Mit Sand und Blut von Yosephia ([Prequel zu Schwarzer Komet]) ================================================================================ Kapitel 8: Die ungleichen Väter ------------------------------- Sie befanden sich in der Nähe des nördlichen Hafens. Im ärmsten Teil von Sabertooth, wo es normal war, dass Krüppel auf der Straße herum lagen und auf den Tod warteten. Wo viel zu junge Mädchen ihre Körper für eine karge Mahlzeit feilboten. Wo Banditen Kinder entführten, um sie an boscanische Sklavenhändler zu verkaufen. Das Gebiet wurde sich selbst überlassen. Keine Hilfe für die Kriegsversehrten, die vor drei Zyklen aus Edolas zurückgekehrt waren. Keine Heime für die Scharen von verwaisten Kindern. Nicht einmal mit den Toten half man, derer täglich sicher ein Dutzend in den von Exkrementen versumpften Gassen gefunden wurde. Weil kaum jemand sich Holz und Öl für die Brandbestattung vor den Toren der Stadt leisten konnte, waren die verzweifelten Angehörigen gezwungen, ihre Toten in den Fluss zu werfen – nackt, denn selbst der widerlichste Lumpen mochte wenigstens noch irgendetwas einbringen. Und sei es auch nur den Bruchteil einer Prise Traumsalz. Von den insgesamt zwanzig Stadtvierteln, die sich im Verlauf der Geschichte gebildet hatten und vielfach aufgeteilt, verbunden und umbenannt worden waren, waren die drei Viertel nördlich des Schlangenflusses schon immer die ärmsten und dreckigsten gewesen. Sie waren nicht erst durch den Thronräuber zur Brutstätte des schlimmsten Elends geworden. Generationen von Orlands hatten sich mit diesem Gebiet befasst oder eben auch nicht und es war immer der Schandfleck der stetig wachsenden Stadt gewesen. Aber die grausame Politik Fürst Jiemmas hatte die Dinge in den Nordvierteln wahrscheinlich sogar noch verschlimmert. Hinter sich hörte der junge Mann das Scharren von Stiefeln und das angewiderte Schnaufen der drei Soldaten, die ihn und seinen Vater begleiteten. Für diese Männer war das Elend der Menschen hier bedeutungslos. Keiner von ihnen kümmerte sich um den Mann am Boden, der nur noch Haut und Knochen war und aus weit aufgerissenen, merkwürdig leer wirkenden Augen zu ihnen aufblickte. Sein rechter Arm endete eine Handspanne unter der Schulter, die linke Hand war zitternd erhoben. Es war ausgerechnet der Blutschakal, der Anführer der kleinen Gruppe, der vor dem Mann stehen blieb. Der Krüppel hob den Blick ein wenig mehr, aber kein Erkennen blitzte angesichts der pechschwarzen Rüstung und der blutroten Augen in seinen eigenen Augen auf. In seiner abgestumpften Welt schien jedwede Aufmerksamkeit ein ausreichender Grund zur Freude zu sein. Als er irre lächelte, kamen verfaulte Zahnstümpfe und schwarzes Zahnfleisch zum Vorschein – eines von mehreren möglichen Anzeichen dafür, dass die Seuche von Edolas ihn eingeholt hatte. „Wo hast du gekämpft, Soldat?“, fragte der Blutschakal mit seiner geschmeidigen Stimme und legte den Kopf schief. Von der Seite konnte sein Sohn sehen, dass auf seinen bleichen Gesichtszügen das für ihn so charakteristische Lächeln lag, das eigentlich keines war. Der Mann brauchte lange, um mit seiner ausgetrockneten Kehle Laute hervor zu bringen. Er wedelte zuerst nur hilflos mit der Zunge, als müsste er überhaupt erst wieder herausfinden, wie Sprechen funktionierte. Schließlich röchelte er: „L-louen…“ „Ah, Louen…“ Der Blutschakal legte seinen Kopf auf die andere Seite und das Nicht-Lächeln wurde intensiver. „Ich habe viel davon gehört. Der Tanz von Löwe und Wolf. Eine fürchterlich langatmige Ballade, aber es war ein glorreicher Kampf, nicht wahr?“ Der Krüppel starrte nur. Wahrscheinlich war er schon viel zu abgestumpft, um den grausamen Spott in den Worten zu bemerken. „Vielen Dank für deinen Einsatz, Soldat“, sagte der Blutschakal und nickte zackig, dann ging er einfach weiter. Und sein Sohn folgte auf dem Fuße, blickte nicht einmal über seine Schulter zu dem Kriegsveteran zurück – denn er wusste, dass sein Vater es bemerken würde. Sein Vater hatte es immer bemerkt und sie waren schon längst über den Status hinaus, dass Schmerzen noch Bestandteil der Züchtigung des Sohnes waren. Der Blutschakal hatte jetzt andere Methoden. Ihr Weg führte sie in immer engere, immer dreckigere Gassen. Gebeugte, abgemagerte Gestalten huschten vor ihnen von Schatten zu Schatten, röchelnd, wimmernd, zischend. Keiner von ihnen wagte es, sich der kleinen Gruppe zu nähern, ein Großteil von ihnen war sich wahrscheinlich nicht einmal darüber in Klaren, dass es Raios Cheney war, der hier durch ihr Gebiet ging, der Blutschakal, Schwertmeister von Sabertooth und Rechte Hand von Fürst Jiemma. Die Schatten fühlten sich für den Sohn hier anders an, waren