Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht von MariLuna ================================================================================ Kapitel 10: Gegenwart – 3. Januarwoche – 20. Januar, Tag X – Der Elefant im Raum wird kleiner, je mehr man sich auf ihn konzentriert ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------   Sie sind gerade mal eine halbe Stunde im Krankenzimmer, als Kondō langsam unruhig wird. Diese drückende Atmosphäre im Raum verunsichert ihn und außerdem bekommt er langsam das Gefühl, dass sie Tōshi und Shi-chan allein lassen sollten. Die beiden haben bestimmt einiges zu klären und sie stören nur dabei. Und so drückt er noch ein letztes Mal Shi-chans Hand, räuspert sich einmal und erhebt sich aus diesem unbequemen Besucherstuhl. „Ich sollte gehen. Ich habe noch einiges zu tun.“ „Kondō-san...“ mit einem überraschend starken Griff hält Yamazaki ihn am Handgelenk zurück. „Kannst du mir ein paar Klamotten holen? Ich würde lieber in meinen eigenen Sachen hier liegen als in diesem dünnen Hemdchen.“ „Natürlich. Gerne.“ „Und … ahem... packst du eine Packung ordentliche Binden mit ein?“ Shisako ist die ganze Sache sichtbar unangenehm, aber sie schafft es trotzdem, Kondō tapfer in die Augen zu sehen. „Das, was die hier haben ist echt … ich fühl mich einfach nicht wohl damit...“ Kondō ist hochrot im Gesicht, doch er schafft ein kleines Lächeln. „Natürlich. Gerne.“ „Es“, sie holt einmal tief Luft, „...im Einbauschrank liegt eine Box, auf der Steuerunterlagen steht, da drin findest du alles.“ Kondō nickt. Er ist nicht der einzige im Raum, dem die Verlegenheit das Blut ins Gesicht getrieben hat. Sogar Okitas Wagen ziert eine leichte Röte. Und Tetsunosuke neben ihm wird rot wie eine Tomate, weil er sich an diese besagte Schachtel sehr gut erinnert. Er hat sie bei seiner angeordneten Zimmerdurchsuchung gesehen und jetzt fragt er sich, was wohl geschehen wäre, wenn er hineingesehen hätte. Ob das irgend etwas von dem, was danach geschah, verhindert hätte. Aber irgend etwas in ihm bezweifelt das. Außerdem – wer sieht schon in eine Box, auf der „Steuerunterlagen“ steht? „Ich bleibe hier“, erklärt Hijikata, ebenfalls mit einer zarten Röte auf seinen Wangen, aber dafür mit einer sehr entschiedenen Miene. Als ob es irgend jemand hier wagen würde, ihm zu widersprechen! Und so verabschieden sich Kondō, Okita und Tetsunosuke von ihrem Spion und versprühen dabei den typischen, erzwungenen Optimismus, wie jeder, der einen geliebten Menschen in der Obhut des Krankenhauspersonals zurücklassen muß und dennoch zugleich erleichtert ist, dass man nicht selbst hier liegt. Yamazaki schnauft einmal, als sich die Tür hinter den dreien geschlossen hat und meint dann sarkastisch: „Es war schon immer mein heimlicher Wunsch, dass mein Kyokuchō in meiner Unterwäsche kramt.“ Hijikata schmunzelt nur und streichelt sanft über die Hand, die in seiner liegt. Er sitzt noch immer auf der Bettkante und mustert Yamazakis Miene vor sich besorgt. Ein Teil von ihm wird diese Erinnerung von diesem totenblassen, leblosen Gesicht nicht los. Auch jetzt noch erscheint ihm Yamazakis Gesichtsfarbe viel zu weiß, die Augen zu groß und zu dunkel und die Finger in seinen viel zu zerbrechlich. Dass er mindestens genauso intensiv gemustert wird, wie er Yamazaki mustert, wird ihm erst bewußt, als diese sanfte, leise Stimme an seine Ohren dringt. „Danke, dass du bei mir bleibst. Ich weiß, du hasst Krankenhäuser...“ „Ich kann dich doch jetzt nicht alleine lassen“, entgegnet Hijikata entsetzt und drückt dabei – ohne sich dessen bewußt zu sein - Yamazakis Hand in einer geradezu verzweifelt anmutenden Geste an seine Brust. „Ich habe dich so oft im Stich gelassen. Am Bônenkai. Und danach. Und das ganze letzte Jahr. Das passiert mir nie wieder. Das schwöre ich dir. Ab sofort bin ich immer und jederzeit für dich da.