Crystal of the Dark von Kikono-chan ================================================================================ Prolog: -------- Prolog Schon wieder eine dieser langweiligen Vorlesungen. Das ist doch auch bloß eine erneute Wiederholung vom letzten Semester. Gelangweilt blicke ich aus dem Fenster, beobachte, wie der Wind durch die zarten Blätter der Bäume weht. Eine Bewegung am Rande meines Blickfeldes erregt meine Aufmerksamkeit. Ein junger Mann mit untypisch dunkelblauen, kurzen Haaren bleibt direkt unter dem Fenster stehen. Als sein Blick sich hebt, nehmen seine Augen mich sofort gefangen und plötzlich scheint die Zeit still zu stehen. "Hallo Aki." begrüßt mich der Unbekannte. Ich höre seine Stimme ganz deutlich, als würde er direkt vor mir stehen. Aber wie ist das möglich? Wir befinden uns im dritten Obergeschoss hinter geschlossenen Fenstern! "Ich freue mich sehr, dich endlich kennen zu lernen." "Wer bist du?" entweicht mir die Frage und kurz sehe ich mich im Raum um, denn ich beginne, an meinem Verstand zu zweifeln. Passiert das hier gerade wirklich? "Und was hast du getan? Was passiert hier?" frage ich weiter, als ich bemerke, dass um mich herum anscheinend die Zeit wirklich eingefroren zu sein scheint - nur für mich und diesen jungen Mann nicht. Ein Lächeln umspielt seine Lippen. "Das ist unwichtig. Ich bin nur gekommen, um dir zu sagen, dass ich von nun an auf dich aufpassen werde, kleine Aki. Denn schon sehr bald wird sich dein Leben grundlegend verändern." Damit dreht er sich vom Fenster weg und will mich einfach so zurücklassen. Fast schon panisch reiße ich das Fenster auf und lehne mich weit hinaus. "Warte! Was soll das heißen und was meinst du damit?" "Das darf ich dir nicht sagen. Noch nicht." "Dann verrate mir wenigstens deinen Namen!" bitte ich ihn beinahe flehend. Er sieht noch einmal zu mir auf. "Ich habe viele Namen... Unter meinesgleichen nennt man mich Yrrian. Aber du darfst mich gern Ian nennen." Sein Lächeln lässt mein Herz einen deutlich schnelleren Takt wählen. "Ian..." flüster ich noch und im nächsten Moment ist er auch schon wieder verschwunden... Kapitel 1: Ungewöhnlicher Morgen -------------------------------- Kapitel 1: Ungewöhnlicher Morgen Keuchend und schweißgebadet erwache ich. Schon wieder dieser Traum! Stöhnend lasse ich mich zurück in mein Kissen sinken und schiele auf die Digitalanzeige meines Weckers. 3:12 Uhr. Na großartig! Es ist noch immer mitten in der Nacht. Seit fast einem Monat träume ich nun schon von der Begegnung mit dem jungen blauhaarigen Mann. Yrrian. Nein, halt, er wollte, dass ich ihn Ian nenne... Ich fahre mir mit den Fingern durch mein hellbraunes Haar. Es ist zum verrückt werden! Jedesmal, wenn ich von ihm träume, spukt er mir anschließend stundenlang im Kopf herum. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie seine Augen, die so dunkel waren wie der Nachthimmel, mich in ihren Bann gezogen haben. Aber bis heute habe ich die Bedeutung hinter seinen Worten nicht verstanden. Seufzend drehe ich mich auf den Bauch und starre aus meinem Fenster, welches sich direkt am Kopfende meines Bettes befindet. Was hat er nur damit gemeint? Inwiefern wird sich mein Leben verändern? Ich betrachte verträumt die wenigen Straßenlichter, die ich von hier aus sehen kann. Ob ich ihn wiedersehen werde? Meine Hand legt sich auf die kühle Glasscheibe. Dafür, dass wir Ende April haben, ist es nachts noch verdammt kalt draußen! Dabei kommt mir noch ein ganz anderer Gedanke, der alle Geister der Nacht sofort in den Hintergrund drängt: Heute ist mein 21. Geburtstag! Ja, heute, es ist immerhin bereits weit nach Mitternacht. Nun bin ich wirklich volljährig! Es mag vielen nichts bedeuten, da man ja bereits mit 18 als volljährig gilt aber erst mit 21 hat man die alleinige Befehlsgewalt über sein Leben. Man muss Mami und Papi nicht mehr um Erlaubnis bitten, was diverse Entscheidungen betrifft - in meinem Fall bedeutet es: Ich bin endlich frei von meiner Pflegefamilie! Ich mag die Menschen ja irgendwie aber sie sind nun einmal nicht meine Familie und ich hasse nichts mehr, als so zu tun, als ob! Auch wenn ich seit Beginn meines Medizinstudiums mit meiner langjährigen Freundin und Kommilitonin Rhea in einer kleinen 3-Zimmer-Wohnung lebe, gehen mir die Herrschaften doch in aller Regelmäßigkeit auf den Keks! Und noch etwas Positives hat es, endlich 21 zu sein: Man kommt in die wirklich angesagten Clubs rein! Ich gehe nicht oft tanzen, nicht zuletzt, weil man als Medizinstudentin im 5. Semester herzlich wenig Freizeit hat, aber wenn, dann lass ich es ordentlich krachen! Zufällig konnte ich vor zwei Wochen meine Freunde dabei belauschen, wie sie für mich eine Geburtstagsparty organisieren wollten in genau so einem Laden. Ich liebe meine Freunde abgöttisch aber für diese Aktion haben sie einen Heiratsantrag verdient! Ich kann es jetzt schon kaum noch erwarten. Diebisch grinsend hüpfe ich aus meinem Bett und ins angrenzende Badezimmer. Ich bin so aufgeregt, ich kann jetzt ohnehin nicht mehr schlafen. Von meinem Spiegel aus strahlen mir zwei goldgelbe Seelenspiegel entgegen. Moment mal! Ich habe doch grüne Augen... Ich blinzel ein paar Mal und starre erneut in den Spiegel. Ja, doch. Eindeutig grün. Verwirrt schüttel ich den Kopf. Das ist sicher die Restmüdigkeit, die mir da einen Streich gespielt hat. Ich beschließe, das Ganze einfach zu ignorieren und steige in die Dusche. Erneut fahre ich durch meine schulterlangen Haare. Ob ich sie heute vielleicht offen lassen soll? Sonst binde ich sie ja immer zu einem lockeren Knoten zusammen... Gegen 5 Uhr sitze ich endlich in der Küche, die Haare geknotet - die Macht der Gewohnheit - vor meinem Frühstück. Doch irgendwie hinterlässt mein geliebtes Knusper-Schoko-Müsli nicht das gewohnte Sättigungsgefühl. Was habe ich auch anderes erwartet, wenn ich mitten in der Nacht aufstehen muss? Also stecke ich meine Nase in den Kühlschrank, nur um sie augenblicklich angewidert wieder zurückzuziehen. Irgendetwas stinkt da drinnen bestialisch! Möchte mal wissen, was da verstorben ist. Das ist ja ekelhaft! Ich wage es nicht, den Kühlschrank erneut zu öffnen, aus Angst, einen Brechreiz zu bekommen - sicher hat meine liebe Mitbewohnerin wieder irgendetwas vergessen zu entsorgen, was nun langsam wieder anfängt zu leben. Also durchwühle ich den Vorratsschrank nach etwas Essbarem. Das erste, was ich erblicke, ist ein Glas Wiener Würstchen und sofort tropft mir der Zahn. Damit ist es beschlossene Sache, was gleich zusammen mit Rührei und Toast zu meinem zweiten Frühstück verarbeitet wird! "Mmmmmhhh.... das duftet himmlisch..." Verschlafen tappst meine Mitbewohnerin in die Küche und fällt fast in die Pfanne. "Hey, Rhea, Finger weg! Das ist MEIN Frühstück!" überrascht sieht sie mich an. Eigentlich bin ich nicht so herrisch und teile immer mit ihr. "Räum lieber das Zeug aus dem Kühlschrank weg! Das riecht widerlich! Oder ist das wieder so ein komisches Experiment?" Große braune Kulleraugen sehen mich verständnislos an. Als sie erneut die Kühlschranktür öffnet, falle ich fast vom Stuhl bei der Welle an Gestank, die mir entgegen flutet. "Baaaaahhh!" brüll ich nur und reiße das Fenster auf, lehne mich hinaus und atme lechzend die frische Luft ein. Rhea holt währenddessen eine geschlossene Schüssel aus dem Kühlschrank und sieht mich fragend an. "Das ist doch nur der Auflauf von gestern. Zugegeben, ist vielleicht ein bisschen viel Knoblauch drin aber..." sie schnüffelt kurz an der Schüssel. "... so schlimm riecht es nun wirklich nicht. Eigentlich rieche ich überhaupt nichts." Angewidert starre ich auf das stinkende Gefäß in ihren Händen. "Kannst du es nicht irgendwo anders lassen? Bitte. Mir wird schlecht von dem Geruch." "Wenn du meinst... Ich nehme den Auflauf mit zur Uni." Damit geht sie zurück in ihr Zimmer. Erleichtert nehm ich noch ein paar tiefe Züge der klaren Morgenluft, bevor ich das Fenster wieder schließe. Gegen halb acht machen wir uns fertig zum Aufbruch. Den Gestank vom Auflauf nehme ich auch noch deutlich durch Rheas Umhängetasche wahr. Da muss echt verdammt viel Knoblauch drin sein! Ein letzter Blick in den Spiegel setzt meinem merkwürdigen Morgen die Krone auf: Da starren mich schon wieder goldgelbe Seelenspiegel an! Und dieses Mal bin ich mir sicher, dass ich mir das nicht einbilde! Fluchtartig verlasse ich die Wohnung, ziehe Rhea hinter mir her und versuche, meine sich überschlagenden Gedanken zu sortieren. