt viel durchstehen, aber sie hat sich auf ihre Weise gewehrt und Sōgo ist verdammt stolz auf sie. Und diese Fehlgeburt ... Ehrlich gesagt, ist er froh darüber. Die kleine Seele wartet bestimmt, bis sie als Shisakos und Tōshirōs Kind wiedergeboren wird. So, wie es sein soll. Und wenn Hijikata nicht freiwillig mit Shisako auf ein Date geht, wird er höchstpersönlich dafür sorgen! Jetzt hat der Baka schließlich keinen Grund mehr, sich herauszureden. Das Argument „wir sind beide Männer“, was ihn, so jedenfalls Okitas Vermutung, davon abgehalten hat, zählt jetzt nicht mehr. Es zählt schon seit fast einem Jahr nicht mehr. Wenn sie doch alle nur nicht solche Dummköpfe gewesen wären! „Fehlgeburten können bis zur zwölften Woche vorkommen. Vor allen, wenn der Fötus nicht gesund ist", meldet sich da Tetsunosuke und fügt, als er sich von seinen Vorgesetzten verblüfft angestarrt sieht, hastig hinzu: „Hab ich aus dem Internet. Und ich hab auch gelesen, dass bei den meisten Adligen durch Inzucht Genschäden auftreten, die im Durchschnitt öfter zu Abgängen führen als bei uns Normalsterblichen. Weil sie immer untereinander heiraten." Kondō und Sōgo nicken. Natürlich, das mit der Inzucht wissen sie, das weiß jeder. „Dafür gibt es ja die Mätressen", sagt Kondō. Und in Japan ist es immerhin so geregelt, dass die Kinder der Mätressen in der gesetzlichen Erbfolge stehen. Genau wie adoptierte Kinder. So kommt es vor, dass manch ein Fürst gar kein Reinblut ist. Um aber Fürst zu bleiben, muss er entweder sehr grausam gegenüber den anderen Erben oder wahnsinnig beliebt bei ihnen sein. „Ja..." erwidert Tetsusonuke gedehnt, der unwillkürlich an seine verstorbene Mutter denken muss. Sie war eine Mätresse. Und als er nach ihrem Tod zu den Verwandten seines Vaters, zur Sasaki-Familie, kam, wurde er - abgesehen von seiner herzensguten Stiefmutter - alles andere als mit offenen Armen empfangen. Sein Vater ignoriert ihn, sein Bruder hasst ihn und über die restlichen Verwandten will er lieber gar nicht erst nachdenken. Es gibt einen guten Grund, wieso er auf Abwege geriet und zu einem Gangmitglied wurde. Schweigend gehen sie weiter, am Empfang vorbei und durch die sich automatisch öffnende Tür, treten hinaus auf den großen Parkplatz. Kaltes, schneegeschwängertes Wetter erwartet sie und lässt sie nach der Wärme im Inneren unwillkürlich frösteln. Ihr Wagen steht mitten auf dem kostenpflichtigen Parkplatz im Halteverbot, aber da die Sirene auf dem Dach, die Farben und das Wappen an der Seite offensichtlich sind, wurde er nicht abgeschleppt und es klebt auch kein Strafzettel an der Frontscheibe. „Wir müssen uns etwas überlegen", meint Okita plötzlich. „Wir können nicht mit Yamazaki ins Krankenhaus fahren und dann mit Shi-chan zurückkommen. Das wirft Fragen auf." „In der Tat", stimmt ihm Kondō nachdenklich zu. „Wir müssen ihnen etwas sagen. Es haben zu viele mitbekommen, was passiert ist. Sie werden sich Sorgen machen." „Sie wissen, dass es Zaki gut geht." Vielsagend hält Tetsunosuke sein Handy in die Höhe. „Aber“, fügt er schnell hinzu, als ihn ein braunes und ein karmesinrotes Augenpaar förmlich aufzuspießen drohen, „sie wissen nichts von Shi-chan." Davon wissen nur die zehn Männer, die heute bei der Morgenbesprechung dabei waren – wenn keiner von denen inzwischen alles weitergepetzt hat, wovon niemand von ihnen wirklich ausgeht. In der Shinsengumi herrscht ein gewisser Korpsgeist, der auf dem Weg des Bushidōs beruht, also hauptsächlich auf Wahrhaftigkeit, Mut, Ehre und Loyalität fußt. Sekundenlang stehen sie nur stumm vor ihrem Wagen und wechseln nachdenkliche Blicke, bis Kondō einmal tief aufseufzt. „Sagen wir ihnen einfach die Wahrheit. Die kommt sowieso heraus. Und ich glaube, Shi-chan wäre das nur recht, wenn wir ihr diese Peinlichkeit ersparen." Okita und Tetsunosuke nicken zustimmend und dann noch einmal etwas heftiger, als Kondō fortfährt: „Erzählen wir ihnen, dass Yamazaki nie von der Kanone des Dekoboko-Kults zurückverwandelt wurde und jetzt wegen Frauenproblemen ins Krankenhaus musste. Alles andere geht niemanden etwas an." Plötzlich fühlt sich Tetsunosuke wieder im Fokus der Aufmerksamkeit „Ich hab ihnen nur Statusberichte über Sissis Gesundheitszustand gegeben", versichert er hastig. „Sissi?" hakt Okita stirnrunzelnd nach. „Genitiv von Sis. Sis wie Sister. Also englisch für Schwester." „Gewöhn dir das endlich ab“, fährt ihn Okita daraufhin ungnädig an und ähnelt in diesem Moment auf geradezu erschreckende Weise Hijikata. „Es heißt Senpai, Zaki oder Shisako für dich. Shi-chan für uns." Tetsunosuke salutiert gehorsam und verbeißt sich ein Grinsen, denn er ähnelt wirklich Hijikata. „Yessir." Kapitel 11: Vergangenheit – 31. Dezember – Unsere Eltern warnten uns als Kinder immer davor, mit Fremden mitzugehen und wieso glauben wir, es als Erwachsene besser zu wissen? ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------     Sein Atem riecht nach Sake und er ist alles andere als nüchtern, als er aus der kleinen Bar stolpert. Aber sein Griff, mit dem er das junge Mädchen – wie heißt sie doch gleich? Ach ja, Nori - hinter sich herzerrt, ist fest und sicher. Es ist Silvesterabend und er hat vor, das gebührend zu feiern. „Du bist eigentlich gar nicht mein Typ.“ Doch entgegen seiner Worte drückt er seine Begleitung an die Mauer und zwingt ihr einen Kuß auf. Den sie zuerst nur widerwillig entgegnet, doch dann taut sie auf und gewährt seiner forschenden Zunge Einlaß. Aus ihrer Kehle löst sich ein merkwürdiges Geräusch. Es klingt wie ein unterdrücktes Kichern. Sie hat schönes kastanienrotes Haar und ist auch sonst ziemlich hübsch. Und scheu. Aber sie hat sich an ihn herangemacht, also hat er keine Gewissensbisse, mit ihr in dieser kleinen Hintergasse herum zu machen. Gierig fasst er ihr an die Brust, verflucht ihren dicken Kimono, unter dem er gar nichts spürt. Er schnauft einmal in ihren Kuß hinein und zwingt seine rechte Hand dann unter den weichen Stoff. Plötzlich erstarrt er. Seine Augen weiten sich und er zieht ruckartig seinen Kopf zurück. „Was...?“ ungläubig starrt er sie an, starrt in dieses Gesicht, das ihm plötzlich vage bekannt vorkommt und in diese dunklen Augen, deren Ausdruck sich jetzt verändert hat. Alles Naive, Unschuldige ist aus ihnen verschwunden und hat einer berechnenden Kälte Platz gemacht, die ihn an die Augen eines Raubtiers erinnert. Erst verspätet erreicht ihn der Schmerz. Dumpf, aber dafür umso endgültiger. Verdutzt senkt er den Blick, ohne wirklich zu begreifen, was er da sieht. Sie kichert jetzt ganz offen und es ist ein Ton, bei dem alles in ihm erfriert. Langsam, aber sehr nachdrücklich, stößt sie das Wakazashi tiefer, bis zum Heft in seinen Unterleib und zieht es dann mit einem kräftigen Ruck nach oben. Sie gibt ihm einen Stoß und zieht die Klinge aus ihm heraus, während er zurücktaumelt. Einen Herzschlag lang steht er einfach nur da und sieht fassungslos zu, wie sein Blut seinen weißen Uniformmantel rot färbt und wie seine Gedärme aus ihm heraus und zu Boden fallen. Und dann zieht sie sich die Perücke vom Kopf und er erinnert sich. „Ich habe nichts Falsches getan.“ Es sind seine letzten Worte und selbst im Angesicht des Todes fühlt er sich absolut im Recht.       Er ist der erste in dieser Nacht, aber nicht der Letzte. Und schon gar nicht der Allererste, aber die beiden, die seit gestern Nacht tot in ihrem Bett liegen, zählen nicht. Die waren nur Aufwärmübungen. Zwei Stunden später, in einem Love Hotel, liegt ein weiterer Mimawarigumi-Offizier auf einem Bett, nackt wie am Tage seiner Geburt und mehr als bereit, um das Jahr auf die – seiner Meinung nach – beste Art und Weise zu verabschieden, bevor er am frühen Morgen wieder zu seiner Frau und den Kindern zurückkehren muß. Mit gierigen Augen beobachtet er die junge Frau vor sich, wie sie aufreizend langsam ihren goldbestickten Kimono ihre Schultern hinuntergleiten lässt. Es sind perfekte, elegante Schultern, die in zwei perfekte Oberarme übergehen. Und unter dem immer tiefer rutschendem Soff sind die perfekten Ansätze von zwei perfekten Brüsten zu erkennen. Im Hintergrund hört er die Toilettenspülung und er weiß, sein Kumpel wird gleich zu ihnen stoßen. Ungeduldig, denn er will sich das Vergnügen, der erste zu sein, nicht nehmen lassen, winkt er sie zu sich. „Komm her, Nori-chan. Du musst dich nicht ausziehen. Ich komme auch so an das heran, was ich haben will.“ Sie lächelt, und es ist ein Lächeln zum Dahinschmelzen. Graziös wie eine Katze klettert sie zu ihm aufs Bett, kniet sich über ihn und reckt sich dann, um die Haarnadeln aus ihrer Hochsteckfrisur zu lösen. Er leckt sich nur gierig über die Lippen, während sich sein Blick auf diesem Schwanenhals festsaugt. Seine Hände beginnen mit seiner Männlichkeit um die Wette zu zucken, begierig, sich um diese zerbrechliche Kehle zu legen und zuzudrücken. Er steht auf Würgespiele. Seine Frau hasst es, und daher macht es mit ihr einfach keinen Spaß. Doch plötzlich verändert sich der Ausdruck in Nori-chans hellbraunen Augen. Ihr Lächeln verspricht immer noch den Himmel auf Erden, aber ihre Augen werden wie die eines Raubtieres. Aber bevor sein alkoholvernebeltes einen Verdacht schöpfen kann, zieht sie zwei Wakazashi aus ihrem Dutt und treibt sie ihm links und rechts in den Hals. Dabei rutscht ihr die Perücke vom Kopf und als er in den letzten Augenblicken seines Lebens in dieses so vertraute Gesicht blickt, weiß er nicht, was schlimmer ist: diese Ungerechtigkeit oder das Wissen, ausgerechnet von diesem Weibsbild gemeuchelt zu werden.       „Habt ihr etwa schon angefangen?“ Grunzend taumelt der junge Offizier aus dem kleinen Waschraum. Er ist groß und hochgewachsen, der Stolz seiner Familie, aber im Moment ist er einfach nur betrunken und verdammt erregt. Er sieht seinen Kumpel auf dem Bett liegen und runzelt unwillig die Stirn. „Eh? Wo ist sie hin?“ Plötzlich spürt er einen Stich in der Nierengegend. Instinktiv fasst er nach hinten und starrt dann verdutzt auf das Blut an seinen Fingern. „Ha?“ Irritiert dreht er sich um und blinzelt angestrengt. Am Rande seines Blickfeldes wird es schwarz und er spürt, wie etwas warm seinen Rücken hinunterläuft, doch er bringt es nicht mit einer tödlichen Verletzung in Verbindung. Lange, sehr, sehr lange, starrt er auf die Gestalt vor sich, sieht das blutige Kurzschwert und begreift es dennoch noch nicht. „Du?“ meint er plötzlich. Und dann hellt sich seine Miene auf. „Du bist doch die vom Video. Sweetheart. Endlich habe ich dich gefunden. Komm in meine Arme.“ Auf unsicheren Beinen torkelt er auf sie zu. Zwei zartgliedrige, erstaunlich starke Hände zucken vor und stoßen ihm zwei schmale Klingen durch beide Augen ins Gehirn. Das Letzte, was er in diesem Leben sieht, ist ein silbernes Armkettchen mit einem Anhänger, auf dem das Zeichen des Wassermannes eingraviert ist. „Shinjimae.“ Kapitel 12: Vergangenheit – Silvester und Neujahr – Das Licht am Ende des Tunnels sollte man nicht mit dem entgegenkommenden Zug verwechseln -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Düster starrt Hijikata in sein Sektglas, sieht den kleinen Bläschen dabei zu, wie sie in der hellen Flüssigkeit nach oben an die Oberfläche steigen und dort zerplatzen. Er mag keinen Sekt, viel lieber hätte er jetzt einen richtigen Sake. Aber zu Silvester, hat Kondō angeordnet, gibt es nur Sekt. Und salziges Knabberzeugs. Und Raclette. Und Fondue. Und Luftschlangen und Tischfeuerwerk. Und Karaoke. Hijikata ist sich sicher, dass da irgend etwas nicht zusammenpasst, aber so wird seit der Gründung der Shinsengumi nun einmal im Hauptquartier Silvester gefeiert. Der Speisesaal trägt noch die Weihnachtsdekoration und bis das richtige Jahresende gefeiert wird, das nach dem Mondkalender, wie es die Tradition vorschreibt, kommen bestimmt noch andere Dekorationen hinzu. So war es bisher jedes Mal. So sehr Hijikata auch diese ganze Feierei gegen den Strich geht – generell und seit dem Bônenkai vor vier Wochen erst recht – muss er doch zugeben, dass es die Motivation der Männer steigert. Diejenigen von ihnen, die keinen Urlaubstag ergattert haben und zur sogenannten „Stallwache“ eingeteilt wurden, genießen es, wenigstens im Kreise ihrer Kollegen ins neue Jahr zu feiern. Wenigstens mangelt es ihnen nicht an Disziplin, sie gönnen sich zwar den einen und anderen Schluck, aber nie so viel, dass sie nicht trotzdem jederzeit einsatzbereit wären. Am Tor stehen die üblichen Wachen, in der Stadt wird patrouilliert, die Notrufe werden auf ihre Diensthandys umgeleitet und diese sind alle griffbereit an ihrem Gürtel. Also: alles im Lot. Warum nur wird er dieses nagende Gefühl nicht los, dass irgend etwas im Argen liegt? Vielleicht braucht er einfach nur eine Zigarette? Schnell kippt er den Sekt hinunter, stellt das leere Glas auf den erstbesten Tisch und schlängelt sich dann an den in kleinen Grüppchen zusammenstehenden Männern vorbei, Richtung Shoji, den Lärm der Karaoke-Maschine mitsamt Kondōs und Okitas schrägen Sangeskünsten hinter sich lassend. Draußen auf dem Engawa atmet er einmal tief durch und zündet sich gierig eine Zigarette an. Tief zieht er den Tabak in seine Lungen, und hält ihn dort für einen Moment, bevor er ihn mit seinem nächsten Atemzug wieder herauslässt. Von einem seltsam melancholischen Gefühl ergriffen, sieht er dem Rauch nach und bewundert kurz, wie sich dieser durch die kalte Luft kräuselt. Langsam hebt er den Kopf und starrt hoch in den Nachthimmel. Ein schöner Vollmond und so viele Sterne. Eine Schande, dass dies in wenigen Minuten von einem - in seinen Augen – furchtbar überflüssigen Feuerwerk überstrahlt werden wird. Plötzlich das Geräusch von eines dumpfen Aufprall, gefolgt von einem leisen „autsch" und dem Knirschen von verharschtem Schnee. Es kommt vom Gebüsch an der Mauer. Eher neugierig als beunruhigt schleicht sich Hijikata näher. Das hindert ihn allerdings nicht, vorsichtshalber schon mal sein Katana zu ziehen. Im Schatten hinter den kahlen Sträuchern bewegt sich etwas. Hijikata strafft die Schultern, fasst sein Schwert etwas fester und räuspert sich einmal. „Oi. Ganz schön dreist, ins Shinsengumi-Hauptquartier einzubrechen.“ „Fukuchō.“ Er erkennt diese Stimme sofort, noch bevor die dazugehörige Gestalt aus den Büschen tritt und der Schein des Vollmonds sein Gesicht erhellt. Kopfschüttelnd steckt Hijikata sein Schwert zurück. „Zaki? Wieso kommst du nicht durch den Haupteingang wie alle vernünftigen- oh.“ Er stockt und blinzelt überrascht, als sein verdutztes Gehirn endlich den unteren Teil eines bunten Kimono registriert, der unter dem Saum von Yamazakis Mantel hervorlugt. Erst dann sieht er die perlenbestickten Stiefel und die Perücke in seiner Hand. Yamazakis Zähne blitzen kurz auf, als er die Lippen zu einem verlegenen Lächeln verzieht. „Das ist mir jetzt etwas peinlich", beginnt er hastig. „Ich wollte nicht, dass mich irgend jemand so sieht. Ich war bei Nori-chan. Ihr Freund ist sehr eifersüchtig, also hab ich mich als ihre Kusine verkleidet.“ „Nori-chan? Ist das die Freundin...“ Hijikata lässt den Satz vielsagend offen und versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm ihm das ganze Thema ist. Schließlich kann Yamazakis Freundin nichts für das, was ihr angetan wurde. Und er sollte eigentlich stolz auf Yamazaki sein, dass dieser ihr ein so guter Freund ist, dass er keine Mühen scheut, um ihr beizustehen, also warum fühlt er dabei diesen Druck auf seiner Brust? „Genau die“, nickt Yamazaki, wieder mit diesem Lächeln. Hijikata mustert ihn kurz von Kopf bis Fuß und für einen klitzekleinen Moment durchfährt ihn der Gedanke, wie die anderen wohl reagieren würden, wenn Yamazaki sich die Perücke wieder aufsetzt und er ihn als seine Freundin vorstellen würde. Das wäre gewiß ein guter Scherz. Aber der Gedanke verschwindet genauso schnell wieder, wie er gekommen ist. „Geh", betont grimmig wedelt er mit der Hand. „Verschwinde, bevor dich Okita so sieht.“ Yamazakis Augen weiten sich unwillkürlich. Nur zu deutlich steht ihm ins Gesicht geschrieben, wie wenig er davon hält, in den Fokus von Okitas Spott zu geraten. „Hai, Fukuchō. Sofort, Fukuchō.“ Hastig eilt er davon. „Du hast noch zehn Minuten.“ ruft ihm Hijikata nach. Yamazaki dreht sich mit elegant wehendem Kimono noch einmal zu ihm um, lacht und winkt so geziert wie eine waschechte Geisha. „Das schaffe ich, keine Sorge, Fukuchō.“ Dieser Junge. Hijikata kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er ihm hinterhersieht, wie er hinter der Hausecke verschwindet. Das ist schon das zweite Mal innerhalb einer Woche, dass Hijikata ihn in Frauenkleidern erwischt hat. Und, Hijikata runzelt bei diesem Gedanken die Stirn, wenn er so genauer darüber nachdenkt, hat sich Yamazaki im letzten Jahr sehr oft für seine Missionen als Frau verkleidet. Ob die Erfahrung mit dem Dekoboko-Kult aus ihm einen verkappten Crossdresser gemacht hat? Diese Vorstellung verursacht ihm ein flaues Gefühl im Magen, das er einfach nicht zu deuten weiß.     Yamazaki schafft es in neun Minuten. Eine Minute vor Mitternacht findet er sich bei ihnen auf dem großen Hof ein, diesmal in Jeans, Boots und Parka. Hijikata reicht ihm ein gefülltes Sektglas und als um Punkt Mitternacht über ihnen am Himmel das Feuerwerk aufleuchtet und wenige Meter entfernt Okita, Tetsu und Kondō ihre eigenen Raketen hoch in den Himmel schießen, stoßen sie miteinander auf das neue Jahr an. Ausnahmsweise verzichtet Okita sogar darauf, mit den Raketen auf Hijikata zu zielen, aber das liegt vielleicht nur daran, dass so etwas auch die Männer um ihn herum gefährden würde. Amüsiert sieht Hijikata zu, wie Yamazaki seinen Sekt mit einem einzigen großen Zug hinunterschluckt. Dann blickt sich Yamazaki suchend um, entdeckt Harada, und die Sektflasche in dessen Händen und eilt zu ihm. Er läßt sich von dem Älteren noch einmal einschenken und leert dieses Glas genauso hastig. Dann hält er ihm sein Glas noch einmal hin, doch Harada zuckt nur bedauernd mit den Schultern und deutet über seine Schulter nach hinten zum Speisesaal. Jetzt wirklich besorgt, fängt Hijikata seinen Spion ab, als sich dieser Richtung Speisesaal begeben will, packt ihn am Arm und zieht ihn mit sich. Ein paar Meter weiter weg von den anderen, bleibt er schließlich stehen, wendet sich ihm zu und mustert ihn kritisch. Leider kann er nicht sagen, ob Yamazakis gerötete Wangen von der Kälte oder vom Alkohol stammen, aber normalerweise schüttet Yamazaki den Alkohol nicht so schnell in sich hinein. „Meinst du nicht, du hast erstmal genug?“ Er muß sich vorlehnen und es ihn direkt ins Ohr fragen, damit er über den Lärm des Feuerwerks und dem begeisterten Johlen seiner Männer verstanden wird. Zuerst wirkt es, als wolle Yamazaki trotzig aufbegehren, doch dann senkt er den Blick und starrt nachdenklich in sein Glas. „Du hast recht“, meint er dann leise und für einen Moment ist da etwas, eine Dunkelheit an ihm, die Hijikata nicht richtig fassen kann, aber schon eine Sekunde später zuckt es um seine Mundwinkel und er hebt nonchalant die Schultern. „Es schmeckt mir sowieso nicht.“ Hijikata beäugt ihn kritisch. „Ist alles mit dir in Ordnung?“ Er zögert und legt ihm dann vorsichtig eine Hand auf die Schulter. Fast rechnet er damit, dass Yamazaki unter seiner Berührung wieder zusammenzuckt, doch es scheint ihm nichts mehr auszumachen, angefasst zu werden – eine Wendung, die Hijikata unglaublich erleichtert. „Du weißt, dass du jederzeit zu mir kommen kannst, wenn du jemanden zum Reden brauchst.“ „Es ist alles in Ordnung, Fukuchō“, wehrt Yamazaki mit einem Lächeln ab, das diesmal fast seine Augen erreicht. Und dann richtet er den Blick nach oben und versinkt in den farbenfrohen Blumen, die dort erblühen. Das Lächeln um seine Lippen verändert sich, es wirkt irgendwie bitter-süß und zugleich geheimnisvoll und während Hijikata sein Profil betrachtet, spürt er, wie ihm plötzlich ganz warm ums Herz wird. Einem Impuls folgend, legt er einen Arm um Yamazakis Schultern und drückt ihn einmal kurz und freundschaftlich an sich. Yamazaki gibt einen überraschten Ton von sich, und für einen kleinen Moment befürchtet Hijikata, dass er ihn wegstößt, oder schlimmer noch, wieder zu hyperventilieren beginnt, doch Yamazaki grinst nur vergnügt und drückt ihn auf dieselbe Weise einmal kurz zurück.     Kapitel 13: Gegenwart – 3. Januarwoche – 20. Januar, Tag X – Es gibt für alles die passende Gelegenheit, aber wer entscheidet das? ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------     Zaki mit einer Umarmung zu trösten ist ein vertrautes Gefühl. Es gab und gibt schon immer Dinge, die bringen ihn zum Weinen. Traurige Filme. Tote Haustiere. Mißhandelte Kinder. Wenn jemand seinen Badmintonschläger zerbricht. Wobei letzteres meistens Hijikatas Schuld ist. Manchmal weint er auch vor Wut oder Enttäuschung, aber diese Art von Tränen versteckt er immer vor ihnen, er vergißt sie heimlich, doch seine roten Augen verraten ihn. Immer. Natürlich besitzt Zakis Trauer jetzt eine ganz andere Dimension und Hijikata weiß nicht, ob eine Umarmung diesmal ausreicht. Aber er wird es versuchen. Erstaunlicherweise fiel es Hijikata niemals schwer, Yamazaki zu umarmen. Während er bei allen anderen immer leichte Berührungsängste verspürte, fiel es ihm bei ihm so leicht wie das Atmen. Also fällt es ihm auch jetzt nicht schwer, Zaki zu trösten, wenn er nicht allzu sehr darüber nachdenkt, dass Zaki jetzt weiblich ist und sich Shisako nennt. Wenn er sich nur auf diesen vertrauten Geruch und das vertraute Gefühl der Wärme konzentriert, kann er sogar die weichen Brüste vergessen, die sich an ihn drücken. Zaki … Shisako weint nur ein kleines bisschen und das wundert Hijikata, aber er macht sich nichts vor. Der große Zusammenbruch wird kommen. Nach ein paar Minuten hat sie sich wieder soweit beruhigt, dass sie sich verlegen aus seinen Armen löst und sich zurück in die Kissen lehnt. Wortlos streicht Hijikata ihr die störenden Haarsträhnen aus dem Gesicht. Zwei ganze Herzschläge lang sehen sie sich nur wie gebannt in die Augen, bis Shisako verlegen den Blick senkt und den Zauber dadurch bricht. Eine Zeitlang sagen sie nichts, sie dreht den Kopf weg und starrt an das Bild an der Wand und er weicht zurück zum Fenster, öffnet es und zündet sich eine Zigarette an. Die Gewitterziege von Schwester wird toben, wenn sie das herausfindet, aber das ist ihm total egal. Er braucht jetzt dringend eine Zigarette, will aber seinen Spion - Spionin, korrigiert er sich in Gedanken - nicht allein lassen. Nachdenklich starrt er dem bläulichen Rauch nach, wie er vom Wind davongetragen wird und spürt, wie sich der Druck in seinem Inneren allmählich löst. Das Schlimmste ist überstanden, denn er hat sich entschieden. Was auch immer jetzt kommt, er wird Zaki dabei helfen. Nicht nur, weil er es ihm ... ihr schuldig ist, sondern, weil er es will. Er schnippt erst die Asche und dann den Stummel aus dem Fenster und richtet seine Aufmerksamkeit schließlich wieder auf die schmale Gestalt im Bett vor sich. Das Gefühl der Wärme, das ihn dabei plötzlich durchströmt, überrascht ihn nicht so sehr, wie es eigentlich sollte. „Geh mit mir auf ein Date.