finsterer, kälter, gieriger. Sie flüsterten von Tod und Verfall und Wahnsinn, verschlangen Konturen und ganze Menschen. Das waren andere Schatten als jener des Obelisken im Fürstlichen Garten des Sandpalasts, der dem Sohn so vertraut war. Für alle Anderen waren sie wohl ganz normale Schatten, aber für den Sohn waren sie krank und fremd, hatten das Elend unzähliger Generationen in sich aufgesogen. Doch die Gedanken des Sohnes blieben klar und unberührt von dieser Infektion. Er registrierte die Andersartigkeit aus der Distanz, wie es ihm seit seiner Geburt beigebracht worden war. Vor dem einzigen zweistöckigen Gebäude weit und breit hielt der Blutschakal. Es mochte einstmals sogar ein stattliches Haus gewesen sein. Über der Tür, deren Holz trotz des offensichtlich hohen Alters noch solide wirkte, war eine Zierkachel ins Mauerwerk eingelassen worden. Das Wappen der Orlands war noch vage zu erkennen: die beiden Löwen, die dem Basilisken gegenüber standen. In die Fenster war echtes Glas eingelassen worden, das in all der Zeit der mangelnden Pflege milchig geworden war. Unter nun ergrautem und abbröckelndem Putz tauchte an vielen Stellen das feste Mauerwerk auf. Keine profane Lehmhütte wie man sie sonst hier im Viertel sah. Davor war eine kleine Freifläche zu erkennen, vielleicht zehn Mannslängen im Durchmesser. In deren Zentrum befand sich ein leerer Sockel, auf welchem noch die Füße einer Statue zu erkennen waren. Mit einer knappen Handgeste veranlasste der Blutschakal die drei Soldaten dazu, an ihm vorbei zur Tür des Gebäudes zu gehen. Sie hielten sich nicht daran auf, um Einlass zu bitten, sondern traten die Tür rücksichtslos auf und stürmten mit gezogenen Säbeln hinein. Langsamer folgten der Blutschakal und sein Sohn, ihre dunklen Bosco-Klingen noch unberührt in den Scheiden. Anders als in sonst üblichen Wohnhäusern besaß dieses Gebäude einen kleinen Empfangsraum. Alte Bänke, auf welchen schlicht geknüpfte Teppiche lagen, boten sich den Ankömmlingen entlang der Wände an. Das Holz der Bänke mochte einstmals von hoher Qualität gewesen sein, nun jedoch war es ergraut und rissig, die Lehnen von eingeritzten Namen und Nachrichten verunziert, die selten wirklich leserlich waren. Die Teppiche waren neu dazu gekommen und hatten zweifellos Teppiche oder Kissen von weitaus höherer Qualität abgelöst. Trotz dieser offensichtlichen Mängel hatte man versucht, den Raum ordentlich zu halten. Der gepflasterte Boden – noch ein Unterschied zu anderen Gebäuden, deren Böden nur aus fest gestampfter Erde bestanden – war gründlich ausgefegt worden und die Öllampen, die an Haken entlang der Wände hingen, waren liebevoll von Hand bemalt worden. Im Nebenraum erklangen ein erstickter Schrei, dann das Poltern von Holz und ein kurzes Handgemenge. Als der Blutschakal und sein Sohn in den Raum traten, hatten die Soldaten die einzige Person im Raum bereits überwältigt und allem Anschein nach auch mehrfach geschlagen. Aus der Nase des Mannes rann Blut, an der Stirn hatte er eine Schnittwunde und sein schlichtes Wams war zerrissen. Er röchelte mühsam im harten Griff des Soldaten, der einen Arm um seinen Hals geschlungen hatte, seine Hände verzweifelt an die Unterarmschiene gekrallt, ohne dass sie etwas ausrichten konnten. „Du bist Abdul Ben Ahmad, nicht wahr?“, durchbrach der Blutschakal die kurze Stille. Der Mann röchelte noch mehr, seine Augen angsterfüllt geweitet. Er war eine mickrige Erscheinung, einen ganzen Kopf kleiner als jeder der Soldaten, sein Haar schütter, seine Haut runzlig, seine Statur zu dürr für den weißen Burnus und die bodenlange, an der Taille gegürtete Tunika. Seine Füße in den Bastsandalen lugten kaum unter dem Saum der Tunika hervor. Sein Alter war kaum zu schätzen, aber er schien etwa so viele Dürren wie der Blutschakal erlebt zu haben. „Wie war das?“ Der Blutschakal legte den Kopf schief und lächelte schon wieder sein Nicht-Lächeln. „Sprich lauter. Bist du Abdul Ben Ahmad?“ „J-ja Herr!“, stieß der Mann mühsam aus. „Der von Fürst Athenaeos mit dem Alnnaqil-Viertel betraute Verwalter?