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht! Kapitel 2: Veränderungen ------------------------ Kapitel 2: Veränderungen Den ganzen Vormittag über quält mich der Gedanke an das fremde Augenpaar, welches mich fassungslos durch den Spiegel angestarrt hat. Aber das ist längst nicht alles. Irgendwie ist meine Nase heute verteufelt feinfühlig. Als ich das Rhea gegenüber erwähnt habe, hat sie mich doch ernsthaft gefragt, ob ich schwanger sei! In unangemessener Lautstärke habe ich nur geantwortet, ich sei nicht Maria, so etwas wie unbefleckte Empfängnis funktioniere also bei mir nicht. Ohne Worte... In der Mittagspause - nachdem ich geradezu aus der Mensa geflohen bin der Gerüche wegen - sitze ich allein auf einer Bank unter einer großen Eiche. Was ist nur los mit mir? Ich ertrage plötzlich den Geruch von gekochtem Gemüse nicht mehr, immer öfter wechselt meine Augenfarbe, ich bin herrisch, geradezu dominant meinen Freunden gegenüber und am liebsten würde ich meine Zähne in ein saftiges Stück Fleisch schlagen! Halt! Was denke ich da bitte? Ich bin doch kein Raubtier! Gequält lasse ich meinen Kopf in meine Hände sinken, die auf meine Oberschenkel gestützt sind. Ich könnt heulen! Kann mir denn niemand sagen, was mit mir passiert? Irgendjemand muss mir doch helfen können... Wie vom Blitz getroffen, schnelle ich in die Höhe und sehe mich alarmiert um. Meine Nackenhaare stellen sich auf, der Wind verändert sich. Und ohne zu wissen wieso, formen meine Lippen einen ganz bestimmten Namen. "Ian." Nur einen Wimpernschlag später steht er vor mir, als hätte er schon die ganze Zeit über hier gestanden. "Hallo Aki. Schön, dich wiederzusehen." Seine samtige Stimme nimmt mich sofort gefangen. "Du hast meine Anwesenheit also bemerkt. Aber nichts Anderes habe ich von dir erwartet." Fassungslos starre ich ihn an. "Du solltest besser nach Hause gehen und für heute dort bleiben." "Aber ich habe doch heute Geburtstag!" protestiere ich umgehend. Obwohl mir noch keiner meiner sogenannten Freunde gratuliert hat! "Eben darum ja." "Du weißt es?" "Natürlich." entgegnet er mir schmunzelnd. Genervt knurre ich ihn an. Doch das Grollen, das dabei meine Kehle verlässt, lässt mich zusammenzucken. Amüsiert lacht der Blauhaarige auf. "Ich werde dir alles erklären. Versprochen. Aber nicht jetzt." "Alles?" Er nickt. "Auch warum meine Augen sich verändern? Und warum ich so einen empfindlichen Geruchssinn habe?" "Ja, alles." wiederholt er. Meine nächsten Worte kommen nur im Flüsterton. "Auch, warum ich so ein Verlangen auf Fleisch habe?" Scharf zieht er die Luft ein. "Geh nach Hause! Sofort!" Sein Befehlston löst ein Aufbegehren in mir aus, welches mir so bis heute völlig fremd gewesen ist. "Erteil mir keine Befehle!" kommt es knurrend von mir und deutlich spannen sich meine Muskeln an, als wollte ich ihn jeden Moment anspringen. Doch das, was er dann tut, ist so ziemlich das genaue Gegenteil von dem, was ich erwartet habe. Er streckt seine Hand nach mir aus, legt sie auf meinen Kopf und streichelt sanft darüber. "Es ist alles gut, Aki. Ich bin nicht dein Feind. Beruhige dich. Versuch, dich zu entspannen und hör mir bitte zu." Bei seiner einlullenden Stimme und dem stetigen Kraulen kann ich gar nicht anders, als wieder herunterzufahren. "Aki, in dir findet eine Veränderung statt, die du erst heute Nacht richtig begreifen wirst. Nämlich genau zum Zeitpunkt deiner Geburt vor 21 Jahren." Also um 21:34 Uhr, füge ich im Stillen hinzu. "Es ist unglaublich wichtig, dass du nicht die Kontrolle verlierst bis dahin. Sonst könntest du jemanden verletzen. Und ich weiß, dass du das nicht willst." Langsam, um die Hand auf meinem Kopf nicht abzuschütteln, bewege ich diesen von links nach rechts. "Bin ich so gefährlich?" flüstere ich traurig. Irgendwie will mir das nicht in meinen Kopf. Aber die Anzeichen hierfür sind leider mehr als deutlich. "Im Moment ja. Bis zur Vollendung der Metamorphose." "Wann wird das sein?" "Das sagte ich bereits: Zum Zeitpunkt deiner Geburt." "Warum...?" Warum soll ich plötzlich so gefährlich sein? Ich will das nicht! "Weil dein Hunger bereits eingesetzt hat. Viel früher, als ich es erwartet habe." "Ich wollte schon heute morgen Fleisch..." gestehe ich kleinlaut. Gott, diese Streicheleinheiten machen mich noch willenlos! "Dann überrascht es mich um so mehr, dass du noch kein Blutbad angerichtet hast." Nun sehe ich doch überrascht auf. "Ich? Ich kann ja nicht einmal einer Fliege was zu Leide tun!" Ein erneutes Grinsen huscht über seine Züge. "Dann hast du sie also noch gar nicht bemerkt..." Sie? Wen oder was meint er nur? "Komm, ich bring dich heim." Damit ergreift er meine Hand, eine Berührung, die einen Stromschlag durch meinen Körper schickt und nur eine Sekunde später stehen wir in meinem Zimmer. "Sieh in den Spiegel." Meint er nur und noch immer völlig neben mir stehend, komme ich seiner Aufforderung nach. Wie zur Salzsäule erstarrt, fixiere ich mein Spiegelbild. Das bilde ich mir doch sicher nur ein! "Nein, es ist keine Einbildung, Aki." Ich weiß überhaupt nicht, was ich zuerst denken soll. Hat der Kerl gerade meine Gedanken gelesen? "Ja." kommt es nur trocken von ihm und ich schüttele verständnislos den Kopf. "Ich bin im falschen Film... " Das hier kann unmöglich die Realität sein! Sicher träume ich noch... Das würde zumindest alles erklären. Ians Auftauchen, die merkwürdigen Augen, die mich gerade wieder anstarren und vor allem die verdammt spitzen Eckzähne, die mehr als deutlich zu sehen sind! Kapitel 3: Qual --------------- Kapitel 3: Qual Stunden später tiger ich rastlos durch die Wohnung, während Ian anscheinend völlig entspannt auf dem gemütlichen Sofa im Wohnzimmer sitzt. "Aki, setz dich bitte, du machst es nicht besser, wenn du hier herumstreunst." Wütend funkel ich ihn an. "Ich muss mich bewegen. Lass mich einfach!" Er zuckt nur mit den Schultern. "Ich wollte dir nur helfen... Ach ja, es wäre im Übrigen auch besser, wenn deine Mitbewohnerin die nächsten Tage woanders bleiben könnte." Überrascht bleibe ich vorm Sofa stehen und sehe den Blauhaarigen an. "Schau mich nicht so an, Aki. Weder dich noch mich trifft eine Schuld. Wenn du auf jemand wütend sein willst, dann auf deine Eltern." "Meine Eltern sind vor langer Zeit gestorben! Ich bin in einer Pflegefamilie aufgewachsen!" zische ich böse und spüre zeitgleich, wie eine merkwürdige Hitze in mir aufsteigt. Sofort lasse ich mich auf den nahestehenden Sessel neben dem Sofa fallen und bette meinen Kopf in meine Hände. "Genau das hatte ich befürchtet..." Noch bevor ich es richtig begreifen kann, hat er mich zu sich auf das Sofa gezogen und streichelt mir erneut über den Kopf. "Ganz ruhig, Aki. Versuch, deine Atmung zu kontrollieren. Es ist gleich vorbei. Aber je hektischer du wirst, umso unangenehmer machst du es dir nur." "Es soll aufhören! Ich will das alles nicht!" Ich höre ihn leise seufzen. Es klingt irgendwie traurig. "Es tut mir Leid." Etwas verunsichert sehe ich ihn an. Was tut ihm Leid? Der Blick, den er mir zuwirft, ist durchtränkt von Mitleid und Trauer. "Dass du dein Leben, wie du es geplant hast, nun nicht mehr wirst führen können. Dass du belogen wurdest, deine Herkunft und Familie betreffend. Dass deine kommenden Pfade bereits vorgegeben sind. Dass ich es nicht aufhalten kann und in den nächsten Stunden dazu verdammt sein werde, nur zusehen zu können. Aber ich verspreche dir, dass ich nicht von deiner Seite weichen werde." Er schenkt mir ein entschuldigendes Lächeln, während sich in meinem Kopf eine Frage nach der anderen auftut. "Darf ich?" Ich blinzel ein