“ platzt es aus ihm heraus. Sie zuckt zusammen und fährt regelrecht zu ihm herum. „Huh?“ macht sie nur und starrt ihn aus großen, hellbraunen Augen überrascht an. Hijikata setzt sich wieder auf den Bettrand und nimmt ihre Hand. Er will ihr sagen, dass er sie seit der Sache mit dem Dekoboko-Kult liebt, aber heraus kommt etwas völlig anderes. „Du warst mein bester Freund neben Kondō. Aber du kannst nicht meine beste Freundin sein ohne so eine Freundin zu sein. Ich weiß gar nicht, wie das geht.“ Das ist nicht sexistisch - es gibt nur einfach keine Frauen in seinem Freundeskreis. Sie blinzelt ihn einfach nur verdutzt an. „Ich meine das ernst", versichert er ihr, drückt ihre Hand und sieht ihr tief in die Augen, „geh mit mir auf ein Date.“ Shisako legt den Kopf schief und mustert ihn skeptisch. Wenigstens entzieht sie ihm ihre Hand nicht und er sieht das mal als gutes Zeichen. „Ist das nur ein Schuldkomplex?“ fragt sie dann. Er wünschte, es wäre so einfach. „Nein", erwidert er bestimmt. Für einen Moment scheint es, als wolle er noch etwas hinzufügen, aber dann drückt er nur wieder ihre Hand und sieht sie an. „Gut", meint sie schließlich zögernd. „Das dachte ich mir. Du bist zu ehrlich um meine momentane Situation auszunutzen..." „Ich würde das nie ausnutzen." „Ich weiß." Um ihre Lippen zuckt ein kleines Lächeln, als diesmal sie die Hand hebt. Verlegen zupft sie am goldenen Saum seiner Weste herum. „Ich erinnere mich an Okita Mitsuba. Sie war dir wichtig, aber trotzdem warst du zu ehrlich, um ihr Gefühle vorzuspielen, die es nicht gab." Hijikata schluckt einmal schwer. Die Erinnerung an Mitsuba ist wie ein immerwährender Stachel in seinem Fleisch. Was er ihr damals antat, verstand niemand und Okita hasst ihn dafür immer noch und er kann es ihm nicht verübeln. Er weiß ja selbst nicht, wieso es ihm so widerstrebte einer Sterbenden vorzutäuschen, dass er sie liebe. Sie war ganz anders als ihr jüngerer Bruder Sōgo – sie war nett und freundlich und jeder mochte sie. Auch er. Wie schwer konnte es einem daher fallen, ihr, als sie im Sterben lag, diesen einen Wunsch zu erfüllen und ihr seine unsterbliche Liebe zu gestehen – ob das nun die Wahrheit war oder nicht? Nun, ihm fiel es schwer. Aber alle anderen um ihn herum schienen das nicht als Problem anzusehen und dadurch fühlte er sich so sehr unter Druck gesetzt, dass er jeden weiteren Kontakt mir Mitsuba mied. Deshalb war er auch nicht an ihrer Seite, als sie ihren letzten Atemzug tat, egal, wie sehr sie es sich wünschte. Dafür wird Sōgo ihn auf ewig hassen und auch Kondō ist deswegen immer noch sehr enttäuscht von ihm, und es wurmt ihn noch heute, dass er sich ihnen nie erklären konnte, aber … Yamazaki versteht alles auch ohne große Worte ... Hijikata kann nicht ausdrücken, wie sehr er ihn ... sie in diesem Moment liebt. „Du hast mich schon immer durchschaut." „Das sollte ich, oder?" gluckst sie leise und blinzelt ihn unter dichten, schwarzen Wimpern verschmitzt an. „Ich bin dein Spion."     Als Kondō mit einer Reisetasche und einem Blumenstrauß Yamazakis Krankenzimmer am Nachmittag betritt – Einzelzimmer, privat, also der übliche Versicherungsschutz bei der Shinsengumi – wird er von Tōshi mit einem „pst“ und einem vielsagenden Zeigefinger auf den Lippen begrüßt. Auf Zehenspitzen schleicht Kondō näher, legt die Tasche an der Wand neben der Tüte mit der Uniform ab, in der Yamazaki hier eingeliefert wurde – in Gedanken notiert er sich, das Zeug mitzunehmen, wenn er wieder geht - und wirft einen prüfenden Blick auf die schlafende Gestalt auf dem Bett. Jetzt springt ihm all das Frauliche direkt ins Auge – die sanften Rundungen der Brüste, die sich unter dem Krankenhaushemd abzeichnen, die schmalen Schultern, die weichen Gesichtszüge und die zarte Knochenstruktur. Mit einem versonnenen Lächeln läßt Kondō seinen Blick hoch in ihr Gesicht wandern. Argh, sie ist immer noch viel zu blaß, aber dadurch wirkt ihre Haut so zart wie die eines Porzellanpüppchens. Kurz bleibt sein Blick auf den vollen Lippen hängen, bevor er dann weiter wandert. Shisako ist bei Weitem nicht so schön wie seine Otae-san – die Nase ist zu gerade und die Augen viel zu mandelförmig und sie bekommt so schnell dunkle Augenringe, dass sie bei genauerer Betrachtung eher wie ein Zombie als wie eine Porzellanpuppe aussieht. Trotzdem besitzt sie etwas, was sein Herz berührt. Während dieser Genderbender-Sache vor fast einem Jahr hat er sie so gut wie gar nicht wahrgenommen und das ist wirklich eine Schande. Und das liegt, soviel muß er sich beschämt eingestehen, an seiner eigenen Arroganz. Er war so mit sich selbst beschäftigt, so sehr von seiner eigenen Gestalt eingenommen – er war schließlich eine Sexgöttin! - daß er kaum auf etwas anderes achtete. Ah, abgesehen von seiner Otae-san natürlich, die immer noch seine wunderschöne Otae-san war, weil sie zum fraglichen Zeitpunkt nicht in der Stadt war und daher dem Geschlecht-wechsel-dich-Strahl entging. „Wie geht es Shi-chan?“ erkundigt er sich flüsternd und bemerkt mit Genugtuung, dass sie nicht mehr an der Infusionslösung hängt – das ist bestimmt ein gutes Zeichen. „Lass sie etwas schlafen“, murmelt Tōshi und starrt dabei geradezu entgeistert auf den großen Blumenstrauß in Kondōs Hand. Eine merkwürdige Pracht aus gelben, weißen und roten, sternförmigen Blüten. Definitiv Amanto. Er hofft nur, dass die Dinger keine giftigen Pollen absondern - bei außerirdischen Dingen kann man das nie wissen. Doch dann sieht er den Namen des Blumenladens auf dem Gebinde und atmet erleichtert auf. Der Besitzer ist zwar ein Amanto, aber er ist vertrauenswürdig. Während Kondō ins angrenzende Bad geht, um eine Vase zu holen, nimmt sich Hijikata schnell die dazugehörige Genesungskarte vor. Um seine Lippen zuckt ein stolzes Lächeln, als er die Unterschriften sieht. Die Männer haben sich wirklich ins Zeug gelegt. Innerhalb von vier Stunden haben sie tatsächlich von jedem eine Unterschrift eingetrieben - auch von jenen, die heute frei haben. Er setzt schnell ebenfalls seinen Namen dazu, garniert das nach einem kurzen Zögern sogar noch mit einem kleinen Herz zwischen jedem Kanji. Das hätte er sich nie getraut, wenn er die Karte nicht als letzter unterschrieben hätte. So sieht es nur Shisako und das ist völlig in Ordnung. Als Kondō mit einer Vase zurückkommt, arrangieren sie den Strauß gemeinsam auf dem Nachttisch. „Was hast du den Männern erzählt?“ fragt Hijikata dabei leise. „Nur das Nötigste", kommt es mit einem sichernden Blick zur schlafenden Shisako zurückgewispert. „Sie wissen, dass Zaki eine Frau und wegen Frauenproblemen im Krankenhaus ist. Mehr haben wir ihnen nicht gesagt. Und nur die zehn, die heute Morgen dabei waren, wissen jetzt auch von der Vergewaltigung. Das mussten wir ihnen sagen. Sie wissen aber nicht, wann und durch wen.“ Hijikata holt einmal tief Luft. Niemand von ihnen sollte etwas über die Vergewaltigung wissen, eigentlich hatten sie kein Recht dazu, es ihnen zu sagen ohne Yamazaki vorher zu fragen, aber er versteht auch, dass es einfach nötig war, denn wilde Gerüchte kann niemand gebrauchen. „Wie ist die Stimmung?“ „Gedrückt. Sie machen sich Sorgen. Sie mögen Zaki und sie mögen auch Shi-chan.“ „Ja", murmelt Hijikata und wirft einen traurigen Blick zum Bett hinüber. „Und doch haben wir Zaki im Stich gelassen.“ Betreten senkt Kondō den Kopf und beginnt nervös, die Blumen in der Vase neu zu ordnen. „Es macht ihnen nichts aus, wenn eine Frau im Hauptquartier ist. Sōgo läßt dir ausrichten, dass er die Shinsengumi Kyokuchuu Hatto umändert. Er hat eine neue Regel hinzugefügt, die da lautet: Frauen, besonders Yamazaki Shisako, sind erwünscht, vor allem in Hijikata-sans Bett.“ Genervt schüttelt Hijikata den Kopf und rollt mit den Augen. Doch er ärgert sich nicht so sehr darüber, wie er es eigentlich sollte. Die Kyokuchuu Hatto, die Verhaltensregeln der Shinsengumi, hatte er während der Entstehung der Shinsengumi aufgestellt und sie waren in der Anfangszeit sehr hilfreich, aber in den letzten Jahren wurden sie immer unwichtiger, je mehr offizielle Richtlinien der Polizeichef persönlich an sie herausgab. Trotzdem kann Sōgo nicht darin herumschreiben, wie es ihm gerade paßt. „Ich hoffe, du hast ihm dafür die Ohren langgezogen?“ „Nein", kichert sein Vorgesetzter, „das überlasse ich dir." Er zögert, doch dann tritt er ganz dicht an Hijikata heran, legt ihm einen Arm um die Schultern und raunt ihm verschwörerisch ins Ohr: „Es wäre in Ordnung, wenn du ihr den Hof machst, Tōshi, das weißt du, oder?“ Peinlich berührt windet sich Hijikata aus seiner vertraulichen Umarmung und sieht demonstrativ in die andere Richtung. Er wird ziemlich rot im Gesicht. Das erregt sofort Kondōs Verdacht. „Tōshi?“ hakt er belustigt nach. „Sch...“ zischt dieser, mit einem sichernden Blick zu Shisako hinüber, packt Kondō am Ärmel und zieht ihn ein paar Meter weiter. „Ich habe sie vorhin schon um ein Date gebeten“, erklärt er ihm flüsternd. Wirklich Lust, ihm das zu erzählen, hat er nicht, aber er kennt seinen Freund und Vorgesetzten gut genug, um zu wissen, dass er ihn nur so dazu bringen kann, dieses Thema endlich fallen zu lassen. „Aber ich weiß nicht, was daraus wird.“ Wäre er ein so offenherziger Mann wie Kondō, dann würde er ihm jetzt so einiges erzählen, zum Beispiel, wie sehr es ihm fehlt, dass er und Zaki nicht mehr so viel zusammen unternehmen wie früher. Dass ihm diese ganz normalen, gemeinsamen Unternehmungen fehlen wie Kino, ein Besuch im Badehaus oder ganz einfach am Abend in der Lieblingsbar ein Bier zu trinken. Erst seit Weihnachten kommen sie sich wieder etwas näher und das will er nicht wieder verlieren. Aber er weiß nicht, wie sich ein Date mit Shisako anfühlen wird – mit Shisako, nicht mit Shisako, die sich als Zaki ausgibt. Er will es. Er will es so sehr. Er will ihr alles geben, jetzt, wo er es endlich darf, aber er hat auch Angst, etwas falsch zu machen. Er hatte noch nie ein richtiges Date. Jedenfalls nicht mit jemanden, bei dem sich sein Herz benimmt wie ein verdammter Kolibri. Aber all das sind Dinge, die er Kondō nicht sagen kann und so bittet er ihn nur um eines: „Es wäre es wirklich schön, wenn du uns das in unserem eigenen Tempo machen läßt, Kondō.“ Kondōs Augen leuchten regelrecht auf. „Oh, wenn ich dir helfen soll, ein Date vorzubereiten, sag es nur. Das mache ich doch gerne. Ich kenne mich da aus, ich weiß, was Frauen wollen. Rosen, Kerzenlicht, ein gutes Essen, Geigenklänge in der Luft und ganz viele, tiefe Blicke. Romantik und Liebesschwüre. Hach, das wird schön-“ Verzückt von seiner eigenen Idee, klatscht er in die Hände. „Lass mich nur machen, das wird wunderbar.“ „Isao!“ zischt Hijikata aufgebracht. „Hast du mir nicht zugehört? Misch dich da nicht ein, hörst du?“ Doch Kondō hat wieder diesen einen, ganz speziellen Gesichtsausdruck und hört ihm gar nicht mehr zu. „Ich kenne ein total romantisches Restaurant. Ich werde da gleich anrufen und einen Tisch für euch bestellen.“ Aufgeregt zückt er sein Smartphone. Entsetzt fällt ihm Hijikata in den Arm. „Isao!“ Sekundenlang starrt er nur in Kondōs breit grinsendes Gesicht, dann, nach einem weiteren Blick zurück zum Bett und zur glücklicherweise immer noch schlafenden Shisako, fährt er sich aufseufzend mit den Fingern durchs Haar. „Ach“, meint er müde, „tu', was du nicht lassen kannst.“ Mit diesen Worten dreht er sich um und geht wieder zurück zu Shisako, um sich dort genau wie in den letzten Stunden auch, auf die Bettkante zu setzen und ihre Hand zu nehmen. Doch er hat sie kaum berührt, da beginnen ihre Augenlider zu flattern und kurz darauf blinzeln ihn zwei müde, hellbraune Augen an. „Ich hab gehofft, das sei ein Alptraum“, murmelt sie und dabei landet ihre freie Hand unwillkürlich auf ihrem Unterbauch. Für einen Moment zögert Hijikata. Er weiß nicht, wie das gemeint ist, beschließt aber, es nicht auf sich zu münzen und eine Sekunde später bestätigt sie ihm diese Vermutung, denn sie verschlingt ihre Finger mit seinen. „Manchmal, kurz bevor ich aufwache, wenn alles so weich und gemütlich ist, fühle ich mich immer noch als Mann.“ Um ihre Lippen zuckt ein bitteres Lächeln. „Aber auf diesem unbequemen Krankenhausbett bleibt mir nicht einmal diese kleine Gnade.“ Hijikata schluckt einmal schwer, weiß aber nichts Tröstendes darauf zu erwidern. Hinter ihm seufzt Kondō einmal traurig auf. Aber anders als sonst üblich, schweigt auch er dazu. Sie räuspert sich einmal und stemmt sich dann entschlossen in eine sitzende Position. „Hast du mir meine Sachen mitgebracht, Kyokuchō?“ „Natürlich.“ Eifrig legt er die Reisetasche vor ihr auf dem Bett ab. „Und die anderen bestellen dir ganz liebe Grüße. Ich habe Blumen mitgebracht.“ Vielsagend deutet er auf den bunten Blumenstrauß auf dem Nachttisch und dann drückt er ihr die Grußkarte in die Hände. Sie erstarrt für einen Moment und die beiden Männer können zusehen, wie sich diese großen Augen allmählich mit Tränen der Rührung füllen, je länger sie den Blumenstrauß ansieht. Dann öffnet sie langsam, beinahe andächtig die Karte. Hijikata beobachtet sie gespannt. Der Moment, wo sie seine Unterschrift entdeckt, ist leicht zu erraten, denn ihre Wangen färben sich rosig. Ihr Blick sucht seinen, doch kaum begegnen sie sich, schlägt sie verschämt die Augen nieder. „Danke“, meint sie mit belegter Stimme, legt die Karte selbst auf den Nachttisch zurück und zieht dann entschlossen ihre Tasche zu sich heran. Um darin herum zu kramen und das Nötigste herauszuholen, braucht sie beide Hände und Hijikata läßt sie nur ungern los. Dafür wird ihm die Ehre zuteil, sie eine Minute später auf dem Weg ins kleine Bad zu stützen. Sie nimmt seine Hilfe etwas verhalten, aber dennoch dankbar an. Als die Tür hinter ihr ins Schloß schnappt, sie dort drinnen ist und er hier draußen, fühlt er sich plötzlich ziemlich unnütz. „Ich geh dann wieder“, meint Kondō, schnappt sich – fast hätte er es vergessen - die Tüte mit den Sachen, in denen Yamazaki hier eingeliefert wurde und tätschelt dann im Vorbeigehen Hijikatas Arm. „Paß gut auf sie auf, ja, Tōshi? Und macht euch keine Sorgen, ich regle alles, was ihren Platz bei uns in der Shinsengumi betrifft. Sag ihr, alle Männer stehen geschlossen hinter ihr. Und...“ er senkt die Stimme, „... was die Morde betrifft – der Fall ist längst abgeschlossen. Und ich sollte es nicht sein, aber ich bin verdammt stolz auf sie, wie sie das gedeichselt hat. Sōgo hätte das nicht besser gekonnt. Aber das bleibt unter uns, Tōshi. Ein Sōgo reicht mir.“ Hijikata nickt ernst, aber dabei zuckt es um seine Lippen verräterisch. „Tōshi...“ Kondō hat die Hand schon nach der Tür ausgestreckt, dreht sich dann aber noch einmal zu ihm um. Seine Miene zeigt dieses väterliche Lächeln, das Hijikata immer vergessen läßt, dass Kondō eigentlich nur vier Jahre älter ist als er. „Ihr beide gebt ein tolles Paar ab. Vermassle es nicht.“ Und dann macht er sich aus dem Staub, bevor Hijikata auch nur daran denken kann, ihn dafür mit irgend etwas zu bewerfen.   Kapitel 14: Vergangenheit – 04. Januar – Wenn du in einen Abgrund schaust, schaut der nicht nur zurück, sondern beißt auch noch -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------   Stirnrunzelnd sieht sich Hijikata in dem Besprechungsraum um. Die Wände und Decke schimmern in dunklem Mahagoni, der Tisch scheint massive Eiche zu sein. Es ist ein westlicher, runder, hoher Tisch und die Stühle, auf denen sie sitzen, sind gepolstert. Mit bestickten Samtbezügen. So etwas kennt er nur aus dem Palast des Shoguns. Und dieser riesige, in die Wand eingebaute Bildschirm... Von den professionell gebundenen, auf Hochglanzpapier bedruckten Berichten, von denen je einer an sie ausgeteilt wurde, mal ganz zu schweigen. Die Mimawarigumi verfügt wirklich über ein nahezu unbegrenztes Budget - und trotzdem brauchen sie jetzt die Hilfe der Aschenbrödel von der Shinsengumi? Die Ironie gefällt ihm. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf Sasaki, den Kommandanten der Mimawarigumi, der seinem Blick arrogant wie immer entgegnet. Hijikata würde ihm nur zu gerne diese Hochnäsigkeit aus dem Gesicht schneiden. Er ist immer noch wütend auf ihn. Darauf, dass er bei dieser Jahresendfeier Yamazaki mit Sake fortgeschickt hat. Dass seine Männer dann mit Yamazaki in Streit gerieten und sein Spion danach wie ausgewechselt war. Dass Yamazaki seitdem Panikanfälle bekommt, wenn er die weiße Uniform der Mimawarigumi auch nur von Weitem sieht. Unwillkürlich wandert sein Blick weiter zu besagtem Spion zu seiner Rechten. Eigentlich wollte er ihn gar nicht mitnehmen, aber Polizeichef Matsudaira verlangte nach ihrem besten Ermittler mit dem größten Netzwerk an Informanten und da gibt es nur einen in der Shinsengumi. Und so, wie Yamazaki jetzt schon die Berichte quasi verschlingt, kann Hijikata förmlich zusehen, wie es hinter dieser intelligenten Stirn zu rattern begonnen hat. Darüber scheint er seine Probleme mit der Mimawarigumi glatt vergessen zu haben. Er ist immer noch zu blaß, aber seine Hände haben aufgehört zu zittern, sobald Sasaki mit seinem Anliegen herausrückte. Hijikata zuckt es in den Fingern, Yamazaki beruhigend über den Ärmel seines schwarzen Wollpullovers zu streichen, doch er beherrscht sich. Er beherrscht sich viel in letzter Zeit. Normalerweise regt es ihn auf, wenn sein Spion nicht in seiner Uniform erscheint, aber immerhin trägt er die vorgeschriebene Hose und der Wollpullover ist auch schwarz mit dem Shinsengumi-Emblem auf Brust und Ärmel. Er wird selten getragen, aber er gehört durchaus zur Uniform dazu und er ist warm und Yamazaki sieht verfroren aus, außerdem will Hijikata ihre Freundschaft nicht durch so etwas Banales belasten. Er ist froh, dass Yamazaki langsam wieder er selbst wird. Neben Sasaki sitzt Polizeichef Matsudaira in voller, medaillenbestückter Uniform mit einer ernsten, aber auch auffordernden Miene. Es ist eindeutig, dass er gar nicht damit rechnet, dass sie widersprechen würden. Natürlich werden sie das nicht, Befehl ist Befehl, aber das heißt nicht, dass sie gehorchen, ohne Spitzen auszuteilen. „Also, ich fasse mal kurz zusammen", beginnt Kondō links neben Hijikata in einem Tonfall, der sachlich und geschäftsmäßig klingt, aber unter dem jeder seiner Freunde den schwelenden Missmut heraushört. „Da werden also fünf Mimawarigumi-Offiziere innerhalb von 36 Stunden ermordet. Zwei in ihrem Bett, drei im Yoshiwara-Bezirk, davon zwei in einem Love Hotel. Das alles wurde streng geheim eingestuft und so gut verheimlicht, so dass nicht einmal die Presse davon Wind bekam. Und jetzt, nach vier Tagen, holt ihr uns ins Boot? Was ist mit der Polizei?" Sasaki mustert ihn kühl. „Die Sache muss weiterhin diskret behandelt werden." „Ist euer Ruf wichtiger als den oder die Mörder zu fangen?" fragt Hijikata spitz zurück. Es ist eine rein rhetorische Frage, aber die Antwort interessiert ihn trotzdem. Sasakis Blick und Miene werden noch um einige Grad kälter. „Die Ehre der Familien der Opfer steht auf dem Spiel." Hijikata wechselt einen schnellen Blick mit Kondō. Sie denken beide dasselbe, aber sie behalten es für sich. Sie haben der Berichte vor ihnen überflogen, und natürlich will niemand aus den Reihen der Adligen, dass solche pikanten Details bekannt werden. „Sind das alle Informationen?" will Sōgo wissen, der zwischen Yamazaki und Matsudaira sitzt und sich genau wie Yamazaki durch die Formulare vor sich blättert, wenn auch wesentlich gelangweilter. „Ja." Es ist immer wieder erstaunlich, wieviel Verachtung Sasaki in eine einzige, kleine Silbe packen kann. Hijikata sieht, wie Yamazaki neben ihm kurz zusammenzuckt und nun legt er ihm doch eine Hand auf den Unterarm. Als sich ihre Blicke kreuzen, schenkt ihm Hijikata ein kurzes, aufmunterndes Lächeln. Sōgo erhebt wieder die Stimme und lenkt damit alle Aufmerksamkeit auf sich. „Drei von ihnen wurden also zuletzt in Begleitung einer Frau gesehen? Die ihr trotz all eurer hochmodernen Ermittlungsmethoden nicht finden konntet?" „Irgend welche Huren interessieren uns nicht", erwidert Sasaki. „Uns interessiert nur der Mörder." „Sie wurden post mortem kastriert", um Sōgos Mundwinkel spielt ein nahezu unsichtbares Grinsen. „Ist dieses kleine Detail der Grund für diese Geheimniskrämerei?" Die Art, wie er das Wort „Detail" betont, lässt Sasaki den Mund zu einem schmalen Strich zusammenkneifen, aber er verzichtet auf eine Antwort. „Ich finde hier nichts über Spuren, die auf den Täter hindeuten", meldet sich da Yamazaki plötzlich zu Wort. „Wurde nichts gefunden?" „Nein." „Wenn die einzige Spur die Frauen sind, mit denen die letzten drei", suchend blättert Yamazaki in den Papieren, „also Tanaka, Nakamura und Suzuki, zuletzt gesehen wurden, wieso sucht ihr sie dann nicht? Vielleicht ist ihnen ja etwas aufgefallen?" „Wo bestünde da die Verbindung? Fujiwara und Murata lagen allein in ihrem Bett, als sie ermordet wurden." Yamazaki blinzelt erstaunt. „Ihr seht da keine Verbindung?" „Nein." „Ich würde gerne in diese Richtung ermitteln." „Nein." „Was ist mit den Sachen, die sie bei sich trugen? Ihre Telefone zum Beispiel? Darf ich mir die ansehen?" „Nein." „Darf ich andere Zeugen befragen? Den Besitzer des Love Hotels vielleicht?" „Nein." „Was darf ich dann noch ermitteln?" „Ihr sollt den Mörder finden." „Das kann ich doch nicht ohne ordentliche Ermittlung." „Jemand hat es eindeutig auf meine Offiziere abgesehen. Auf der letzten Seite stehen unsere Verdächtigen. Einer von ihnen muss gestehen." Lautstark klappt Yamazaki die Akte wieder zu. „Das ist keine Mordermittlung, das ist eine Farce." „Deshalb", ergreift Matsudaira das Wort, „übernimmt die Shinsengumi ab sofort die Ermittlungen. Und ihr entscheidet ganz allein, welche Methoden ihr anwendet. Und", hier sieht er Yamazaki vielsagend an, „wen ihr befragt." Es ist das größte Lob, dass der Polizeichef ihm in dieser Runde machen kann und Hijikata kann förmlich spüren, wie Yamazakis Selbstbewussten ein paar Punkte nach oben schnellt. „Ich muss alles über die Opfer wissen", fährt Yamazaki, völlig in seinen Element, begeistert fort, „ihren Charakter, ihre Gewohnheiten..." „Wozu?" unterbricht ihn Sasaki scharf. Yamazaki stockt nur für den Bruchteil einer Sekunde. „Wir haben es hier anscheinend mit einem Serienmörder zu tun", erklärt er dann, wobei er aber nur Matsudaira in die Augen blickt. „Die Victimologie hilft uns, ein Profil zu erstellen. So kommen wir auch dem Motiv näher. Die fünf müssen etwas gemeinsam haben, etwas, was sie mit dem Mörder verbindet. Und vielleicht sind ja noch mehr Offiziere in Gefahr." „Ein Wochenendkurs in Kriminologie und du hälst dich schon für einen Experten", ätzt Sasaki. „Es waren vier Wochen. Und wie lange war dein Kurs?" Als Sasaki daraufhin nur mit Schweigen antwortet, nickt Yamazaki einmal und murmelt zu sich selbst, aber laut genug, dass es jeder verstehen kann: „Dachte ich mir." Sasaki sieht aus, als würde er ihn am liebsten auf der Stelle erwürgen, aber in Matsudairas Anwesenheit wagt selbst er nicht einmal ein Fingerzucken. Hijikata war noch niemals stolzer auf seinen Spion als in diesem Moment. „Ich sehe", lächelt Matsudaira salbungsvoll, „ihr habt einen hervorragenden Ermittler in euren Reihen. Kondō, ich verlasse mich auf euch." Mit diesen Worten sind sie entlassen. Geräuschvoll packen sie ihre Sachen zusammen und verlassen den Besprechungsraum. Matsudaira und Sasaki bleiben zurück und Sasakis Miene nach zu urteilen, wird Matsudaira es gleich mit einem sehr, sehr angepissten Offizier zu tun bekommen. Draußen auf dem Gang wartet Imai Nobume, Sasakis Attaché und Leibwächterin, um sie zum Ausgang zu eskortieren. Sie ist jung, eigentlich noch fast ein Kind, aber dennoch eine ausgebildete Assassine. Und wie immer verbreitet sie eine besonders finstere Aura. „Imai-san", begrüßt Kondō sie förmlich. Sie nickt nur und setzt sich wortlos in Bewegung. Sie folgen ihr stumm, auch, wenn sie gerne über ihren neuen Fall und die zurückliegende Besprechung diskutiert hätten, aber das verschieben sie in einem stillen Einverständnis auf später, wenn sie außerhalb der Augen und Ohren der Mimawarigumi sind. Von daher überrascht es sie auch, als Imai Nobume plötzlich das Thema anspricht. „Diese toten Männer haben bekommen, was sie verdient haben.