Koi no mae wa ... von Harulein (Wie alles begann ...) ================================================================================ Kapitel 3: [Tsuzuku] Dunkelheit ------------------------------- Schwarz. Finsternis, tiefe Dunkelheit. Ich öffnete die Augen, nahm optisch die Welt um mich herum wahr, doch die Schwärze blieb. Sie lag wie ein dunkler Schleier auf allem, wie dichter, grauer Staub, der jeden Glanz überdeckte und für mich nichts als trübe, matte Farben zu sehen übrig ließ. Manchmal war der Schleier so dicht, der Staub so dick wie Asche, so dass ich kaum noch etwas von der Welt wirklich erkennen konnte. Manchmal fühlte ich schon kaum noch etwas, nur Leere. Und wenn ich doch noch fühlte, dann nichts als Schmerz und Trauer. Mein Herz, zerrissen und stumpf von Schmerz und Asche, schlug noch, irgendwie, aber ich fühlte mich wie ein lebender Toter. Wie lange war es jetzt her? Ein halbes Jahr, vielleicht noch etwas mehr, so acht oder neun Monate? Ich wusste es kaum mehr. Besaß ich doch weder ein Handy, noch einen Kalender, in dem ich hätte die Tage und Wochen zählen können. Meine Erinnerungen waren lückenhaft geworden, mir fehlten ganze Wochen meines Lebens, einfach weg. Waise … Ich dachte dieses Wort, und es fühlte sich zutreffend an. Oder, war man denn Waise, wenn man mit zweiundzwanzig Jahren die Mutter verlor? Mein Vater lebte vielleicht noch, ich wusste es nicht. Er war schon so lange weg, ich wusste kaum mehr, wie er aussah. Ich fühlte mich als Waise. Als schuldige Waise. Ich mochte nicht daran denken, an Mama und das, was passiert war, wie ich sie verloren hatte, es tat zu sehr weh, und doch war es so präsent. Es war der Grund für alles, was mein Leben im Moment war, meine ganze Haltlosigkeit, das einsame Leben auf der Straße, die Distanz zu den anderen, das, was sie, wenn sie über mich sprachen, meine „Depression“ nannten. Depression … ja, vermutlich traf das sogar zu. Vermutlich war ich depressiv, aber ich wusste nicht genug darüber, um das sicher zu wissen. Denn ich war viel mehr als nur einfach „traurig“, ich war vollkommen leer, zerstört bis an den Rand des Erträglichen und noch darüber hinaus, bis zu dem Gedanken, dass ich am liebsten gar nicht mehr weiterleben wollte. Wirklich versucht, das alles zu beenden, mich umzubringen, hatte ich, soweit ich mich erinnerte, noch nicht. Oder waren die blutigen Schnitte, die ich mir selbst immer wieder zufügte, schon der Anfang dessen? Jedenfalls fragte ich mich schon lange, warum ich überhaupt noch da war. Wartete etwas in mir noch verzweifelt hoffend darauf, dass sich doch noch ein Grund fand, weiter zu leben? Ich hatte diese Gedanken jeden Tag. Wachte morgens damit auf und ging abends damit schlafen. Doch ich sprach nicht darüber. Wenn mich jemand fragte (was nur selten vorkam), dann vertrieb ich denjenigen meist mit einem bissigen „Lass mich in Ruhe!“, und die meisten Menschen beließen es dann dabei, sodass niemand wusste, welche abgrundtief schwarzen Gedanken mir tagtäglich durch den Kopf gingen. Sicher, wahrscheinlich merkte man es mir schon irgendwie an. Aber darüber sprechen, das tat ich eben nicht. Aber jetzt … jetzt war da dieser Junge, oder junge Mann, ich schätzte ihn auf nicht mal zwanzig Jahre. Meto hieß er, oder nannte sich nur so, und er hatte diese völlig verrückte Art an sich, die man fast schon „liebevoll“ nennen konnte, und mit der er binnen eines unglaublichen Tages tatsächlich begonnen hatte, meine harte Schale ein klein wenig aufzuweichen. Warum er das tat, verstand ich nicht. Er hatte gesagt, es sei, weil er mit mir sprechen konnte wie mit sonst niemandem, und allein das war schon unglaublich, sodass mich die Frage, wie um alles in der Welt ich seine Aufmerksamkeit verdient hatte, kaum mehr losließ. Was hatte ich an mir, dass er sich so für mich interessierte?? Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, lag mein Körper unbeweglich im Schlafsack, ich spürte ihn kaum, und zugleich fühlte er sich so schwer an. Viel zu schwer, um aufzustehen. Ich blieb einfach liegen, mit dem Gesicht zur Wand der Brücke, unter der ich lebte. Ich war hier nicht der Einzige, neben meinem eigenen Schlafplatz gab es hier derzeit noch vier andere, jeder aus nicht viel mehr bestehend als einer Matte mit Schlafsack und ein, zwei großen Taschen. Einer meiner Leidensgenossen hatte irgendwo ein großes Stück Pappe aufgetrieben, das er wie einen improvisierten Wandschirm verwendete, um wenigstens auf seinem Schlafplatz ein klein wenig Privatsphäre zu haben. Das Glück hatte ich noch nicht gehabt, so einen Schutz zu finden, und so hatte ich mich auf der Suche nach Orten, an denen ich allein sein konnte, für diese Parkbank drüben beim Flussufer entschieden. Der Park war nur durch ein langgezogenes Gebüsch von der Promenade am Fluss getrennt, und diese eine Bank, die in diesem Gebüsch versteckt lag, war mein Zufluchtsort, wo ich mich hinsetzte, wenn ich niemanden sehen wollte. Ich wusste nicht, was mich heute erwartete, mein Tag hatte wieder, wie nur allzu oft, keine sinnvolle Perspektive. Ich konnte den ganzen Tag hier liegen und nichts tun, oder losgehen, mich in der Stadt herumtreiben, aber beides fühlte sich dermaßen sinnlos an, dass ich mich nicht mal für eines entscheiden konnte. Nachdem ich aber die Erfahrung gemacht hatte, dass mich bloßes Herumliegen oder Sitzen irgendwann wahnsinnig machte, raffte ich mich in letzter Zeit bemerkenswert oft dazu auf, in die Innenstadt zu gehen und zu schauen, wie ich an ein bisschen Geld heran kam. Seit gestern war das Badehaus in meinen Fokus gerückt, doch den Eintritt dort konnte ich mir allein nicht leisten, also musste ich entweder warten, dass Meto wieder kam und mich erneut zu einem Bad einlud, oder ich kam irgendwie anders an ein wenig Geld. Mir fiel der Tausend-Yen-Schein ein, den ich vorgestern von ihm bekommen hatte. Tausend Yen, dafür bekam man im Hundert-Yen-Shop eine ganze Tüte voll Sachen. Oder es ließ sich eben auch ein Badehaus-Besuch davon bezahlen. Und da ich sowieso nicht viel kaufen konnte, weil alles, was ich besaß, in meine abgenutzte Reisetasche passen musste, war es für mich tatsächlich sinnvoller, mein Geld in Erlebnisse zu investieren, statt in feste Güter. Sollte ich also heute ins Badehaus gehen? Obwohl es mir vom Verstand her sinnvoll erschien, und ich mich auch danach sehnte, etwas zu tun, fiel mir die Entscheidung dennoch schwer. Es war ein Gefühl von „Ich bin es nicht wert“, das dafür sorgte, dass das Einzige, was ich schaffte, war, mich vom Liegen weg wenigstens hinzusetzen, aber verhinderte, dass ich aufstand. Ich hoffte, dass Meto heute wieder herkam. Doch er kam nicht. Es wurde hell, und der Morgen ging dann irgendwie herum, quälend langsam, diese zähflüssige Zeit … Als es auf Mittag zuging, und ich das Knurren in meinem Magen, der seit zwei Tagen nichts Richtiges mehr bekommen hatte, nicht mehr ignorieren konnte, hatte ich mich damit abgefunden, den Tag heute allein zu verbringen. Vielleicht hatte Meto etwas anderes vor, es gab so vieles, was man besser tun konnte als sich mit einem schwer depressiven Obdachlosen abzugeben. Als ich mich dann fragte, ob ich ihm vielleicht doch nicht so wichtig war, einfach weil es so unwahrscheinlich war, dass er mich mögen könnte … und dachte, dass ich ihm vermutlich doch egal war, denn wem bedeutete ich schon etwas … da schoss mir ein derartiger seelischer Schmerz durch den Körper, dass