paar Mal, ehe ich begreife, dass er sich irgendwie mein Handy vom Tisch geangelt hat. Fragend beobachte ich, wie er Rhea eine Nachricht schreibt. » Hey Kleine, entschuldige bitte, dass ich einfach so wortlos gegangen bin aber ich fühle mich nicht gut. Wahrscheinlich irgendein Virus. Vielleicht wäre es besser, du würdest den Rest der Woche woanders übernachten, sonst stecke ich dich noch an. Aki ♥« Sein Finger schwebt über der Senden-Taste und seine dunklen Augen sehen mich eindringlich an. Er wartet auf meine Antwort. Noch einmal überfliege ich die SMS. An sich klingt es sehr nach mir aber das Herz am Ende ist eindeutig zu kitschig! Das muss weg! "Nein, das Herz bleibt." grinst er frech und drückt zeitgleich auf den Knopf. Habe ich bis eben noch nicht so recht gewusst, was ich von ihm halten soll, so war ich mir jetzt umso sicherer: Ich hasse ihn! Sein Grinsen wird breiter. "Tust du nicht." Ein kehliges Knurren entfleucht mir. "Raus aus meinem Kopf!" Er tätschelt mir diesen nur. Langsam komme ich mir vor, wie ein Hund! "Das geht leider nicht so einfach. Aber ich bemühe mich, es zu überhören. Versprochen." Noch immer leise knurrend, stehe ich wieder auf. "Wo willst du hin?" "Ins Bad. Allein!" Da er sich ins Sofa zurücklehnt und entspannt seine Augen schließt, nehme ich das als Antwort, gehe vom Wohnzimmer in den kleinen Flur und steuere die zweite Tür links von mir an. Im Bad rutsche ich die abgeschlossene Tür hinab auf den kalten Boden. Warum passieren solche schrägen Dinge immer nur mir? Und zur Hölle, WAS passiert mit mir? Denn das etwas mit mir geschieht, spüre ich nur allzu deutlich. Wenn man von den offensichtlichen Dingen einmal absieht, wie die wechselnde Augenfarbe, den netten Reißzähnen und dem animalischen Knurren, sind da noch andere Details. Mein Geruchssinn wird von Stunde zu Stunde schärfer, Geräusche werden teilweise unerträglich laut, mein Magen knurrt und gibt sich nur mit Fleisch zufrieden - Ian hat mir von irgendwoher ein paar Schnitzel besorgt, die ich in beunruhigender Geschwindigkeit verdrückt habe aber ich bekomme schon wieder Hunger! - und immer öfter fühlt es sich so an, als würde mein Körper verbrennen. Von innen heraus! Quälend langsam schaffe ich es, mich wieder aufzurichten und stolper in Richtung Dusche. Doch auf dem Weg dahin muss ich am Waschbecken mit dem großen Spiegel vorbei und bleibe wie angewurzelt stehen. Bin das... ich? Meine Finger tasten nach dem Spiegel. Ungläubig blicken mich goldene Augen an, die zu lodern scheinen. Auch nach mehrfachem Blinzeln verschwinden sie nicht. Die dezente Muskulatur an meinem Oberkörper zeichnet sich deutlicher unter meinem Oberteil ab. Meine leicht gebräunte Haut, die gerade aschfahl geworden ist, glänzt regelrecht, als wäre ich völlig durchgeschwitzt. Aber das Skurillste an dem ganzen Bild sind nicht etwa die scharfen Eckzähne, sondern meine langen, spitzen Ohren! Ich sehe aus, wie ein Verschnitt aus Elfe und Dracula! Plötzlich beginnt mein gesamter Körper zu pulsieren - ich sehe es sowohl im Spiegel und fühle es mit jeder Faser - und keuchend stürze ich kurz darauf auf die kalten Fliesen. Wenn ich bisher der Annahme erlegen war, 40° Fieber würden sich anfühlen, als müsse man verbrennen, dann frage ich mich, ob momentan ein Lavasee in mir kocht! Mein Mund ist staubtrocken, mein Leib zittert unkontrolliert, bewegt sich aber sonst keinen Millimeter vom Fleck. Ich scheine in einer endlosen Flammenhölle zu verbrennen, während meine Knochen und Eingeweide sich anfühlen, als würden sie schmelzen und dabei endlos gedehnt werden. Ich habe Angst. Panik greift nach mir, raubt mir jeden klaren Gedanken und lässt mich schutzlos zurück. Ich habe nur noch eine einzige Hoffnung. Innerlich rufe ich nach dem einen Menschen, dem ich kurz zuvor noch untersagt habe, meine Gedanken zu belauschen: Ian. Krachend fliegt die Badezimmertür auf. Das Geräusch dröhnt ekelhaft in meinen überempfindlichen Ohren. Nur eine Sekunde später sehe ich dunkelblaues Haar und besorgt dreinblickende... grüne (?) Seelenspiegel. Sind seine Augen nicht nachtblau gewesen? "Verdammt, damit hatte ich frühestens in zwei Stunden gerechnet..." höre ich ihn fluchen. Gleichzeitig verschwindet der angenehm kühle Boden unter mir und meine Umgebung bewegt sich. Trägt er mich etwa? Kurz darauf lande ich auf einem weichen Untergrund und am Rande meiner Wahrnehmung dringt Ians Stimme zu mir. "Aki, hörst du mich?" Der Versuch, meinen Kopf in seine Richtung zu drehen, scheitert. Unfähig, mich zu bewegen und immer noch innerlich verbrennend, merke ich, wie mein Atem immer hektischer wird. Eine kühle Hand legt sich auf meine Stirn. "Ruhig. Du musst versuchen, ruhiger zu atmen, dann wird es erträglicher." Erträglicher? Es geht nicht weg?! "Erst, wenn die Metamorphose vollzogen ist." Hilf mir! Bitte... "Das kann ich leider nicht... Es sind nur noch sechs Stunden. Halt durch! Ich bin bei dir." Ich verbrenne! Ich werde sterben! "Nein. Du musst nicht sterben. Dein Körper passt sich dir nur an. Es ist schmerzhaft aber es ist bald vorbei." Bleib bei mir! "Ich werde nicht von deiner Seite weichen." Kapitel 4: Meine wahre Gestalt ------------------------------ Kapitel 4: Meine wahre Gestalt Der kühle Wind pfeift mir durch's Gesicht und treibt mich weiter an. Völlig berauscht jage ich in atemberaubenden Tempo durch die Nacht. Was für ein Gefühl! Wie im Zeitraffer fliegt die Umgebung an mir vorbei. Häuser, Bäume, Felder, Wiesen. Alles verschwimmt in unscharfen Konturen und scheint ineinander überzugehen. Und trotzdem habe ich noch nie so klar gesehen wie jetzt. Gestochen scharf brennen sich die Bilder in mein Gedächtnis. Die Eule, die sich im Schutz der Nacht lautlos und doch in tödlicher Geschwindigkeit auf ihre ahnungslose Beute stürzt. Eine Gruppe Rehe, die am Waldrand stehend kurz in meine Richtung schielt. Der Waschbär am Fluss, der eilig das Weite sucht, als ich mit lautem Platschen durch eben diesen hechte. Und dann ist da noch eine Gestalt, hoch über den Baumwipfeln, die, wie versprochen, nicht von meiner Seite weicht. Ich spüre seine Gegenwart ganz deutlich, nehme seinen Geruch wahr und bin mir sicher, dass sein aufmerksamer Blick auf mir ruht. Mehr als sechs Stunden ist mein Körper in meiner persönlichen Hölle verbrannt und ich habe keine Ahnung, wie ich das überstanden habe, ohne meinen Verstand zu verlieren. Aber das hier entschädigt jede Sekunde der Qual tausendfach. Ich fühle mich so viel lebendiger, so viel freier als jemals zuvor. Am Vorsprung einer Klippe mache ich Halt, um den herrlichen Ausblick zu genießen. Unter mir erstreckt sich ein riesiger Mischwald und schwach erkennt man eine sich senkende Nebelwand, die vom fahlen Mondlicht in ein diffuses Licht getaucht wird und dem Wald somit etwas Mystisches verleiht. Es ist einfach nur unsagbar schön. Wie weit ich wohl mittlerweile von der Stadt entfernt bin? Ich weiß nicht, wie lange ich gelaufen bin. Doch weder brennen meine Lungen, noch spüre ich sonst irgendeine Erschöpfung. Ganz im Gegenteil! Am liebsten würde ich die ganze Nacht weiter laufen. Immer weiter, in den Sonnenaufgang, in das Morgen, nur um danach mit der Abendsonne um die Wette zu laufen, hinein, in eine neue Nacht. "Du wirst noch genug Gelegenheiten bekommen, das zu tun, Aki." Ian steht neben mir, sieht leicht zu mir herunter und lächelt. Seine Augen funkeln noch einmal grün, bevor sie wieder so dunkel werden, wie der Nachthimmel über uns. Ich werfe einen erneuten sehnsuchtsvollen Blick auf die Landschaft unter mir. "Ich weiß, es ist wunderschön." wispert er und ich nicke leicht. "Trotzdem müssen wir wieder zurück, bevor die Sonne aufgeht." Warum? Ich will noch hier bleiben! Der junge Mann lächelt beschwichtigend. "Solange du es noch nicht kontrollieren kannst, verwandelst du dich bei Sonnenaufgang zurück." Das hätte er mir ruhig auch schon mal eher sagen können! "Entschuldige. Ich wollte deinem Bewegungsdrang keinen Einhalt gebieten. Außerdem wirktest du so glücklich... irgendwie unbeschwert." Ein entschuldigendes