“ Sie lächelt, aber ihre Stimme trieft nur so vor Gift. Niemand wagt, nachzufragen, denn sie kennen sie zu gut. Wenn sie etwas zu sagen hat – und das scheint hier eindeutig der Fall zu sein – wird sie schon damit herausrücken. Ohne ihren Schritt zu verlangsamen, zieht sie ein dickes Kuvert aus ihrer Mantelinnentasche und reicht es an Kondō weiter. „Das sind ihre Mobiltelefone. Wenn ihr sie überprüft, werdet ihr feststellen, dass sie ihre Verbrechen auf Video gebannt haben. Sie gehörten zu einer Gruppe, die sich auf Gangbangs übelster Sorte spezialisiert hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Angehöriger der Opfer die Sache in die eigene Hand nimmt. Meiner bescheidenen Analyse zufolge ist nur noch einer dieser Bastarde übrig. Wenn ihr ihn überwacht, findet ihr früher oder später den Mörder.“ Kondō, Hijikata und Sōgo wechseln einen langen Blick, während Yamazaki den Blick rasch zu Boden senkt. Sie erreichen den Fahrstuhl, und wieder herrscht Schweigen, während sie auf die Kabine warten. Erst als sie drinnen stehen, ergreift Imai wieder das Wort, nachdem sie den Knopf fürs Erdgeschoß gedrückt hat. „Sasaki verschließt seine Augen vor diesen Dingen", fährt Imai fort. „Und die Familien der Ermordeten machen Druck. Das gefährdet seine Karriere. Wenn ihr den Mörder in einer Woche nicht gefunden habt, wird Sasaki einen der armen Teufel von seiner Liste zum Sündenbock machen. Ohne Verhandlung, versteht sich.“ Mit einem leisen „Pling“ öffnet sich die Fahrstuhltür und sie stehen in der großen Eingangshalle. „Ich verspreche, ich werde den armen Kerl schnell und schmerzlos töten. Aber sein Ruf wird trotzdem auf immer zerstört sein.“ Sie mustert sie alle der Reihe nach eindrücklich. „Versteht mich nicht falsch, meine Loyalität gehört einzig und allein Sasaki, aber ich töte ungern Menschen für etwas, was sie nicht getan haben. Und ich will mich nicht an etwas so Unehrenhaftem wie Rufmord an einem Toten beteiligen. Also findet den Mörder. Ich bin sicher, er wird vor den Augen des Shoguns Gnade erfahren, wenn sein Motiv erst einmal öffentlich gemacht wird.“ Kondō mustert sie kühl. „Wir lassen uns bei unseren Ermittlungen weder unter Druck setzen noch beeinflussen. Jeder Spur wird nachgegangen, jedes Detail berücksichtigt. Aber wir danken dir für deine Informationen und die Mobiltelefone.“       Erst draußen im Funkwagen wagen sie es, erleichtert aufzuatmen. Sōgo tritt so heftig aufs Gas, dass die Räder auf dem Kies des Parkplatzes kurz durchdrehen und die kleinen Steinchen nur so durch die Luft geschleudert werden. Innerhalb weniger Sekunden sind sie durch das große Eingangstor hindurch und biegen auf die schmale Zugangsstraße ein, die aus dem Regierungsviertel Richtung Yoshiwara führt. „Ich wußte“, platzt es schließlich aus Hijikata heraus, „dass die von der Mimawarigumi Schweine sind, aber dass sie so pervers sind...?“ „Beleidige die armen Schweine nicht, Hijikata-san“, brummt Sōgo vom Fahrersitz. Kondō neben ihm hat die Stirn in tiefe Denkfalten gelegt. Man kann förmlich zusehen, wie es hinter seiner Stirn rattert. „Das Video, das sie an uns geschickt haben, das war auch eines dieser Videos, oder?“ fragt er schließlich und die Art, wie er sich einmal die Handflächen an den Oberschenkeln abwischt, als hätte er etwas besonders Schmutziges berührt, läßt in Hijikata den Wunsch nach einer Zigarette aufsteigen. Schnell zückt er seine Mayoboro-Schachtel und das Feuerzeug, kurbelt das Fenster herunter und zündet sich einen Glimmstengel an. „Gut, dass wir es gelöscht haben“, meint er grimmig, während er einen tiefen Zug nimmt und den Rauch aus dem halbgeöffneten Fenster bläst. „Der Schmutz kann an der Mimawarigumi hängen bleiben.“ Zustimmendes Schweigen antwortet ihm. Und er erntet nicht einmal einen Tadel, weil er im Auto raucht, was ihm nur beweist, dass er nicht der einzige hier ist, dem sich beim Gedanken an diese Videos der Magen umdreht. Dann fällt ihm etwas ein und er wirft dem Spion neben sich einen besorgten Blick zu. „Zaki, bist du sicher, dass du damit klarkommst, oder sollen wir jemand anderen mit den Ermittlungen betrauen?“ „Wieso sollte Zaki das nicht können, Tōshi?“ erkundigt sich Kondō von vorne überrascht. Betreten beißt sich Hijikata auf die Unterlippe und wirft Yamazaki einen entschuldigenden Blick zu. Mist! Er hatte ganz vergessen, dass außer ihnen beiden – und Tetsunosuke – niemand davon weiß. Doch Yamazaki lächelt ihm nur beruhigend zu. „Das Mädchen aus dem Video, das die Weißröcke uns geschickt haben, ist eine flüchtige Bekannte von mir“, erklärt er Kondō bereitwillig. „Nein, nicht meine Freundin“, fügt er scharf hinzu, bevor Sōgo den Mund öffnen und etwas entsprechendes dazu kommentieren kann, „und sie hat übrigens schon einen Freund, also kommt nicht wieder auf irgend welche komischen Gedanken, dass ihr mich mit ihr verkuppeln könntet oder so.“ Er holt einmal tief Luft und wendet sich dann direkt an Hijikata. „Nein, Fukuchō, keine Sorge, ich kann das. Imai sagte doch, dass es mehrere verschiedene Videos gibt, mit verschiedenen Mädchen. Das sollte genug Material sein, um festzustellen, ob es sich wirklich immer um ein und dieselben Täter handelt. Dann werde ich ...“ er zögert kurz und räuspert sich dann, bevor er mit einer schiefen Grimasse fortfährt: „... dieses Video nur noch auf die Täter überprüfen und die Sequenzen, in denen sie zu sehen ist, überspringen. Ich glaube,“ murmelt er dann leise, „sie würde es sogar sehr begrüßen, dass gerade ich die Ermittlungen leite. Sie weiß, dass sie mir vertrauen kann.“ Hijikata zögert, dann streckt er seinen freien Arm aus, legt seine Hand auf Yamazakis Oberarm und drückt kurz zu. „Es tut mir leid, dass du dir das antun mußt. Ich... nein, wir“, er wirft Kondō und Sōgo einen scharfen Blick zu, „helfen dir dabei, die Videos zu sichten.“ Kondō und Sōgo ziehen zwar eine Grimasse, doch dann nicken sie grimmig. Keiner von ihnen legt wirklich Wert darauf, doch sie wissen, dass diese Videos besser nur einer kleinen Anzahl von Ermittlern bekannt sein sollten. Sie wollen ihre Männer nicht mit in diesen moralischen Sumpf hinabziehen und schließlich erniedrigt jeder, der diesen Schund sieht, die armen Opfer nur ein weiteres Mal. Yamazaki schenkt Hijikata ein seltsam anmutendes Lächeln aus einer Mischung aus Dankbarkeit und Scham, aber dieser hat sich schon wieder zum Fenster gedreht und zieht gierig an seiner Zigarette. Den Rest des Weges zum Hauptquartier herrscht im Wagen ein nachdenkliches, bedrücktes Schweigen.     Hijikata ist schlecht. Richtig schlecht. Er hat schon viel gesehen und erlebt in seinem Leben und er weiß, dass es keinen tieferen Abgrund gibt als die menschliche Seele, aber nichts, gar nichts in seinem Dasein hat ihn auf solche Perversitäten, eine solche Verachtung für ein lebendes, atmendes Wesen vorbereitet. Er wurde mit der Achtung und dem Respekt vor Menschen, insbesondere Frauen, aufgezogen und er kann einfach nicht verstehen, wie man so etwas tun kann. Dieser Ausmaß von Grausamkeit entsetzt ihn zutiefst. Und eine Frage läßt ihn nicht los: warum? Warum? Diese Männer haben alles, was sie sich wünschen können, sie haben Geld, Macht und Einfluß, was haben sie davon, so mit einer schwachen Frau umzugehen? Wie krank muß man dazu sein? Die Mädchen werden geschlagen, bis zur Besinnungslosigkeit gewürgt, mit weiteren Schlägen oder Wasser (manchmal auch alkoholischen Getränken) wieder geweckt, sie werden verbal beleidigt, mit Zigaretten oder Wachs verbrannt und es landen Körperflüssigkeiten in ihrem Gesicht, wovon Speichel noch das Harmloseste ist. Und dabei werden sie immer und immer wieder vergewaltigt. Sie werden herumgereicht wie Wanderpokale und je mehr sie weinen und um Gnade betteln, desto schlimmer wird es für sie. All diese Torturen dauern stundenlang. Es ist schlimm. Wirklich schlimm. Hijikata muß immer wieder ausschalten und seine Nerven mit einer Zigarette beruhigen. Und es gibt sechsunddreißig solcher Videos. Sechsunddreißig! Und das sind nur die, die sie auf den Handys gefunden haben. Nur die Götter allein wissen, wieviele es wirklich gibt, wieviele davon auf irgend einer Festplatte liegen oder sogar schon online gestellt wurden. An diesem Bericht wird Matsudaira seine wahre Freude haben. So, wie Hijikata den Alten einschätzt, wird der dafür extra eine Sonderkommission gründen mit Cyberspezialisten und Trauma-Experten für die Opfer. Nichts, was die Shinsengumi dann noch etwas anginge und dafür ist er sehr, sehr dankbar. Nach dem dritten Video in Folge klappt er seinen Laptop zu, schnappt sich seinen Mantel und verlässt sein Quartier, um frische Luft zu schnappen. Es ist inzwischen Nacht geworden und die kalte Luft sticht, aber sie tut seinen brennenden Augen gut. Mit zitternden Händen zündet er sich eine Zigarette an und schlendert dann über den Hof. Es ist still geworden im Hauptquartier und der Schnee, der vor einer Stunde fiel, liegt noch völlig unberührt vor ihm. Er atmet einmal tief durch – und Tabak ein – und versucht, sich an diesem kleinen Wintermärchen zu erfreuen, doch die Bilder lassen sich nicht so einfach verjagen. Auf seiner Runde bemerkt er ein paar erleuchtete Zimmer – die Küche (jemand gönnt sich wohl einen kleinen Snack), der Aufenthaltsraum für die Nachtwache, Kondōs Quartier und... irritiert runzelt Hijikata die Stirn. Die Büros des Vizekommandanten. Huh? Sind Tetsu oder Zaki etwa noch auf? Neugierig geworden, stapft Hijikata auf den geschlossenen Shoji zu und schnippt seine aufgerauchte Zigarette fort, bevor er die Schiebetür öffnet. „Fukuchō.“ Yamazaki sitzt an seinem Schreibtisch, hebt bei seinem Eintreten den Kopf und schenkt ihm sein typisches Lächeln. Hijikatas Stirnrunzeln vertieft sich, als er die Kopfhörer bemerkt und sieht, was der Computerbildschirm hinter Yamazaki da zeigt. In seiner Brust schnürt sich etwas zusammen, doch er unterdrückt es tapfer, schüttelt sich nur den Schnee von den Stiefeln und nähert sich ihm dann zögernd. „Es ist spät“, sagt er dabei, bemüht, nicht auf den Bildschirm zu sehen und sich dafür ganz auf Yamazakis Gesicht zu konzentrieren. Er sieht blaß und regelrecht erschöpft aus. „Du siehst dir das Zeug schon seit heute Mittag an. Mach doch mal Pause.“ Und dann fällt ihm etwas Entscheidendes ein. „Hast du überhaupt etwas gegessen?“ Vielsagend deutet Yamazaki auf die leere Bentobox neben sich und im ersten Moment ist Hijikata erleichtert, doch dann erinnert er sich an seine eigene Übelkeit. „Wirklich? Oder hast du alles wieder ausgespuckt? Von diesen Videos wird einem doch ganz übel.“ „Es gibt einen Trick“, erklärt Yamazaki mit einem schwachen Lächeln. „Ich achte nur auf die Gesichter der Täter. Und ich spule häufig hin und her. Wir haben nicht die Zeit, um uns das gesamte Material vollständig anzusehen. Außerdem...“, er zögert kurz, doch dann wandelt sich sein Lächeln, es wird bitter, geradezu grimmig, „ist es ein Trost, sich daran zu erinnern, dass die alle bis auf einen inzwischen tot sind.“ Abermals ein kleines Zaudern. „Fukuchō... es ist mir unangenehm, aber ich muß mich über Kondō und Okita beschweren. Die beiden sind mir keine große Hilfe. Sie haben schon nach dem ersten Video aufgegeben und mir ihren Anteil aufs Auge gedrückt. Ich kann das durchaus nachvollziehen, aber hier geht es nicht um langweiligen Papierkram. Ich bin auch nur bis zu einem gewissen Grad belastbar, vor allem bei dieser Sache und ich bin wirklich, wirklich müde. Ich bemühe mich sehr, aber so werde ich nicht bis morgen Abend mit der Sichtung fertig sein, selbst, wenn ich die Nacht durcharbeite. Denn soviel ist schon mal klar: es gibt verschiedene Gruppen mit anderen Tätern und unterschiedlichen Präferenzen. Die von der Mimawarigumi sind nur eine Gruppe von vielen. Ich habe mindesten ein Dutzend bekannte Personen aus Politik, Wirtschaft und Medien wiedererkannt. Die schicken sich die Videos hin und her wie Katzenbilder. Das alles ist größer als wir dachten.“ Plötzlich völlig kraftlos, läßt sich Hijikata auf einen Stuhl in der Nähe fallen. „Sortieren wir nur die Videos aus, die unseren Fall betreffen. Konzentrieren wir uns darauf.“ „Hm, hab ich schon gemacht. Das sind immer noch dreißig und ich habe gerade mal ein Drittel davon durch.“ „Ich habe drei“, murmelt Hijikata und massiert sich die Nasenwurzel. Yamazaki gibt ein leises Brummen von sich. „Mit den beiden von Kondō und Okita macht das immerhin schon die Hälfte. Dann korrigiere ich mal: ich werde bis Mittag garantiert damit durch sein. Und dann bin ich auch durch.“ Hijikata wirft ihm einen langen Blick zu. So frustriert hat er Yamazaki selten erlebt. Er denkt einen kurzen Moment lang nach und trifft dann eine Entscheidung. „Wir hören hier damit auf. Das, was wir bisher haben, muss ausreichen. Unsere Aufgabe ist es, einen Mörder zu finden, nicht diesen Sumpf auszuheben. Wir haben eine Gemeinsamkeit der Opfer gefunden und wir haben ein Motiv. Konzentrieren wir uns auf die Frauen. Überprüfen wir ihre Alibis und die ihrer Angehörigen und Freunde. Und gleichzeitig beginnen wir mit einer Überwachung des übriggebliebenen Perversen aus dieser Gruppe, damit wir den nächsten Anschlag hoffentlich verhindern und den Mörder in flagranti erwischen können.“ Yamazaki schürzt gedankenverloren die Lippen und für einen Augenblick starrt Hijikata ihn einfach nur verzaubert an. Das sieht einfach nur niedlich aus! „Ich ziehe mich von der Überwachung wegen Befangenheit zurück“, erklärt Yamazaki dann, streckt die Hand aus und fährt mit einem Tastendruck den Computer herunter. Hijikata ist regelrecht erleichtert, als sich der Bildschirm schwarz färbt. „Ich kann nämlich nicht versprechen, dass ich nicht beiseite sehe, wenn der Typ abgeschlachtet wird.“ Hijikata nickt nur, denn das kann er sehr gut verstehen. Ihm ergeht es da nicht anders.       Kapitel 15: Vergangenheit – 1. Januarwoche - 06. Januar – Nur Dummköpfe spielen mit scharfen Messern und glauben, sie schneiden sich nicht ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ Das erste, was ihn begrüßt, als er wieder zu sich kommt, sind Kopfschmerzen. Furchtbare, hämmernde Kopfschmerzen. Dann bemerkt er, wie pelzig sich seine Zunge anfühlt und schmeckt etwas, was ihm vage bekannt vorkommt. Leise aufstöhnend drängt er eine Welle der Übelkeit zurück. Das kennt er irgend woher, nicht wahr? Es dauert eine Weile, bis es ihm wieder einfällt. Das hat der Zahnarzt seiner Familie immer benutzt. Chloroform. Aber warum... er hatte doch gar keinen Arzttermin? Das Letzte, woran er sich erinnern kann, ist, dass er aus dem Urlaub zurückkam – hm, ja, an die beiden Schnecken, die er in der Winterresidenz seiner Familie vernascht hat, kann er sich sehr gut erinnern. Sie waren weit abgelegen und ganz allein und niemand hörte ihre Schreie. Ja, das war ein Urlaub nach seinem Geschmack. Und auf dem Weg hierher war noch diese kleine Anhalterin, bestimmt noch minderjährig, aber das hat auch seinen Reiz... Er warf sie irgendwo in den Wäldern vor Edo aus dem Wagen. Er parkte sein Auto in seiner privaten Tiefgarage und dann... uh. Oh, ja, da war jemand. Aber an das Gesicht kann er sich nicht erinnern, nur an dieses glänzende, blonde Haar. Mühsam öffnet er die Augen und stellt folgendes fest: erstens, seine Hände sind hinter seinem Rücken gefesselt und wie es sich anfühlt, wurde er mit seinen eigenen Plüsch-Handschellen bewegungsunfähig gemacht - die, die er vorzugsweise bei seinen Sexabenteuern nutzt, weil sie fest und sicher sind, aber keine verräterischen Abdrücke an den Handgelenken hinterlassen und zweitens, er kniet auf den Fliesen seiner Küche. Und drittens – die Spitze seines eigenen, am Griff mit Jade besetzten, Wakazashis zielt auf seine Bauchregion. Er blinzelt ein paar Mal, durch die Kopfschmerzen fällt es ihm schwer, das alles irgendwie zu begreifen. In Ermangelung anderer Alternativen lässt er seinen Blick an der scharfen Klinge entlangwandern. Er sieht eine Hand, ein schmales Handgelenk mit einem Silberkettchen und einen eleganten Unterarm, der in einem scharlachrotem Kimonoärmel verschwindet. Er blinzelt noch einmal und allmählich kann sein Gehirn mit den Bildern, die ihm seine schmerzenden Augen melden, etwas anfangen. Vor ihm sitzt eine blonde Frau in einem schwarzem Kimono mit scharlachroten Ärmeln und unbarmherzigen, hellbraunen Augen in einem eher langweiligen Gesicht. Irgendwie kommt sie ihm vage bekannt vor. „Was soll das?“ verlangt er zu wissen. Es soll herrisch klingen, aber sein Körper kämpft noch mit den Nachwirkungen der Betäubung, daher wirkt es eher wie ein rauhes Flüstern. „Laß mich frei. Du weißt wohl nicht, wer ich bin? Ich bin Okubo Yoshio. Meine Familie ist reich und mächtig. Wenn du mich nicht freilässt, werden sie dich jagen und an die Amanto verfüttern. Du bist jung und fruchtbar, du wirst eine gute Sexsklavin abgeben.“ Sie lächelt nur und drückt die Schwertspitze etwas nachhaltiger gegen seinen Bauch. Er spürt den Schmerz und starrt unwillkürlich wieder nach unten. Und jetzt fällt es ihm auf: er trägt einen weißen Kimono. Das Oberteil ist nicht gegürtet und entblößt sein mühsam antrainiertes Sixpack. Das ist … er schluckt einmal schwer … die traditionelle Seppuku-Kleidung. Sie räuspert sich einmal, womit sie wieder seine volle Aufmerksamkeit hat, hält mit ihrer freien Hand ein Stück Papier hoch und beginnt dann zu lesen: „Ich, Oboro Yoshio, gestehe hiermit die Morde an meinen Kameraden und Mittätern Tanaka, Nakamura, Suzuki, Fujiwara und Murata. Ich tat dies, weil ich ihre schrecklichen Verbrechen nicht mehr ertragen konnte. Wir sechs gehören zu einer Gruppe, deren Ziel es ist, Frauen zu quälen und gemeinsam zu vergewaltigen und das alles zu filmen. Diese Videos teilen wir dann mit Gleichgesinnten und wir versuchen stets, uns in unseren Grausamkeiten zu übertrumpfen. Wir sind reich und von Adel und niemand wird es je wagen, uns anzuzeigen oder zu verurteilen. Aber ich halte das nicht mehr aus, mein Gewissen lässt mir keine Ruhe mehr. Deshalb tötete ich sie und mich. Mögen die armen Frauen, denen wir soviel Leid angetan, durch unseren Tod wenigstens etwas Frieden finden.“ Bedächtig legt sie das Blatt neben sich. „Klingt überzeugend, was meinst du?“ Er starrt sie entgeistert an. „Was soll das? Was … mach mich los, du Hure!“ Rot und heiß wallt die Wut in ihm empor, spült jegliches Unwohlsein und sogar seine Kopfschmerzen davon, während er sich hoch zu stemmen versucht. Wütend zerrt er an seinen Fesseln. Wenn er nur die Hände frei hätte, dann würde er ihr schon zeigen, was es heißt, sich mit einem Oboro anzulegen! Ein plötzlicher, brennender Schmerz lässt ihn mitten in der Bewegung erstarren. Wieder starrt er nach unten und japst unwillkürlich auf. Sie hat das Kurzschwert nicht weggezogen, als er sich bewegte und nun hat die Klinge eine tiefe, blutende Furche in seiner Bauchdecke hinterlassen. „Ups“, meint sie leichthin, „wie ungeschickt von dir. Das wird aussehen, als hättest du gezögert. Sitz still oder willst du deiner reichen, mächtigen Familie wirklich auch noch diese Schande bereiten?“ „Du... was willst du?“ Seine Gedanken rasen. Er will nicht sterben. „Geld? Ich habe viel davon. Du kannst alles haben. Du kannst es haben. Du kannst alles haben. Laß mich nur frei.“ Sie verzieht keine Miene und starrt ihn nur an und da ist etwas in ihren Augen, das ihm eine Riesenangst einjagt. Er kann nicht glauben, dass ihm das passiert. Warum ausgerechnet er? „Es war doch nicht meine Idee! Hast du eine Ahnung, wie das ist, wenn alle Druck auf dich ausüben, wenn du mitmachen musst, weil du sonst ausgestoßen wirst? Ich habe doch nichts Unrechtes getan.“ Nichts in ihrer Miene oder ihrem Blick ändert sich und seine beginnende Panik schlägt plötzlich wieder in Rage um. „Sie wollten es alle so! Die Mädchen, sie betteln doch darum! Sie sind selbst schuld, diese Huren! Warum lächeln sie uns an, wenn sie es nicht auch wollen? Es macht ihnen doch Spaß! Sie spielen die Unnahbaren und in Wirklichkeit sind sie verdorbene Huren. Betteln nach unseren Schwänzen, können gar nicht genug davon kriegen-“ Er stockt mitten im Satz und zieht erschrocken die Luft ein. Und kurz darauf wird daraus ein schmerzerfülltes Winseln. „Ich kann mich nicht daran erinnern, darum gebettelt zu haben“, meint sie völlig ruhig, drückt die Klinge tiefer in seinen Bauch und zieht sie dann mit einem kräftigen Ruck nach oben. Mit entsetzt weitaufgerissenen Augen starrt er sie an. Ihm dämmert nur sehr, sehr langsam, was sie eben getan hat. Dumpf beobachtet er, wie sie sich elegant erhebt und hinter ihn tritt. Sie macht irgend etwas mit seinen Händen, aber sein Verstand, noch immer durch das Chloroform auf Sparflamme und jetzt durch den Schock gänzlich gelähmt, registriert kaum, wie sie die Handschellen löst. Langsam, wie in Zeitlupe, kippt er zur Seite, während seine nun befreiten Hände instinktiv das Wakazashi in seinem Bauch umklammern. Das Letzte, was er sieht, bevor seine Welt in ewiger Dunkelheit versinkt, ist dieses kleine, zufriedene Lächeln in diesem Gesicht, das ihm immer noch vage bekannt vorkommt. Kommandant Sasaki tobt. Innerlich. So gerne er jetzt jemanden anschreien würde, er kann es nicht, denn Matsudaira steht neben ihm und der Polizeichef hat ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass es seine eigene Schuld ist, wenn er jetzt noch einen Offizier verloren hat, weil er sich weigerte, mit der Shinsengumi vollumfänglich zu kooperieren. Sie hatten nach Oboro gefragt, doch Sasaki hatte darauf bestanden, ihn selbst zu verhören und ihnen verboten, sich bis dahin einzumischen. Morgen. Morgen wollte er damit beginnen. Er wollte Oboro nicht sofort nach seinem Urlaub damit belästigen. Missmutig verschränkt Sasaki die Arme vor der Brust und sieht der Handvoll Männer von der Shinsengumi dabei zu, wie diese den Tatort untersuchen. Sie gehen dabei sehr professionell vor, doch Sasaki würde sich lieber die Zunge abbeißen, als das zuzugeben. „Tja, nun...