“ „Ja, Herr“, antwortete der Mann. Er schlotterte am ganzen Körper, als hätten sie gerade Regenzeit und nicht Dürre. Der Blutschakal schwieg und ging gemächlich um den Schreibtisch herum, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. Er ließ sich auf dem Stuhl nieder und studierte die Papyri auf dem Tisch. Und es herrschte weiter Schweigen, unterbrochen nur vom Rascheln des Schreibmaterials. Der Bosco blickte nicht ein einziges Mal in Abduls Richtung, konzentrierte sich einzig und allein auf sein Studium. Der Verwalter zitterte immer schlimmer. Mit einem lauten Poltern wurde die zweite Tür aufgeschlagen und eine weitere Person stürmte in den Raum. Der Sohn des Blutschakals stand am nächsten und griff reflexartig zu. Mühelos schloss sich seine Hand um das Gelenk einer viel kleineren, schwächeren, die sich um einen schartigen Dolch verkrampft hatte. Die andere Hand legte er auf die Schulter des Jungen, der Druck fest genug, um ihn einknicken zu lassen. Mehr als zwölf Dürren konnte der Junge kaum zählen. Er war schlaksig und noch klein, wie es für sein Alter typisch war, seine Haut stark gebräunt, seine Augen hellbraun, beinahe gelb, die schwarzen Haare zu lang, sodass sie ihm ins Gesicht fielen. Ein vollkommen harmloser Junge, vielleicht ein bisschen besser genährt und gekleidet als die Gestalten da draußen, doch der entscheidende Unterschied waren seine wild funkelnden Augen. Dieser Junge hatte freie, lebhafte Gedanken, war in seiner Seele unberührt von der infektiösen Stumpfheit der zahllosen Waisen in den Nordvierteln. „Metta!“, krächzte Abdul, das gebräunte Gesicht auf einmal aschfahl. „Junge, was tust du?!“ „Was wohl?!“, spie der Junge aus und rüttelte verzweifelt an seinem gefangenen Handgelenk. „Ich helfe dir!“ Abdul schloss die Augen, als würde er um Kraft flehen. Als er sie wieder öffnete, entging dem Sohn des Blutschakals nicht, wie sein Blick kurz zu der Tür zuckte, durch welche Metta gerade herein gekommen war. Auch sein Vater hatte es bemerkt, denn er gab den beiden Soldaten, die neben der anderen Tür Stellung bezogen hatten, ein knappes Zeichen. „Nein, Herr! Ich flehe euch an!“, jaulte Abdul, doch die Soldaten gingen ungerührt an ihm vorbei durch die zweite Tür. Entgegen aller Vernunft versuchte der Verwalter, sich aus dem Griff des dritten Soldaten zu befreien, während im Nachbarraum Gepolter zu hören war. „H-herr, verschont meine Kinder, ich bitte euch! Sie sind unschuldig!“ „Ganz gewiss sind sie das, dafür hast du Sorge getragen, nicht wahr, Abdul?“, erwiderte der Blutschakal und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Papyri. Das Poltern wanderte noch einen Raum weiter und dann schien es sich ins obere Stockwerk zu verlagern. Abdul wimmerte vor Verzweiflung, sein Gesicht bald tränenüberströmt. Metta hingegen wehrte sich immer heftiger, bis der junge Mann gezwungen war, seinen Griff zu ändern. Er übte einen gezielten Druck auf den Handrücken des Jungen aus, bis sich seine um den Dolch verkrampften Finger öffneten. Klirrend fiel die alte Waffe zu Boden, während ihrem Besitzer beide Hände auf den Rücken gedreht wurden. Als kurz darauf im oberen Stockwerk ein lautes Kreischen erklang, zuckte Metta heftig zusammen und Abdul jaulte wieder auf. Doch während der Vater gleich darauf völlig erschlaffte, wehrte der Sohn sich nun entschlossener denn je. Er war stark. Sein Körper mochte noch mickrig sein, kannte keinen Drill, hatte keine geschärften Reflexe, geschweige denn Muskeln. Aber sein Geist war stark. Stärker sogar als der vieler Erwachsener. Unter völlig anderen Umständen hätte aus Metta wahrscheinlich ein hervorragender Krieger werden können. Die Soldaten kehrten zurück, jeder mit einem Mädchen im Griff. Das ältere Mädchen war schon auf der Schwelle zum Frausein, mochte bereits vierzehn oder fünfzehn Dürren zählen. Unter der Tunika deuteten sich frauliche Rundungen an und eine dichte Flut schwarzer Locken umgab ein ebenmäßiges Gesicht mit ängstlich flackernden Augen und fest zusammen gepressten Lippen. Seine jüngere Schwester war gut zehn Zyklen jünger und ähnelte eher dem Bruder. Kreischend schlug sie immer noch um sich. Der Griff des Soldaten um ihren zarten Oberarm hinterließ bereits ein sichtbares Mal. „Farah… Sana…“ Abduls Stimme war gebrochen, ein schwaches Keuchen. Die mageren Schultern des Verwalters zitterten unter lautlosen Schluchzern. Als hätte er den ganzen Tumult überhaupt nicht bemerkt, sah der Blutschakal erst jetzt von den Unterlagen auf. Die beiden Mädchen würdigte er nicht einmal eines Blickes, seine Aufmerksamkeit galt weiterhin dem wimmernden Mann, der mehr im Griff des Soldaten hing, als dass er tatsächlich stand. „Du bist in der Tat ein geschickter Verwalter, Abdul. Dein Wissen über die… Bewohner des Viertels ist bemerkenswert. Obwohl hier so viel nutzloses Pack herumstreunt, hast du es viele Zyklen lang geschafft, die Verwaltung aufrecht zu erhalten, hast die richtigen Leute zur Kasse gebeten und anscheinend hast du sogar einiges von dem Straßengesocks in die anderen Viertel vermittelt. Angesichts der Umstände eine beachtliche Leistung.“ Die schmalen Lippen des Mannes kräuselten sich zu einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Die Kunstpause wurde so drückend, das Nicht-Lächeln so stechend, dass sogar das jüngere Mädchen endlich verstummte. „Wenn da nur nicht die Tatsache wäre, dass du deinem Fürsten seit neun Zyklen immer wieder geschrieben hast, du könntest ihm keine Abgaben schicken.