Lächeln gleitet über seine Züge. Wie kann ich ihm da noch böse sein? Sanft legt sich seine Hand auf meinen Kopf und krault diesen. Genießend schließe ich meine Augen und neige mich der Hand leicht entgegen. "Aki?" Ich sehe ihn wieder an. "Würdest du mich zurück tragen? Ich bin... ein wenig... erschöpft." Mir fällt sehr wohl auf, dass das nicht die Worte sind, die er unter anderen Umständen benutzt hätte. Aber ich werde es nicht hinterfragen. Sicher hat er seine Gründe, seinen Zustand zu umschreiben. Also gebe ich ihm meine Zustimmung. Hoffentlich ist er nicht zu schwer für mich... "Keine Sorge, du wirst mich kaum bemerken." Damit schwingt er sich auf meinen Rücken, mit einer Leichtigkeit, die mich stutzen lässt. Sofort ist da wieder die Hand auf meinem Kopf. "Es ist das erste Mal seit über 150 Jahren, dass ich mich wieder tragen lasse. Ich hoffe, du wirfst mich nicht ab." Bin ich ein Pferd oder was?! Und wie alt ist dieser Kerl eigentlich? Dass er kein Mensch ist, habe auch ich mittlerweile begriffen. Ich bin schließlich auch keiner... Mit langen Sätzen und in enormer Geschwindigkeit trete ich den Rückweg an, wenn auch schweren Herzens. Der weiche Waldboden unter meinen Pfoten beflügelt mich sogar noch mehr und schon kurz darauf liegt Ian halb auf mir und hat seine Arme um meinen muskulösen Hals geschlungen, die Finger fest in meinem braunen Fell verkrallt. Ein amüsiertes Heulen verlässt meine Kehle. "Das ist nicht komisch!" protestiert er mit leicht verzweifeltem Unterton. Doch, für mich ist es das. Aber ich beschließe, ihn nicht abzuwerfen und drossele mein Tempo. Augenblicklich entspannt er sich etwas und richtet sich ein wenig auf. "Du bist mir schon ein Wildfang, Aki." lacht er leise und auch ich muss grinsen, wodurch ich meine scharfen Zähne entblöße. "Können wir an dem See dort hinten kurz Halt machen?" Er beugt sich leicht vor, streckt seinen Arm in die Richtung etwas links meines derzeitigen Weges, sodass ich ihn sehen kann. Ich weiß zwar nicht, was er da will aber ich folge der angegebenen Richtung. Nur wenige Minuten später erreichen wir unser Ziel und Ian gleitet von meinem Rücken und hockt sich ans Ufer. Ich folge ihm und als ich mich über die spiegelglatte Oberfläche beuge, sehe ich mich zum ersten Mal in dieser Nacht vollständig. Ich wusste bereits, was ich in etwa bin, von dem, was ich selbst gesehen habe. Aber nun ist es sogar noch faszinierender. "Gefällt dir deine wahre Gestalt?" fragt mich mein Begleiter. Ich starre in die goldgelben Augen, die ich vor nicht einmal 24 Stunden noch für eine Ausgeburt meiner Fantasie gehalten habe. Doch diese Augen gehören nicht der Studentin Aki, sondern einem anmutigen, braunen Wolf, der fast so groß ist, wie meine menschliche Gestalt. Also verdammt groß, wenn man berücksichtigt, dass ich etwa 1,75 Meter groß bin. Vorsichtig stupse ich meine feuchte, schwarze Nase in das kühle Nass und ziehe sie sofort abrupt mit einem Schnauben zurück. Scheiße, ist das kalt! Dann richten sich meine Ohren auf, wenden sich alarmiert nach links, bevor mein Kopf ebenfalls in die Richtung schnellt. Ian hockt am Uferrand, eine Hand ruht auf seinem Oberschenkel, die andere direkt über der Wasseroberfläche. Irgendetwas Merkwürdiges geschieht. Es sieht beinahe so aus, als ob er das Wasser anziehen würde aber egal, wie nah die kleinen Tröpfchen seiner Hand kommen, sie berühren sie nie. Gespannt beobachte ich das Schauspiel, bis die Vibration um ihn herum plötzlich verschwindet. Der See ist wieder genauso ruhig wie zuvor, dafür wirkt der junge Mann jetzt anders. Hätte er bis zu unserer Ankunft hier noch als normaler Mensch durchgehen können, umgibt ihn jetzt etwas Magisches. Es flackert wie eine Aura um ihn und hüllt ihn in einen kühlen Glanz - fast wie ein Eiskristall. Er hebt seinen Kopf, sieht mich an und dieses Mal sind seine Augen wieder leuchtend grün. Ob er auch eine andere Gestalt hat, so wie ich? "Nicht ganz." antwortet er auf meinen Gedanken. Da ich in dieser Gestalt nicht sprechen kann, knurre ich ihn stattdessen drohend an. Er soll nicht ständig meine Gedanken lesen! Er lacht amüsiert. "Möchtest du es sehen?" fragt er mit samtener Stimme und richtet sich zu seiner vollen Größe auf. Also ändert sich nicht nur seine Augenfarbe... "Deine Neugier steht dir deutlich ins Gesicht geschrieben. Ich muss deine Gedanken nicht lesen, um zu wissen, was in dir vorgeht. Zumindest nicht im Moment." Dann umgibt ihn für den Bruchteil einer Sekunde ein feiner Regen aus Wassertröpfchen und Eiskristallen und danach schnappe ich hörbar nach Luft. Mein erster Gedanke ist geprägt von überwältigenden Ausrufen. Mein zweiter von nicht jugendfreien Bildern und mein dritter von Flüchen und Verwünschungen auf eben jenen vorangegangenen Gedanken. Ian, der zuvor im hellen Rollkragenpullover und einfacher Jeans da stand, ist nun oberkörperfrei, eine enge, dunkle Hose schmiegt sich um seine langen Beine und aus seinem Rücken tritt ein Paar Flügel hervor, wie ich sie eindrucksvoller nie zuvor gesehen habe. Sie schimmern blau, wirken durchlässig, wie eine Membran, zerbrechlich wie Glas und gleichzeitig so unsagbar kraftvoll. Aus was bestehen diese Flügel? "Aus unzähligen Eiskristallen." kommt auch prompt die Antwort. In diesem Moment bereue ich, dass ich kein Mensch bin. Ich will sie anfassen! Nur einmal ganz kurz... Wie von selbst bewege ich mich auf ihn zu, beobachte fasziniert, wie die Flügel im Mondlicht glitzern und glänzen. Seine grünen Seelenspiegel ruhen auf mir, beobachten jeden meiner Schritte und weiten sich plötzlich überrascht, als meine Finger über die Struktur seiner Schwingen gleiten. Nur einen Moment später halte auch ich inne. "Was... was ist denn jetzt passiert?" frage ich etwas hilflos und sehe zwischen dem Blauhaarigen und meinen Fingern hin und her. "Du hast dich gerade willentlich in einen Menschen zurückverwandelt." "Ja, das sehe ich auch! Aber wie? Warum? Du sagtest doch, ich könne es noch nicht kontrollieren." Überlegend tippt er sich ans Kinn. Ich folge seiner Bewegung mit den Augen und bemerke plötzlich, wie nah ich ihm eigentlich bin. Ich habe ihn sogar einfach angetatscht! Wie peinlich! Schnell weiche ich einige Schritte zurück. Er gluckst nur amüsiert. "Ach, so ist das..." "Was? Was meinst du?" Ich bin gerade wirklich verunsichert. "Du veränderst deine Gestalt durch deinen Willen. Allerdings ist es anfangs recht schwierig, denn niemand, der Macht und Freiheit gekostet hat, will freiwillig wieder ein schwacher Mensch sein. Man lernt mit der Zeit zu beurteilen, wann welche Gestalt vorteilhafter ist." Er macht eine kurze Pause, kommt einen Schritt auf mich zu und streichelt mir erneut über den Kopf. "Aber dein Verlangen danach, mich zu berühren, war stärker als dein Freiheitsdrang. Darum hast du dich wieder in einen Menschen verwandelt." Seine ruhige, warme Stimme jagt mir unzählige Schauer über den Rücken. Gleichzeitig wird mir die Zweideutigkeit seiner Worte bewusst. "Ich wollte nur deine Flügel berühren! Nicht DICH!" korrigiere ich ihn, doch er lacht nur leise. "Oh nein, nicht nur die Flügel..." Er legt einen Arm um meine Schulter, zieht mich zu sich und flüstert mir mit verruchter Stimme ins Ohr: "Darf ich dich an deine Gedanken erinnern, die dir durch den Kopf schossen, nachdem ich mich verwandelt hatte?" Mein Blut schießt in meine Wangen. Verdammt! Mich noch immer festhaltend, scheint er gerade beschlossen zu haben, mich sogar noch weiter zu foltern. "Ich gehe davon aus, dass du gerade nicht gewillt bist, mich weiterhin zu tragen... Also lass mir die Möglichkeit, mich für den netten Ritt von vorhin zu revanchieren." Das macht dieser Arsch doch mit Absicht! Aber mir bleibt keine Zeit zum Fluchen, denn starke Arme legen sich um meinen Rücken und meine Beine und ehe ich mich versehe, hebt er mich hoch und fliegt mit mir los. Fast schon panisch kralle ich mich in seinen Nacken und presse mein Gesicht gegen seinen Oberkörper. Als ob die Situation an sich nicht schon peinlich genug wäre, schießt mir ein Gedanke durch den Kopf, für den ich mich am liebsten ohrfeigen würde: Jetzt kann ich auch seinen nackten Oberkörper berühren... Kapitel 5: Hunger macht böse! ----------------------------- Kapitel 5: Hunger macht böse! Grelles Sonnenlicht weckt mich. Warum sind meine Vorhänge eigentlich nicht zugezogen? Das ist ja ekelhaft! Murrend lege ich meine Arme über mein Gesicht. Doch zur Ruhe komme ich nicht mehr. Es ist nicht das helle Sonnenlicht oder der aufkommende Hunger, sondern etwas ganz Anderes, was mich schlussendlich doch aufstehen lässt. Eine kleine fiese Stimme in meinem Kopf behauptet hartnäckig, dass alles, was an meinem gestrigen 21. Geburtstag geschehen ist, reiner Humbug ist, ein Hirngespinst, eine Ausgeburt meiner kranken Fantasie. Ist das wirklich passiert? Bin ich in Gestalt eines Wolfes durch die Nacht gejagt? Ist Ian die ganze Zeit über bei mir gewesen? Und wo ist er jetzt? Und wann genau habe ich mich eigentlich umgezogen? Skeptisch schaue ich an mir herunter. Ich habe meine gewohnten Schlafsachen an: Ein viel zu langes Shirt und eine kurze Hose. Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, mich umgezogen zu haben. Egal, ich werde mir später den Kopf darüber zerbrechen. Jetzt muss ich erst einmal duschen. An mir haftet ein Geruch, der eine Mischung ist aus Morgentau, Wald und... Eis? Ich schnupper erneut an mir. Merkwürdig. Aber eindeutig. Hauchzart aber intensiver an meinen Armen rieche ich klare Kälte. Kann man das überhaupt? Ich meine, wenn es im Winter geschneit hat und man dann nach draußen kommt, schlägt einem doch auch diese klare, reine, frische Luft entgegen. So in etwa riecht das... Und dann kommt mir ein Gedanke, der mir mehr als unangenehm ist. Hat mein neues Anhängsel mich nicht getragen gehabt?! Und habe ich mich nicht an ihm festgeklammert wie ein panisches kleines Mädchen? Na schönen Dank auch! Aber ich erinnere mich auch, wie wunderschön seine Flügel aus Eiskristallen geschimmert haben. Und wie sie während des Fluges einen Schleier aus Kristallstaub hinterlassen haben. Und ich erinnere mich deutlich, wie warm sein freier Oberkörper gewesen ist und an den kraftvollen Rhythmus seines Herzschlages. Bei dem ich anscheinend dann irgendwann eingeschlafen bin. Leise öffne ich meine Zimmertür und spähe hinüber zum Wohnzimmer. Die Tür steht offen und ein leiser, gleichmäßiger Atem ist zu vernehmen. Neugierig schlüpfe ich ins Zimmer und erblicke einen dunkelblauen Haarschopf unter einer Kuscheldecke. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Es ist also wirklich real. Das beruhigt mich ungemein. Und noch etwas beruhigt mich. Etwas, von dem ich bis eben gar nicht gewusst habe, dass es mich beunruhigt: Ian schläft. Anscheinend habe ich erwartet, dass er keinen Schlaf benötigen würde. Fasziniert von dem Bild des schlafenden jungen Mannes, hocke ich mich an sein Kopfende und betrachte ihn. Wie friedlich er aussieht. "Dein Verlangen danach, mich zu berühren, war stärker als dein Freiheitsdrang. Darum hast du dich wieder in einen Menschen verwandelt." hallen seine Worte im selben Moment in meinen Gedanken wider, als ich meine Hand ausstrecke, um ihm durch sein blaues Haar zu streichen. Verflucht noch eins! Was tue ich hier gerade? Aber aufhören kann ich auch nicht. Sein Haar ist so weich. Na großartig! Fehlt nur noch, dass er durch meine Berührung aufwacht... Und natürlich brummt er in diesem Moment und ich erstarre in meinem Tun. Verschlafen öffnet er ein Auge. Es ist dunkelblau. Irgendwie hatte ich gerade kurz Angst, es wäre grün. Er schließt es wieder, seufzt und dreht sich weg. "Ich bin kein Wolf. Ich brauche mehr als drei Stunden Schlaf..." grummelt er unzufrieden. Erst gucke ich völlig verdutzt, bevor ich anfange, leise zu kichern. "Morgenmuffel, hm?" Böse funkelt er mich wieder über seine Schulter hinweg an. "Geh weg!" "Schon gut, ich lass dich ja in Ruhe. Ich mach die Tür zu, einverstanden?" Lächelnd erhebe ich mich und kurz werden seine Augen etwas größer, bevor er ruckartig seinen Kopf von mir wegdreht. "Geh einfach!" Etwas amüsant ist es ja schon, wie unangenehm es ihm ist, mich so knapp bekleidet zu sehen. Immerhin ist er es gewesen, der mich letzte Nacht noch damit aufgezogen hat, was für anzügliche Gedanken ich doch habe beim Anblick seines nackten Oberkörpers. Wie vom Schlag getroffen, bleibe ich plötzlich stehen und blicke zurück auf das Sofa. "Ian!" knurre ich drohend. Darum kann ich mich also nicht daran erinnern, mich umgezogen zu haben - ER hat es getan! Wie zur Bestätigung verkriecht er sich weiter unter der Decke. Natürlich. Meine Gedanken dürften kaum zu überhören sein für ihn. Mit einem Ruck reiße ich ihm die Decke weg, spüre, wie mein Blut zu kochen beginnt. Ein erneutes drohendes Grollen verlässt meine Kehle, während langsam meine Reißzähne wachsen. Geschockt sieht er mich an. "Ganz beschissenes Timing, Aki!" "Nenn mir einen guten Grund, warum ich dir nicht hier und jetzt die Kehle zerfetzen sollte!" "Die Sauerei würdest du nie wieder wegbekommen..." spricht er unbedacht, weicht auf dem Sofa zurück und springt im nächsten Moment über den Tisch, um meinem nach ihm schnappenden Kiefer zu entgehen. "Aki, beruhige dich!" Knurrend belauere ich ihn, setze zum Sprung an und verfehle ihn nur um haaresbreite. "Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst." versucht er es weiter. Doch ruhig ist seine Stimme nicht mehr, denn mittlerweile jage ich ihn durch das gesamte Wohnzimmer, wobei die Möbel stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Er hat mächtig zu tun, meinen Pranken und Zähnen auszuweichen, um nicht so zu enden, wie einer der Sessel. "Für deinen Körper musst du dich doch nicht schämen." Falsche Antwort, Freundchen! Im nächsten Augenblick befinden sich meine Krallen in der Wand im Flur, die diesen vom Wohnzimmer trennt. Ian hat sich von dort abgestoßen, springt über mich und landet vor meiner Zimmertür. Beim Herumwirbeln zerfetze ich nicht nur die Tapete, sondern fege mit meinem Schweif auch die nahestehende Kommode leer. Dabei geht irgendetwas klirrend zu Bruch aber das kann mir egaler gerade nicht sein. Wieder schnappe ich nach ihm, doch der Kerl ist einfach unglaublich flink. "Aki, lass das! Zwing mich nicht dazu, dir weh zu tun!" Hat er mir gerade gedroht? Aber was kann er schon gegen mich ausrichten... Ich bin ein Wolf! "Aki, ich bitte dich nur noch einmal: Hör auf!" Doch seine Bitte stößt bei mir auf taube Ohren und so setze ich erneut zum Sprung an. "Verzeih mir aber wenn du es nicht anders haben willst..." Das nächste, was ich spüre, ist Schmerz. Jaulend gehe ich zu Boden. Meine rechte Schulter fühlt sich an, als würde sie verbrennen und gleichzeitig so taub, als wäre sie unterkühlt. Ich will aufstehen, doch auch das geht nicht. Nur ganz langsam und unter enormen Schmerzen schaffe ich es, mein Haupt leicht zu drehen. Mein braunes Fell glitzert und sieht aus, wie mit Puderzucker bestreut. Kann ich mich deswegen nicht bewegen? Ich sehe zurück zu Ian, dessen Augen leuchtend grün lodern. Er hat sich nicht verwandelt, dennoch umgibt ihn die gleiche Aura wie letzte Nacht. Mein Zorn verebbt allmählich, dafür nimmt die Kälte immer mehr zu. Lass mich wieder frei! "Erst musst du dich zurück verwandeln und mir versprechen, dass du mich nicht noch einmal angreifen wirst." Das kann ich nicht. Mit mir sind einfach die Emotionen durchgegangen. Ich habe ja selbst kaum gemerkt, dass ich mich verwandelt habe. Ian hockt auf meinem Bett und schaut überlegend zu mir rüber. Unfähig, mich zu rühren, liege ich noch immer im Eingangsbereich meines Zimmers. "Dann überlegen wir einfach gemeinsam. Was gibt es, was du tun möchtest und wofür du ein Mensch sein musst? Oder muss ich mich wieder verwandeln?" setzt er leicht amüsiert noch hinten dran. Beschämt wende ich meinen Blick ab. "Mach es uns doch nicht so schwer, Aki, bitte." Ich bin gerade dezent beleidigt und versuche, an nichts zu denken. Genervt legt er seinen Kopf in die Hände. "Ich hab ja gewusst, dass Wölfe stur und