“, meint Kondō gerade bedächtig und gibt die Klarsichthülle mit dem Aufdruck „Beweismittel“, in der der Abschiedsbrief steckt, wieder zurück an Yamazaki und der reicht es dann an den Polizeichef weiter. „...damit wäre der Fall wohl abgeschlossen.“ „Gut“, nickt Matsudaira, betrachtet versonnen das Stück Papier und pafft dabei an seinem Zigarillo. Sasaki zieht eine verkniffene Miene und gibt ein leises Brummen von sich. Es gefällt ihm nicht, wie sich die Dinge entwickelt haben. Missmutig lässt er seine Blicke über die Leiche wandern, die in ihrer eigenen Küche in einer riesigen Blutlache liegt. Kurz ziehen sich seine Augenbrauen zusammen, als er genauer darüber nachdenkt. Oboro und Seppuku? Das passt nicht. Aber, innerlich aufseufzend starrt er auf den Abschiedsbrief in Matsudairas Händen, auf diese Art bleibt der Mimawarigumi viel Schande erspart. Diese Sache mit den Videos ist schon Katastrophe genug und ihn schaudert vor dem Gedanken, was Matsudairas hastig zusammengestellte Sonderkommission noch alles dazu herausfinden wird, aber … mit Oboros Tod und Geständnis ist zumindest der Teil, der die Mimawarigumi betrifft, abgeschlossen. Und da es ihnen bisher sogar gelungen ist, die Medien aus dieser Sache herauszuhalten, gibt es eine gute Chance, dass der Ruf der Mimawarigumi nur innerhalb der eigenen Reihen ein klein wenig angekratzt wird. Nach einem Monat wird Gras über die ganze Sache gewachsen sein. Ohne ein Wort des Grußes wendet er sich von der Szene ab und geht denselben Weg zurück, den er gekommen ist: durch den prunkvollen Gang und die protzige Eingangshalle hinaus und die marmorne Treppe hinunter auf den Parkplatz, wo nicht nur Matsudairas dunkler Dienstwagen, ein Funkwagen der Shinsengumi und einer von der Mimawarigumi stehen, sondern wo auch Nobume auf ihn wartet. Vielsagend hält sie ihm die Wagentür auf und nimmt dann selbst hinter dem Steuer Platz. Sie sagt nichts, bis sie den Motor gestartet hat, doch als sie den Wagen aus der Privateinfahrt auf die Straße gelenkt hat, kann sie sich nicht mehr zurückhalten. „Sasaki-san... dass du ihn selber verhören wolltest, leuchtet mir ein, aber warum hast du mir nicht befohlen, Oboros Überwachung bis dahin zu übernehmen?“ Er wußte schon immer, dass sie zu klug für ihr eigenes Wohl ist. „Zweifelst du etwa an meinen Entscheidungen?“ verlangt er daher scharf zu wissen. „Das käme mir nie in den Sinn“, erwidert sie glatt. „Aber mir drängt sich der Verdacht auf, dass du hofftest, der Mörder käme dir zuvor.“ Er zieht es vor zu schweigen und sich stattdessen angelegentlich mit seinem Smartphone zu beschäftigen. Kapitel 16: Gegenwart - 3. Januarwoche – 20. Januar, Tag X – Wenn Frauen weinen, schenk ihnen ein Taschentuch oder eine starke Schulter ---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------     Krankenhausbetten sind Gift für den Rücken. Sie sind zu unbequem und ganz einfach zu hoch. Für den Arzt und das Pflegepersonal mag das ja praktisch sein, aber für jemanden, der auf diesem Ding liegen muß, ist allein das Aufstehen ein Spiel mit der Balance. Hijikata ist sich sicher: wäre er nicht immer hilfreich zur Stelle gewesen, wäre Shisako die dreimal, die sie ins Bad musste, bestimmt auf der Nase gelandet. Das Essen ist allerdings ziemlich gut – auch wenn Shisako keinen Bissen angerührt und alles an ihn weitergereicht hat. Einen Arzt haben sie nicht mehr gesehen und die schreckliche Schwester wurde von einer wesentlich Netteren abgelöst, die Hijikata gestattete, über Nacht zu bleiben, wenn er ihr im Gegenzug versprach, fürs Rauchen die ausgewiesenen Raucherräume zu nutzen. Da Hijikata Shisako aber ungern alleine lässt, schränkt er ausnahmsweise mal seinen Zigarettenkonsum etwas ein. Und es ist gut, dass er da auf seine innere Stimme hörte, denn so ist er zur Stelle, als Shisako ihren lang herausgezögerten Nervenzusammenbruch bekommt. Dennoch hätte er es fast nicht bemerkt. Sie spielt ihm vor zu schlafen, hat sich auf die Seite gerollt und ihm den Rücken zugedreht, sich in der Decke vergraben, aber er hört das Stocken in ihren Atemzügen und sieht das Zucken ihrer Schultern. Vielleicht liegt es daran, dass er insgeheim schon seit Stunden darauf gewartet hat oder einfach nur an seiner eigenen emotionalen Erschöpfung, dass er sich ohne zu zögern neben sie auf dieses schmale, unbequeme Bett legt und sie einfach nur von hinten umarmt. Das ist alles, was er macht. Er liegt einfach nur da und hält sie fest, während ihr anfangs stilles, unterdrücktes Weinen zu einem immer lauter werdenden Schluchzen und Wehklagen wird. Irgendwann dreht sie sich in seiner Umarmung herum und vergießt bittere Tränen in sein Hemd, doch er streichelt ihr nur tröstend mit der einen Hand durchs Haar und zieht beruhigende Kreise mit der anderen auf ihrem Rücken. Sie ist warm und sie riecht gut nach dem Jasmin-Duschbad, das genauso in ihrer Reisetasche war wie der weiche Jinbei, den sie jetzt trägt. Es sollte sich nicht so gut anfühlen, sie so zu halten, nicht, wenn sie so traurig ist, aber Hijikata hat keine Lust mehr, sich selbst zu belügen. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis sich Shisako wieder etwas beruhigt, und Hijikata genießt jede einzelne Sekunde davon. Er stellt fest, dass es sich nicht sehr davon unterscheidet, wie es war, wenn er Yamazaki getröstet hat – neben allem anderen fühlte es sich immer irgendwie gut an, wenn dieser seine Hilfe annahm und sich allmählich in seinen Armen wieder beruhigte. Natürlich hat er ihn nie so eng umschlungen wie Shisako jetzt. Und er hat ihm auch nie so zärtlich durchs Haar gestreichelt. Und wegen der tränennassen Stelle auf seinem Uniformhemd hätte er ihm auch die Hölle heiß gemacht. Als ihre Schluchzer auf ein Niveau verebbt sind, das ihr nicht mehr das Atmen erschwert, findet sie auch langsam ihre Stimme wieder. „Ich wußte es nicht einmal“, murmelt sie mit stockender Stimme gegen seinen Hals, während sich ihre Finger weiter in sein Hemd krallen. „Ich dachte, dass ich überfällig bin, läge am Streß... der Arzt sagte, das käme vor. Er sagte, wenn es ist nicht gesund ist, dann stößt der Körper es ab. Vielleicht ist es besser so, oder?“ Spontan würde er ihr da sofort zustimmen, doch er will nicht eifersüchtig und herzlos klingen. „Du wärst eine tolle Mutter“, versichert er ihr stattdessen und drückt ihr einen Kuß aufs Haupt. „Sicher?“ hakt sie unsicher nach. „Absolut. Ja.“ Sie schweigt und kuschelt sich nur fester an ihn. „Wie wäre es mit einer kleinen Gedenkstätte?“ schlägt Hijikata schließlich leise vor. Sie schnieft einmal und hebt den Kopf aus seiner Halsbeuge. Große, feuchte Augen blinzeln ihn fragend an. „Ein kleiner Platz bei uns im Hauptquartier, wo du jederzeit hingehen kannst“, führt er aus. Je mehr er darüber nachdenkt, desto besser gefällt ihm die Idee. „Ein Blumenbeet, eine kleine Gedenktafel, so etwas in der Art.“ „Wie bei Tosshi?“ Er verzieht das Gesicht und schüttelt den Kopf. Das hier kann man nun wirklich nicht mit dem Otaku-Geist vergleichen, von dem er einst besessen war. Und das will er ihr auch deutlich machen. „Wir sollten einen Priester bitten, für die kleine Seele zu beten“, schlägt er daher vor. „Das ist, glaube ich, nicht üblich. Aber es klingt schön.“ „Dann machen wir das so.“ Es ist ihm völlig egal, was üblich ist und was nicht. Er kennt einen alten, freundlichen Priester eines kleinen, nicht sehr bekannten Tempels, der ihm für eine kleine Spende diesen Gefallen bestimmt erfüllen wird. Morgen ist das Neujahrsfest – das Richtige – und auch wenn die Priester da immer alle Hände voll zu tun haben, dieser Priester wird Zeit für ihn finden. Er spürt, wie sie sich zufrieden an ihn kuschelt und schließt zur Antwort seine Arme noch ein ganz klein wenig fester um sie. Ihr Körper schmiegt sich auf eine geradezu perfekt anmutende Art und Weise gegen seinen und er spürt, wie etwas in ihm regelrecht dahinschmilzt. „Fukuchō...“ „Tōshirō“, berichtigt er sie sanft. Sie schweigt einen Moment und er kann spüren, wie sie kurz den Atem anhält. Er hat noch niemals jemandem gestattet, ihn beim Vornamen zu nennen – jeder, der das tut, wie Kondō oder Sōgo und ja, sogar Mitsuba damals, hat sich dieses Recht einfach genommen. „Tōshirō...“ Es klingt, als lasse sie den Namen prüfend über ihre Zunge rollen und verdammt, noch niemals hat sich sein Name besser angehört. „...ich will nach Hause.“     Es ist erst eine halbe Stunde vor Mitternacht, aber wenn Shisako nach Hause will, wird Hijikata ihr das nicht ausreden. Ihre Argumente sich schließlich überzeugend: ausruhen kann sie sich am besten in ihren eigenen vier Wänden. Und wenn Hijikata so sehr befürchtet, dass ihr etwas Schlimmes passiert, kann er gerne bei ihr bleiben und auf sie aufpassen. Es klingt wie ein Freifahrtschein und es ist auch einer, aber sie wissen beide, dass er die Situation niemals ausnutzen wird. Und so verlässt er ein letztes Mal das Zimmer um eine zu rauchen, damit sie sich in der Zwischenzeit fertig machen kann. Er hat nicht vor, die Nachtschwester um Shisakos Entlassungspapiere zu bitten, sie werden sich einfach davon schleichen. Das ist nicht schwer, das hat er selbst schon hundert Mal gemacht und auch wenn er noch niemals auf der gynäkologischen Station war, hat er Dank seiner Raucherpausen schon einen Schleichweg hier hinaus gefunden. Zehn Minuten später kehrt Hijikata zurück und glaubt zuerst, sobald er das Zimmer betritt, sich in der Tür geirrt zu haben. Erst auf den zweiten Blick erkennt er in der Frau vor ihm Shisako. Es ist ähnlich wie an Weihnachten und Silvester, als er Yamazaki in einem Kimono erwischte. Obwohl Hijikata jetzt weiß, dass Yamazaki Sagaru seit einem Jahr Yamazaki Shisako ist, muß sein Intellekt auf dem Wege zur Realisierung dieses Fakts in einer Endlosschleife gefangen sein, anders kann er sich seine ständig wiederkehrende Fassungslosigkeit über diesen Anblick nämlich nicht erklären. Dabei weiß er es doch – er hat es gesehen, sogar ihre schmale Taille unter dem Krankenhaushemdchen gefühlt, als er Yamazaki … nein, stopp, Shisako auf dem Weg zum Bad stützte. Und das passierte nicht nur einmal. Und dann mal ganz davon zu schweigen, wie oft er ihn … sie schon in den Arm gehalten hat und dabei ihre eindeutigen Rundungen spürte. Ihre Brüste sind klein und fest und einfach nur perfekt wie alles an ihr und trotzdem vergißt er das alles, wenn er mal kurz den Blick abwendet. Vielleicht muß er nur lernen, weniger von Yamazaki und stattdessen öfter von Shisako zu denken. Langsam schließt er die Tür hinter sich und versucht nicht, sie allzu offensichtlich mit seinen Augen zu verschlingen. „Es war ein Fehler, Kondō loszuschicken, um mir Kleidung zu holen“, beschwert sich das entzückende Wesen vor ihm schmollend. Hijikata mustert sie von Kopf bis Fuß und wieder zurück. „Du siehst umwerfend aus“, murmelt er. Ein weinroter Andon-Bakama, dazu ein Oberteil in fast derselben Farbe mit weiten Ärmeln und einem verschlungenen, goldenen Muster. Die frisch gewaschenen, schwarzen Haare umranden ein jetzt vor Ärger leicht gerötetes Gesicht und auch wenn das Weiß ihrer Augen wieder etwas rot angehaucht ist – sie weint viel heimlich, aber das hat Sagaru auch oft gemacht - schimmern diese hellbraunen Augen lebhafter als jemals zuvor. „Das ist meine Verkleidung für den Job in Kabukicho letzten Herbst“, lamentiert sie. Ganz offensichtlich hat sie sein Lob nicht gehört. „Wieso greift er sich ausgerechnet das heraus? Wieso hat er nicht einfach eine Jeans und einen Hoodie genommen?“ Hijikata verbeißt sich ein Grinsen. „Was hast du erwartet? So ist unser Kondō nun einmal. Für eine schöne Frau sucht er auch schöne Wäsche aus dem Kleiderschrank heraus. Du siehst umwerfend aus, Shisako.“ Mit diesen Worten geht er auf sie zu, bleibt vor ihr stehen und nimmt ihre Hände in seine. Sie wird noch etwas röter und weicht seinem Blick verlegen aus. „Können wir jetzt gehen?“ fragt sie nach ein paar peinlichen Sekunden betont forsch. „Gleich“, erwidert er und kann dann doch nicht widerstehen. Sanft zieht er sie in seine Arme. „Gleich.“ Zuerst sträubt sie sich etwas, doch dann vergißt sie zu schmollen und schmiegt sich vertrauensvoll an ihn. Selbst durch den dicken Stoff ihrer Kleidung spürt er wieder alles, aber vielleicht ist er inzwischen auch nur sensibilisiert, was das betrifft. Es läßt sich jedenfalls nicht leugnen: er hält sie gerne einfach nur fest. „Können wir jetzt gehen?“ wiederholt sie irgendwann und es klingt etwas gedämpft, weil sie ihr Gesicht gegen seine Schulter drückt. Nur sehr widerwillig entläßt er sie aus seiner Umarmung. Als Kondō ihre Sachen vorbeibrachte, hat er zwar an einen Mantel und Stiefel gedacht, aber Mütze und Schal vergessen. Entschlossen wickelt Hijikata ihr seinen Schal um den Hals – den goldbestickten, blauen, den, den sie ihm zu Weihnachten geschenkt hat – und drückt ihr dann seine Fellmütze aufs Haupt. Und dann starrt er sie für einen Herzschlag lang einfach nur an. Sie trägt denselben Mantel wie an Silvester, als er sie dabei ertappte, wie sich über die Mauer zurück ins Hauptquartier schlich. Es war, wie ihm jetzt schmerzhaft bewußt wird, jene Nacht, in der sie drei Mimawarigumi-Offiziere tötete, drei der sechs Männer, die ihr Unbeschreibliches angetan hatten. Aber er erinnert sich auch an ihr Lächeln und das dunkle Licht in ihren Augen, als sie ihm diese Lüge von Nori-chan auftischte. Nori … das bedeutet „Gesetz“. Man kann wirklich nicht behaupten, dass Zaki ihm keine Hinweise gegeben hätte... Er sollte ihr böse deswegen sein, aber alles, was er empfindet, ist Stolz. Dann wird er sich bewußt, dass er sie anstarrt und schnappt sich schnell ihre Tasche, während sie den Blumenstrauß aus der Vase nimmt und fest an ihre Brust drückt. Für einen kurzen Moment vergräbt sie ihr Gesicht in den bunten Blüten und atmet deren Duft tief ein, als würde sie dadurch Mut tanken. Dann nickt sie ihm entschlossen zu und reicht ihm auffordernd ihre Hand. Und in diesem Moment fühlt er es: das hier ist mehr als die Flucht aus einem Krankenhaus. Hier beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Für sie beide.   Kapitel 17: 3. Januarwoche – 21. Januar, Tag X+1 – Taxifahrer können viele Geschichten erzählen ----------------------------------------------------------------------------------------------- Eigentlich, fährt es Sataka Gintoki durch den Kopf, während er den Blinker setzt und das Taxi auf die Einfahrt des Krankenhauses lenkt, ist dieser Job gar nicht mal so übel. Erstens fährt er wirklich, wirklich gerne Auto, auch wenn Frau Holle es, so wie jetzt, mal wieder viel zu gut mit ihnen meint und zweitens ist das Trinkgeld immer sehr großzügig. Von ihm aus kann der Kunde, der ihn damit beauftragte, seine Taxifahrten zu übernehmen, sich auch noch sein anderes Bein brechen und noch länger zu Hause bleiben. Immerhin darf Gintoki die Einnahmen behalten. Gintoki wusste nicht, dass der Markt für private Taxifahrer derart hart umkämpft ist, dass sie es sich nicht leisten können, auch nur eine Woche auszufallen, aber dafür ist sein kleines Unternehmen namens Yorozuya ja schließlich da. Um in solchen Fällen einzuspringen. Das hier ist auf alle Fälle besser als Prinz Hatas Haustiere zu suchen oder Dächer zu reparieren. Und er holt gerne Patienten vom Krankenhaus ab. Auch wenn es vielleicht kein sehr feiner Zug von ihm war, die Visitenkarten der anderen Taxiunternehmen, die am Empfang liegen, mit denen seines Klienten auszutauschen. Aber hey – seitdem hat er immer Fahrgäste, die sich zu benehmen wissen. Nichts ist Schlimmer als ein Betrunkener, der ihm die Polster vollkotzt. Und vielleicht ist es ja diesmal eine hübsche Krankenschwester, die ihre Schicht beendet hat und von ihm nach Hause kutschiert werden möchte? Und vielleicht gibt sie ihm ja ihre Nummer und das wäre der Beginn einer wunderschönen Romanze? Doch seine Hoffnung wird schnell enttäuscht, als er das Paar entdeckt, das eindeutig auf ihn wartet. Sie stehen näher zur Straße und so weit vom Eingang entfernt, dass das Licht sie kaum noch erreicht. Alles, was er von ihnen erkennen kann, sind zwei dunkle Silhouetten, wovon eine eine Reisetasche über der Schulter trägt. Irgend etwas an der eleganten Form der Kleidung des Mannes kommt ihm bekannt vor, doch er kann nicht den Finger darauf legen. Vielleicht ist er auch zu sehr von dem zierlichen Fräulein abgelenkt, das bei ihm steht und einen riesengroßen Blumenstrauß an sich drückt. Von ihrem Gesicht kann er selbst dann nicht viel erkennen, als er neben ihnen zum Stehen kommt, denn sie ist bis zur Nasenspitze in einen Schal gewickelt und trägt dazu noch eine Fellmütze, auf der ein ihm bekanntes Abzeichen prangt. Aber die besitzergreifende Art, wie ihr Begleiter einen Arm um ihre Taille geschlungen hat, verrät ihm, dass er es hier nicht mit Bruder und Schwester zu tun hat. Schade, kein Dating-Material. Er steht kaum, da öffnet der Mann die hintere Tür und hilft dem Fräulein galant beim Hineinklettern. Seine Worte sind dagegen wenig höflich. „Ziemlich spät. Hoffentlich ist es hier wenigstens geheizt“, meint er eindeutig an Gintokis Adresse gerichtet. Gintoki erstarrt, doch nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann beginnt er breit zu grinsen. Langsam dreht er sich zu ihm herum. „Guten Abend, Hijikata-kun“, flötet er betont höflich. Exakt zur selben Zeit meint das junge Fräulein: „Ich bin nicht aus Zucker, Tōshirō.“ „Du sollst dich nicht erkälten“, verteidigt er sich, während er sich zu ihr setzt und die Tür hinter sich zuwirft. „Mir ist nicht kalt, wenn du mich umarmst“, schnurrt sie und kuschelt sich an ihn. In diesem Moment sehen sie ihren Taxifahrer zum ersten mal richtig. „Yorozuya!“ entfährt es Hijikata entgeistert. „Danna!“ keucht das Fräulein zur selben Zeit. Danna? Gintokis Augen weiten sich und sein Grinsen rutscht ihm quasi nur so aus dem Gesicht, um von grenzenloser Verblüffung abgelöst zu werden. „Hah?“ bringt er schließlich irgendwie heraus und starrt fassungslos in dieses Gesicht, das er jetzt erst erkennt. „Jimmy-kun?“ Entgeistert wandert sein Blick an ihm … ihr? hinunter, verharrt kurz an dem roten Hakama unter dem Mantel und klettert dann wieder zurück in dieses Gesicht. Als wolle er ihm die Sache etwas erleichtern, zieht sich Yamazaki den Schal aus dem Gesicht und darunter kommt dieses typische, immer etwas schüchterne Lächeln hervor, das Gintoki nur zu gut kennt. „Shisako“, wird er leise berichtigt. „Yamazaki Sagaru gibt es nicht mehr. Nur noch Yamazaki Shisako.“ Gintoki öffnet den Mund, als wolle er etwas sagen, schließt ihn dann wieder und öffnet ihn erneut. Aber das einzige, was herauskommt, ist ein ziemlich lahmes „so ka.“ „Oi, Yorozuya“, holt ihn Hijikatas scharfe Stimme schließlich aus seiner Schockstarre. „Wenn du schon den Taxifahrer spielst, dann fahr auch endlich los. Zum Shinsengumi-Hauptquartier, aber etwas dalli!“ „Ah... hai.“ Der scharfe Befehlston verfehlt seine Wirkung nicht. Gintoki, noch viel zu verwirrt, um zu seiner gewohnten Schlagfertigkeit zurückzufinden, dreht sich wieder um und startet den Motor. Es dauert ein paar Minuten, bis er sich wieder einigermaßen gefasst hat, nämlich genau bis zur ersten Kreuzung. „Was ist passiert?“ erkundigt er sich, als er an der roten Ampel anhält. Er wagt es sogar, wieder einen Blick über die Schulter zu werfen und dreht sich bei dem Anblick, der sich ihm bietet, schnell wieder um. Die Art, wie sich Yamazaki an Hijikatas Seite kuschelt, erscheint ihm viel zu intim, so sehr, dass er sich fast wie ein Spanner vorkommt. „Warum warst du im Krankenhaus, Jim … entschuldige, Shisako-chan? Hat Mayora dir etwas angetan?“ Unwillkürlich umfasst er das Lenkrad etwas fester. Der Gedanke, dass jemand dieser zierlichen Person etwas antun könnte, macht ihn unglaublich wütend. „Oi, was denkst du von mir?“ zischt Hijikata sofort zurück und gibt dem Fahrersitz von hinten einen Tritt. „Oi! Der Wagen gehört nicht mir!“ „Klaust du jetzt schon Taxis?“ „Das ist Gin-sans Arbeitsplatz! Ein ehrlicher, guter Job! Aber davon versteht ihr Steuerdiebe ja nichts!“ „Wer ist hier ein Steuerdieb? Du fauler Nichtsnutz!“ „Mayo-Freak!“ „Die Ampel ist grün“, unterbricht sie Shisakos amüsierte Stimme, und dann, ganz plötzlich, weht ihr helles, fröhliches Lachen durch das Taxi. Sie lacht, bis ihr die Tränen kommen. Hijikata starrt sie nur einen Augenblick sprachlos an, dann zieht er sie in seine Arme und drückt sie so fest, wie er es wagt ohne ihr dabei wehzutun. Zuerst versteht Gintoki nicht, wieso er das macht, aber dann fällt es auch ihm auf - er hört ihr zittriges Aufschluchzen und weiß: das sind keine Tränen der Freude. Er muss sich auf die Straße konzentrieren, sie ist glatt und verschneit, aber er wagt trotzdem einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Hijikata hat sie an sich gezogen und der Anblick, wie sie sich an seiner Schulter die Augen ausweint ist fast zu viel für Gintokis sensibles Herz. Er kann Frauen einfach nicht weinen sehen. Er will sie dann immer in die Arme nehmen und vor allem Unbill dieser Welt beschützen. Allerdings trifft dieser Instinkt nicht auf Frauen zu, vor denen man sich selbst in Acht nehmen muss. Solchen wie Shimura Tae, Yagyū Kyūbei, Tsukuyo und Sarutobi Ayame würde er höchstens aus sicherer Entfernung eine Packung Taschentücher zuwerfen und dann Fersengeld geben. Shisako hingegen gehört eindeutig in erstere Kategorie. „Was hat sie?“ erkundigt er sich besorgt. „Viel durchgemacht“, ist Hijikatas lakonische Antwort. Sein Tonfall warnt Gintoki eindeutig, das Thema nicht zu vertiefen und dieser gehorcht ausnahmsweise. Eine Frage hat er aber trotzdem noch: „Warum ist er eine Frau? Ist der Dekoboko-Kult wieder zurück?“ Der Gedanke verursacht ihm eine Gänsehaut. Auch wenn er ein Ausbund an Niedlichkeit war mit perfekten Kurven und einem perfekten Gesicht, will er das nie, nie wieder durchmachen. Eine Frau zu sein ist grässlich. Anfangs war es ja noch lustig, aber als er länger als ein paar Tage in diesem Körper steckte und dann die ersten „Frauenprobleme" auftauchten... Nein Danke, er ist wirklich gerne ein Mann. „Zaki wurde nie zurückverwandelt.“ „Ha?" Gintoki blinzelt verdutzt und benötigt ein paar Sekunden, um das zu realisieren und dann weiten sich seine Augen entsetzt. „Das heißt, er … sie ist seit einem Jahr eine sie?" Das ist furchtbar. Und wie konnte das passieren? Er ist doch mit ihnen dem Kult gefolgt, oder? Ist irgend etwas bei der Rückverwandlung schief gelaufen? Gintoki hat viele Fragen, doch er stellt sie lieber nicht. Zumindest nicht heute. Aber dann erinnert er sich an die vielen Male, die er ihm... ihr im letzten Jahr begegnet ist und seine Fassungslosigkeit steigt. „Wieso habe ich das nicht bemerkt?