ich heiser aufkeuchte, mein ganzer Körper spannte sich an und mir stiegen heiße Tränen in die Augen. Was machte dieser verrückte Junge nur mit mir?! Hatte er gestern Abend etwa irgendwie begonnen, den Staub und die Asche von meinem Herzen weg zu waschen? Vielleicht, denn es fühlte sich auf einmal wieder so wund an. Der Staub hatte mich auch ein wenig geschützt. Mittag ging vorbei, ohne dass ich etwas aß. Ich atmete, zog dabei den Bauch ein, sah an mir herunter und erkannte die Aushöhlung in meinem Körper, spürte den stechenden Hunger. Doch das animierte mich nicht zum Essen, im Gegenteil: Ich genoss diesen Schmerz, den Hunger, den Anblick meines abgemagerten Körpers. Es war ein Gefühl von Kontrolle, einem letzten Rest Kontrolle und Macht über mich selbst … Gegen fünfzehn Uhr stand auf einmal Haruna vor mir. „Hey, Tsuzuku, wie geht’s dir heute?“, fragte sie. „Was interessiert dich das“, brummte ich nur. „War das nicht schön gestern, das Baden gehen?“ „Doch …“, murmelte ich. Haruna kramte in ihrer Tasche und holte eine Packung Cracker heraus. „Da, nimm. Du hast doch wieder den ganzen Tag noch nichts gegessen, oder?“ „Lass mich in Ruhe.“ Haruna legte die Packung einfach vor mich hin, drehte sich um und ging wieder zu den anderen. Sie war die Einzige von ihnen, die überhaupt noch aktiv auf mich zuging, die anderen hatten mich wahrscheinlich längst aufgegeben. Ich konnte ja auch in meinem Zustand nichts zu ihrer Gemeinschaft beitragen. Früher, als ich noch so etwas wie ein Leben gehabt hatte, ein Leben mit Freunden und Freundinnen, mit denen ich feiern und trinken gehen konnte, war ich anders gewesen. Aber dieses Leben von damals erschien mir heute so, als hätte es ein anderer gelebt. Genki Aoba schien verschwunden zu sein, hatte sich mit dem Tod seiner Mutter in Luft aufgelöst, und übrig geblieben war eine leere, zerstörte Seele mit dem Namen Tsuzuku. Paradoxerweise bedeutete dieser Name ja unter anderem ‚weitergehen‘ oder ‚fortdauern‘. Ich wusste nicht mehr, warum ich mich so genannt hatte. Vielleicht aus einem Moment der Hoffnung heraus? Hoffnung darauf, dass ich doch irgendwie wieder in ein Leben zurück fand, das diese Bezeichnung ‚Leben‘ auch verdiente? Na ja, immerhin lebte ich noch. Ich hatte es noch nicht über mich gebracht, einen Selbstmordversuch zu unternehmen, also musste in mir noch etwas sein, das leben wollte. Nur, dass mir jeglicher bewusste Lebenssinn fehlte. Ich verstand nicht, warum ich noch lebte, welchen Sinn das alles noch hatte. Manchmal fragte ich mich, warum ich noch über ‚leben‘ nachdachte, wo es doch einfach keinen Sinn ergab. Irgendwie wurde es Abend. Wieder war ein leerer Tag herumgegangen, wieder hatte ich mich kaum ein, zwei Mal von meinem Schlafplatz entfernt. Ich war nur aufgestanden, um die öffentliche Toilette am anderen Ende des Parks aufzusuchen, mich ein wenig zu waschen und zu rasieren, und hatte mich danach wieder auf meinen Platz gesetzt. Die Leere hielt mich gefangen, hatte ihre schwarzen Schlingen um meinen Körper gelegt und ließ mich nicht mehr gehen. Erst, als es schon dunkel wurde und ich solchen wahnsinnigen Durst bekam, dass ich mich eben gerade durchgerungen hatte, zu den anderen zu gehen und um eine Flasche Wasser oder Bier zu bitten, bekam dieser Tag doch noch einen Sinn: Ich war gerade aufgestanden, da sah ich ihn auf der anderen Straßenseite stehen, an der Ampel vor dem kleinen Café. Er war durch seine himmelblauen, mit viel Haarspray aufgestellten Haare unübersehbar. Es war, als ob die Sonne, die eben glutrot hinter den Bäumen und Häusern verschwunden war, es sich noch mal anders überlegt hätte und wieder zurückgekehrt wäre. Nur stand sie nun nicht mehr leuchtend rot über dem