“ Mit einem verzweifelten Stöhnen krümmte Abdul sich zusammen. Dem Soldaten wurde es müßig, ihn weiter festzuhalten, und er ließ ihn nach vorn fallen. Der Blutschakal kam langsam um den Tisch herum, während er weiter sprach. „Du hast das Geld, das deinem rechtmäßigen Fürsten zusteht, dafür verwendet, um deine Kinder durchzufüttern. Ganz so, als würde das Geld, das der Fürst einem jeden seiner Verwalter für diese Zwecke schickt, nicht ausreichen…“ „Es ist nie hier angekommen!“, schrie Metta so laut, dass dem jungen Mann hinter ihm die Ohren klingelten. „Die Kuriere haben es selbst eingesteckt und dem Thronräuber war es egal!“ „Metta!“, zischte seine ältere Schwester und ihr Blick zuckte panisch zum Blutschakal hinüber. Dessen Augen schienen nun beinahe manisch zu funkeln. „Thronräuber? Du leugnest den Anspruch deines Fürsten?“ „Er ist nicht mein Fürst!“, rief Metta unbeirrt. „Er ist kein Orland! Meine Familie dient nur den Orlands!“ Dem jungen Mann war es ein Rätsel, wie dieser Junge inmitten dieses Sumpfs aus Elend noch solchen Kampfgeist besitzen konnte. Woher wusste er überhaupt von den einstigen Fürsten der Stadt? Er konnte unmöglich richtige Erinnerungen an sie besitzen. Wie kam ein Junge in diesem Alter dazu, solch törichte Dinge hinaus zu posaunen? Gemächlich trat der Blutschakal auf den Jungen zu und ergriff dessen Kinn, um sein Gesicht hin und her zu drehen und eingehend betrachten zu können. „Du willst also nur den Orlands dienen, ja? Nun gut, das lässt sich einrichten…“ Der Mann richtete sich wieder richtig auf und nickte seinem Sohn zu – und der verstand sofort, was von ihm erwartet wurde. Ohne mit der Wimper zu zucken, stieß er seinen Gefangenen nach vorn und zog noch in derselben Bewegung seine Bosco-Klinge. Mit einem einzigen machtvollen Streich durchtrennte er die Fußsehnen des Jungen. Das Kind brüllte vor unsäglichen Schmerzen, seine Schwestern kreischten, sein Vater jaulte auf, als würde er die Schmerzen am eigenen Leibe spüren. Die drei Soldaten verzogen die Gesichter ob des Lärms, nur der Blutschakal und sein Sohn ließen sich nicht das Geringste anmerken. „Fesselt sie.“ „Herr!“, jammerte Abdul und rutschte auf den Knien zum Blutschakal. Sein Blick zuckte immer wieder von Metta zu den Mädchen und schließlich hoch zum Gesicht des Mannes, von dem nun sein Leben abhing. Seine Stimme war erstickt von Schluchzern. „B-bitte verschont meine Ki-kinder! Ich f-f-flehe euch an!“ „Was sollte dein Junge jetzt noch da draußen erreichen?“, fragte der Blutschakal und legte interessiert den Kopf schräg. „Soll er sich als bettelnder Krüppel durchs Leben schlagen? Und deine Töchter? Wie lange wird es da draußen wohl dauern, bis die Sklavenhändler sie in die Hände kriegen…?“ Der Blutschakal war bekannt dafür, mit welcher Gnadenlosigkeit er selbst Säuglinge töten konnte, aber sein Sohn fragte sich, ob auch nur einer der Bewohner von Sabertooth sich darüber in Klaren war, was der wahrhaft schlimmste Zug des Mannes war: Einem treusorgenden, verzweifelten Familienvater derart grausame Schicksale der Kinder vor Augen zu halten, dass dieser in ihrem Tod sogar etwas Besseres sehen konnte… „Aber vielleicht hat Raios ja Interesse daran, deine Tochter in sein Bett zu holen.“ Der Blutschakal wandte sich der älteren Tochter zu. „Hast du schon bei einem Mann gelegen, Kind?“ Mit vor Entsetzen geweiteten Augen schüttelte sie heftig den Kopf. Sie wagte es nicht einmal, in Richtung des jungen Mannes zu blicken, dem sie gerade feilgeboten wurde. Dessen Miene blieb unbewegt, als sein Vater sich ihm fragend zuwandte. Wenn er dieses Mädchen jetzt aufnehmen würde, würde es vorerst sein Leben retten, aber schon nach wenigen Nächten würde sein Vater erwarten, dass er das Mädchen entweder tötete oder den Soldaten überließ, einer Meute von Männern, die darauf gedrillt waren, den abartigen Anforderungen des Schwertmeisters von Sabertooth zu genügen, grausam, brutal, blutrünstig. Das Mädchen würde in ihren Händen einen langsamen, qualvollen Tod sterben. Wortlos schüttelte er den Kopf, auch wenn ihm bewusst war, dass sein Vater damit nicht zufrieden war, aber dieses Mädchen, das heute seine gesamte Familie verlieren würde, sollte wenigstens an der Seite eben jener sterben können. Das war die einzige Gnade, die man ihm noch schenken konnte. Nun nicht mehr lächelnd gab der Blutschakal seinen Soldaten ein Zeichen und sie fesselten Vater und Töchter aneinander und an den Fuß des alten Schreibtischs. Dann ging einer der Soldaten ins Nebenzimmer und kehrte mit einer großen Amphora zurück. Um