“ „Das hat keiner von uns. Vielleicht", fügt Hijikata grimmig hinzu, während er mit einer Hand beruhigende Kreise auf Shisakos Rücken zieht, „hat es auch niemanden von uns wirklich interessiert.“ Gintoki schluckt einmal schuldbewusst und konzentriert sich lieber wieder aufs Fahren. Doch er lauscht weiter aufmerksam nach hinten. Und so hört er bald, wie Shisakos Schluchzen langsam verebbt. Doch er erkennt auch, dass es nicht daran liegt, weil ihr Kummer weniger wird, sondern nur, weil die Erschöpfung langsam die Überhand gewinnt. Der Drang, sie irgendwie aufzuheitern, nimmt zu. „Darf ich Kagura und Shinpachi von dir erzählen?" fragt er daher betont aufgeräumt. „Die werden total ausflippen, wenn sie das hören. Vor allem Shinpachi. Immer betont er, wie froh er sei, dass sein Image nicht so langweilig ist wie deines. Wenn er erst einmal erfährt, dass du seit einem Jahr ein hübsches Fräulein bist, wird er platzen vor Neid, denn das lässt ihn im Image-Ranking hinter dir weit zurückfallen." „Wen kümmert dieses dämliche Image-Ranking einer Schundzeitschrift, die nur 300 Yen kostet?" brummt Hijikata, aber Shisako kichert schwach und das ist alles, was Gintoki erreichen wollte. Und ihn interessiert. Da sieht er auch mal über die Beleidigung seiner geliebten Jump hinweg. „Erzähl es ruhig", meint sie dann und es klingt sehr, sehr müde. „Ich bin froh, wenn ich es nicht tun muss. Es ist zu peinlich." „Dir muss gar nichts peinlich sein", widerspricht ihr Hijikata sofort. „Hörst du? Gar nichts." Sanft wischt er ihr die Tränenspuren von den Wangen. Hastig wendet Gintoki seinen Blick vom Rückspiegel ab und sieht wieder auf die Straße. Wow. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass der dämonische Vizekommandant der Shinsengumi so zärtlich sein kann. Schon gar nicht zu jemanden wie Yamazaki. Gut, er ist jetzt ein zierliches Fräulein, hübsch anzusehen und beschützenswert, aber der Kontrast in Hijikatas Benehmen ist doch zu groß, um ihn wirklich zu ignorieren. Yamazaki war sein bevorzugter Punching Bag! Und jetzt behandelt Hijikata ihn … sie wie ein rohes Ei. Nur, weil Jimmy-kun jetzt eine Frau ist? Das kann sich Gintoki nicht vorstellen. Entweder hat er noch etwa ganz, ganz Wichtiges verpasst oder Hijikatas Schuldgefühle sind so groß wie der Fujiyama. Aber Gintoki bezwingt seine Neugier. Die beiden auf dem Rücksitz erinnern ihn an viele andere verliebte Paare, die er während seiner sieben Tage währenden Karriere als Taxifahrer kutschiert hat und das ist gleichermaßen rührend wie verstörend. Er ist richtiggehend erleichtert, als sie in die Straße zum Shinsengumi-Hauptquartier einbiegen. Auf Hijikatas Anweisung hin hält er auf der dem Haupttor gegenüberliegenden Straßenseite und er lässt es sich nicht nehmen, auszusteigen, um den Wagen herumzulaufen und Shisako die Tür aufzuhalten. Und das hätte er auch ohne Hijikatas - zugegeben verdammt großzügiges - Trinkgeld getan. Einfach, weil er, Sakata Gintoki, nun einmal ein Gentleman ist. Als er Shisakos Hand nimmt, um ihr galant herauszuhelfen und sie sich mit einem Lächeln bedankt, fühlt er sich dabei so stark an Jimmy-kun erinnert und zur gleichen Zeit auch wieder nicht, dass ihm für einen Moment richtiggehend der Kopf schwirrt. Und vielleicht liegt es an dieser Verwirrung, dass er plötzlich die Hand ausstreckt und ihre Wange berührt. „Kommt doch mal auf einen Tee vorbei“, rutscht es ihm heraus, bevor er sich dessen wirklich bewußt wird. Doch zurücknehmen kann er es nicht mehr und in Anbetracht von Shisakos spontanem „sehr gerne“, will er es auch nicht mehr. Und falls Hijikata ablehnen wollte, ist es dafür jetzt auch schon zu spät. Denn er würde niemals, niemals seiner Shisako einen Wunsch abschlagen, das sieht Gintoki ihm ganz deutlich an. Urgh. Das ist wirklich unheimlich. Aber, schießt es Gintoki versonnen durch den Kopf, als er eine Minute später wieder losfährt und die beiden im Rückspiegel beobachtet, bis sie mit der verschneiten Nacht verschmolzen sind, sie geben ein hübsches Paar ab.       Es ist kalt. Hijikata fröstelt unwillkürlich und zuckt dann zusammen, als ihn eine Schneeflocke im Nacken trifft. Entschlossen dreht er sich zu Shisako herum, überprüft den Sitz ihres Mantels, wickelt sie noch ein kleines bißchen enger in ihren Schal, öffnet den Klettverschluß, der die Ohrenklappen ihrer Fellmütze obenhält und zieht sie dann hinunter. „Du packst mich ein wie eine Mumie“, kommt es vorwurfsvoll und belustigt von ihr. „Es sind doch nicht mehr als fünfzig Meter.“ „Ich will nicht, dass du dich erkältest“, erklärt er kurzangebunden. Schließlich war es warm in Gintokis Taxi, da trifft sie die Kälte jetzt doppelt so schwer. Außerdem leidet sie unter konstantem Blutverlust. Ihre Haut ist blaß und kühl und das liegt nicht nur an der Kälte. Eine fiebrige Erkältung ist das letzte, was sie jetzt gebrauchen kann. „Wenn hier einer krank wird, dann doch eher du.“ Mit ihrer rechten Hand – in der anderen hält sie immer noch den Blumenstrauß – zupft sie vielsagend seinen Mantelkragen zurecht. Um seine Lippen zuckt ein kleines Lächeln, doch dann wird er ernst. „Mach das nicht.“ Er fängt ihre Hand ein und hält sie fest, versucht sie mit seiner zu wärmen. „Stell nicht mein Wohl über deines. Vor allem nicht heute. Es sind nur fünfzig Meter, die werden mir nicht schaden. Ich bin es nicht, der heute fast an einer Fehlgeburt verblutet wäre.“ Sie erstarrt für einen Moment, und er kann hören, wie sie einmal scharf Luft holt. Und für eine Sekunde befürchtet er, sie könnte wieder in Tränen ausbrechen. Es schmerzt ihn, ihre eigenen Worte gegen sie zu verwenden, und noch mehr schmerzt es ihn, das alles so deutlich auszusprechen, aber auch wenn sich ihr Körper verändert hat, ist sie immer noch Yamazaki, sein Spion, den nichts besser zurück auf Spur bringt als solche eindeutigen Worte. „Zaki...“, beginnt er, absichtlich diesen Spitznamen benutzend, denn so etwas hätte er schon vor Jahren sagen sollen: „Du bist wichtig, Zaki. Wenn dir also jemand seine Mütze und seinen Schal gibt, damit du sicher und warm bleibst, brauchst du kein schlechtes Gewissen zu haben, weil dieser jemand jetzt frieren könnte.“ Sie starrt ihn einen Herzschlag lang einfach nur an, dann nickt sie und schenkt ihm ein ehrliches Lächeln. Er sieht, dass es ihre Augen erreicht und weiß, dass sie – schlau wie immer – genau verstanden hat, was er damit sagen wollte. „Hai, Fukuchō.“ Und in diesem Moment, in diesem einen kostbaren Moment ist es wieder da, dasselbe Gefühl wie im Krankenhaus, als sie ihm auffordernd die Hand reichte. Nur, dass er ihre Hand schon hält. Und er hält sie auch, als sie gemeinsam die Straße überqueren und er hält sie auch noch, als sie das Tor zum Hauptquartier passieren, und er lässt sie auch nicht los, als sie der Wachhabende erkennt und überschwänglich begrüßt. Auch, wenn alle, denen sie zufällig auf dem Weg zu Yamazakis Quartier begegnen, es sehen, auch, wenn sie dabei wissend feixen und am nächsten Morgen deswegen garantiert die Gerüchteküche wieder überbrodeln wird – Er. Lässt. Ihre. Hand. Nicht. Los.   Kapitel 18: 3. Januarwoche – 21. Januar, Tag X+1 – In der Nacht werden viele Dinge gesagt und getan, die einem am helllichten Tag peinlich sind ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Das Hauptquartier mag nur zu einem Drittel besetzt sein – immerhin ist es Nacht und ein Feiertag hat begonnen – aber Kondō erfährt trotzdem sehr zeitnah von Hijikatas und Yamazakis Ankunft. Und er zögert nur einen klitzekleinen Moment, doch dann schaltet er seinen Laptop aus, wirft sich einen Haori über seinen Schlaf-Yukata, schlüpft in seine warmen Pantoffeln und huscht dann leise durch die dunklen Gänge. Als er an Sōgos Tür vorbeikommt, zaudert er kurz, doch dann entscheidet er sich, den Jungen schlafen zu lassen. Tōshis Räume sind fast nebenan, aber es ist dunkel hinter dem Fusuma und Kondō kann sich ein kleines, wissendes Lächeln nicht verkneifen, als er weiterschleicht. Es dauert lange, bis er Yamazakis Quartier erreicht, denn es liegt ziemlich weit abseits. Durch die Milchglasscheiben des Fusumas ist ein schwacher Lichtschein auszumachen. Kondō klopft einmal an den Türrahmen und schiebt dann, ohne eine Antwort abzuwarten, die Tür beiseite. Er quetscht sich hindurch, sobald der Spalt groß genug für ihn ist und schließt die Tür hastig wieder hinter sich. Er rechnet fest damit, angebrüllt oder doch zumindest angezischt zu werden, doch alles, was ihn empfängt, ist Stille. Und Tōshis berühmter Todesblick. Doch er sagt nichts und funkelt ihn nur an. Und dann versteht Kondō auch, warum: dort auf ihrem Futon liegt Shisako, den Kopf in Hijikatas Schoß gebettet und sie scheint zu schlafen. Sie liegt unter mindestens zwei Decken, zusammengerollt auf der Seite, und eine ihrer Hände ruht zwar über den Decken, aber dennoch auf ihrem Bauch, als habe sie Schmerzen. Oder als wolle sie etwas beschützen, was nicht mehr existiert. Kondō weiß nicht, welcher Gedanke ihn trauriger macht. Und dennoch ist es ein sehr friedliches Bild. Und sehr privat. Kondō weiß nicht, wie lange die beiden schon zurück sind, aber es war eindeutig lange genug, dass Tōshi Gelegenheit hatte, sich umzuziehen und wie immer, wenn der junge Mann nur einen Yukata trägt, wirkt er so unglaublich jung und ganz oft erkennt Kondō dann wieder diesen Teenager mit dem Pferdeschwanz und diesen unglaublich ernsten, blauen Augen in ihm, der er vor zehn Jahren noch war. Als jemand, dessen emotionale Seite sein Dasein bestimmt, weiß Kondō auch solche Momente und Gedanken zu schätzen und so saugt er dieses Bild regelrecht in sich auf und versiegelt es fest in seinem Gedächtnis, packt es zu all seinen anderen kostbaren Erinnerungen über seine Jungs. Und – neuerdings – sein Mädchen. So geräuschlos wie möglich setzt sich Kondō neben Hijikata und ignoriert gekonnt dessen stechenden Blick. Versonnen betrachtet er, wie Tōshis Finger durch Shisakos pechschwarzes Haar streichen, eine so ungewohnte, zärtliche Geste, dass es Kondō unwillkürlich das Herz wärmt, und dann wandert sein Blick weiter in Shisakos immer noch viel zu blasses Gesicht. Sie wirkt so still, als sei sie tot. Und für einen Moment flackert Panik in Kondōs Brust auf, doch dann sieht er, wie sich ihre Brust sacht unter ihren Atemzügen hebt und senkt und seufzt tonlos, aber sehr, sehr erleichtert auf. „Tetsu wird enttäuscht sein“, wispert er schließlich leise, „er wollte gleich nach dem Frühstück damit anfangen, Shi-chans Zimmer zu schmücken. Mit Blumen, Luftballons und Girlanden, auf denen Willkommen zurück, steht. Er hat schon Muffins für sie gebacken.“ Tōshis Eisblick schmilzt regelrecht dahin, als er das hört. „Er ist ein guter Junge“, flüstert er zurück. Kondō nickt nur zustimmend. Sasaki Tetsunosuke war ein hoffnungsloser Fall, als Matsudaira ihn hier anschleppte, aber der Junge hat sich wirklich gut entwickelt. Und alles, was dafür nötig war, war viel Geduld und ein gehöriger Vertrauensvorschuß. Ein Vertrauensvorschuß... nachdenklich nagt Kondō an seiner Unterlippe herum, den Blick ununterbrochen auf Shisako gerichtet. Jetzt sind sie es, denen ein Vertrauensvorschuß gewährt wird. Jetzt sind sie es, die sich beweisen müssen. Sie müssen Shisako zeigen, dass sie es ernst meinen, dass sie sie nie wieder im Stich lassen werden. „Sie wollte nach Hause.“ Tōshis leise Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. „Wir haben uns aus dem Krankenhaus geschlichen.“ „Ich werde das regeln“, verspricht Kondō schmunzelnd. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass jemand von der Shinsengumi sich aus dem Krankenhaus stiehlt. Tōshi ist ein Meister darin, dicht gefolgt von Sōgo. Und, erstaunlicherweise, der sonst immer so überaus vernünftige Harada. Sogar Yamazaki hat sich gerne und oft selbst entlassen, auch, wenn er bisher immer so höflich war, wenigstens auf seine Papiere zu warten. Dass es diesmal nicht so war, beweist ihm nur, wie sehr sich die Dinge verändert haben. Oder, fährt es ihm durch den Sinn, vielleicht haben sich die Dinge gar nicht verändert. Vielleicht war Zaki schon immer so und hat sich nur nie getraut, seine... ihre wahre Seite zu zeigen. Immerhin hat Shisako sechs Mimawarigumi-Offiziere gnadenlos ermordet und besaß dann auch noch die Kaltblütigkeit, in diesen Mordfällen zu ermitteln. Gezwungenermaßen zwar, aber sie hat es trotzdem mit einer Bravour gemeistert, die Kondō mit Stolz erfüllt. Auch wenn der bittere Nachgeschmack überwiegt. Zaki musste so viel erdulden, und zwar ganz allein und dieser Gedanke verursacht Kondō regelrechte Magenschmerzen. Shisako ist stark, das hat sie ihnen allen bewiesen, aber er wünschte, sie hätte niemals so stark sein müssen. „Isao...“ Er schreckt abermals auf, aber diesmal nicht nur, weil Tōshi ihn beim Vornamen nennt, sondern vor allem, weil er plötzlich seine Finger an seiner Hand spürt. Eine zaghafte Geste, um seine Aufmerksamkeit zu erhalten und bei jemanden wie Tōshi, der eher selten andere von sich aus so vertraulich berührt, ist das wirklich ein ganz besonderer Moment. „... Shisako möchte, dass ich bei ihr bleibe. Ich werde also heute Nacht hier bei ihr schlafen. Und vielleicht auch noch die anderen Nächte.“ Es ist keine Bitte, sondern eine Feststellung. Kondō nickt nur und verbeißt sich ein Schmunzeln. Als ob er jemals etwas dagegen einzuwenden hätte, wenn Tōshi endlich mal auf ihn hört! „Und ich werde morgen zu einem Priester gehen. Er soll für das Kleine beten. Ich kenne einen alten Priester, der zuverlässig ist. Er nimmt nicht nur das Geld und behauptet, dass er betet, er tut es auch. Könntest du in der Zwischenzeit auf Shisako achtgeben?“ Kondō schluckt er einmal schwer und nickt. Natürlich. Natürlich wird er Shisako Gesellschaft leisten. „Isao...“ Tōshi zögert merklich und als er weiterspricht, ist seine Stimme nicht mehr als ein Raunen und während er spricht, lässt er Shisakos schlafende Miene nicht aus den Augen. „Lass dich nicht täuschen. Sie weint viel heimlich. Lass das nicht zu. Sie soll sich nicht schämen. Sie hat jedes Recht dazu, traurig zu sein.“ „Ich trauere mit ihr“, erklärt Kondō genauso leise, aber auch sehr entschieden. „Die Neujahrsbesuche beim Schrein fallen für mich aus.“ Er weiß nicht, wie es bei den anderen ist, und er wird niemanden von ihnen dazu zwingen, sich ihm anzuschließen, aber für ihn bedeutet Shisako Familie und ihr Verlust ist daher auch seiner. Tōshi sagt nichts darauf, aber Kondō fühlt, wie er kurz dankbar seine Hand drückt, bevor er seine Finger wieder zurückzieht. Abermals muß Kondō schwer schlucken, aber diesmal ist der Kloß in seiner Kehle nicht so leicht zu besiegen. Und dann sieht er es. Zuerst starrt er nur verblüfft, doch dann hebt er die Hand und wischt mit dem Daumen die kleine Träne aus Tōshis Augenwinkel. Tōshi sagt nichts, aber er wendet verlegen den Kopf beiseite. Nur ganz kurz, dann konzentriert er sich wieder auf Shisakos Kopf in seinem Schoß und streichelt weiter ihr Haar. Kondō sagt auch nichts, aber er atmet einmal tief durch, als ihm mit einem gewissen Schrecken bewußt wird, dass sich sein starker Freund von seinem Nervenzusammenbruch im Krankenhauswartesaal nur scheinbar erholt hat. Das ganze zehrt doch mehr an seinem Nervenkostüm, als Kondō dachte und mehr, als er selbst zugeben will. Noch hält die Fassade, aber sie bekommt Risse und das ist bisher noch nie passiert. Dass Tōshi an seinem emotionalen Limit angelangt sein könnte, ist für Kondō ein ganz neuer Gedanke. „Tōshi...“ flüstert er leise, legt ihm eine Hand auf die Schulter und drückt einmal kurz zu, „... ich bin da. Jederzeit. Für euch beide.“ Tōshi erstarrt, doch dann senkt er in einer knappen, aber furchtbar ergebenen Geste den Kopf. Kondō sitzt noch ein paar Minuten schweigend bei ihm, bis er vor Müdigkeit zu schielen beginnt. Es war ein langer, aufreibender Tag. Für sie alle drei. Langsam quält er sich auf die Füße. Er zögert, doch dann streicht er Tōshi einmal genauso durchs Haar, wie dieser Shisako ständig. „Gute Nacht, Tōshi.“     Hijikata achtet nicht wirklich darauf, wie Kondō den Raum verläßt. Er ist zu sehr in seinen eigenen, dunklen Gedanken versunken. Obwohl es sich dabei weniger um richtige Gedanken im Sinne von zusammenhängenden Worten handelt, sondern viel mehr um Emotionen. Träge läßt er weiterhin Strähne um Strähne von Shisakos Haar durch seine Finger gleiten, und die Gleichmäßigkeit dieser Bewegung übt inzwischen eine geradezu hypnotische Wirkung auf ihn aus. Einerseits fühlt sich das wirklich gut an, aber ein anderer Teil von ihm fühlt sich, als läge da eine Last auf seinen Schultern, die ihn langsam, aber sicher zu Boden drückt, und er könnte nicht einmal erklären, warum das so ist. Sicher, es war ein aufreibender Tag und eine gewisse Erschöpfung ist da durchaus normal, aber er hat schon Schlimmeres durchgestanden. Viele seiner Männer sind schon in der Ausübung ihres Dienstes gestorben, und er hat auch schon viele geliebte Menschen an den Tod verloren, also: wieso fühlt er sich jetzt so? Immerhin ist Shisako nicht gestorben. Sie ist schwach und bettlägerig, aber sie wird sich erholen. Mit seiner Hilfe und der aller anderen. Also: wieso fühlt er sich, als würde er langsam aber sicher von einem Mühlstein zerquetscht? Wieso ist er nur so schwach? Gerade jetzt, wo Yamazaki ihn mehr denn je braucht? Als er hört, wie sich die Tür hinter ihm leise öffnet und er Sōgos Präsenz spürt, dreht er nicht einmal den Kopf. Er reagiert auch nicht, als dieser auf leisen Sohlen näherschleicht und sich dann hinter ihn setzt. Er spürt, wie sich Sōgos Rücken gegen seinen eigenen drückt, doch er zuckt nicht einmal zusammen. Sōgos sagt nichts. Keine Todesdrohung, keine Beleidigung, nicht einmal eine spöttische Bemerkung. Da sind nur seine ruhigen Atemzüge, das Gewicht seines Körpers und seine Wärme. Es ist merkwürdig, aber Hijikata fühlt sich tatsächlich besser. Plötzlich legt Sōgo den Kopf nach hinten und Hijikata spürt, wie sein Haar ihn im Nacken kitzelt. „Ich werde dich morgen zu dem Priester begleiten“, meint Sōgo leise. Es ist keine Bitte und auch keine Frage, sondern eine schlichte Feststellung. Und beweist mal wieder, dass Sōgo gelauscht hat. Hijikata weiß nicht, warum ihm bei Sōgos Worten plötzlich die Tränen in die Augen schießen. Er schluckt sie entschlossen hinunter und gibt ein zustimmendes Brummen von sich. Sōgo unterdrückt ein kleines Seufzen. Tōshirō ist ein Idiot. Und er selbst ist auch einer, weil er plötzlich so ein Softie geworden ist. Wie kommt er nur dazu, diesem Idioten zu helfen? Der Kerl drängte sich schon immer in den Vordergrund und zwischen ihn und die Menschen, die ihm am Liebsten waren. Erst seine Schwester Mitsuba und dann Kondō. Sōgo war und ist nicht gut darin, zu teilen, schon gar nicht, was die Liebe und Aufmerksamkeit anderer betrifft. Aber so gerne er ihn auch immer aus dem Weg räumen möchte, tut es ihm jetzt in der Seele weh, ihn so zu sehen. Und Shi-chan hat etwas Besseres verdient. Da sie aber nun einmal leider in Hijikata verliebt ist, muß er jetzt alles in seiner Macht stehende unternehmen, damit dieser wieder zu dem Mann wird, den sie braucht. „Kondō hat recht, weißt du? Du bist nicht allein. Wir wollen Shi-chan auch helfen. Und wir wollen dir helfen, ihr zu helfen. Ich bin durchaus bereit, zeitweise als Vizekommandant einzuspringen, damit du mehr Zeit für Shi-chan hast.“ Hijikata gibt ein müdes Glucksen von sich. War ja klar, dass Sōgo so etwas sagen wird. „Danke, Sōgo.“ Und das meint er durchaus ernst. Sōgo gibt ihm dafür nur einen Ellbogenstoß in die Nieren, aber es fehlt die Kraft dahinter. Es ist eher wie ein neckender Knuff. Und plötzlich ertönt das leise Rascheln von Stoff und dann hockt Sōgo direkt neben ihm, beugt sich herunter und gibt der schlafenden Shisako einen Kuß auf die Wange. Dann wirft er Hijikata einen kurzen Blick zu und schenkt ihm eines seiner seltenen, aber dafür ein absolut ehrliches Lächeln. Noch ehe Hijikata irgendwie darauf reagieren kann, hat er den Raum wieder genauso leise verlassen wie er ihn betrat. Hijikata ist wieder allein mit Shisako und die unsichtbare Last auf seinen Schultern ist plötzlich viel, viel leichter geworden.     Kapitel 19: 4. Januarwoche – 21. Januar, Tag X+1 – Manche Ideen sind so verrückt, dass sie schon wieder genial sind ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Tetsunosuke ist zwiegespalten. Er freut sich natürlich, als er beim Morgentraining hört, dass Yamazaki wieder da ist, aber dann ist er auch enttäuscht, weil damit die ganze Überraschung im Eimer ist. Er wollte doch Yamazakis Quartier schmücken! Jetzt steht er hier mit zwei großen Tüten, in denen sich Dekomaterial, Blumen und eine Tupperdose mir zwölf selbstgebackenen Muffins befindet und kommt sich ziemlich blöde vor. Sicher, Yamazaki hat in zwei Wochen Geburtstag, da kann er einen Großteil davon benutzen, aber die Ballons mit dem Aufdruck „willkommen zurück" und „gute Besserung" passen dann nicht mehr. Nun, nachdenklich kratzt sich der Jugendliche am Kopf, vielleicht findet sich doch noch ein Weg. Irgendwie muss das doch gehen. Er will Yamazaki unbedingt eine Freude machen, immerhin hat er ein schlechtes Gewissen, weil er gestern nicht noch einmal im Krankenhaus vorbei geschaut hat. Wenigstens am Abend hätte er eine halbe Stunde dafür abzwacken können, aber irgendwie kam immer etwas dazwischen. Hijikata war nicht da und als sein Assistent hatte er plötzlich alle Hände voll zu tun. Er kann ihn nicht bei allem vertreten, aber zumindest das Administrative kann er so weit vorbereiten, dass Hijikata nur noch seine Unterschrift setzen muss. Soviel wollte und will er ihm immer noch abnehmen, damit er mehr Zeit bei Yamazaki verbringen kamn. Niemand von ihnen weiß, wieviel sich Hijikata freinehmen will und wie lange. Kondō meinte beim Morgenappell nur „auf unbestimmte Zeit". Harada und Todo, die schon seit Anfang an bei der Shinsengumi sind, sagten ihm, dass Hijikata bestimmt an den Morgenbesprechungen teilnehmen und ab und an mal im Büro vorbeischauen wird, aber er wird an keine Operationen oder Patrouillen durchführen. Und diese Bemerkung mit dem Büro hat Tetsu nur in seinem Entschluß bekräftigt, so viel wie möglich „unterschriftsfähig" zu machen. Denn wenn Hijikata sieht, dass auf ihn, sasaki Tetsunusoke, Verlaß ist, wird er entspannter sein und das wiederum hilft bestimmt auch Yamazaki. Solche und ähnliche Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er mit seinen zwei Tüten durch die Gänge zu Yamazakis Quartier eilte. Und nun steht er also hier und hofft irgendwie, seine Überraschung doch noch an den Mann – beziehungsweise die Frau – bringen zu können. Vorsichtig klopft er an die Milchglasscheibe des Fusumas. Er hört Stimmen, also weiß er, dass sie wach sind, aber für einen Moment ist er sich trotzdem unsicher, ob sie ihn nicht wegschicken werden, aber dann hört er Yamazakis lautes „herein". Tetsunosuke holt einmal tief Luft, packt die Tüten fester und schiebt dann die Tür zur Seite. „Guten Morgen, Shisako-Senpai, Hijikata-san.