“ Shisako nickt nur stumm, aber in ihren Augen liegt leiser Zweifel und Hijikata kann es ihr wirklich nicht verübeln. Aus ihrem Augenwinkel löst sich eine Träne und ohne groß darüber nachzudenken, wischt er sie ihr fort. „Warum hast du nie etwas gesagt?“ erkundigt er sich schließlich leise und nur mit einem kleinen Hauch von Vorwurf. Sie schnieft einmal und fährt sich mit der freien Hand über die nassen Augen. „Über das, was beim Bônenkai passiert ist oder darüber, dass ich eine Frau bin?“ „Beides.“ Sie schweigt einen Moment und starrt einfach nur reglos vor sich in die Luft. „Ich konnte es nicht“, meint sie schließlich und klingt dabei so verloren, dass Hijikata sie gerne in die Arme genommen hätte. Aber er ist nicht Kondō. Wenn es darum geht, seine Gefühle auszudrücken, war er schon immer etwas hilflos. Vor allem gegenüber Frauen. Das einzige, was er sich in diesem Moment traut, ist, ihre Hand zu halten und einen kleinen Kuß auf den Handrücken zu drücken. „Ich wollte es, aber … Erinnerst du dich noch an den Tag, als ihr von eurem kleinen Weltraumausflug zurückkamt, alle wieder in euren normalen, ach so männlichen Körpern? Und ich stand mit dem Besen im Hof?“ „Nicht wirklich...“, gesteht er nach einem Augenblick angestrengten Nachdenkens beschämt. „Eben“, kommt es schnippisch und zugleich traurig zurück. „Ich trug nur einen Yukata und hatte einen Pferdeschwanz. Und du siehst mir mitten ins Gesicht und sagst: Zaki, hol mir Zigaretten. Da wurde mir klar, dass ich nur darauf achten muß, dass mich niemand von euch nackt sieht, um weiter Yamazaki Sagaru für euch zu sein. Ein weiter Hoodie in der Freizeit und die Uniformjacke immer offen tragen, damit meine Brüste nicht auffallen, die glücklicherweise ziemlich klein sind. Und meine Hüften sind zum Glück nicht sehr breit. Ihr erwartet, Yamazaki Sagaru zu sehen, wenn ihr mich anseht, also, wenn ich nicht auffalle, nicht mehr aus der Reihe tanzen, also kein Badminton mehr im Hauptquartier spiele, immer schön in der Menge untertauche, dann seht ihr alle wirklich nur den guten, alten, langweiligen Yamazaki Sagaru. Okay, es hat auch geholfen, daß ich meine Missionen immer mit meinen monatlichen Beschwerden abgestimmt habe“, um ihre Lippen zuckt ein grimmiges Lächeln und in diesem Moment begreift er, dass sie mit voller Absicht dieses Frauenthema anspricht. Genau wie vorhin bei ihrer Bitte an Kondō. Es ist ihr peinlich und unangenehm, aber es verschafft ihr auch eine gewisse Genugtuung. Und das kann er ihr wirklich nicht verübeln. „Mit Unterleibskrämpfen in einem verlassenen Drecksloch zu hocken ist wirklich tausendmal besser, als im Hauptquartier so zu tun, als wäre alles in Ordnung.“ „Es tut mir leid“, entschuldigt er sich ehrlich. Er fühlt sich schuldig, schließlich war er selbst mal kurzzeitig eine Frau und hat all diese Unpässlichkeiten am eigenen Leibe erlebt, aber anscheinend ohne wirklich etwas daraus gelernt zu haben. Nicht ein einziges Mal hat er in den letzten Stunden ernsthaft darüber nachgedacht, was dieses letzte Jahr wirklich für Yamazaki bedeutet haben muß. „Aber es war auch praktisch“, fährt sie grimmig fort, „denn als Frau kommst du viel einfacher und schneller an Informationen heran.“ „Es tut mir leid.“ „Dich trifft keine Schuld. Ich bin nun einmal, egal ob als Mann oder als Frau so langweilig, dass man mich vergisst, so lange ich nicht direkt vor einem stehe. Wenigstens hatte ich im letzten Jahr mehr Erfolge als je zuvor.