die Familie herum vergoss er das darin befindliche Öl. Auf den Wink des Blutschakals hin verschüttete er den Rest über den vor Schmerz besinnungslosen Metta. Gemeinsam mit den Soldaten trat der Sohn zur Tür, während der Blutschakal zum Schreibtisch zurückging und die Öllampe aufnahm, welche neben den Unterlagen stand. „Der Junge will den Orlands dienen. Den Toten können nur Tote dienen. Von daher…“ Beinahe als würde er es bedauern, senkte der Blutschakal die Lampe nur langsam. Dann ließ er sie mitten in das Öl fallen. Die Flammen breiteten sich sofort aus, umschlossen die Familie und erfassten Metta. Brüllend kam der Junge wieder zu sich und schlug verzweifelt um sich, wälzte sich am Boden, während seine Familie nach ihm schrie. Gemächlich, als hätte er nicht gerade vier Menschen zu einem grausamen Tode verurteilt, verließ der Blutschakal den Raum und dann das Gebäude. Sein Sohn und die drei Soldaten folgten. Hinter ihnen verriegelten die Soldaten die Tür des Gebäudes von außen, ansonsten unternahmen sie nichts, um eine spätere Ausbreitung des Feuers zu verhindern. Als sie bereits auf der Fähre standen, die sie über den Schlangenfluss bringen sollte, trat der Blutschakal neben seinen Sohn und musterte ihn eingehend von der Seite, sagte jedoch lange Zeit nichts. Erst als sie schon fast am anderen Ufer waren, erhob er die Stimme gerade laut genug, damit sein Sohn ihn klar und deutlich verstehen konnte. „Gnade ist eine Schwäche, Raios. Vergiss das niemals.“ Der Sohn erwiderte nichts darauf. Das hatte er noch nie. Es waren vier angehende Reiter, die im Zentrum des Inneren Kreises vor dem Wüstenguru knieten. Vier von sieben, die vor sieben Zyklen die Reiterausbildung begonnen hatten, ging es Sting durch den Kopf, während er immer wieder nach links und rechts schielte, um die Anderen beobachten zu können. Genau wie er selbst trugen sie weiße Tuniken und Pluderhosen, dazu schlichte Kordelgürtel, die Füße nackt. Es war ungewohnt für Sting. Die Gewichte von Kettensichel, Rebmessern und Säbel waren nun schon so lange sein Alltag gewesen, dass er sich ohne sie verletzlich und bloßgestellt fühlte. Und das Fehlen des Wasserschlauches, den jeder Wüstennomade schon im Kleinkindalter immer bei sich trug, machte es gleich noch viel schlimmer. Zu seiner Linken kniete Minerva im Sand. Selbst in dieser Position noch strahlte sie Disziplin und Würde aus. Sie mochte die Sitten der Wüstennomaden befolgen und mochte genauso gekleidet sein wie sie, aber letztendlich war sie nie eine richtige Wüstennomadin geworden. Die Nachricht, die ihre Haltung vermittelte, war unmissverständlich: Sie war eine Orland. Sie war dazu geboren, über Sabertooth zu herrschen. Und Sting war dazu geboren, ihr dabei zu helfen… Eine Bewegung hinter Minerva lenkte Stings Aufmerksamkeit zu den Wüstennomaden, welche sich zwischen den Felsfingern im Inneren Kreis drängten. Zwischen ihnen standen bereits die anderen nun als vollwertige Erwachsene anerkannte Wüstennomaden aus Stings und Minervas Altersgruppe. Die Jäger mit ihren wertvollen Bögen und Köchern, die Händler mit ihren bunten Burnussen, die Knüpfer mit den bunten Kordeln, an denen die langen Nadeln hingen… Die Reiter waren immer die Letzten in der Nacht der Initiation. Auf einem der Felsfinger saß Yukino. Sie hatte die Beine angezogen und die Arme darum geschlungen. Als sie Stings Blick bemerkte, lächelte sie aufmunternd und nickte sachte. Ganz unwillkürlich antwortete Sting mit einem Grinsen. Erst als sich am Rande seines Blickfeldes Gran Doma bewegte, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn. Der Wüstenweise trug eine reinweiße, bodenlange Tunika und darüber einen ebenso weißen Burnus. Der schwarze Kordelgürtel an der Taille und der Ältestenstab mit all seinen Anhängseln bildeten einen scharfen Kontrast dazu. Sein Blick war scharf, als er die vier Jugendlichen vor sich betrachtete. Als er Stings Blick begegnete, glaubte der Blondschopf, ein Zucken im Gesicht des alten Mannes zu bemerken, aber es war genauso schnell verschwunden, wie es gekommen war, und dann richtete der Wüstenweise seinen Blick auf die Menge von Wüstennomaden hinter den vier Jugendlichen. „Heute begrüßen wir vier neue Reiter in unseren Reihen“, begann er mit seiner tiefen Stimme. Er sprach in normaler Lautstärke, aber alle Anderen waren so still, dass er im gesamten Inneren Kreis zu hören war. „Sie haben gelernt, die Sandschlangen zu lenken. Sie haben gelernt, das Basiliskengift zu ernten. Sie sind stark geworden. Sie haben überlebt…“ In der kurzen Sprechpause musste Sting an die drei Personen denken, die mit ihnen die Reiterausbildung begonnen hatten und gestorben waren. Faylid hatte bei einem ihrer