“ Er war sich nicht sicher, ob er Shisako noch im Bett antreffen würde, immerhin wurde ihr strenge Bettruhe verordnet, aber sie sitzt mit Hijikata an einem Kotatsu und löffelt eine Miso-Suppe, die viel besser riecht als das fade Zeug aus der Küche, und da Tetsu seinen Vizekommandanten kennt, vermutet er, dass dieser entweder nachgewürzt oder extra für Shisako eine neue Miso-Suppe gekocht hat. „Guten Morgen, Tetsu.“ Sie schenkt ihm ein munteres Lächeln. Tatsächlich scheint sie heute fröhlicher zu sein als … oh, Tetsu weiß gar nicht, seit wann genau, so lange ist das schon her! Während Hijikata einen dunkelblauen Yukata trägt, hat sie sich in einen weit weniger Haut zeigenden Jinbei und darüber einen Haori gekleidet. Ihre Beine stecken unter dem Kotatsu, obwohl es Dank der im ganzen Hauptquartier verbauten Fußbodenheizung nicht wirklich kalt im Raum ist. Aber sie ist immer noch sehr blaß und wenn Tetsunosuke an ihren Blutverlust denkt, wundert ihn das nicht. Kein Wunder also, wenn ihr kalt ist. Er ist kein Arzt, aber er würde ihr jeden Tag eine Bluttransfusion geben, bis sie nicht mehr aussieht wie der wandelnde Tod. „Shisako...“ Er kniet sich zu ihnen an den Tisch. Er schenkt Hijikata ein kurzes Lächeln, richtet seine Aufmerksamkeit aber schnell wieder auf seine neue „Lieblingsschwester“. „Es ist schön, dass du wieder da bist. Auch wenn ich dich eigentlich überraschen wollte und vieles für deine Rückkehr vorbereitet habe.“ Er zieht ein betont schmollendes Gesicht, während er vielsagend mit einer Tüte raschelt. „Aber das ist doch nicht nötig, Tetsu“, wehrt sie erwartungsgemäß ab, doch dann stutzt sie, als Tetsu aus den Tiefen einer Tüte ein buntes Päckchen hervorzieht und es ihr langsam über den Tisch zuschiebt. „Oh.“ Sie erkennt es sofort und nimmt es hastig an sich. Tetsu grinst verlegen. „Ich dachte mir, das brauchst du bestimmt. Du kannst ja nicht raus und es dir selbst kaufen und deine Vorräte gehen bald zu Ende...“ vielsagend läßt er den Satz ausklingen. Unwillkürlich rutscht sein Blick hinüber zu Hijikata, der bisher nur stumm da gesessen hat und der sich jetzt um eine ausdruckslose Miene bemüht, obwohl er bestimmt ganz genau erkannt hat, was Tetsu da gerade über den Tisch wandern ließ. Shisako lacht und tätschelt Tetsus Hand. „Das ist so lieb und aufmerksam von dir. Und voll peinlich.“ Sie wirft Hijikata einen Blick zu, der fast entschuldigend wirkt. Für einen kurzen Moment verspürt Tetsu so etwas wie leichte Gewissensbisse, aber dann wiederum ist er der Meinung, dass gerade Shisako dieses Thema nicht peinlich sein sollte. Niemals. „Frag mich mal“, erklärt er deshalb, sich verlegen im Nacken kratzend. Er ist nur froh, dass er sich gestern, als er Kondō dabei geholfen hat, Shisakos Tasche zu packen, die Marke ihrer Damenbinden gemerkt hat. So musste er nicht unnötig lange in den Supermarktregalen danach suchen. Und trotzdem war es peinlich an der Kasse, fast so peinlich, wie beim Kauf von Kondomen. „Ich habe bei der Gelegenheit gleich noch ganz viel Rasierschaum, Zahnpasta und sogar Toilettenpapier gekauft, damit es an der Kasse nicht so auffällt.“ „Aber meine Zigaretten hast du vergessen“, brummt Hijikata vorwurfsvoll. Tetsu grinst schief. „Sorry.“ Shisko schenkt ihm ein kleines Lächeln. „Falls es dich tröstet: es ist mir auch noch peinlich, obwohl ich eine Frau bin.“ Wieder huscht ihr Blick für einen Sekundenbruchteil zu Hijikata hinüber und Tetsu versteht: es ist ihr unangenehm, dass er mit dieser so weiblichen Seite von ihr konfrontiert wird, als fürchte sie, er könnte sich aufgrund dessen für sie schämen. Oje. Die beiden müssen wirklich mal dringend miteinander reden, es wäre wirklich schade, wenn ihre beginnende Romanze mit einem solchen Tabu belastet wird. „Weißt du was?“ meint sie plötzlich, hält die Damenbinden ganz fest und steht dann langsam auf. „Ich muß mal ins Badezimmer. Eine Dusche wird mir bestimmt guttun. Derweil kannst du deine Überraschung vorbereiten.“ Tetsu versucht, nicht zu grinsen. Genau auf diese Reaktion hat er insgeheim gehofft. Yamazaki ist einfach zu nett. Als sich Shisako erhebt, steht auch Hijikata auf. „Ich begleite dich.“ Shisako nickt nur, und während sie zum Einbauschrank geht und sich Handtücher und Kleidung herausholt, steht Hijikata geduldig auf sie wartend an der Tür. Beim Anblick dieses sanften Ausdrucks in seinem blauen Augen und die Tatsache, dass er Shisako nicht eine Sekunde aus den Augen läßt, wird es Tetsunosuke ganz warm ums Herz, doch er sagt nichts, aus Angst, diesen schönen Moment zu zerstören. Erst fünf Minuten später, als die beiden schon längst fort sind und er begonnen hat zu dekorieren, fällt ihm ein, dass er vergessen hat. Hijikata etwas Wichtiges zu sagen. Doch dann zuckt er nur mit den Schultern. Er wird es bei der Morgenbesprechung früh genug erfahren.       „Oh, Tetsu, das ist wunderschön!“ ergriffen faltet Shisako die Hände vor der Brust, während sich in ihren großen, hellbraunen Augen Tränen der Rührung sammeln. Wie sie da in der Tür steht und sich staunend umsieht, in ihren schlichten Jeans und Hoodie, könnte man sie glatt wieder für Sagaru halten, aber Tetsu wird mit geradezu betäubender Klarheit bewußt, dass er sie nie wieder so sehen wird, figurverbergende Hoodies hin oder her. Denn jetzt, wo er weiß, dass Zaki eine Frau ist, ist es für ihn nicht mehr zu übersehen. „Danke, Tetsu!“ Sie umarmt ihn kurz. „Das ist so lieb von dir!“ Tetsunosuke grinst stolz. Er hat sich aber wirklich Mühe gegeben mit all den vielen bunten Ballons, den Girlanden, den Blumen und den Geschenken. Während er die Blumen zu dem Blumenstrauß von gestern auf den Schreibstisch stellte, hat er die anderen Geschenke sorgsam auf dem Kotatsu arrangiert und alles mit Streudeko aufgepeppt. „Keine Anpan?“ schmunzelt Hijikata von der Tür her. Während Shisako im Bad war, hat er die Zeit genutzt, den Yukata gegen seine Uniform zu tauschen und sich die Haare zu kämmen. Er wirkt sofort viel respekteinflößender, aber trotzdem wagt es Tetsunosuke, ihm auf diese Bemerkung hin einen beleidigten Blick zuzuwerfen. „Ich weiß, dass Shisako-Senpai Anpan nicht wirklich mag.“ Er hört zu, wenn sein „Lieblingsbruder“ … ahem, „Lieblingsschwester“ ihm etwas erzählt, und er vergißt es nicht, auch, wenn das schon Monate her ist. Hijikata lächelt ihm nur stolz zu. Tetsunosuke spürt, wie er unter diesem nonverbalen Lob errötet und er wird noch etwas röter, als er Shisako, die inzwischen am Kotatsu sitzt und ihre Geschenke geradezu andächtig untersucht, verwundert und begeistert zugleich ausrufen hört: „Meine Lieblingsmuffins! Oh, Tetsu, vielen, vielen lieben Dank!“ Grinsend schlägt Hjikata seinem jungen Assistenten auf die Schulter. „Dann weiß ich Shisako bei dir ja in guten Händen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, geht er zu ihr hinüber. „Ich muß gehen. Aber ich bin bald zurück. Tetsu bleibt inzwischen bei dir.“ Sie hebt den Kopf und strahlt ihn an. Ihre Augen leuchten regelrecht. Tetsus kleine Überraschung hat wirklich eingeschlagen wie eine Bombe. „Hai, Fukuchō.“ Und dann wird Tetsu Zeuge von etwas Unerwarteten. Er sieht, wie sich Hijikata zu Shisako hinunterkniet, ihr eine Hand an die Wange legt und ihr einen sanften, unglaublich liebevollen Kuß mitten auf den Mund gibt. Zuerst weiten sich ihre Augen überrascht, doch dann fallen sie ihr zu und sie genießt diese Zärtlichkeit sichtlich. Es dauert nicht sehr lange, vielleicht nur fünf Sekunden, aber Tetsunosuke hat noch nie etwas Ergreifenderes gesehen. Und darüber vergißt er wieder, dass er Hijikata eigentlich etwas sagen wollte.       „...heute ist Feiertag, da verhält sich die Jouishishi erfahrungsgemäß ruhig. Durch die vielen Schrein- und Tempelbesucher wird allerdings wieder ein heilloses Verkehrschaos herrschen. Die fünfte Division wird daher die örtliche Polizei unterstützen...“ Hijikata hört nur mit halben Ohr zu. Das ist selten, vor allem bei ihm, denn diese Morgenbesprechungen sind wichtig. Aber heute wünscht er sich nur wieder zurück an Shisakos Seite. Und er kann es nicht verhindern, dass seine Gedanken immer wieder an die letzte Nacht zurückkehren. Nachdem Sōgo den Raum verlassen hatte, entschloß er, sich ebenfalls hinzulegen. Das verlangte einige Verrenkungen, weil Shisako immer noch mit dem Kopf auf seinem Schoß schlief, aber sie wachte nur halbwegs auf, als er seine Position änderte. Sie war wirklich sehr, sehr erschöpft und versank gleich wieder in tiefem Schlaf, sobald er lag und einen Arm um sie legte. Diese Geste - um Hijikatas Mundwinkel zuckt es verhalten - ist bei ihm schon fast zu einem Automatismus geworden. Nicht zu fassen. Aber er hält sie wirklich gern in seinen Armen. Früher, als sie noch Sagaru war, sind sie schon ein paar Mal dicht nebeneinander eingeschlafen, haben sich notgedrungen eine Decke und einen Futon geteilt. Dann waren sie aber immer zusammen auf einer Mission unterwegs und beide zu müde, um einen Pfifferling darauf zu geben, ob es sich schickte oder nicht. Die letzte Nacht hat ihn daran erinnert, wie gut es sich immer anfühlte, wenn es sich dabei um Yamazaki handelte. Hijikata ist es zwar gewohnt, Seite an Seite mit Männern zu schlafen, es gefiel und gefällt ihm aber nicht, weil er einfach auch im Schlaf seine Privatsphäre braucht, und manche werden wirklich richtig anhänglich wie Kondō, aber mit Yamazaki fühlte es sich immer irgendwie ... gut an. Vor allem, weil Yamazaki selbst im Tiefschlaf immer brav auf seiner Seite blieb. Jetzt ist er … sie anschmiegsam wie ein Kätzchen. Dabei ist sie jedoch niemals aufdringlich oder fordernd. Es stimmt. Wie sie sagte: Zaki ist immer noch Zaki. Der Körper hat sich geändert, aber nicht der Charakter. Derjenige, der sich verändert hat, ist er selbst. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden ist er zu jemanden geworden, der sich danach sehnt, Shisako zu berühren, sie zu halten und sie zu … küssen. Beinahe hätte er die Hand gehoben und mit den Fingern seine Lippen berührt, im letzten Moment wandelt er diese verräterische Bewegung in etwas anderes um und kratzt sich stattdessen kurz am Hinterkopf. Stimmt, er hat sie geküsst. Auf die Lippen. Und es bis eben noch nicht einmal richtig realisiert. Es fühlte sich völlig natürlich an. „Fukuchō.“ Hm, wenn er wieder bei ihr ist, wird er es mal mit einem richtigen Kuss versuchen. „Tōshi!“ Oh. Schuldbewußt schnappt er wieder zurück ins Hier und Jetzt und fühlt sich auf höchst unangenehme Art und Weise plötzlich im Fokus von zwölf Augenpaaren. Sogar Saito Shimaru hat die Augen diesmal einen Spalt breit geöffnet und starrt ihn aufmerksam an. Verwirrt und alarmiert zugleich läßt Hijikata seine Blicke über die Männer vor sich wandern. Sie wirken ernst, ja, beinahe feierlich. Dann räuspert sich Harada Unosuke einmal. Er ist der Älteste und als solcher machen ihn die anderen gerne zu ihrem Sprachrohr. „Fukuchō. Wir, also, wir zehn hier,“, er macht eine vielsagende Geste, die ihn und die anderen Truppenkapitäne mit einschließt, „haben beschlossen, auf den Hatsumōde zu verzichten. Es käme uns falsch vor, die Götter mit unseren egoistischen Bitten fürs neue Jahr zu behelligen. Nicht nachdem, was gestern passiert ist. Wir betrachten Yamazakis Verlust auch als unseren.“ Er holt einmal tief Luft, während die anderen hinter und neben ihm bekräftigend nicken. „Und wir haben uns überlegt“, fährt er fort, „uns zusammen zu setzen und eine kleine Gedenkstätte im Hof zu planen. Natürlich mit Yamazaki und nur, wenn er...“, er stockt und berichtigt sich schnell, „wenn sie nichts dagegen hat. Und wenn sie sich dazu imstande fühlt.“ „Wir... wir wollen einfach etwas für sie tun“, fügt Todo Bokusuke neben ihm hinzu. Hijikata verschlägt es für einen Moment den Atem. Er schluckt einmal, um den Kloß in seiner Kehle loszuwerden. Er wußte, dass die Shinsengumi aus guten Männern besteht, er wußte es, aber das hier ist mehr, als er je erwartet hatte. Shisako wird in Tränen ausbrechen, wenn sie das erfährt. Er holt einmal tief Luft, um sich zu sammeln. „Der Gedanke einer Gedenkstätte ist genau dasselbe, was ich ihr gestern auch schon vorgeschlagen habe. Sie wird sich freuen, so viele Unterstützer zu haben.“ „Oh, wir wollten uns nicht einmischen...“, rudert Harada hastig zurück, doch Hijikata hebt beruhigend die Hand. „Nein, ist schon gut. Je mehr, desto besser. Es soll ja etwas besonderes werden. Und sie hat nur das Beste verdient. Und...“, sein Blick sucht Okita Sōgos und hält ihn fest, „Okita und ich gehen heute zu einem Priester und machen, was das Spirituelle betrifft, alles klar.“ Okita nickt nur zustimmend. Seine Miene ist so glatt und emotionslos wie immer, aber da ist ein Zug um seine Mundwinkel und ein Glanz in seinen Augen, der Hijikata verrät, dass ihn das Angebot der Männer genauso rührt wie ihn. Und wie Kondō, denn der wischt sich schon die ersten Tränen aus den Augen. „Wir können gerne dafür sammeln“, schlägt da Oka Sanjuro, der Kapitän der Siebenten Division aus dem Hintergrund vor. Aber Hijikata schüttelt den Kopf. „Nein, die Kosten für den Priester übernehme ich.“ Einige der Männer wirken enttäuscht, aber sie nicken zustimmend.. Dann sieht Hijikata auf manchen Gesichtern ein kleines Lächeln und die Art, wie sie ihn ansehen, ändert sich subtil. Er erinnert sich an die Gerüchte, die seit einiger Zeit über ihn und Yamazaki kursieren, beschließt aber, es zu ignorieren, denn diesmal sind es ja keine bloßen Gerüchte mehr. „Und wir haben das hier. Kondō-san“, plötzlich hält Harada einen dicken Umschlag in der Hand, geht zum Kommandanten hinüber und und überreicht ihm diesen mit einer förmlichen Verbeugung. „Bitte übergib das Matsudaira-san in unserem Namen. Das ist ein formeller Bittbrief, in dem wir darum bitten, dass Yamazaki ein Teil der Shinsengumi bleiben kann. Wir finden nämlich, nur, weil unser Spion eine Frau ist, ist das kein Grund, ihn... ah, sie zu entlassen. Jeder von uns, die gesamte Shinsengumi, hat unterschrieben.“ „Einige von uns haben auch noch ein paar ganz private Zeilen zu diesem Thema an Matsudaira verfasst“, ergänzt Todo Bokusuke. „Ah... wir hoffen, wenn er sieht, wie viel uns an Yamazaki liegt, wird er uns unsere Shisako nicht... wegnehmen.“ Kondō drückt den Umschlag an seine Brust als wäre es ein heiliger Gegenstand. „Ich werde nicht zulassen, dass sie uns Yamazaki wegnehmen“, schwört er mit tränenerstickter Stimme. „Ich habe in zwei Stunden einen Termin mit Matsudaira deswegen. Es wird bestimmt helfen, wenn Matsudaira sieht, dass ihr alle hinter mir, aber vor allem natürlich hinter Yamazaki steht.“ Sekundenlang herrscht nachdenkliche Stille. Sie alle wissen, dass Matsudaira letztendlich immer das letzte Wort haben wird, aber sie wissen auch, dass Kondō mit Zähnen und Klauen für seine Shinsengumi kämpft und sie hoffen alle nur für ihren geliebten und verehrten Kommandanten, dass der Polizeichef heute gute Laune hat und nicht allzu genervt ist, weil er sich an einem Feiertag um so etwas kümmern muss. „Ist es dann nicht etwas voreilig, schon eine Gedenkstätte zu planen, wenn wir nicht einmal wissen, ob Shi-chan hierbleiben wird und sie jeden Tag besuchen kann?“ wagt es Okita schließlich einzuwenden. „Würde es ihr nicht nur noch mehr das Herz brechen, wenn all diese Planungen für die Katz waren?“ Kondō wirkt auf einmal ganz deprimiert und auch die anderen lassen die Köpfe hängen, doch Hijikatas Aufschnauben schreckt sie aus ihren düsteren Gedanken. „Niemand hier lässt Zaki je wieder im Stich, verstanden? Sonst heißt es Seppuku für alle!“ Entschlossen ballt er die Hände zu Fäusten. Die Männer werfen ihm einen verdutzten Blick zu, doch nicht wegen der Drohung – die sind sie gewohnt – sondern weil diese Antwort in so gar keinem Zusammenhang zu dem steht, was Sōgo eben sagte. Es ist, als sei er mit seinen Gedanken ganz weit weg. Und das kennen sie von Kondō, aber nicht von ihm. „Niemand wird Shi-chan im Stich lassen, Hijikata-kun“, erinnert ihn Sōgo in einem ungewohnt sanften Tonfall. Und wieder staunen die Männer, aber nicht nur über diesen so ungewohnten Tonfall, sondern auch über diesen freundschaftlichen Suffix. „Es gibt für alles eine ganz einfache Lösung: wenn Shi-chan nicht als Spionin hier bleibt, sondern als Hijikata Tōshirōs Ehefrau.“ „Richtig“, stimmt ihm Kondō automatisch mit nachdenklichem Stirnrunzeln zu, „die Ehefrauen des Kommandostabes dürfen … oh“, und dann wird ihm plötzlich bewußt, worüber sie hier reden. „Oh!“ wiederholt er und reißt Augen und Mund auf. Sekundenlang herrscht eine geradezu unheimliche Stille im gesamten Raum, während bei jedem von ihnen – in individueller Geschwindigkeit – der Groschen fällt. Da ertönt plötzlich Saito Shimarus Stimme. Da sie sehr selten erklingt, haben einige erst einmal Schwierigkeiten, sie ihm zuzuordnen, aber da er gleichzeitig die Hand hebt, legt sich diese Verwirrung schnell. „Hat Shisako da nicht auch noch etwas mitzureden?“ fragt er unschuldig. Für den Bruchteil einer Sekunde herrscht Stille, dann beginnt einer zu kichern und dann noch einer und noch einer, bis die ganze Runde in ein herzhaftes, aber absolut befreites Lachen ausbricht.     Kapitel 20: Gegenwart - 4. Januarwoche – 21. Januar, Tag X+1 – Es mag eine steinige Straße sein, aber es ist immer noch eine Straße ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Oje oje. In einer Mischung aus Ärger und Scham rauft sich Hijikata die Haare. Wie konnte Sōgo nur so etwas sagen? Jetzt hat er den Männern diese Flausen in den Kopf gesetzt und das wird ganz schnell die Runde machen und bevor er es sich versieht, wird Kondō schon die Hochzeit planen und das, bevor er Shisako einen Antrag machen konnte. Dazu ist es noch viel zu früh! Er hatte nicht vor, irgend etwas in dieser Richtung zu unternehmen, bevor sie wieder völlig genesen ist. Er hat sie zwar um ein Date gebeten, aber auch dafür soll sie sich erst wieder besser fühlen. Er will nicht, dass sie sich unter Druck gesetzt fühlt. Er wollte es langsam angehen. Er will nichts falsch machen, denn sie ist ihm wichtig. Die Frage nach dem ersten Date hat er schon verpatzt, alles andere sollte richtig laufen. Aber wenn es wirklich die einzige Möglichkeit ist, damit sie hier bleiben kann... „Dann wird sie das auch wissen, sie kennt die Vorschriften besser als ich", brummt er vor sich hin. „Sie ist schlau." Sie soll aber nicht denken, dass ich sie nur deshalb... Entschlossen schiebt er diese Gedanken endgültig beiseite – ein Problem nach dem anderen - und betritt sein Quartier. Er hat beschlossen, dass er heute wirklich frei hat, also wechselt er von seiner Uniform in einen warmen Freizeityukata und passende Hosen. Shisako wird sich darüber bestimmt freuen. Es sind die Details, die zählen. Das Schwert nimmt er aber mit, denn ohne fühlt er sich nackt wie jeder anständige Samurai. Während des langen Weges zu Shisakos Quartier gibt er sich Mühe, möglichst an gar nichts zu denken und erstaunlicherweise gelingt ihm das sogar ganz gut. Trotzdem holt er einmal tief Luft, bevor er an den Holzrahmen klopft und dann den Fusuma beiseiteschiebt. Sie sitzt immer noch am festlich dekorierten Kotatsu und Tetsu hockt ihr gegenüber und sie spielen ein Würfelspiel. Bei seinem Eintreten heben beide den Kopf und während Shisako ihn regelrecht anstrahlt, lächelt Tetsunosuke etwas zurückhaltender und respektvoller und steht auf. „Dann werde ich mal ganz schnell an meine Arbeit gehen", sagt Tetsunosuke zu Shisako und Hijikata könnte schwören, dass sie sich für eine Sekunde verschwörerisch angrinsen. Dann drückt sich Tetsunosuke an ihm vorbei aus dem Raum, nicht jedoch, ohne Shisako von der Türschwelle noch einmal zuzuwinken. Hijikata denkt kurz darüber nach, ob er seinem Assistenten noch irgendetwas auf den Weg mitgeben sollte, die Mahnung, fleißig zu sein vielleicht, aber dann läßt er es. Der Junge weiß ganz genau, wie er zu arbeiten hat, er ist sehr selbständig, was das betrifft. Also beläßt er es bei einem „Danke" und einem „bis später" und schließt hinter ihm wieder die Tür. „Was war das eben für ein Blick?" fragt er und versucht, nicht eifersüchtig zu klingen, während er zu ihr geht und sich direkt neben sie setzt. „Habt ihr beiden etwa Geheimnisse?" Ihre Wangen färben sich rosa und sie senkt verlegen den Blick. „Du weißt doch, wie er ist. Macht ständig Andeutungen über uns. Will alles wissen. Und denkt jetzt sicher, wir treiben sonst was hinter geschlossener Tür. Aber", lenkt sie schnell ab, „sag lieber mal, wie die Besprechung war? Irgend etwas Besonderes heute?" Er weiß, dass sie in Wirklichkeit nur mäßig interessiert ist. Wahrscheinlich befürchtet sie, dass er höchstens bis zum Mittag bei ihr bleibt und sich dann wieder in die Arbeit stürzt, so wie sie und alle anderen es von ihm gewöhnt sind. Auch oder gerade weil heute Feiertag ist. „Ehrlich gesagt", erwidert er gedehnt, während er ihren Blick sucht und festhält, „habe ich nicht wirklich aufgepasst. Ich war abgelenkt." „Oh...?" Sie klingt unsicher, doch in ihren hellbraunen Augen sieht er einen kleinen Hoffnungsschimmer. Argh. Sie ist so süß! „Ja“, erwidert er in einem Anflug von Tolldreistigkeit, „Ich habe nur an dich gedacht.“ Ihre Wangen werden flammendrot und sie schlägt beschämt die Augen nieder. Das ist kein Anblick, der ihm dabei hilft, ruhig und nüchtern zu bleiben. Er fragt sich unwillkürlich, ob Sagaru auch immer so rot geworden ist oder ob ihm das jetzt ganz besonders auffällt. Andererseits hatte er auch nie mit Sagaru geflirtet so wie jetzt mit ihr. Er räuspert sich einmal und greift nach ihren Händen. „Ich habe zwar keine Ahnung, welche Division heute Putzdienst hat, aber ein paar Punkte gab es doch.“ Er holt einmal tief Luft und wartet, bis sie ihn neugierig ansieht. „Shisako...“, beginnt er und rutscht etwas näher an sie heran, „die Jungs lassen dir ausrichten, dass sie für dich da sind. Sie machen sich riesige Sorgen um dich und sie wollen alle, dass du bei uns bleibst. Kondō hat heute einen Termin bei Matsudaira, wo er genau das anspricht. Sie stehen alle hinter dir und sie wollen, dass Matsudaira das weiß, daher haben sie Briefe geschrieben und Unterschriften gesammelt, und Kondō gebeten, das alles Matsudaira auszuhändigen.“ Im ersten Moment starrt sie ihn nur an, aber dann weiten sich Ihre Augen und sie schnappt plötzlich nach Luft. Mit einem Ruck entzieht sie ihm ihre Hände, nur, um nach vorne zu schnellen und ihn am Kragen zu packen. In ihren Augen schimmern Scham, Wut und Panik. „Was... was habt ihr ihnen erzählt? Wissen sie von...? Habt ihr es etwa allen erzählt? Wie konntet ihr nur!“ „Nein, nein“, beruhigt er sie hastig und pflückt ihre Finger von seinem Yukata. „Außer denen, die gestern dabei waren, weiß niemand etwas. Die anderen wissen nur, dass du eine Frau bist. Dass du im Krankenhaus warst und fast gestorben wärst, hat die Runde gemacht“, natürlich hat es das, schließlich haben sie alle die Genesungskarte unterschrieben, „aber sie wissen nicht, warum genau.