“ Hijikata würde ihr gerne widersprechen und ihr sagen, dass gerade diese Gewöhnlichkeit ihren Reiz ausmacht, aber er bezweifelt, dass sie ihm das glauben würde. Dann wird ihm bewußt, was sie noch gesagt hat und sofort zieht sich etwas in ihm schmerzhaft zusammen. Er zögert, doch dann platzt es aus ihm heraus: „Hast du mit den Zielpersonen -“ Mitten im Satz wird ihm bewußt, was er da fragt. Erschrocken hält er inne, doch sie zeigt nur wieder dieses grimmige Lächeln. „Ob ich mit ihnen geschlafen habe? Nein. Ich hatte mehr als eine Gelegenheit dazu, aber ich bin ein anständiges Mädchen.“ Von einem Moment zum anderen kippt ihre Stimmung völlig. Ihre spöttisch-grimmige Fassade reißt und darunter ist sie nur verletzt und todunglücklich. Plötzlich kämpft sie mit den Tränen. „Zumindest war ich das...“ Ihre Stimme zittert und Hijikata fühlt sich furchtbar, als er hilflos mit ansehen muß, wie sie so qualvoll langsam vor ihm zusammenbricht. „Es tut mir leid.“ Sie schüttelt den Kopf, aber nicht, weil sie seine Entschuldigung nicht akzeptiert, sondern, weil sie gerade um den letzten Rest ihrer Fassung kämpft. Es ist ein verlorener Kampf. „Fukuchō... kannst du nicht einfach vergessen, dass ich eine Frau bin und mich einfach nur als Zaki sehen?“ Doch, das kann er machen. Und so lehnt er sich nur zu ihr herunter und nimmt sie ganz fest in seine Arme.       Erstaunlicherweise, stellt Kondō bei sich fest, hat er überhaupt keine Probleme damit, in Sagaru jetzt Shisako zu sehen. Das einzige, was ihn jetzt in Verlegenheit bringt, ist ihre Bestellung von Frauenhygieneartikeln und die Bitte, Wechselwäsche einzupacken. Er hat noch nie in den Kleiderschränken einer Frau herumgekramt, nicht einmal in Otae-sans. Aber da er diesmal ausdrücklich darum gebeten wurde, muss er da jetzt wohl durch. Eine Frau in der Shinsengumi... Wie soll ich Matsudaira das bloß schmackhaft machen? Und die anderen? Wie werden sie reagieren? Sie mögen Yamazaki, jeder mag Yamazaki, aber werden sie Shisako willkommen heißen? Kondō hat Vertrauen in seine Männer, sie werden sie nicht belästigen, oder Schlimmeres... Unwillkürlich beißt Kondō die Zähne zusammen und ballt die Hände. Niemals werden sie das. Sie sind nicht solche Mistkerle wie die Mimawarigumi. Oh ich könnte ... Ich habe solche Lust, zu Sasaki zu fahren und ihm dafür den Hals umzudrehen... In diesem Moment durchfährt es ihn wie ein Blitz und er bleibt mitten im Schritt stehen. „Ist es unsere Schuld? Hat Shi-chan ihr Baby verloren, weil sie die Videos ansehen musste? Wegen dieses ganzen Falles? War das zuviel Streß für sie?" Sōgo, der hinter ihm geht und wegen dessen plötzlichen Stopps beinahe in ihn hineingelaufen wäre, knurrt einmal leise auf und geht an ihm vorbei. Er hat es eilig, das Krankenhaus zu verlassen, denn er hasst Krankenhäuser, vor allem dieses, in dem seine Schwester gestorben ist. „Sowas passiert, Kondō-san", knurrt er dabei. Streß? Natürlich ist Shisako gestresst. Sie musste verdammt viel durchstehen, aber sie hat sich auf ihre Weise gewehrt und Sōgo ist verdammt stolz auf sie. Und diese Fehlgeburt ... Ehrlich gesagt, ist er froh darüber. Die kleine Seele wartet bestimmt, bis sie als Shisakos und Tōshirōs Kind wiedergeboren wird. So, wie es sein soll. Und wenn Hijikata nicht freiwillig mit Shisako auf ein Date geht, wird er höchstpersönlich dafür sorgen! Jetzt hat der Baka schließlich keinen Grund mehr, sich herauszureden. Das Argument „wir sind beide Männer“, was ihn, so jedenfalls Okitas Vermutung, davon abgehalten hat, zählt jetzt nicht mehr. Es zählt schon seit fast einem Jahr nicht mehr. Wenn sie doch alle nur nicht solche Dummköpfe gewesen wären! „Fehlgeburten können bis zur zwölften Woche vorkommen. Vor allen, wenn der Fötus nicht gesund ist", meldet sich da Tetsunosuke und fügt, als er sich von seinen Vorgesetzten verblüfft angestarrt sieht, hastig hinzu: „Hab ich aus dem Internet. Und ich hab auch gelesen, dass bei den