ersten selbstständigen Ritte die Kontrolle verloren und war von ihrem Basilisken zermalmt worden. Murat war beim Melken von einem Schlüpfling gebissen worden. Und Rasima war nach einem Sandsturm vor einem Zyklus verschwunden. Sting hatte keinem von ihnen besonders nahe gestanden, sie waren nicht einmal Freunde gewesen, aber letztendlich waren sie alle Wüstennomaden gewesen und hatten sich den gleichen Gefahren gestellt. Ihr Schicksal hätte genauso gut Stings sein können – und das jedes anderen der Wüstennomaden, die heute hier standen. Es störte Sting, dass die Zeremonie der Initiation das Schicksal dieser Drei nicht würdigte. Der Wüstenweise ergriff einen Korb, der auf einem Felsen neben ihm bereit gelegen hatte, und trat damit vor, bis er vor Makram stand, der zweite Jugendliche zu Stings Rechten. Er war ein grimmiger, junger Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und einem forschen, durchdringenden Blick. Jetzt hielt er den Blick gesenkt, während der Wüstenweise eine Handvoll Sand aus dem Korb über seinen Kopf streute. „Wir begrüßen Makram, einen neuen Reiter“, erhob Gran Doma wieder das Wort. Von der Seite kam ein Reiterveteran, der Makram in den letzten sieben Zyklen ausgebildet hatte. Er hängte Rebmesser und Kettensichel an den Kordelgürtel und drückte den Säbel in die Hand seines ehemaligen Schülers, ehe er wieder zurück trat. Makram drückte die flache Seite seines Säbels gegen seine Stirn, dann kniete er sich erneut vor den Wüstenweisen und bot ihm die Waffe mit beiden Händen ehrerbietig dar. „Möge er noch viele Sandschlangen reiten und der Gemeinschaft dienen“, intonierte Gran Doma zuletzt, während er eine weitere Handvoll Sand über den Säbel streute. „Makram, der Reiter.“ „Makram, der Reiter“, wiederholten die Wüstennomaden im Chor. Der junge Mann erhob sich und drehte sich herum, um seine Stammesgenossen mit erhobenem Säbel zu begrüßen, ehe er sich zu seinem alten Lehrmeister gesellte. Danach wiederholte Gran Doma die ganze Zeremonie mit Yasir, ehe er schließlich vor Sting trat. Die Waffen, die Sting von Adrim übergeben wurden, waren alt, aber gut gepflegt, das Leder an den Griffen ausgeblichen, aber noch immer geschmeidig, als hätte jemand es regelmäßig mit Öl eingerieben. Normalerweise wurden die Lederriemen ausgetauscht, bevor die Waffen einem neuen Besitzer übergeben wurden, aber etwas an diesem alten Leder fühlte sich richtig für Sting an. Als es auch für ihn an der Zeit war, den Wüstennomaden seinen Gruß zu entbieten, wandte er sich stattdessen Minerva zu, die als Letzte im Sand kniete. Noch einmal legte er die flache Seite seines Säbels an seine Stirn, ehe er sich wieder in den Sand kniete und den Säbel Minerva darbot. Das war seine Entscheidung. Schon vor neun Zyklen war sie es gewesen und sie hatte sich bis heute nicht geändert. Er war ein Reiter geworden, hatte gelernt, war stark geworden, um Minerva bei ihrer Aufgabe helfen zu können. Neben ihm erklang ein Rascheln und als er zur Seite schielte, erkannte er Yukino, die nun ebenfalls im Sand kniete und Minerva ebenfalls einen Säbel anbot. Minimal hob Sting den Blick, um die Reaktion der Schwarzhaarigen beobachten zu können. In ihren olivgrünen Augen spiegelte sich zuerst Überraschung wieder, dann wurden ihre Gesichtszüge für den Bruchteil eines Herzschlags so weich, wie Sting es nie zuvor bei ihr gesehen hatte, ehe sie härter und entschlossener denn je wurden.. Das zunehmend entrüstete und aufgeregte Getuschel der Wüstennomaden ignorierend griff Minerva mit beiden Händen in den Sand und erhob sich dann mit geballten Fäusten, aus denen der Sand rieselte. Mit zwei großen Schritten war sie bei Sting und Yukino und ließ den Restsand über die Klingen ihrer Säbel fallen. Der Sand kitzelte wieder in Stings Nase, aber er verdrängte das Gefühl und erhob sich mit gestrafften Schultern. Neben ihm kam auch Yukino wieder auf die Beine, das Kinn entschlossen nach vorn geschoben, als wollte sie die immer noch tuschelnden Wüstennomaden dazu herausfordern, offen Protest gegen ihren zweifachen Bruch mit den Traditionen zu erheben. Unwillkürlich erfasste Sting ein irrationaler Stolz darüber, wie stark Yukino geworden war, und er suchte Minervas Blick, um sie triumphierend anzugrinsen. Sie antwortete mit einem minimalen Kopfschütteln und verdrehte die Augen, ehe sie sich Gran Doma zuwandte, ihre Faust an ihre Stirn legte und sich dann vor ihn kniete, um ihm ihre offene Hand anzubieten. Als auch Sting seine Aufmerksamkeit auf den Wüstenweisen richtete, war er überrascht, wie alt der auf einmal wirkte. Als würde ihn etwas niederdrücken. War er enttäuscht oder verärgert wegen Stings Verhaltens? Aber warum hatte er die Sache dann