eigen sind aber du topst echt alles!" Meine einzige Antwort ist ein abfälliges Schnauben. "Ok, was soll ich tun?" beginnt er mit etwas lauterer Stimme. "Soll ich mich bei dir entschuldigen? Bitte! Es tut mir Leid, dass ich so anmaßend war und dich umgezogen habe aber deine Klamotten waren klamm und kalt und du hättest dich mit Sicherheit erkältet. Ja, ich habe deinen nackten Oberkörper gesehen aber ich habe dich weder unsittlich berührt, noch sonst irgendwelche unanständigen Dinge getan. Bist du jetzt zufrieden?!" Ach daher kam der intensive Geruch vom Morgentau. "Ist das echt alles, was dir dazu einfällt?" Mühevoll drehe ich den Kopf zur Seite, schließe meine Augen und entblöße ganz kurz meine Fangzähne. "Von mir aus, bitteschön! Dann bleib halt da liegen." Damit streckt er sich auf meinem Bett aus und schließt ebenfalls die Augen. Meine pochende Schulter ist letztendlich der Auslöser, warum ich doch anfange, darüber nachzudenken, was ich gerade gern in meiner menschlichen Gestalt tun würde. Ihn mit meinen eigenen Händen erwürgen! "Mordgedanken stärken nur den Dämon in dir. Dadurch erreichst du nur das Gegenteil..." kommt es gelangweilt von meinem Bett. Moment. Hat er gerade "Dämon" gesagt!? "Ja, Dämon. Selbst dir sollte aufgefallen sein, dass du für einen normalen Wolf ungewöhnlich groß bist." Ich bin aber doch hoffentlich kein Werwolf! "Nein. So einen Quatsch gibt es gar nicht. Werwolf, Wermensch, alles Hirngesprinste" "Was bin ich dann?" Überrascht darüber, meine Stimme zu hören, fährt der Blauhaarige hoch und auch ich wundere mich dezent. "Ist es wirklich so einfach?" murmelt er verwundert. Sofort ist er bei mir, berührt sanft meine rechte Schulter und augenblicklich lässt die Kälte nach. Auch kann ich mich wieder bewegen. "Wenn das so ist... reden wir. Komm." Er setzt sich zurück auf mein Bett, klopft neben sich und sieht mich erwartungsvoll lächelnd an. "Ich bin doch kein Hund..." Missmutig setze ich mich dennoch neben ihn und im selben Moment ist da wieder seine Hand auf meinem Kopf. "Das nun wirklich nicht. Aber die Geste scheint dich dennoch genauso zu beruhigen. Außerdem ist es mir so viel lieber, als wenn du Zähne fletschend hinter mir her jagst." "Deinetwegen muss ich irgendwie noch dieses Chaos hier beseitigen." "Ich mach das schon." Er atmet tief ein und aus. "Tja, wo soll ich anfangen?" "Erklär mir endlich, was hier passiert! Was bin ich? Und was bist du?" "Gleich. Zuerst..." Er schnippt mit den Fingern und im nächsten Augenblick steht auf meinem Schoß ein Tablett mit Leckereien, einer gigantischen Pizza mit mehreren Sorten Fleisch und einer heißen Schokolade. "Iss etwas. Hunger macht böse." Voller Freude mache ich mich sofort über das Essen her. "Ian, ich glaube, ich liebe dich!" Kapitel 6: Erste Erläuterungen ------------------------------ Kapitel 6: Erste Erläuterungen Sein warmes Lachen erfüllt den ganzen Raum. "Man sagt zwar, Liebe geht durch den Magen aber ich hoffe inständig, dass das gerade nicht ernst gemeint war." Kauend sehe ich ihn an. "Nicht direkt, nein. Übersetz' es in überschwängliche Freude und Dankbarkeit." "Gut. Sonst hätten wir bereits das erste Problem gehabt." "Welches?" Schnell stopfe ich mir ein weiteres Stück Pizza in den Mund. Mann, hab ich einen Hunger! "Wölfe leben monogam." Prompt verschlucke ich mich. "Ja, das war auch meine erste Reaktion. Aber es ist wahr. Ein Wolf bindet sich nur einmal in seinem Leben. Und wem auch immer du einmal dein Herz schenkst, an den wirst du ewig gebunden sein. Allerdings..." Er sieht mich kurz abschätzend an, während ich ganz langsam wieder zu Atem komme. "Ich gehe davon aus, dass du noch unberührt bist, richtig?" schlagartig stelle ich die eben wieder erworbene Funktion wieder ein, spüre, wie meine Wangen beginnen zu glühen und senke deswegen den Kopf. "War auch eigentlich nicht schwer zu erraten. Sonst hättest du dich nicht erst gestern Nacht verwandelt." "Warum behagt mir nicht, was jetzt kommt?" "Weil du ein kluges Mädchen bist und Eins und Eins zusammen zählen kannst." "Ich hätte mich verwandelt, sobald ich mit jemanden geschlafen hätte." schlussfolgere ich. "Genau. Allerdings hätte es einige sehr unschöne Konsequenzen nach sich gezogen. Wie gesagt, ein Wolf bindet sich nur einmal. Aber bei diesem Akt hättest du dich mitten im Geschehen verwandelt und unwillentlich deinen Partner getötet. Du hättest also gleich zwei Probleme: Dein neues Ich und deinen toten Partner, gefolgt von unendlicher Trauer um den Einen, der dich dein ewiges Leben hätte begleiten sollen." "Mit anderen Worten, ich muss verdammt aufpassen, wem ich mich irgendwann einmal hingebe..." "Richtig. Da du dich aber bereits verwandelt hast, wird deinem Partner ein frühzeitiges Ende erspart bleiben." "Na wie beruhigend." "Ehrlich, ich beneide dich nicht um deinen Monogamiestempel. Wir Dämonen leben ewig. Klar haben auch wir mal eine Erkältung oder Muskelkater aber das bringt uns nicht um. Im Regelfall passiert das auch nur während der ersten 100 Jahre nach unserer Metamorphose. Du bist also sozusagen mit 121 Jahren frei von menschlichen Gebrechen." Er grinst mich derart breit an, dass man glauben könnte, er hätte mir soeben die Lottozahlen verraten. Diese Informationen muss ich erst einmal verdauen! "121... Jahre... zum Teufel, wie alt kann ich eigentlich werden? Und wie alt bist dann du?!" ungläubig starre ich ihn an. "Lass mich eben nachrechnen..." Er hebt seine Hände und streckt nach und nach einen Finger nach dem anderen empor. Nach acht Fingern stoppt er. "Wenn ich mich nicht verrechnet habe, werde ich dieses Jahr 824 Jahre alt. Oha... wie doch die Zeit vergeht." nun grinst er mich wieder schelmisch an, während mir einfach nur alles aus dem Gesicht fällt. "Biologisch gesehen bleibt unser Körper in dem Zustand, in dem er unmittelbar vor seiner Metamorphose war. Du bleibst also ewig 21. Niemals Falten, niemals Midlife-Crisis oder Wechseljahre und keine grauen Haare. Es hat durchaus was für sich." "Heißt das etwa auch, ich kann mein Leben lang Kinder kriegen?" "Ohja. In deinem Fall süße, kleine Welpen." Sein Gesicht kommt meinem verdammt nah, kaum ein Zentimeter trennt unsere Nasenspitzen voneinander und zum wiederholten Mal ziehen mich seine nachtblauen Seelenspiegel in ihren Bann. Dann grinst er noch breiter als zuvor, tippt mir kurz an die Stirn und zieht sich wieder von mir zurück. "Keine Sorge, ich bin nicht so verrückt und lasse mich mit einer Wölfin ein. Zum Einen gibt das einen Haufen Ärger mit Luzifer und zum -..." "Luzifer?!" unterbreche ich ihn. "Ja. Du weißt schon, der Chef aller Dämonen, der König der Unteren Welt. Er und seine reizende Gemahlin Luzifera - ja, ich weiß, guck nicht so - begrüßen es sehr, wenn die Dämonenrassen sich nur untereinander fortpflanzen und sich das Erbgut nicht vermischt. Gegen Spaß querfeldein hat allerdings niemand etwas." "Ernsthaft?" Was für ein verrücktes System. Aber noch verrückter ist die Tatsache, dass Luzifer wirklich existiert. Jedoch ist der Name seiner Gemahlin mehr als einfallslos. "Der Grund hierfür ist denkbar einfach." Und schon wieder wühlt der Kerl in meinen Gedanken! "Sie übernimmt regelmäßig seine Arbeiten, wenn er unterwegs ist. Dadurch ist es aber auch des Öfteren vorgekommen, dass sie versehentlich mit dem Namen ihres Gatten angesprochen worden war. Um diesem Durcheinander - und Luziferas gekränktem Stolz - Einhalt zu gebieten, befahl Luzifer, dass seine Frau nur noch mit Luzifera anzusprechen sei. Dadurch geriet ihr wahrer Name mit der Zeit leider in Vergessenheit und nur ihr Mann kennt ihn noch. Zum Glück, muss man dazu sagen, sonst könnte diese Furie tun und lassen, was immer ihr beliebt und sie hätte uneingeschränkte Macht." "Wieso?" "Weil dein wahrer Name deine größte Schwachstelle ist. Kennt ihn jemand, kann er dir Schlimmeres zufügen, als den Tod. Derjenige hätte die volle Kontrolle über dich. Es ist also von größter Wichtigkeit, dass du deinen wahren Namen nur an jene verrätst, denen du bedingungslos vertrauen kannst." "Aber