meisten Adligen durch Inzucht Genschäden auftreten, die im Durchschnitt öfter zu Abgängen führen als bei uns Normalsterblichen. Weil sie immer untereinander heiraten." Kondō und Sōgo nicken. Natürlich, das mit der Inzucht wissen sie, das weiß jeder. „Dafür gibt es ja die Mätressen", sagt Kondō. Und in Japan ist es immerhin so geregelt, dass die Kinder der Mätressen in der gesetzlichen Erbfolge stehen. Genau wie adoptierte Kinder. So kommt es vor, dass manch ein Fürst gar kein Reinblut ist. Um aber Fürst zu bleiben, muss er entweder sehr grausam gegenüber den anderen Erben oder wahnsinnig beliebt bei ihnen sein. „Ja..." erwidert Tetsusonuke gedehnt, der unwillkürlich an seine verstorbene Mutter denken muss. Sie war eine Mätresse. Und als er nach ihrem Tod zu den Verwandten seines Vaters, zur Sasaki-Familie, kam, wurde er - abgesehen von seiner herzensguten Stiefmutter - alles andere als mit offenen Armen empfangen. Sein Vater ignoriert ihn, sein Bruder hasst ihn und über die restlichen Verwandten will er lieber gar nicht erst nachdenken. Es gibt einen guten Grund, wieso er auf Abwege geriet und zu einem Gangmitglied wurde. Schweigend gehen sie weiter, am Empfang vorbei und durch die sich automatisch öffnende Tür, treten hinaus auf den großen Parkplatz. Kaltes, schneegeschwängertes Wetter erwartet sie und lässt sie nach der Wärme im Inneren unwillkürlich frösteln. Ihr Wagen steht mitten auf dem kostenpflichtigen Parkplatz im Halteverbot, aber da die Sirene auf dem Dach, die Farben und das Wappen an der Seite offensichtlich sind, wurde er nicht abgeschleppt und es klebt auch kein Strafzettel an der Frontscheibe. „Wir müssen uns etwas überlegen", meint Okita plötzlich. „Wir können nicht mit Yamazaki ins Krankenhaus fahren und dann mit Shi-chan zurückkommen. Das wirft Fragen auf." „In der Tat", stimmt ihm Kondō nachdenklich zu. „Wir müssen ihnen etwas sagen. Es haben zu viele mitbekommen, was passiert ist. Sie werden sich Sorgen machen." „Sie wissen, dass es Zaki gut geht." Vielsagend hält Tetsunosuke sein Handy in die Höhe. „Aber“, fügt er schnell hinzu, als ihn ein braunes und ein karmesinrotes Augenpaar förmlich aufzuspießen drohen, „sie wissen nichts von Shi-chan." Davon wissen nur die zehn Männer, die heute bei der Morgenbesprechung dabei waren – wenn keiner von denen inzwischen alles weitergepetzt hat, wovon niemand von ihnen wirklich ausgeht. In der Shinsengumi herrscht ein gewisser Korpsgeist, der auf dem Weg des Bushidōs beruht, also hauptsächlich auf Wahrhaftigkeit, Mut, Ehre und Loyalität fußt. Sekundenlang stehen sie nur stumm vor ihrem Wagen und wechseln nachdenkliche Blicke, bis Kondō einmal tief aufseufzt. „Sagen wir ihnen einfach die Wahrheit. Die kommt sowieso heraus. Und ich glaube, Shi-chan wäre das nur recht, wenn wir ihr diese Peinlichkeit ersparen." Okita und Tetsunosuke nicken zustimmend und dann noch einmal etwas heftiger, als Kondō fortfährt: „Erzählen wir ihnen, dass Yamazaki nie von der Kanone des Dekoboko-Kults zurückverwandelt wurde und jetzt wegen Frauenproblemen ins Krankenhaus musste. Alles andere geht niemanden etwas an." Plötzlich fühlt sich Tetsunosuke wieder im Fokus der Aufmerksamkeit „Ich hab ihnen nur Statusberichte über Sissis Gesundheitszustand gegeben", versichert er hastig. „Sissi?" hakt Okita stirnrunzelnd nach. „Genitiv von Sis. Sis wie Sister. Also englisch für Schwester." „Gewöhn dir das endlich ab“, fährt ihn Okita daraufhin ungnädig an und ähnelt in diesem Moment auf geradezu erschreckende Weise Hijikata. „Es heißt Senpai, Zaki oder Shisako für dich. Shi-chan für uns." Tetsunosuke salutiert gehorsam und verbeißt sich ein Grinsen, denn er ähnelt wirklich Hijikata. „Yessir." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)