Fluss, sondern in blauhaariger Menschengestalt dort drüben an der Ampel. Die Ampel sprang auf blau um und Meto ging über die Straße, schaute suchend herum, entdeckte mich, hob die Hand und winkte mir zu. Ich spürte einen Hauch von Wärme in mir, einen Anflug von Süße, wie ich ihn schon sehr, sehr lange nicht mehr verspürt hatte. Und je näher Meto auf mich zukam, umso stärker wurde dieses Gefühl in mir, ein Gefühl von Lebendigkeit, das sich beinahe schon fremd anfühlte, weil ich es nicht mehr kannte. „Entschuldige … ich konnte … nicht eher herkommen …“, sagte er leise, als er vor mir stand. „Wie geht’s dir?“ „Weiß nicht“, antwortete ich. Ich wusste wirklich nicht, wie es mir ging. Meto nahm seinen punkig bunten Rucksack ab und zog eine Flasche Limonade heraus. „Hier, hab ich dir mitgebracht. Deine Lippen sind total trocken, du musst was trinken.“ Es war, als hätte er gewusst, dass ich Durst hatte. Ich nahm die Flasche entgegen, öffnete sie und nahm einen Schluck. Es war Zitronenlimo, sie schmeckte süß und frisch und kribbelte im Hals, und ich hatte solchen Durst, dass ich in zwei Zügen die halbe Flasche austrank. „Danke“, sagte ich danach und fuhr mir mit dem Ärmel meiner Jacke über die Lippen. Meto lächelte, und mir fiel zu ersten Mal so richtig auf, was für einen großen Mund er hatte. Einen großen Mund mit vollen Lippen, eine recht kleine Nase, und vermutlich braune Mandelaugen, die gerade jedoch stark geschminkt und von bunten Kontaktlinsen verdeckt waren, sodass sie doppelt so groß aussahen. Er setzte sich einfach auf den gepflasterten Boden neben meinen Schlafplatz und bemerkte die Packung mit den Crackern, die immer noch unangetastet dort lag. „Die hat Haruna mir heute gegeben“, sagte ich nur. „Und du hast noch nichts davon gegessen?“ „Nein … Hab keinen Hunger …“ In dem Moment strafte mich mein knurrender Magen Lügen, und es war tatsächlich so laut, dass Meto mich besorgt ansah. „Du sagst, du hast keinen Hunger? Das hört sich aber ganz anders an …“ „Ich will nichts essen“, präzisierte ich. „Ich kotz eh alles wieder aus.“ Metos Blick nahm weiter an Besorgnis zu. Er schien sich einen Moment lang zu fragen, ob er das, was ihm auf der Zunge lag, auch wirklich sagen konnte, dann fragte er leise: „Warum eigentlich? Also, weshalb spuckst du alles wieder aus?“ Ich zuckte nur mit den Schultern. „Na ja, du wirkst ja nicht gerade so wie diese jungen Mädchen, die ‘ne Essstörung haben, weil sie so gerne superschlank sein wollen“, sagte Meto, und irgendwie musste ich auf einmal lachen. „Ich bin ja auch kein Mädchen.“ „Das meine ich nicht, Tsuzuku. Ich glaube, der Grund dafür, dass du dich erbrichst, ist doch bestimmt ein anderer, oder?“ Ich nickte. Natürlich hatte ich einen anderen Grund. Nur, welcher das genau war, und wie das alles in mir zusammen hing, verstand ich ja selbst nicht. Dass ich mich selbst verletzte, hing ganz klar mit Mama zusammen, mit ihrem Tod und meinen Schuldgefühlen. Und vielleicht war das Essen, Kotzen, Essen, Kotzen ja auch so was wie Selbstverletzung? „Magst du mir sagen, was der Grund ist?“, fragte Meto. „Nein“, sagte ich nur. Und dann, weil ich Angst hatte, dass nun das Gespräch versiegte: „… Später vielleicht …“ „Ist okay. Ich will dich ja auch nicht bedrängen.“ „Tust du nicht. Ich … kann nur nicht drüber reden.“ Ich befürchtete, dass meine verschlossene Art dafür sorgte, dass Meto sich von mir weggestoßen fühlte und wieder ging, doch das tat er nicht. Er blieb einfach bei mir sitzen, sah mich an und sagte nichts weiter, war ganz einfach nur da. Anscheinend war er wirklich ziemlich allein, wenn er sich solche Mühe mit jemandem wie mir gab. Es gab doch so viele andere Menschen, die so viel aufgeschlossener, lebendiger und interessanter waren als ich … Aber er saß hier bei mir, zwar schweigend, aber ab und zu lächelte er mich ein wenig an und ich haderte jedes Mal mit meiner harten Schale. „Wollen wir irgendwas machen?