meinen Namen..." traurig senke ich den Kopf. "Aki!" Auffordernd tippt er mir unters Kinn, woraufhin ich wieder zu ihm aufsehe. Erst dann fährt er mit ruhiger Stimme fort. "Aki, das ist nur dein menschlicher Name. Deinen wahren Namen kennt nur deine leibliche Familie." Ich horche auf. Ich habe eine Familie? Richtige echte Blutsverwandte? "Ja, hast du. Leider gibt es diverse Gesetze, die es deinen Eltern nicht gestattet haben, dich aufzuziehen. Somit mussten sie dich schweren Herzens in die Irdische Welt in die Obhut der Menschen geben. Aber sei dir dessen gewiss, dass sie dich nicht eine Sekunde lang vergessen haben. Schon direkt nach deiner Geburt suchte deine Mutter mich auf und bat mich, dich nach deinem 21. Geburtstag zurückzuholen. Ich als Dämonenausbilder habe unter Anderem die Fähigkeit, andere Dämonen aufzuspüren, selbst dann, wenn ihr Blut noch nicht erwacht ist. Es ist meine Aufgabe, Neugeborene wie dich und andere junge Dämonen anzuleiten, ins System einzugliedern und ihnen zu helfen, mit ihren eigenen Fertigkeiten und Aufgaben zurecht zu kommen. Allerdings werden mir normalerweise nur bestimmte Dämonengruppen zugeordnet." "Warte, warte! Du bist ein Ausbilder?" "Eine Art Lehrmeister, ja." "Ich dachte, du wärst eher so etwas wie ein Magier." Sein Lächeln kehrt zurück. "Mir persönlich gefällt diese Bezeichnung auch besser. Aber da diese normalerweise unter Dämonen nicht üblich ist, würde ich dich bitten, sie nicht weiter zu verwenden." "Das klingt beinahe so, als wäre es eine Beleidigung." Etwas verwirrt ziehe ich eine Augenbraue hoch. Ian lacht kurz auf. "Ganz Unrecht hast du damit nicht. Aber das liegt hauptsächlich daran, dass der Dämonenstolz gekränkt wird." Seufzend fährt er sich durch seine kurzen Haare und blickt zum Fenster hinaus. "Nur bei den Engeln werden die Ausbilder als Magier bezeichnet. Entsprechend verletzt sind Dämonen, wenn sie mit einem solchen gleichgesetzt werden. Es mag zwar mittlerweile Frieden zwischen den Welten herrschen aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Engel und Dämonen nun einmal nicht auf eine Stufe gestellt werden wollen. Jeder hält sich für etwas Besseres..." Verblüfft sehe ich ihn an. Es gibt nicht nur Dämonen sondern auch Engel? So richtige echte Engel mit Flügeln und allem drum und dran? "Nicht so ganz." Er fährt sich einmal durch sein blaues Haar - anscheinend hat er bei dieser unbedachten Aussage meine Neugier vergessen mit einzukalkulieren. "Scheint, als müsste ich viel weiter ausholen, als ich es ursprünglich geplant hatte." Dann blickt er wieder zu mir. "Du bist viel zu neugierig, Aki!" Soll das ein Tadel sein? Falls ja liegt da viel zu viel Wohlwollen in seiner Stimme. Sein breites Grinsen verrät mir, dass er schon wieder in meinem Kopf ist. Hat er nicht gesagt, er will versuchen, es zu überhören? Leicht beleidigt ziehe ich einen Schmollmund. "Es ist einfach zu verlockend, entschuldige. Dann wollen wir mal." Er streckt seine Hände in die Luft und formt drei etwa gleich große Eisskulpturen, die ein bisschen aussehen, wie ein Dorf. "Die Welt, in der wir uns momentan befinden, existiert gemeinsam mit zwei weiteren Welten parallel zueinander. Stell dir einfach vor, jede Skulptur stellt eine dieser Welten dar. Diese hier..." Er deutet auf eine Eisskulptur, die von den anderen beiden gleichermaßen berührt wird. Wobei die zwei anderen dagegen zwischen sich einen kleinen Spalt aufweisen, während sie die erstere direkt berühren. Nur an einem Punkt treffen alle Drei aufeinander. "... ist die Irdische Welt, die Welt der Menschen, in der wir uns momentan befinden. Das Dorf rechts, welches leicht nach unten versetzt ist, steht für die Welt der Dämonen, die Untere Welt, unsere Heimat. Und die dritte Skulptur steht für die Obere Welt, das Reich der Engel. Hier herrscht der Allvater über Recht und Ordnung, so wie es Luzifer bei uns tut. Diese Kluft zwischen der Oberen und der Unteren Welt ist das sogenannte Loch der schwarzen Seelen. Es ist der gefährlichste Ort zwischen den Welten und beherbergt den Grund, warum die Walküren der Engel und die Wölfe der Dämonen unentbehrlich für uns alle sind." Ian fixiert die kleine Kluft mit einem undefinierbaren Blick und kurz bin ich versucht, ihn zu fragen, was ihm gerade durch den Kopf geht, als er weiterspricht. "Von hier steigen die Schatten auf. Verlorene, bösartige Seelen, die Leid und Zerstörung über die Welten und ihre Bewohner bringen wollen. Sie sind äußerst gefährlich. Ihr Ziel ist dieser eine Punkt, an dem die drei Welten sich berühren. Denn nur von hier aus können sie in die Irdische Welt gelangen. Sie wissen, dass sie dort leichtes Spiel hätten. Stürzen sie die Welt der Menschen in Finsternis und Chaos, wird es beinahe unmöglich auch die Obere und Untere Welt noch vor der Zerstörung zu retten. In der Vergangenheit kam es immer wieder vor, dass sie dies beinahe geschafft hätten aber glücklicherweise konnte Schlimmeres verhindert werden. Ihr letzter großer Angriff ist nun etwas mehr als 500 Jahre her. Damals gab es unzählige Opfer. Es war eine gewaltige Schlacht, die wir nur knapp für uns entscheiden konnten." Das Thema scheint ihn sehr zu belasten. Ich bin mir mehr als sicher, dass er bei dieser Schlacht dabei gewesen ist. Irgendetwas Furchtbares muss damals geschehen sein, sonst wären seine Augen nicht so voller Kälte und Zorn. Vorsichtig taste ich nach seiner linken Hand, die neben mir auf dem Bett liegt. Die Berührung lässt ihn kurz zusammenzucken und zu mir herum fahren. "Du musst nicht weiter reden, wenn du nicht willst. Ich sehe doch, wie sehr dich das belastet. Erzähl mir lieber etwas über die Engel und Dämonen. Ich dachte immer, Dämonen sind etwas Böses aber anscheinend habe ich mich da geirrt, denn sie scheinen die Welt der Menschen zu beschützen zusammen mit den Engeln." Ein schwaches Lächeln umspielt seine Lippen. Er lässt die Eisskulpturen verschwinden und verschränkt die Finger seiner linken Hand mit meinen. Eine Geste, die einen wohligen Schauer über meinen Rücken jagt. Dafür habe ich meine Hand aber eigentlich nicht auf seine gelegt gehabt... "Dämonen sind keineswegs bösartig. Genauso wenig, wie Engel reine Unschuldslämmer sind. Glaub mir, einige von ihnen sind sogar streitsüchtiger als wir Dämonen. Außerdem sind Engel und Dämonen lediglich Oberbegriffe für die Bewohner der Welten, so wie Menschen die allgemeine Bezeichnung für die Bewohner der Irdischen Welt ist. Feen, Erzengel, Walküren und Meerjungfrauen beispielsweise gehören zu den Engeln, während Sukkubi, Dunkelelfen, Wölfe und Drachen zu den Dämonen zählen. Aber das sind nur einige Beispiele." "Ich muss mir also keine Sorgen darüber machen, zu einer grausamen, herzlosen Bestie geworden zu sein?" versuche ich zu scherzen aber auch das hat nur mäßigen Erfolg, wie mir sein halbherziges Lächeln beweist. Sein Blick ruht auf einem unbestimmten Punkt im Raum, während er sein rechtes Bein mittlerweile angewinkelt hat, um seinen freien Arm darauf zu stützen. "Nein, musst du wirklich nicht. Wir Dämonen kennen sehr wohl Ehre, Liebe und Ehrlichkeit. Manche mehr, manche weniger aber wir bilden da ja keine Ausnahme. Menschen und Engel sind da ganz genauso. Niemand ist über sein Herz erhaben. Selbst die nicht, die das behaupten, denn die haben ein Herz aus Eis und agieren deshalb so kalt. Auch sie werden also durch ihr Herz gesteuert." Und schon wieder ist da ein Ausdruck in seinen Augen, der mir mehr als deutlich macht, dass auch dieses Thema alte Wunden aufreißt. Er massiert sich den Nasenrücken. Ich glaube nicht, dass er vorgehabt hat, das so ausufern zu lassen. Und ich glaube, ich bin Schuld daran. "Indirekt ja. Und tut mir Leid, dass ich schon wieder deiner inneren Stimme lausche aber es ist verdammt schwer für mich, sie zu überhören. Ich möchte dir ja alle Fragen beantworten aber ich hätte gern mit etwas Unverfänglicherem angefangen, als mit den weniger schönen Kapiteln." "Dann würde ich sagen, wir beenden das einfach hier und jetzt und machen morgen weiter." schlage ich