nicht unterbunden? Während Stings Gedanken noch rasten, vollzog sich wieder eine Veränderung in Gran Domas Haltung. Er richtete sich zu seiner beeindruckenden Größe auf, hob die Hand und ließ einen scharfen Blick über die versammelten Wüstennomaden gleiten. Widerwillig verstummten diese schließlich, auch wenn einige von ihnen Mienen machten, als hätten sie Sand auf der Zunge. Als es endlich wieder still im Inneren Kreis war, strich Gran Doma über Minervas Handfläche und deutete dann auf die Stelle, wo sie vorher gekniet hatte. „Lasst uns weiter machen“, sagte er, seine Stimme so ruhig, als wäre gar nichts geschehen. Eine Hand auf seiner Schulter lenkte Stings Aufmerksamkeit zu Adrim, der mit einem schiefen Lächeln zwischen ihm und Yukino stand, seine andere Hand auf der Schulter des Mädchens. „Kommt mit. Ihr habt genug Aufruhr für einen Abend verursacht“, flüsterte er, aber seine Stimme ließ jede Strenge vermissen. Unbekümmert grinsend folgte Sting der Anweisung seines Mentors und gesellte sich mit ihm und Yukino zu Elias, der Rebmesser, Kettensichel und Säbel für Minerva bereit hielt und Sting und Yukino giftig anblickte. „Damit hättet ihr nicht warten können, bis die Initiation vorbei ist, oder?“, zischte er. „Natürlich konnten sie das nicht. Du kennst sie doch, Elias“, gluckste Adrim, aber seine Hand drückte Stings Schulter für einen Moment viel zu fest, ehe sie ihn losließ. „Kleine, nervige Sandteufel“, murrte Elias und richtete seine Aufmerksamkeit demonstrativ auf Minerva und Gran Doma, die traditionsgemäß das Ritual der Initiation durchliefen. Als es an der Zeit war, dass Minerva ihre Waffen erhielt, trat Elias zu ihnen und rüstete sie aus. Nachdem er ihr auch den Säbel in die Hand gedrückt hatte, legte er ihr kurz eine Hand auf die Schulter. Minerva legte ihre eigene auf seine Hand und nickte ihm einmal ruppig zu. Hinter sich hörte Sting Adrims leises Seufzen und er tauschte einen wissenden Blick mit Yukino. Elias gab sich immer alle Mühe, so zu tun, als wären seine drei Schützlinge lästige, ungelehrige Sandflöhe. Er war strenger als alle anderen Lehrer, humorlos und gegenüber allen außer Adrim unnahbar – und dennoch hatte Sting das Gefühl, dass sie alle Drei keinen besseren Lehrer hätten haben können. Schließlich trat Elias zurück zu ihnen, seine Miene wieder betont streng. Seine steife Haltung lockerte sich erst etwas, als Adrim ihm sanft über den Arm strich. Minerva hielt sich an den traditionellen Ablauf der Initiation und entbot den Wüstennomaden ihren Gruß, die sie weniger lautstark als zuvor bei die Anderen als Reiterin begrüßt hatten. Es war ihr bestimmt nicht entgangen, sie und Sting kannten das schon seit ihrer Ankunft in der Zuflucht vor neun Zyklen. Aber wie so oft bewahrte Minerva ihre Haltung. Wahrscheinlich ging es gegen ihren Stolz, sich auch nur ansehen zu lassen, dass sie die Missachtung durch einige der Wüstennomaden bemerkt hatte. Schließlich ließ Minerva ihren Säbel sinken und drehte sich erneut Gran Doma zu, um ihm ein zweites Mal den Gruß der Ehrerbietung zu geben. „Meister Gran Doma, ich bitte Euch um die Erlaubnis, vor der Versammlung zu sprechen.“ Sofort erklang wieder Getuschel um Sting und Yukino herum und Elias atmete schwer ein, Gran Doma jedoch sah nicht im Mindesten überrascht aus, sondern strich ohne Zögern über die dargebotene Hand, ehe er zurück trat, um Minerva das Wort zu überlassen. Geschmeidig erhob sie sich wieder und wandte sich erneut den Wüstennomaden zu, wartete, bis sie endlich verstummten. Ihr scharfer Blick glitt über die Versammlung und sie hatte in diesem Moment so viel von einer Fürstin, dass Sting vor Aufregung zu zittern begann und sich auch nicht von Yukinos ermahnenden Kniff an seiner Seite ablenken ließ. „Ihr habt mir vor neun Zyklen das Leben gerettet“, begann Minerva mit ruhiger, klarer Stimme. Sie wurde nicht lauter, um auch die letzten Tuschelnden zum Stillschweigen zu bringen. Stattdessen signalisierte allein mit ihrer Haltung, dass jene, die ihr nicht zuhören wollten, auch gar nicht ihrer Worte wert waren. Sting grinste noch breiter. Minerva war eine Meisterin der Provokation. „Ihr habt mich aufgenommen, habt mich die Geheimnisse der Wüste gelehrt, habt mich ausgebildet. Ich könnte gar nicht tiefer in eurer Schuld stehen und dennoch bitte ich euch erneut um Hilfe.