“, fragte er irgendwann. „Die Läden haben noch ein bisschen offen und ich hätte Lust, ein wenig durch die Innenstadt zu gehen …“ „Weiß nicht“, sagte ich wieder. „Wir müssen ja nichts kaufen. Ich hab nur Lust, was mit dir zu unternehmen.“ Ich schwankte innerlich zwischen dieser leblosen Antriebslosigkeit einerseits, und dem Wunsch, nach diesem leeren Tag noch etwas zu erleben auf der anderen Seite. Wusste nicht, welchem Impuls ich nachgeben sollte, und beschloss, dass ich Meto entscheiden ließ. Und da er ja vorgeschlagen hatte, etwas zu unternehmen, schloss ich mich dem einfach an. Wir gingen also wieder zum Bahnhof, schlossen dort meine Sachen ein, und machten uns dann auf den Weg in die Innenstadt. Auf dem Platz vor dem Tor mit der großen, roten Laterne, wo vorgestern noch das Stadtfest gewesen war, herrschte jetzt wieder der normale Betrieb. Ich folgte Meto quer über den Platz und er blieb vor einem Laden stehen, der relativ neu hier war und nach einer Mischung aus Schönheitssalon und Bodyart-Studio aussah. Ich war noch nicht drinnen gewesen, mir fehlten ja definitiv die Mittel, um wieder irgendwas an meinem Körper machen zu lassen, obwohl ich schon gerne mal ein neues Tattoo gehabt hätte. Aber das war eben nicht mehr drin, wenn man auf der Straße lebte. „Wie wär’s?“, fragte er. „Hättest du Lust drauf, dass dich jemand hier mal richtig hübsch macht?“ Ich fühlte in mich hinein. Nein, ehrlich gesagt war mir nicht danach. Es kostete zu viel Geld, und obwohl ich in meinem Leben früher ab und zu gern mit Make-up experimentiert hatte, fühlte sich der Gedanke, mich hier und jetzt wieder in einem Salon schminken zu lassen, so fremd an. Und so schüttelte ich den Kopf. „Nein, mir ist nicht danach“, sagte ich. Meto sah mich einen Moment lang an, und ich blickte zurück, betrachtete ein wenig das aufwändige, ziemlich beeindruckende Make-up-Kunstwerk in seinem Gesicht. „Und … wenn ich dich mal schminke?“, fragte er dann. „Ich hab alles dabei, wir können uns einfach irgendwo gemütlich hinsetzen und ich mach dich mal ein bisschen hübsch.“ „Ich … weiß nicht“, sagte ich. „Wir versuchen es? Und wenn es dir nicht gefällt, können wir es ja wieder abwischen.“ „Woher weißt du das eigentlich?“, fragte ich. „Was denn?“ „Dass ich mal Make-up mochte …“ Meto lächelte mich an. „Ich kenn mich aus mit V-Kei. Ich hab‘s dir angesehen.“ „Woran?“ „Die Piercings, die Tattoos, deine Haare …“ Er grinste. „Nur eine Frage: Magst du lieber roten oder schwarzen Lippenstift?“ „Beides“, antwortete ich, und dass das kam wie aus der Pistole geschossen, zeigte mir selbst, dass ich durchaus immer noch Interesse an Make-up hatte. Meto griff meine Hand und führte mich zu einem kleinen Park mit ein paar Bänken. Wir suchten uns eine, die etwas abgelegen stand, jedoch in der Nähe einer Laterne, die genügend Licht spendete. Meine blauhaarige Sonne kramte ein niedliches Kosmetiktäschchen aus dem Rucksack und zog die Jacke aus, legte sie auf die Bank und breitete den Inhalt des Täschchens auf dem Jackenfutter aus. Er hatte wirklich alles dabei: Ein Puder, bunte Lidschattenpaletten, Eyeliner, Wimperntusche, roten Lippenstift und ein Etui mit verschiedenen Schminkpinseln. Mit zwei kleinen Klammern steckte er meine Haare zurück, dann nahm er das Puder und einen großen Kabuki-Pinsel und begann, mich zu schminken. Ich schloss die Augen, und spürte, wie gut es sich anfühlte, nach ewig langer Zeit mal wieder Make-up auf meiner Haut zu haben, und jemanden bei mir, der sich um mich kümmerte. „Das tut gut, oder?