“ Nicht, dass es keine Gerüchte gibt - auch wenn ihm bisher keine an die Ohren gedrungen sind, bedeutet das nicht, dass es keine gibt. Er kennt seine Pappenheimer. Und Yamazaki kennt sie auch, aber das ist hier nicht der Punkt. „Doch das hält niemanden davon ab, hinter dir zu stehen, verstehst du? Wir zeigen es bestimmt nicht so oft wie wir sollten oder wie du es verdient hast, aber du bist allen hier wichtig.“ Sie erstarrt und allmählich entspannt sie sich wieder. Die Wut und die Panik verschwinden aus ihrer Miene und machen einer großen Nachdenklichkeit Platz, als ihr Blick zu dem großen Blumenstrauß auf dem Schreibtisch hinüberwandert. Dann sieht sie zu den bunten Ballons und den Girlanden über ihnen. Hijikata kann regelrecht zusehen, wann es „klick“ macht und sie begreift, dass jeder hier auf irgend eine Art und Weise seinen Anteil dazu gegeben hat. Und dann sinkt sie regelrecht in sich zusammen. „Ich... sumimasen...“, beginnt sie, doch er läßt sie gar nicht erst ausreden. „Ich erzähle dir das nicht, damit du dich entschuldigst. Es gibt keinen Grund für dich, dich zu entschuldigen. Du hast uns alle erschreckt und wir machen uns Sorgen um dich." Er wünschte, sie würde das endlich verstehen. „Die Jungs wollen dir etwas Gutes tun. Sie hatten dieselbe Idee wie ich gestern. Das mit der Gedenkstätte. Ich glaube“, um seine Lippen zuckt ein schwaches Lächeln, „das ist auch irgendwie naheliegend. Es gibt keinen Hausaltar für Sternenkinder.“ Er ist froh, dass ihm dieser Begriff wieder eingefallen ist. Es ist nicht sein Thema, aber wenn man oft genug dazu gezwungen wird, sich mit Kondō rührselige Familiendramen anzusehen, bleibt das eine oder andere hängen. „Es gibt auch normalerweise keine Gedenkstätten“, ergänzt sie leise. „Niemanden hier interessiert normalerweise“, erwidert Hijikata und drückt dabei ganz fest ihre Hände. Es ist schließlich auch nicht normal, dass ein Mann zu einer Frau wird – erst seit die Amantos hier ihr Unwesen treiben, wird die Welt täglich auf den Kopf gestellt. „Sie gehen heute auch nicht zum Schrein. Wir sind eine Familie. Du bedeutest uns viel. Lass sie einfach für dich da sein. Du hast es mehr als verdient.“ Sie hält den Kopf so tief gesenkt, dass er ihre Miene nicht lesen kann, aber er spürt, wie ihre Finger in seiner Hand leicht zittern. „Wissen sie von der Verge...“, sie stockt, holt einmal tief Luft und versucht es dann erneut, „der Vergewa...“ wieder bringt sie das Wort nicht über die Lippen. Verzweifelt vergräbt sie das Gesicht in den Händen. Der Anblick bricht ihm fast das Herz. „Nein“, beruhigt er sie sofort. „Niemand weiß davon außer Tetsu, Sōgo, Kondō und mir. Und keiner von uns wird das irgendwem erzählen.“ Jetzt ist er wirklich, wirklich froh, dass sie diesen Fall mit diesen abscheulichen Videos in solch kleinem Rahmen belassen haben. Er glaubt nicht, dass irgend einer ihrer Männer neugierig genug ist, um tief genug nach der Wahrheit zu graben. Denn so sehr sie Yamazaki auch schätzen und mögen – niemand von ihnen hat je mehr als nur an der Oberfläche gekratzt. Sei das nun Desinteresse oder die Akzeptanz von roten Linien, das ist egal, denn in diesem Falle kommt es ihnen gelegen. „Beruhige dich bitte.“ Ohne dass er sich daran erinnern könnte wie und wann, sitzt er ihr plötzlich so nahe, dass er ihre Körperwärme spüren kann und wischt ihr mit dem rechten Daumen eine vereinzelte Träne von der linken Wange. Aber anstatt seine Hand dann zurückzuziehen, wandert sie weiter, streicht ihr ein paar Haarsträhnen aus der Stirn und eine andere hinters Ohr. Und dann seufzt sie leise auf, schließt die Augen und schmiegt ihre Wange in seine Hand. Und in diesem Moment ist es um ihn geschehen. Ehe er es sich versieht, lehnt er sich vor und berührt sanft mit seinen Lippen die ihren. Und dann geht alles ganz schnell. Sie entgegnet den Kuss ohne zu zögern und schon befindet sich seine Zunge in ihrem Mund und duelliert sich mit ihrer und sie schmeckt nach Tetsus Muffins und einfach nur süß. Und dann landen seine Finger endgültig in ihrem Haar und ihre in seinem und ihre Körper drängen zueinander und da ist nur WärmeWärmeWärme und mehrmehrmehr. Er ist nicht unberührt, aber seine wenigen Erfahrungen begrenzen sich auf die Stunden bei den leichten Damen aus Yoshiwara, eine richtige Liebesbeziehung hatte er noch nie. Er ist mit seiner Arbeit verheiratet und wirklich gefehlt hat ihm da auch nie etwas. In den ersten beiden Jahren nach Gründung der Shinsengumi besuchte er die einschlägigen Etablissements regelmäßig, weil Kondō ihn quasi dazu drängte, von wegen es sei gesund und gehöre zum „Mannsein“ dazu, aber Hijikata fiel schnell auf, dass dieses kurzfristige Vergnügen nicht sein Fall ist. Trotzdem ist er nun dankbar für die Erfahrungen, die er dort machen durfte, denn so blamiert er sich jetzt nicht. Hijikata hört erst auf, als ihm der Atem knapp wird. Nur sehr unwillig löst er sich von diesen süchtig machenden Lippen und lehnt stattdessen seine Stirn an ihre, sieht ihr – plötzlich von großer Unsicherheit erfüllt - dabei tief in die Augen, auf der Suche nach einem Zeichen, ob er zu weit gegangen ist. Doch aus diesen wunderschönen hellbraunen Augen - in denen, wie er jetzt bemerkt, wo sie sich zum ersten Mal so nahe sind, bernsteinfarbene Flecken schwimmen - schimmert nichts als Zuneigung. Und während er sie so ansieht, fällt ihm auf, dass Shisako anders küsst als jede andere Frau, die er je küssen durfte, denn selbst das erfahrenste Freudenmädchen war submissiver als sie. Shisakos Küsse besitzen die fordernde Note eines Mannes – und mal ganz davon abgesehen, dass dies nur logisch ist, schließlich war sie bis vor einem Jahr noch ein Mann mitsamt dessen Sozialisierung und Erfahrung, ist es erstaunlich, wenn man sich vorstellt, dass Zaki, der liebe, nette, immer leicht schüchterne Zaki genauso dominant küsst wie jeder andere Mann auch. Nicht, dass Hijikata jemals einen Mann geküsst hätte, aber er hat es oft genug gesehen. Bei Kondō, bei Gintoki, bei Harada, bei Todo, bei allen anderen seiner Männer, sogar bei Sōgo – obwohl der nicht zählt, der ist bei allem ein dominanter Mistkerl. Fakt ist: Shisakos Küsse sind ungewöhnlich und verdammt schön. Und sie sind nicht ungeschickt oder unerfahren. „Du küsst gut.“ Es gelingt ihm nicht, die leichte Eifersucht aus seiner Stimme herauszuhalten. Sie gluckst einmal, spitzt die Lippen und gibt ihm einen neckischen, aber viel zu kurzen Kuß. „Yoshiwara“, meint sie nur. „Genau wie du, nehme ich an. Aber es ist das erste Mal, dass ich jemanden in diesem Körper...“ sie stockt plötzlich und ihre Augen werden auf einmal ganz dunkel. „Ich meine“, fährt sie dann mit einem mühsam unterdrückten Zittern in der Stimme fort, „das erste Mal, dass ich nicht dazu gezwungen werde … aber“, ergänzt sie schnell und mit einer gewissen trotzigen Genugtuung, „.. mit Zunge ließ ich sie nicht. Sie haben es versucht, aber ich habe ganz fest die Kiefer zusammenpresst. Bis mir die Zähne knirschten.“ Etwas in ihm schreit wehklagend auf, als er das hört. „Du hättest diese Schweinehunde nicht post mortem kastrieren sollen“, knurrt er und zu seiner großen Verwunderung lacht sie daraufhin nur leise auf. „Sie sind nicht wichtig“, erklärt sie und von einem Moment auf den anderen ist das Blitzen wieder in ihre Augen zurückgekehrt. „Küss mich nochmal, Fukuchō“, fordert sie ihn dann neckisch auf. „Damit ich sie vergesse.“ Das tut er nur allzu gern. Aber diesmal gibt er sich Mühe, dass es ein langsamer, bedächtiger Kuss wird. Ruhig und zärtlich und er setzt all jene Tricks ein, an die er sich erinnert und die ihm einst beigebracht wurden. Seine Zungenspitze umschmeichelt ihre ohne Hast und Eile, er achtet auf jede noch so kleine Regung von ihr, um passend darauf reagieren zu können, denn das hier ist ein Geben und Nehmen. Seine Finger streicheln durch ihr Haar, kraulen sanft ihren Nacken. Ihr leichtes Schaudern und ihr leises Seufzen verrät ihm, wie sehr es ihr gefällt. Gut, das wird er sich merken. Seine andere Hand wandert tiefer, bleibt schließlich auf ihrer Hüfte liegen, züchtig über ihrem Hoodie, hält und stützt sie. Er spürt ihre Hände auf seinen Schultern und seinen Oberarmen, zuerst ein Streicheln, ein Festhalten und dann wird daraus plötzlich ein Festklammern. Sie gibt einen erstickten Laut von sich und bricht ihren Kuß ab. „Gomen", stößt sie hervor und presst eine Hand auf ihren Unterleib. Für einen kurzen Moment zuckt Schmerz über ihr Gesicht, aber dann hat sie sich wieder im Griff. „Ich muss... ins Bad." Sie steht so schnell auf, dass sie ins Schwanken gerät, und er ist sofort bei ihr, um sie zu stützen. „Geht's? Brauchst du Hilfe?" Sie wehrt ihn kopfschüttelnd ab und eilt zur Tür. Er versteht ihren Stolz und respektiert ihren Wunsch, aber das hält ihn nicht davon ab, ihr zu folgen.       Das Badezimmer ist klein und wird, weil es, genau wie ihr Quartier, so abseits liegt, kaum von jemanden benutzt. Wahrscheinlich ist Shisako die einzige, die es benutzt und Hijikata fragt sich, warum ihm das nicht schon früher aufgefallen ist. Noch vor einem Jahr lag Zakis Zimmer im Hauptflügel, genau wie das aller anderen. Er... sie muss umgezogen sein, als er und alle anderen den Dekoboko-Kult im Weltall nachjagten. Und er hat es nicht einmal hinterfragt, sondern einfach so hingenommen, wie man die Jahreszeiten hinnimmt. Auch wieder etwas, was er auf seine Liste der Verfehlungen setzen kann. Dass sie überhaupt noch mit ihm redet, grenzt an ein Wunder. „Shisako?" Vorsichtig klopft er an die Tür. Er will sie nicht drängen, aber sie ist schon über fünf Minuten da drin und er macht sich allmählich Sorgen. „Ist alles in Ordnung?" Er hört das Schloß klicken und dann wird die Tür beiseite geschoben. Mit einer gemurmelten Entschuldigung schiebt sie sich durch den Spalt, doch dabei hält sie den Blick gesenkt. Ihre gesamte Körpersprache hat sich verändert, sie wirkt unsicher und beschämt, doch dann hebt sie den Kopf und lächelt ihn an. Götter, wie sehr er dieses falsche Lächeln an ihr hasst! Er dachte wirklich, das hätten sie hinter sich. „Alles in Ordnung, Fukuchō. Keine Sorge." Wenn Sagaru früher so etwas zu ihm sagte, hat er es einfach dabei belassen, aber heute ist er klüger. „Hast du starke Schmerzen?" fragt er sie ganz direkt und ihr falsches Lächeln erstirbt sofort. Sie senkt wieder den Blick und schüttelt den Kopf. „Nicht mehr als sonst auch", murmelt sie leise und beißt sich dann verunsichert auf die Unterlippe. „Es ist nur..." Ihre Stimme bricht völlig unvermittelt. Auffordernd breitet Hijikata die Arme aus und sie flüchtet sich ohne zu zögern hinein. „Ich blute stärker", murmelt sie verschämt gegen seine Schulter, während sie sich an ihn klammert. Und dann bricht es aus ihr heraus: „Ich hasse diesen Körper. Ich bin so unnütz. Ich konnte ja nicht mal ein Baby..." ihre Stimme wird immer leiser und erstirbt zitternd. „Nicht." Erschrocken über diese Worte, drückt Hijikata sie an sich und streichelt ihr über den Hinterkopf. „Du bist nicht schuld. Es war nicht lebensfähig. So etwas passiert. Die kleine Seele ist nicht verloren. Sie wartet nur auf eine andere Gelegenheit." Er ist nicht gut mit tröstenden Worten, aber er scheint die richtigen gefunden zu haben, vielleicht liegt es aber auch nur an der Umarmung oder seinen Streicheleinheiten, jedenfalls beruhigt sie sich wieder. Langsam, aber sicher. „Gomen." Schniefend hebt sie den Kopf von seiner Schulter. „Ich bin eine Heulsuse." Dabei hat sie diesmal gar nicht geweint. Aber er weiß, was sie meint. Er wünschte, er könnte ihr helfen, ihr ihre Trauer und ihre Schmerzen abnehmen, aber das steht leider nicht in seiner Macht. „Du bist keine Heulsuse", widerspricht er und dann packt er sie unter den Kniekehlen und nimmt sie hoch in seine Arme. „Uh, was machst du?" erschrocken legt sie die Arme um seinen Nacken und hält sich fest. Sie ist erstaunlich leicht. Leider weiß er nicht, ob das normal für sie ist oder ob sie an Gewicht verloren hat. Ein paar Pfund mehr würden ihr aber bestimmt nicht schaden. „Die Ärzte haben dir Bettruhe verordnet", erklärt er, während er sich daran macht, sie zurück ins Zimmer zu tragen. „Vielleicht hat diese Anordnung ja einen Sinn. Vielleicht blutest du mehr, wenn du dich bewegst." Sie schweigt einen Moment. „Und wenn uns jetzt jemand so sieht?" wendet sie schließlich ein. Er schnaubt nur. „Was soll dann sein?" Sie öffnet den Mund, als wolle sie etwas darauf sagen, schließt ihn aber dann wieder und wirft ihm nur einen nachdenklichen Blick zu, bevor sie schließlich mit einem kleinen Seufzer entspannt ihren Kopf an seine Schulter lehnt. Er nickt grimmig. Gut. Sie ist auch einfacher zu tragen, wenn sie sich nicht gegen ihn sträubt. Zurück in ihrem Zimmer setzt er sie ab und geht sofort zum Schrank, um den Futon heraus zu holen. Dabei flucht er in Gedanken. Wieso haben sie ihn überhaupt eingeräumt? Sie wussten doch beide, dass sie mindestens noch eine Woche Bettruhe braucht. „Aber wenn ich mich hinlege, dann schlafe ich ein", protestiert sie, während er den Futon ausrollt. „Und was wäre so schlimm daran?" gibt er beinahe unwirsch zurück. Sie senkt den Kopf und schweigt. Sanft legt er ihr einen Finger unters Kinn und zwingt sie, ihm ins Gesicht zu blicken. „Shisako?" Sie zögert, knickt unter seinem strengen Blick aber schnell ein. „Dann gehst du. Ist doch langweilig, bei mir zu bleiben, wenn ich schlafe. Aber das ist schon in Ordnung", fährt sie betont munter und wieder mit diesem falschen Lächeln fort, „du hast viel zu tun und Tetsu ist zwar gut, aber er kann nicht alles alleine machen." Hijikata starrt sie eine Sekunde lang einfach nur fassungslos an. „Deshalb quälst du dich in die Senkrechte? Riskierst deine Gesundheit?" Das ist so typisch! Yamazaki war immer hart im Nehmen, aber aus diesen Gründen erscheint ihm das jetzt falsch. „Ich werde mich nicht langweilen", verspricht er ihr daher. „Du hast genug Bücher, die ich lesen kann. Da steht ein Fernseher, den ich benutzen kann. Und wenn du mir deinen Laptop leihst, kann ich meinen Magier noch etwas hochleveln." Vielsagend klopft er auf den Futon. Nur zögernd setzt sie sich hin. Einem Impuls folgend, packt er sie am Arm und zieht sie zu sich. Er ist erst zufrieden, als sie wie in der Nacht zuvor, mit Kopf und Schultern auf seinem Oberschenkeln gebettet daliegt. Ihr überraschter Blick ist Gold wert. Es dauert eine Weile, bis sie eine bequeme Position gefunden hat, aber kaum liegt sie richtig, landen Hijikatas Finger in ihren Haaren. Er liebt es wirklich, durch diesen dichten, schwarzen Mopp zu fahren. „Shisako... ich muss dir noch etwas erzählen. Sōgo hat da etwas in der Morgenbesprechung gesagt und vielleicht ist das hier nicht der beste Zeitpunkt, aber bevor du es von irgend jemand anderen hörst... es gibt einen Weg, wie du bei uns bleiben kannst, egal, was Matsudaira entscheidet. Und auch, wenn das wie eine rein logische, nüchterne Entscheidung wirkt, es ändert nichts daran, was ich für dich ...“, er stockt und holt einmal tief Luft, „...je mehr ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir die Idee …“, wieder hält er inne, um dann schnell und hoffnungsvoll hervorzustoßen: „Yamazaki Shisako, willst du meine Frau werden?“ Einige Sekunden lang liegt sie einfach nur da, dann dreht sie sich etwas, bis sie ihm ins Gesicht sehen kann. Sie lächelt, und auch, wenn es müde und erschöpft wirkt, ist es ein echtes Lächeln und da funkelt ein schalkhaftes Licht in ihren schönen Augen. „Du hattest recht. Wir können anscheinend wirklich nicht nur Freunde sein.“ Und plötzlich kichert sie, packt ihn am Kragen und zieht sich etwas in die Höhe und ihn gleichzeitig zu sich herab. Kurz bevor sich ihre Lippen berühren, wispert sie: „Natürlich will ich deine Frau werden, Tōshirō, aber ich bestehe trotzdem auf dem versprochenen Date.“ Kapitel 21: Gegenwart - 4. Januarwoche – 21. Januar, Tag X+1 – das Licht am Ende des Tunnels ist manchmal doch der Ausgang -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Als Kondō die Girlanden, die Luftballons und vor allem die vielen, vielen Blumensträuße sieht, mit denen das Zimmer geschmückt ist, kann er sich ein stolzes Lächeln nicht verkneifen. Seine Jungs. Die gesamte Truppe. Er wußte, dass er sich auf sie verlassen kann. Er wußte, dass sie Shisako mögen. Und heute haben sie es deutlich bewiesen. Beinahe jeder von ihnen hat heute hier einmal vorbeigeschaut und ein kleines Geschenk – meist in Form eines Blumenstraußes, so, wie das hier aussieht - abgegeben. Kondō sieht zu, wie Hijikata Shisako zum Abschied einen Kuss gibt und lächelt unwillkürlich noch etwas breiter. Er ist trotzdem nicht glücklich, denn es ist nur ein kleiner Kuss. Er hofft aber mit ganzem Herzen, dass es nur daran liegt, dass er hier steht und sie dabei beobachtet. Er nickt Toshi noch einmal zu, als dieser an ihm vorbei geht und den Raum verlässt. Jetzt ganz allein mit Shisako, zaubert Kondō sein bestes, breitestes Lächeln auf sein Gesicht. Vorsichtig sein Tablett mit einer Schale Misosuppe, einer vollen Teekanne und Tassen balancierend, geht er zu ihr an den Kotatsu und lässt sich dann ihr gegenüber nieder. Dabei fragt er sich, ob er das Thema Matsudaira ansprechen soll. Andererseits hat Toshi ihr bestimmt schon alles erzählt - auch wenn Kondō sich ihm gegenüber mit Einzelheiten zurückgehalten hat. So hat er nicht berichtet, wie angepisst der Alte wirklich war, weil Kondō es wagte, ihn an einem Feiertag zu stören. Wenigstens hat er versprochen, bis zur nächsten Woche eine Entscheidung zu treffen. Nach einen kurzen Blick in Shisakos blasses, erschöpftes Gesicht, beschließt er, ihr nur dann etwas zu sagen, wenn sie explizit danach fragen sollte. Sie muss sich mit solchen Dingen nicht unnötig belasten. Es ist sein Job, an dieser Front für sie zu kämpfen. „Wie geht es dir?" fragt er sie, während er ihr ihre Misosuppe reicht. Sie schenkt ihm ein kleines Lächeln. „Danke, gut." „Wirklich?" hakt er geduldig nach. Sie lässt ihren Löffel, der schon halb auf dem Weg zu ihrem Mund war, wieder sinken und wirft ihm einen skeptischen Blick zu. „Es geht mir besser als gestern. Möchtest du wirklich Details wissen? Das sind Frauenthemen." Kondō schluckt schwer. „Wenn es dir hilft, darüber zu reden?" erwidert er mit einem betont breiten Lächeln. Sie mustert ihn aus schmalen Augen und widmet sich dann ihrer Misosuppe. Sie schweigt lange, so lange, dass Kondō es schon aufgegeben hat, aber dann, während sie den letzten Rest aus ihrer Suppenschale schöpft, meint sie plötzlich: „Ich fühle mich derzeit nicht wie ein Mensch. Es ist merkwürdig, aber...“, sie seufzt einmal schwer, hebt den Blick und lächelt schief, „... selbst nachdem, was diese Mistkerle mir angetan haben, habe ich mich nicht so unrein gefühlt.“ Sie zögert, als wolle sie noch etwas sagen, aber dann preßt sie doch nur die Lippen zusammen und senkt den Kopf. Da steckt plötzlich ein riesengroßer Kloß in Kondōs Kehle, der selbst nach mehrmaligen Schlucken nicht verschwinden will. „So schlimm?" bringt er irgendwie zutiefst betroffen hervor. Alles in ihm schreit danach, sie tröstend in den Arm zu nehmen, aber eine ungewöhnliche Scheu hält ihn zurück. Sagaru hätte er ohne zu zögern umarmt, aber Shisako … Kondō hat noch niemals eine Frau ohne ihre Erlaubnis berührt, geschweige denn umarmt – nicht einmal seine geliebte Otae-san. Jedenfalls nicht, wenn er nüchtern oder jenseits eines emotionalen Ausnahmezustandes (wie gestern) war. Sie zuckt mit den Schultern und schenkt ihm wieder dieses schiefe Lächeln. „Vielleicht bin ich auch nur überempfindlich." Unsicher lächelt Kondō zurück. Er würde ihr jetzt so gerne etwas Aufmunterndes sagen, aber ihm fällt nichts ein. Jedenfalls keine Worte. „Vielleicht heitert dich das hier auf?" Er holt einen kleinen Gegenstand aus seiner Brusttasche hervor und hält ihn ihr entgegen. Sie blinzelt überrascht und wirft ihm dann einen fragenden Blick zu. Auf sein stummes Nicken hin, lächelt sie zustimmend und neigt vielsagend ihren Kopf. Daraufhin steckt ihr Kondō den Birabira-Kanzashi hinters linke Ohr ins Haar. Auf dem Rückweg von Matsudaira kam er an einem Straßenhändler vorbei und als er diese silberne Haarnadel sah, dachte er sofort an Shisako. Normalerweise haben Birabira-Kanzashis ein klassisches Blumenmotiv, aber dies hier hat einen mit Bernstein verzierten Halbmond als Schmuckkörper und echte Perlen als frei hängende Elemente. Es war nicht billig, aber es ist ungewöhnlich - genau wie Shisako. „Danke, Kyokuchō", bedankt sie sich verlegen und fährt mit den Fingerspitzen die Formen des Haarschmucks nach. „Er steht dir so gut." begeistert klatscht Kondō in die Hände. „Deine Haare sind etwas kurz dafür, aber du lässt sie dir doch jetzt wachsen, oder?" „Vielleicht." Es steht ihr wirklich gut. Sie ist einfach nur bezaubernd. Er ist sich gar nicht bewusst, wie intensiv er sie anstarrt, bis er bemerkt, wie sie ganz nervös wird und sich sich mit den Fingern unsicher durchs Gesicht fährt. „Was ist? Habe ich etwas im Gesicht?" „Nein, nein“, beruhigt er sie hastig. „Es ist nur... Du bist so hübsch. Ich frage mich nur, warum du nichts ... Frauliches trägst. Ich meine, du musst dich ja jetzt nicht mehr hinter diesen riesengroßen Hoodies verstecken." Seine Worte bringen sie zum Erröten. Verlegen senkt sie den Blick und streicht sich dann unbewußt über den weichen Stoff besagten, riesengroßen Hoodies. „Sie sind bequem", verteidigt sie sich dabei leise. Kondō verzieht unwillkürlich das Gesicht. „Kyokuchō...", seufzt sie und fährt dann in versöhnlichem Tonfall fort: „Ich fühle mich nicht danach, in schönen Kleidern herumzulaufen. Vielleicht später", bietet sie lächelnd an. Und weil es ein echtes Lächeln ist, läßt er es ihr durchgehen. Sie hat in etwas mehr als zwei Wochen Geburtstag, da wird er das zum Anlaß nehmen und ihr viele schöne Kleider schenken. Vielleicht, wenn sie gut gelaunt ist und ihn ausreden läßt, kann er Otae-san sogar darum bitten, ihn bei der Kleiderauswahl zu helfen. Bei diesem Gedanken lächelt er still vor sich hin, vergißt dabei jedoch nicht, Shisakos leere Schale beiseite zu stellen und stattdessen Tee einzuschenken und ihr diesen dann zuzuschieben. Für die Dauer einer Minute sitzen sie sich beide nur schweigend gegenüber und nippen an ihrem Tee. Dann räuspert sich Kondō einmal. „Hat Tōshi schon mit dir geredet?" „Du meinst die Heirat?" fragt sie zurück. Er nickt eifrig, schenkt ihr ein hoffnungsvolles Lächeln und wirft ihr gleichzeitig einen auffordernden Blick zu. „Ja“, meint sie gedehnt, „das ist ein guter Plan." „Ein Plan?“ stößt Kondō fassungslos hervor. „Mehr nicht? Shi-chan! Jeder hier weiß, dass du Tōshi seit Ewigkeiten liebst!" Zwischen ihren Augenbrauen erscheint eine senkrechte Falte. „Und daran würde eine Heirat etwas ändern?" „Was? Nein... Oder?“ Kondō kommt für einen Moment ins Schleudern. „Shi-chan, ich dachte, du freust dich darüber!" „Kyokuchō...