“ Die Worte wogen schwer. Langsam aber sicher breitete sich ein geradezu beklemmendes Schweigen im Inneren Kreis aus. Als Sting es wagte, sich kurz umzusehen, erkannte er immer noch viele zweifelnde Mienen, aber die Tatsache, dass Minerva das, was die Wüstennomaden für sie getan hatten, zuallererst ansprach, schien sie etwas milder zu stimmen. „Ich bin Minerva Orland. Ich bin die rechtmäßige Fürstin von Sabertooth. Wäre der Usurpator ein guter Fürst, der für das ihm anvertraute Volk und Land gewissenhaft Sorge trägt, würde ich auf meinen Anspruch verzichten, Basilisken reiten und den Wüstennomaden so meinen Dienst erweisen… Aber der Usurpator ist kein guter Fürst. Er macht all die Errungenschaften meiner Vorfahren zunichte und raubt sein eigenes Volk aus, tyrannisiert es, verkauft es sogar an die Sklaverei. Generationen lang haben die Orlands die Sklavenhändler von Bosco aus der Stillen Wüste ferngehalten, nun sind sie wieder da und treiben ihr Unwesen. Piraten ankern an den Wüstenklippen. Dörfer sterben aus, Oasen veröden und es werden sogar Basilisken gejagt.“ Es war nicht die Art der Wüstennomaden, Reden zu halten oder zu hören. Sting hatte also keine Referenzen, aber für sein Dafürhalten machte Minerva ihre Sache gut. Ihre Stimme wurde mit jedem Satz eindringlicher und in ihren Augen war ein wild entschlossenes Funkeln zu erkennen. Mittlerweile war es vollkommen still in der Zuflucht geworden. „Beim nächsten Neumond werde ich aufbrechen“, fuhr Minerva fort. „Ich werde nach Sabertooth reisen und alles daran setzen, den Usurpator zu entmachten und die Stadt meiner Vorfahren zu neuer Größer erheben. Ich werde die Sklavenhändler und Piraten und Basiliskenjäger bis zum letzten Mann verfolgen und ihrer gerechten Strafe zuführen. Ich werde alle Völker der Stillen Wüste befreien und ich werde alles in meiner Macht stehende dafür tun, um sie fortan zu beschützen. Aber ich kann das nicht alleine tun. Ich brauche Hilfe, eure Hilfe. Ich brauche Krieger und Händler, die mit mir nach Sabertooth kommen. Keinem von euch kann ich garantieren, dass er lebend heimkehren wird. Womöglich werden wir alle bei dem Versuch, Sabertooth zu befreien, ums Leben kommen. Aber jedem, der sich mir bei diesem Versuch anschließt, werde ich ewig dankbar sein.“ Wieder ließ Minerva ihren Blick über die Wüstennomaden schweifen. Sting konnte spüren, wie die Männer und Frauen unruhig wurden. Viele von ihnen scharrten mit den Füßen oder knirschten mit den Zähnen. Einige tuschelten wieder oder zischten abfällig, andere brummten beifällig. Die Stimmung war zum Zerreißen gespannt. „Ich erwarte keine Rechtfertigungen oder Versprechen. Beim nächsten Neumond werde ich auf einen Sandschlitten steigen und nach Norden fahren. Wenn keiner von euch zur besagten Zeit da sein wird, werde ich alleine fahren, ohne auch nur zu zögern. Wer von euch sich mir anschließt, braucht keinen Eid zu leisten. Ihr seid das freie Volk der Wüste und wenn einer von euch sich entschließt, an meiner Seite zu kämpfen, dann schwöre ich ihm, dass er auch für die Freiheit der Wüstennomaden kämpfen wird.“ Um Sting herum brach ein regelrechter Tumult aus. Die Wüstennomaden begannen, lautstark miteinander über das Für und Wider einer Einmischung in die Belange von Sabertooth zu diskutieren. Sting waren sie allesamt gleichgültig. Seine Füße bewegten sich wie von selbst, trugen ihn zurück zu seinem angestammten Platz neben Minerva. Er brauchte ihre Versprechen nicht. Die Risiken waren ihm egal. Alles, was zählte, war, dass Minerva und Yukino und er vom selben Sand waren. Wenn Minerva sich dieser Lebensgefahr stellte, würde er es auch tun. Wieder folgte Yukino seinem Beispiel und positionierte sich schließlich zu Minervas anderer Seite. Es war keine Überraschung. Auch wenn Yukino eigentlich zu jung war, um in einen Krieg zu ziehen, wussten Sting und Minerva, dass nichts sie hier halten würde. Ihnen blieb nichts anders übrig, als alles in ihrer Macht stehende zu tun, um die Jüngere zu beschützen. Zu Stings Überraschung – und soweit er es sagen konnte, auch zu Minervas – lösten einige der Wüstennomaden sich bereits aus der stetig lauter werdenden Menge. Adrim und Elias waren als Erste bei ihnen und boten Minerva ihre Säbel dar, wie Sting und Yukino es vorhin getan hatten. Ihnen folgten Nark, Asim und Dov und schließlich auch Mummy, nachdem sie sich aus der Menge frei gekämpft hatte. „Ihr braucht eindeutig immer noch jemanden, der auf euch aufpasst“, knurrte Elias, als er sich wieder erhoben hatte. Neben ihm brummte Adrim zustimmend, die Miene ungewöhnlich ernst. „Ja, das brauchen wir wohl“, antwortete Minerva bedächtig und blickte erst Yukino und dann Sting an. Er erwiderte ihren Blick unerschütterlich, eine Hand auf dem Knauf des Säbels, den er soeben von Adrim empfangen hatte. Es war ihm gleichgültig, wie viele oder wenige Wüstennomaden sich ihnen noch anschließen sollten. Er würde beim nächsten Neumond an Minervas Seite sein – und bei allen anderen Zeiten, die da kommen mochten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)