“, fragte Meto leise, während er vorsichtig mit einem kleinen Pinsel dunklen Lidschatten auf meinen geschlossenen Lidern verteilte. „M-hm“, machte ich, „… Ist lange her, dass ich Make-up drauf hatte …“ „Du hast das passende Gesicht dafür“, sagte er. „Das wird richtig gut aussehen.“ „Du schminkst dich gerne, oder?“, fragte ich ihn, hatte dabei immer noch die Augen geschlossen. Meto lachte leise. „Ja. Ich mag das sehr. Und ich mag’s auch, andere zu schminken, aber ich hab sehr selten Gelegenheit dazu.“ Er nahm den Pinsel von meiner Haut weg und fragte: „Willst du dir die Mascara selber drauf machen?“ „Wenn du mir nen Spiegel hälst“, sagte ich und öffnete die Augen. Meto nahm eine der Lidschattenpaletten, in deren Deckel ein kleiner Spiegel eingelassen war, und hielt ihn mir so hin, dass ich gut sehen konnte. Ich griff mir die schwarze Mascara und begann, meine Wimpern zu tuschen, wobei ich an die Zeiten denken musste, als ich auch mal mit falschen Wimpern experimentiert hatte. Meiner damaligen Freundin hatte das jedoch nicht gefallen, und so hatte ich mich damit nicht allzu lange ausgelebt. Der Anblick meiner jetzt dunkel geschminkten Augen hatte etwas Ungewohntes und zugleich Vertrautes, es war einfach so lange her, dass ich Make-up getragen hatte … Und als Meto dann den Lippenstift nahm und ihn mir reichte, damit ich meine Lippen dunkelrot färben konnte, da schaute mich dann, als ich damit fertig war, so was wie mein altes Ich im Spiegel an, was sich aber nochmal seltsamer anfühlte. Irgendwie beinahe so, als ob ich mich kaum mehr selbst erkannte … „Gefällt’s dir?“, fragte Meto. Ich wusste es nicht. Gefiel ich mir so? War das noch ich? Würde ich, wenn Meto mich jetzt vielleicht öfter mal schminkte, in dieses alte Bild meiner Selbst zurückfinden? Es verwirrte mich. „Ist einfach so lange her“, sagte ich wieder. „Wenn du magst, gewöhne ich dich wieder daran“, sagte er. „Ich finde nämlich, du siehst so ganz, ganz toll aus!“ „M-hm“, machte ich nur. Wir gingen dann so durch die Stadt, und dadurch, dass Meto noch stärker geschminkt war als ich jetzt, fielen wir natürlich schon auf. „Brauchst du noch irgendwas? Klamotten oder Schuhe oder so?“, fragte er, als wir an einem Laden einer großen Modekette vorbei kamen. „Ich … finde selten was“, sagte ich. „Mir passt das meiste nicht, ist mir alles zu weit …“ „Dann kaufen wir zu ner Hose noch nen Gürtel dazu. Weil … na ja, das, was du geraden anhast, sieht schon ziemlich kaputt aus …“ „Ich lebe auf der Straße“, sagte ich nur. Meto blieb stehen, nahm meine Hände in seine. „Du kannst doch trotzdem ab und zu neue Klamotten gebrauchen“, sagte er. „Fühlt sich doch gut an, mal neue Sachen am Körper zu haben, oder?“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Fühlte meine Hände, wie Meto sie festhielt, und spürte, wie er sich um mich sorgte. „Später vielleicht“, sagte ich. „Ich fühle mich gerade nicht nach Einkaufen.“ „Ist es … zu anstrengend?“ „Ja … irgendwie strengt mich so was an.“ „Ist okay. Ich komme ja immer wieder“, sagte Meto. „Wir haben ab jetzt ganz, ganz viel Zeit zusammen, da können wir auch später noch einkaufen gehen.“ „Was … ist das jetzt eigentlich?“, fragte ich. „Du kommst zu mir, nimmst mich mit ins Badehaus, schminkst mich, willst mir Kleider kaufen …“ „Ich hab sonst keine Freunde“, sagte Meto und lächelte mich dabei an. „Also bist du jetzt mein Freund.“ Wie einfach er das sagte! Dabei wusste er doch inzwischen, dass ich beileibe nicht der Typ für ‚mal eben anfreunden‘ war! Aber irgendwie … tat mir diese Einfachheit gut. Mich von ihm einfach umsorgen und führen zu lassen, weil mir selbst die Kraft fehlte … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)