“ sie wirft ihm einen merkwürdigen Blick zu, nimmt einen Schluck von ihrem Tee und meint dann beinahe entschuldigend: „Ich habe nie damit gerechnet, mal irgendwen zu heiraten, geschweige denn den Mann, den ich liebe. Ich brauche noch etwas, um mich an den Gedanken zu gewöhnen." Kondō stutzt, denkt kurz darüber nach und nickt dann. Ihre Worte machen ihn traurig – jetzt bekommt Toshis Bemerkung, dass sie viel heimlich weint, eine ganz andere Bedeutung - bestärken ihn aber auch in seinem Entschluß, alles, aber wirklich alles zu tun, damit sie endlich glücklich wird. Und doch ringt er plötzlich nach Worten, dabei gibt es so viel, was er ihr gerne sagen würde, angefangen damit, wie leid es ihm tut, dass er nicht für sie da war bis dahin, wie stolz er auf sie ist, wie gut sie sich bisher geschlagen hat. Er ist sicher, wäre er an ihrer Stelle, läge er schon längst beim Therapeuten auf der Couch. Und trotzdem hält ihn ein Blick in ihr Gesicht davon ab, ihr genau das alles zu sagen. Es fühlt sich an, als wäre ihre Fassade nur sehr dünn und sie jetzt zum Bröckeln zu bringen, wäre wie an einer gerade erst verschorften Wunde zu kratzen. Also schweigt er lieber und schenkt ihr nur sein wärmstes Lächeln, während sie zusammen sitzen und seinen Tee genießen. Man hat ihm oft gesagt, dass er eine wohltuende Ruhe ausstrahlt und tatsächlich wirkt sie zunehmend entspannter. „Kyokuchō..." bricht sie plötzlich das Schweigen und neigt in einer angedeuteten Verbeugung den Kopf. „Ich möchte mich bei dir bedanken, dass du dich bei Matsudaira für mich eingesetzt hast." „Nicht doch, nicht doch", wehrt Kondō hastig ab. „Das ist doch selbstverständlich.,“ „Tōshirō hat mir auch erzählt, dass es bei Matsudaira heute nicht so gut lief? Es tut mir Leid, wenn du wegen mir Ärger bekommen hast." Kondō schüttelt so heftig den Kopf, dass ihm beinahe schwindlig wird. „Oh, nein, so schlimm war es nicht. Es war einfach nur ein schlechter Zeitpunkt. Ich bin sicher, wenn er genug darüber nachgedacht hat, wird er froh sein, die erste Frau in der Shinsengumi zu haben. Wahrscheinlich wird er einen riesigen Presserummel deswegen veranstalten." „Kondō-san... Ehrlich gesagt, ist mir das wirklich nicht wichtig. Das Wissen, dass ihr alle hinter mir steht, ist für mich das größte Geschenk." Er spürt, wie er knallrot anläuft. Und gleichzeitig fühlt er sich schuldig. Sie sollte nicht so fühlen. Dass sie alle hinter ihr stehen sollte für sie genauso selbstverständlich sein wie für ihn. Wir haben so viel wieder gut zu machen! Er räuspert sich einmal und setzt ein betont munteres Gesicht auf. „Ach, komm, Shi-chan, sag doch sowas nicht. Was ist mit Tōshi? Sollte der nicht dein größtes Glück sein?" Dabei beobachtet er sie aufmerksam. Um ihre Lippen zuckt ein kleines Lächeln und in ihre Augen tritt ein ganz verträumter Glanz. „Tōshirō..." meint sie gedehnt und da liegt soviel Wärme in ihrer Stimme, dass Kondō richtig neidisch wird, „... Tōshirō ist eine ganz anderes Level von Glück." Ahhh! Was soll's. Kondō war noch nie jemand, der seine Gefühle lange im Zaum halten konnte. Innerhalb eines Wimpernschlages ist er bei ihr und drückt sie mit einem überglücklichen „Shi-chan" an sich. Und da sie sich nicht wehrt und weil er schnell bemerkt, dass es sich nicht fremd anfühlt, da es Yamazaki ist, den er im Arm hält (nur mit ein paar weiblichen Rundungen), lässt er sie auch so schnell nicht wieder los.     Hijikata fühlt sich am Rande einer Erschöpfung, als er nach Hause kommt. Mental und emotional regelrecht ausgelaugt. Dabei lief alles gut. Der Priester hat sogar nur die Hälfte seines Geldes genommen, als er hörte, worum es ging. Er war sehr mitfühlend und würde Hijikata ihn nicht schon kennen und vertrauen, wäre er spätestens jetzt von seiner Zuverlässigkeit überzeugt. Und Sōgo war ihm erstaunlicherweise auch eine große Unterstützung. Auch wenn er kaum etwas gesagt hat und einfach nur anwesend war. Es war ungewohnt, ihn so schweigsam zu erleben, richtig erholsam. Am Ende haben ihm seine bissigen Kommentare und hinterhältigen Angriffe regelrecht gefehlt. Es war wie letzte Nacht, wo Sōgos reine Anwesenheit ihm die Kraft gab, all das durchzustehen. Vielleicht hat Sōgo ihm die Sache mit Mitsuba doch verziehen. Vielleicht versteht er ihn sogar ein kleines bisschen? Vielleicht tut er es aber auch nur für Yamazaki. Warum auch immer - Hijikata ist ihm sehr dankbar dafür. „Vielen Dank", bedankt er sich daher bei ihm, als sie vor Shisakos Tür stehen. Sōgo nimmt den Dank mit einem wortlosen Nicken an und bleibt wartend auf der Schwelle stehen, während Hijikata das Zimmer betritt. Bei seinem Eintreten dreht sich Kondō halb herum und kaum hat er erkannt, wer ihn da aus seinem dösigen Zustand geweckt hat, strahlt er bis über beide Ohren. Er kniet am ausgebreiteten Futon, auf diesem wiederum liegt Shisako und den Kopf hat sie dabei auf Kondōs Oberschenkel gebettet. Sōgo hat ein Déjà vu, so sehr ähnelt dieser Anblick dem, der sich ihm letzte Nacht geboten hat. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass es sich diesmal um Kondō handelt und nicht um Hijikata. Dem scheint es nichts auszumachen, die beiden in solch vertraulicher Position anzutreffen, aber vielleicht liegt es auch an Shisako, die sich jetzt schläfrig aufrichtet und einfach nur stumm die Arme nach ihm ausstreckt. Innerhalb eines Augenblinzelns hat sich Hijikata in Shisakos Arme geflüchtet. Überrascht zieht Sōgo die Augenbrauen in die Höhe, doch er verbeißt sich jedes spöttische Kommentar. Hijikata ist nicht mehr er selbst. So lange er so ist, macht es einfach keinen Spaß mehr, ihn zu ärgern. Sōgo sieht aus sicherem Abstand zu, wie Kondō leise etwas zu Hijikata sagt - irgendwelche freundlichen Phrasen, die Sōgo nur mit halben Ohr registriert - Shisako zum Abschied durchs Haar strubbelt (genau wie bei ihm immer, mitleidig verzieht Sōgo das Gesicht) und dann immer noch mit diesem breiten Lächeln aufsteht und zu ihm kommt. Auf der Türschwelle sieht Kondō noch ein letztes Mal zurück, bevor er die Tür mit einem tiefen Seufzer schließt. Als er sich Sōgo zuwendet, schimmern Tränen in seinen Augen, doch laut sagt er nur: „Komm, Sōgo, gehen wir." Sōgo denkt daran, wie sehr es Kondō hasst, wenn Matsudaira ihn im Regen stehen lässt und wie einen kleinen Schuljungen behandelt, als wären die Probleme der Shinsengumi, wenn es nicht um Politik geht, unwichtig. „Ja, laß uns gehen", erwidert er daher, „wir müssen Pläne schmieden. Die Shinsengumi braucht mehr als drei Spione, wovon einer nur für interne Angelegenheiten zuständig ist und ein anderer nur dann im Einsatz, wenn es ihm passt. Es wird Zeit, dass wir Shi-chan als unseren einzigen Vollzeit-Spion entlasten. Sie sollte die Gelegenheit bekommen, mehr Männer anzulernen. Von den nächsten Rekruten sollten wir einen oder zwei von ihr als Spione ausbilden lassen. Dagegen kann auch Matsudaira nichts haben. Es wäre doch Verschwendung, wenn Shi-chan ihr Wissen und Erfahrung nicht mit anderen teilt." Kondō erstarrt mitten im Schritt und starrt ihn für einige Sekunden lang einfach nur an. Dann fällt bei ihm der Groschen. „Shisako nicht nur als Ehefrau des Vizekommandanten, sondern zugleich auch ein Sensei für zukünftige Shinsengumi-Spione? Sōgo, das ist eine hervorragende Idee!" Sōgo nickt nur selbstgefällig. Natürlich ist das eine gute Idee. Eine, gegen die nicht einmal Matsudaira in seiner miesesten Laune etwas haben kann. Denn um andere auszubilden, muss Shisako nicht einmal zur Shinsengumi gehören. Matsudaira hat ihnen oft genug empfohlen, Externe für gewisse Arbeiten heranzuziehen, etwas, was Kondō bisher immer aus Stolz ablehnte. Er sieht es als Weg des Bushidōs, wenn seine Männer selbst die Toiletten putzen oder kochen. Wenn sie Matsudaira jetzt aber Shisako als Externe „verkaufen", schlagen sie den Alten sogar mit seinen eigenen Waffen. Und als Sahnehäubchen obendrauf muss Shi-chan ihren geliebten Job nicht aufgeben. Ja, der Plan ist wirklich perfekt.     Shisakos Umarmung ist wie nach Hause kommen. Er fühlt sich wohl, wenn sie ihn so an sich drückt, dann will er nie wieder von hier fort, könnte ewig so sitzen bleiben. Und für ein paar Minuten macht er genau das, auch wenn er sich deswegen schuldig fühlt. Doch dann wird die Schuld zu groß und er zieht sich widerwillig aus ihren Armen zurück. „Es tut mir leid. Du bist diejenige, die gehalten werden sollte." „Baka", meint sie nur lächelnd, legt ihm die Hand an die Wange und gibt ihm einen kleinen, schüchternen Kuss auf den Mund. „Ich war schon immer gerne für dich da, das weißt du doch." Er nickt betreten. Ja, das weiß er. Und wie er das weiß, aber es ist ihm trotzdem peinlich. Und gerade jetzt sollte er für sie stark sein. „Waren wieder zu viele Leute unterwegs?" fragt sie und reibt dabei aufmunternd seinen Oberarm. Oh, wie gut sie ihn doch kennt! Er nickt und lässt sich dann von ihr wieder in eine Umarmung ziehen. Massenansammlungen sind ihm zuwider, das wissen alle hier, aber nur Yamazaki weiß, wie sehr. Eine halbe Minute lang genießt er es noch einmal, von ihr gehalten zu werden, dann schiebt er sich entschlossen von ihr fort. Aus den Taschen seines Yukatas zieht er eine kleine, geschnitzte Figur hervor. „Das hier hat mir der Priester gegeben. Er sagt, wir sollen einen roten Ahorn pflanzen und dies daran aufhängen." Sie nimmt sie ihm kurz aus der Hand und betrachtet sie ganz genau, und er lässt sie dabei keine Sekunde aus den Augen. Er sieht, wie sich ihre Augenbrauen kurz heben, als sie erkennt, dass die Figur eine Wildkatze darstellen soll und vielleicht denkt sie dasselbe wie er, als ihm klar wurde, dass der Priester ihn und Yamazaki kennt und damit auch Yamazakis Vorliebe für Katzen. Shisako lächelt, als sie ihm die Figur zurückgibt. „Und", fährt er fort und nimmt dabei ihre Hände in seine und sieht ihr tief in die Augen, „er sagte auch, wir sollen uns keine Sorgen um die Seele machen. Sie wird so lange ein Teil deiner Seele bleiben, bis du wieder schwanger wirst. Und wenn nicht, werdet ihr im nächsten Leben als Zwillinge wiedergeboren." Ihre Lippen kräuseln sich zu einem skeptischen Lächeln. „Ich weiß nicht, ob ich das glauben soll, aber es ist eine schöne Vorstellung." Er nickt nur bestätigend. Diesmal ist er es, der sie in seine Arme zieht. Und so bleiben sie im Prinzip die nächsten Tage. Hijikata hätte nie gedacht, dass er mal so anhänglich werden könnte.   Kapitel 22: Epilog: 6. September -------------------------------- „Hier, Tetsu." Das ist Hijikatas letzte Amtshandlung heute: seinem Assistenten ein Glas Limonade nachzuschenken. Tetsunosuke hebt nicht einmal den Kopf, aber er bedankt sich artig und tippt dann weiter auf der Karaoke-Maschine herum. Hijikata ist froh, dass sie mit dem Karaoke bis zur Dämmerung gewartet haben, denn so kommt er noch einmal unbeschadet davon. „Tōshi, gehst du etwa schon?" voller dunkler Vorahnungen lässt Kondō sofort sein volles Bierglas sinken. Hijikata schenkt ihm ein geduldiges Lächeln. „Ja, Kondō. Es ist schon spät." „Unser Vizekommandant muss zurück zu seinem Frauchen", spöttelt Okita neben Kondō, doch es fehlt der bösartige Unterton, wie so oft in den letzten Monaten. Aus irgend welchen Gründen hat Sōgo nämlich beschlossen, für Shisako genau so ein guter Bruder zu sein wie für seine verstorbene Schwester Mitsuba. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass er Shisako beschützen kann, weil sie unter einem Dach leben und nicht hunderte Kilometer entfernt. Aber trotz all der vergangenen Monate ohne tödliche Attentate seitens Sōgo gegen ihn, weiß Hijikata immer noch nicht, ob er das gut oder schlecht finden soll. „In der Tat", bestätigt Hijikata und sieht Sōgo dabei ernst in die Augen. „Ich muss zurück zu meinem Frauchen." Sie liefern sich ein Blickduell, doch nur ein ganz kurzes, denn Sōgo wendet schon nach wenigen Sekunden den Blick zur Seite, tut so, als habe ihn Kagura abgelenkt. Was nicht schwer ist, wenn man ihre Tischmanieren bedenkt. „Uuuuh", macht Shimura Tae derweil gedehnt. Sie ist schon etwas beschwipst. „Da steht einer aber wirklich unter dem Pantoffel." Hijikata lächelt nur still vor sich hin, aber er steht schon längst nicht mehr im allgemeinen Fokus, denn Kondō hat gerade den Fehler begangen, seiner angebeteten Otae-san vertraulich einen Arm um die Schulter zu legen und ein „ich würde mindestens genauso sehr unter deinem Pantoffel stehen, liebste Otae-san", zu raunen, wofür er sich prompt eine Ohrfeige von ihr einfängt. Die fünfte dieses Abends. Dabei feiern sie hier Kondōs Geburtstag. Doch da jeder hier dieses seltsame Gebaren zur Genüge kennt, achtet kaum noch einer darauf. Die beiden sind schließlich erwachsen. Und Tae wäre heute bestimmt nicht hier, wenn sie Kondō nicht doch ein kleines bisschen gern hätte. „Grüß Shi-chan von mir", ruft Gintoki von der anderen Seite des Tisches. „Von mir auch!" nuschelt Kagura mit vollem Mund. Shinpachi fällt in diese Grüße mit ein. Hijikata nickt nur und verspricht es, dann beeilt er sich, den Speisesaal zu verlassen. Seit Kondō von dem verhängnisvollen Geschehen beim Bonenkai weiß, hat er angeordnet, dass jegliches Fest nur noch im Speisesaal ausgerichtet wird, wo sie alle zusammen sind. Wenn man bedenkt, dass es immer nur die Offiziere waren, die sich abgesondert haben, ist es kein Wunder, dass diese Entscheidung sogar dabei half, die Truppenmoral zu stärken. Die Stimmen, die den Offizieren nachsagten, sie hielten sich für etwas Besseres, sind leiser geworden. Hijikata, dem solche Feiern schon immer Unbehagen verursachten, kann nicht sagen, dass es ihn stören würde. Sich aus einem vollen Speisesaal zu verdrücken ist sehr viel leichter als aus einer kleinen Gruppe davonzustehlen. Draußen auf dem Hof zündet er sich sofort eine Zigarette an. Er zieht den Rauch tief in die Lungen und hält ihn einen Herzschlag lang dort, bevor er ihn langsam und genüßlich wieder ausatmet. Dies wird die letzte Zigarette dieses Tages sein, deshalb lässt er sich damit jetzt ganz besonders viel Zeit. Während er also langsam an seinem Glimmstengel zieht, über den Hof schlendert und die Geräusche der Feier hinter ihm immer leiser werden, muss er unwillkürlich an Sōgos Worte denken. Es gab eine Zeit, ganz am Anfang, da hat es ihn fuchsteufelswild gemacht, wenn jemand Shisako sein „Frauchen“ nannte. Inzwischen kann er darüber lachen. Warum auch nicht? Wo doch Shisako die erste war, die darüber lachte und die sich inzwischen selbst stolz so bezeichnet? Shisako... seine Shisako. Versonnen spielt er mit dem schmalen Ring um seinen linken Ringfinger. Ein Date, ein Spaziergang im Mondschein, zehn rote Rosen und ein Antrag. Shisako hat nie schöner ausgesehen als in diesem Moment, wo sie seinen - diesmal offiziellen - Antrag angenommen hat. Die Hochzeit ist auf nächsten April terminiert, zur Zeit der Kirschblüte, genau, wie Shisako - damals noch Sagaru - es sich immer gewünscht hatte. Ja, er hat ihm zugehört. Immer. Auch wenn es meistens nicht so aussah. Sie waren Freunde. Beste Freunde. Und jetzt sind sie so viel mehr. Auf dem Weg zu seinem und Shisakos Quartier macht er - wie immer - einen kleinen Umweg. Das sorgsam gepflegte Blumembeet mit dem jungen roten Ahorn im Zentrum liegt etwas näher an der Grundstücksmauer, nicht versteckt, aber geschützt vor den neugierigen Blicken Fremder. Und damit sind die neuen Rekruten gemeint. Es sind nur vier, die Auswahlprüfungen zum Spion sind streng, aber sie sind manchmal etwas übereifrig. Aber sie wissen, dass dies hier der kleine Garten des Vizekommandanten und seiner Verlobten ist und sie sich fernzuhalten haben. Und da sie vor ihrer Yamazaki-Sensei noch viel größere Angst haben als vor ihrem Vizekommandanten, halten sie sich auch brav daran. Wie immer wenn er hier steht, erinnert er sich an diese vier Wochen, in denen alle Truppenkapitäne zusammen mit Shisako über die Pläne für diesen kleinen Garten gesessen haben. Erst die Pläne, dann die Umsetzung. Es half ihr, es tat ihr sogar so gut, dass es ihm leicht fiel, die aufkeimenden Eifersuchtsanfälle herunter zu schlucken, die ihn überkamen, wenn er sie so vertraulich mit den anderen Männern herumsitzen sah. Sein Blick fällt auf das Geschenk des Priesters, die kleine Katze aus Holz, die an einer Kordel von einem Ast des Ahorns baumelt. Entgegen dem, was der Priester sagte, hängt sie allerdings erst seit sechs Wochen da - zumindest, ohne schon nach den ersten fünf Minuten wieder abzufallen. Nachdem das Band zuerst immer wieder riss, vergaßen sie die Figur irgendwann. Oder sie wollte ihren eigenen Moment wählen, wie Shisako vor sechs Wochen meinte, als sie sie höchstpersönlich dort (wieder) anbrachte. Der Gedanke bringt Hijikata unwillkürlich zum Lächeln. Und löst in ihm sofort den Wunsch aus, noch schneller bei seiner Shisako zu sein. Und so zieht er noch ein letztes Mal an seiner Zigarette, lässt den Stummel dann fallen, tritt ihn mit dem Absatz aus und macht sich dann wieder auf den Weg. Es ist nicht mehr sehr weit, nur noch durch einen Seiteneingang des Hauptgebäudes und dann die Treppe, denn kaum bekam Kondō von ihrer Verlobung Wind, hat er ihnen sofort die Hälfte des Obergeschosses freiräumen lassen. Wo vorher nur Gerümpel aller Art lagerte, ist jetzt ihre Wohnung mit eigener Küche und Badezimmer und auch wenn ihnen anfangs diese Vorzugsbehandlung noch peinlich war, kommt sie ihnen jetzt sehr gelegen. Ein schneller Blick auf die Armbahduhr verrät ihm, dass es überraschenderweise doch schon ziemlich spät ist, und so bereitet er sich schon innerlich darauf vor, sie mal wieder schlafend auf der Couch anzutreffen. Sie wartet immer auf ihn. Und geht nie ohne ihn ins Bett. Er hofft nur, dass sie diesmal wenigstens an eine Decke gedacht hat, schließlich friert sie doch so leicht... „Hijikata..." Auf der Treppe nach oben kommt ihm Matsudaira entgegen. Hijikata verkneift sich nur mit Mühe ein Aufseufzen. Der Polizeichef hatte Kondōs Party vor zwei Stunden verlassen und er dachte eigentlich, der Alte wäre schon längst gegangen. Aber andererseits wundert er sich nicht wirklich. Nachdem sich Matsudairas Ärger über alles legte, hat er Shisako förmlich adoptiert. Das kann mitunter ganz schön lästig sein. „Du kommst spät, mein Junge. Du musst wirklich noch hart an dir arbeiten, wenn ein guter Ehemann aus dir werden soll." Hijikata nickt nur ergeben. Aus Erfahrung weiß er, dass er Matsudaira in solchen Momenten am Schnellsten wieder loswird, wenn er ihm weder widerspricht noch eine Diskussion mit ihm beginnt. „Man lässt seine Verlobte nicht in einer halb eingerichteten Wohnung alleine sitzen, nur, um sich vollaufen zu lassen." Hijikata gibt nur ein unbestimmtes Brummen von sich und drückt sich an die Wand, um ihn an sich vorbei zu lassen. „Geh nach oben und kümmere dich um deine reizende Verlobte." Im Vorbeigehen klopft ihm Matsudaira väterlich auf die Schulter. Hinter seinem Rücken verdreht Hijikata die Augen und setzt dann seinen Weg nach oben fort. Der Alte meint es sicherlich gut, aber er nervt. Und Hijikata will nicht wissen, wie sehr er ihnen erst auf die Pelle rückt, wenn er von Shisakos süßem, kleinen Geheimnis erfährt. Dabei hat er eine eigene Tochter. Eine nervige noch dazu. Reicht ihm die nicht? Früher hätte er sich darüber ewig aufgeregt, doch heute zuckt er nur mit den Schultern und geht weiter. Es gibt wirklich Wichtigeres. Vor dem Fusuma, der zu ihren eigenen vier Wänden führt, hält er noch einmal kurz inne. Zuhause. Endlich. Energisch schiebt er die Tür beiseite und tritt ein. „Ich bin wieder da!" Er hat es kaum ausgesprochen, da fliegt ihm schon ein Bündel schierer Freude entgegen, und er findet sich wieder in einer erstaunlich starken Umarmung. Auch wenn er Matsudaira nicht begegnet wäre, verriete ihm ihr Aufzug, dass sie sich noch nicht für die Nacht fertig gemacht hat, denn sie trägt noch immer ihren schlichten blauen Yukata und die schwarze Hose wie schon seit heute Morgen. Es ist derselbe unaufdringliche Stil, den sie als Sagaru immer trug, bevor sie mit westlicher Kleidung ihre weiblichen Rundungen versteckte - etwas, was sie jetzt glücklicherweise nicht mehr machen muss und auch gar nicht mehr will. Dass sie immer noch wach und munter ist, freut ihn. Zuerst befürchtete er, dass es Matsudairas Schuld sei und dieser Egoist sie von ihren dringend benötigten Ruhephasen abgehalten hätte. Aber er stellt schnell fest, dass es das nicht eindeutig nicht ist, denn sie summt regelrecht vor Energie. „Tōshirō! Du bist zurück! Ah, ich habe dich sooo vermisst! Hast du Matsudaira getroffen? Er ist gerade erst gegangen! Er nervt! Er ist nicht mein Vater! Ich habe ihn gebeten, die Möbel zusammenzubauen, hoffte, er würde dann gehen, aber er hat es wirklich getan! Er hat sogar die Lampen angebracht! Als könne ich das nicht selbst! Ah, sag nichts, ich weiß, dass du nicht willst, das ich das mache und daher ist es doch gut, wenn Matsudaira das gemacht hat, ich will nämlich auch nicht, dass du das machst und wieder fast von der Leiter fällst wie gestern! Ich will trotzdem nicht, dass er hier ständig auftaucht, aber ich will auch nicht, dass er deswegen beleidigt ist. Oh, und war Kondō sehr sauer auf mich, weil ich nicht mitgefeiert habe?" Sie redet mal wieder ohne Punkt und Komma. Oh, wie sehr er das doch vermisst hatte! Um Hijikatas Lippen zuckt unwillkürlich ein Grinsen, als er sie auf Armeslänge von sich schiebt, um ihr ins Gesicht zu sehen und um nichts von ihrem Glanz zu versäumen. Sie ist wunderschön. „Keine Sorge", liebevoll streicht er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr zurück und bringt damit ihren Haarschmuck zum Klingeln. Es ist das Birabira-Kanzashi, das ihr Kondō vor so vielen Monaten schenkte und das sie nur zu besonderen Anlässen trägt, zum Beispiel heute zu Kondōs Geburtstag, eine Geste, die diesen natürlich wieder zu Tränen rührte. „Kondō ist nicht enttäuscht. Ist ja nicht so, als wärest du überhaupt nicht auf seiner Party gewesen. Er versteht, dass du dich ausruhen willst. Um ganz ehrlich zu sein", fährt er mit verschwörerisch gesenkter Stimme fort, „glaube ich, er vermutet da etwas..." vielsagend legt er die rechte Hand auf ihren noch immer sehr flachen Bauch. Sie kichert leise. „Lass es uns noch ein paar Tage für uns behalten. Ich mag es, ein kleines Geheimnis zu haben." Das hat sie letzte Woche schon gesagt. Und die davor. Und auch die davor. Sie ist in der vierzehnten Woche, ewig werden sie es nicht mehr verstecken können. Aber er kann ihre Vorsicht verstehen. Und wer ist er, dass er so etwas über ihren Kopf hinweg entscheidet? „Alles was du willst, meine Schöne." „Alles, was ich will?" In ihren hellbraunen Augen erwacht ein spitzbübisches Licht und er erkennt seinen Fehler sofort. Aber er bereut ihn nicht, als sie ihn fröhlich an der Hand nimmt und mit sich ins Zimmer zieht. Sie drückt ihn auf die neue Couch, schnappt sich die Fernbedienung und kuschelt sich dann an seine Seite. Und es ist ihm ganz egal, dass sie sich einen Gruselfilm ausgesucht hat. Lächelnd legt er einen Arm um sie, zieht sie enger an sich und küsst sie. Er ist Zuhause. Und mehr braucht er nicht. Mehr brauchen sie beide nicht.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)