vor, doch er schüttelt nur den Kopf. "Es gibt da noch Etwas, das ich dir gern erklären wollte. Immerhin handelt es sich um wichtige Grundlagen und beantwortet zudem so ziemlich alle Fragen, die dir letzte Nacht so durch den Kopf gegangen sind." Grübelnd lege ich den Kopf schief. Spontan fällt mir nicht eine dieser Fragen ein. "Wundert mich nicht." Lachend streicht er mit seinem Daumen über meine Hand, die noch immer mit seiner verbunden ist. "Du warst ja auch mit deinen Gedanken ab einem bestimmten Punkt ganz woanders." Grinsend schaut er mich an und zwinkert mir kurz zu. Schlagartig fällt mir besagter Punkt auch wieder ein und in lebhaften Bildern spult meine Erinnerung Ians Verwandlung als Dauerschleife vor meinem geistigen Auge ab. Na schönen Dank auch! "Ja, genau den Punkt meinte ich." Wie schön, dass wenigstens einer von uns beiden wieder Spaß an der Unterhaltung hat... "Ich glaub, das mache ich jetzt immer, wenn sich bei mir düstere Gedanken einschleichen. Deine unschuldige Art vertreibt wirklich alle bösen Geister." Ich rolle mit den Augen. "Reicht es dafür nicht, wenn du dich vor einen Spiegel stellst? Dann müssten die Bilder doch auch in deinem Kopf wiedergegeben werden und du müsstest mich da nicht jedes mal mit reinziehen..." grummelnd drehe ich meinen Kopf in eine andere Richtung. "Ich hör ja schon auf. Dann wenden wir uns eben den Grundlagen zu." "Ich bitte darum." "Was, glaubst du, hat deinen Körper gestern Nacht in Alarmbereitschaft versetzt, als du neben mir am See standest?" Mit einem verschmitzten Grinsen sieht er mich an und natürlich fällt mir als Erstes wieder seine dämonische Gestalt ein, obwohl ich genau weiß, dass er das definitiv nicht gemeint hat. "Aki, konzentrier dich." kommt es mit mahnendem Unterton. "Wenn du gedacht hast, du musst nur zuhören und aufmerksam tun, muss ich dich enttäuschen. Auf einige Sachen sollst du schon selbst kommen, immerhin ist es vorteilhafter, wenn du auch verstehst, was ich dir erzähle. Also denk gefälligst mit." Ich komm mir gerade vor, wie in der Schule. "Etwas Anderes ist das hier auch nicht. Also, ich frage dich noch einmal: Was, glaubst du, hat deiner Aufmerksamkeit erregt?" Ich atme einmal tief durch und rufe mir die Bilder der letzten Nacht ins Gedächtnis. "Es hing mit dem zusammen, was du da mit dem Wasser gemacht hast. Ich war auch nur kurz angespannt, denn instinktiv habe ich gespürt, dass von dieser... ich nenn es jetzt einfach Magie, keine Gefahr ausgeht." "Was du gespürt hast, war die Anziehung von Elementarenergie. Ich habe dadurch meine Magie wieder aufgeladen, die ich zuvor verbraucht hatte, als ich dir gefolgt war." "Das hattest du also damit gemeint, als du sagtest, du seist erschöpft." Ein knappes Nicken seinerseits. "Jeder Dämon und auch jeder Engel gehört einem bestimmten Element an." "Also bist du ein Wasserdämon?" "Ja. Das Wasser ist sowohl meine Energiequelle, als auch meine Waffe. Auch wenn ich es in Form von Eis benutze." "Heißt das, du kannst deine Magie nur mit Wasser wieder aufladen?" "So ist es. Durch Schlaf allein stelle ich lediglich meine mentale Stärke wieder her. Aber meine Magie, sowie auch meine körperliche Stärke gewinne ich nur durch die Aufnahme meiner Elementarenergie zurück." "Du brauchst also beides: Schlaf und Wasser. Ohne genug Schlaf bist du nicht in der Lage, deine Magie zu benutzen?" "Nicht in der vollen Stärke. Ich wusste, du bist ein kluges Mädchen. Du begreifst schnell." "Und was meintest du dann heute morgen, als du sagtest, du bist kein Wolf und brauchst mehr als drei Stunden Schlaf? Soll das heißen, ich brauche weniger Schlaf, weil ich keine Magie benutzt habe? Oder kann ich das gar nicht?" Ein wissendes Schmunzeln umspielt seine Lippen. "Nah dran. Zuerst einmal solltest du wissen, dass dein Element die Erde ist. Erddämonen benutzen recht wenig Magie. Sie sind durchaus dazu in der Lage, allerdings brauchen sie sehr viel länger, um diese zu erlernen, da sie eher körperlich konditioniert sind. Die meisten Erddämonen haben eine tierische Gestalt aber um Magie anzuwenden, bedarf es einer humanoiden Gestalt oder wie bei den Drachen eines magischen Polsters innerhalb des Körpers." "Stop! Soll das heißen, ein feuerspuckender Drache ist mir deswegen in punkto Magie überlegen, weil er irgendwo einen Hohlraum gefüllt mit dieser besitzt und ich nicht?!" Empört darüber balle ich meine Hände zu Fäusten. Auch die, die noch immer mit Ians verbunden ist, was mir völlig entfallen ist. "Aki, das ist meine Hand, die du da gerade zerquetschst." Verwundert starre ich auf unsere verschränkten Finger, zügle meine Kraft und weiß nicht so recht, was ich darauf sagen soll. Das wäre der ideale Zeitpunkt, ihm meine Hand zu entziehen aber diese Berührung beruhigt mich auf eine ähnliche Weise, wie das Tätscheln meines Kopfes. "Wölfe genießen die Nähe. Es beruhigt sie, zerstreut ihre innere Unruhe. Darum..." Er deutet auf unsere Hände. "Je weiter der Nachmittag voranschreitet, umso aufgewühlter wirst du. Wir Dämonen sind Wesen der Nacht. Je näher diese rückt, umso mehr will dein Körper seine dämonische Gestalt annehmen." "Zumindest, bis ich es kontrollieren kann." Wieder nickt er nur knapp. Doch ich bin mir fast sicher, dass das nicht der ursprüngliche Grund gewesen ist, warum er seine Finger mit meinen verschränkt hat. Wobei der erste Schritt dieser Berührung ja eigentlich von mir ausgegangen ist. Aber egal. Ihn beruhigt diese Geste mindestens genauso sehr wie mich. Zugeben wird er das bestimmt nicht. So gut kann ich ihn mittlerweile doch einschätzen - er ist sehr verschlossen, wenn es um seine eigenen Emotionen geht. Ein kleiner Eisblock eben. Ob sich die Charakereigenschaften eines Dämons wohl nach seinem Element richten? Auf mich und Ian scheint es zumindest zuzutreffen. Kurz muss ich leise lachen, als ich an meine beste Freundin Rhea denke. Wenn sie ein Dämon wäre, dann ein Feuerdämon bei ihrer aufgedrehten Art und dem hitzigen Temperament. "Zurück zu den Elementen." Unterbricht er meine Gedanken. "Dir ist sicher aufgefallen, dass du letzte Nacht keinerlei Erschöpfung verspürt hast, trotz der weiten Strecke, die wir zurückgelegt haben." "Ich habe es auf meine neue Gestalt geschoben aber nach dem, was ich eben gehört habe, würde ich eher darauf tippen, dass es etwas mit meinem Element zu tun hat." Er sieht mich nur auffordernd an, anscheinend bin ich auf dem richtigen Weg. "Du brauchst Wasser, um deine Reserven wieder aufzuladen. Brauche ich dann... Erde?" Ein kleines Lächeln huscht über seine Züge aber noch immer antwortet er mir nicht. Ich soll demzufolge den Gedanken selbst zu Ende spinnen. Dann strengen wir unsere Gehirnzellen doch etwas an. Mein Element ist die Erde, dementsprechend brauche ich auch diese, um mich wieder aufzuladen. Erde... braucht es da eigentlich bestimmte Erde oder ist das völlig egal? Denn dann würde ja beinahe jeder Untergrund dazu zählen: Sand, steinige Pfade und ebenso der Waldboden, über den ich die letzte Nacht größtenteils geprescht bin. Heißt das dann, ich habe deswegen keine Erschöpfung verspürt, weil sich meine verbrauchte Energie sofort wieder aufgeladen hat? Einfach so, während ich gelaufen bin? "Du triffst den Nagel auf den Kopf, Aki." lobt Ian mich und plötzlich wird mir bewusst, dass er SCHON WIEDER in meinem Kopf ist! Er zuckt nur leicht amüsiert mit den Schultern. "Was bleibt mir anderes übrig, wenn du still vor dich hin grübelst und den Mund nicht auf bekommst." "Ich hätte schon noch etwas gesagt, keine Panik." entgegne ich schmollend. "Dann können wir ja fortfahren. Wie du richtig erkannt hast, beziehst du deine Energie aus der Erde. Und ja, es ist völlig egal, welche Erde. Ob Moor, Wüste, Gebirge oder Wald spielt da keine Rolle. Genau deswegen sind es die Dämonen und Engel der Erdelemente, die zur Verteidigung der Welten eingeteilt sind. Euer Energievorrat ist im Kampf nahezu unerschöpflich." "Aber sollte das nicht auch für die Windelemente gelten?" "Bedingt. Außerdem wäre es nicht ratsam, Wind- und Erddämonen zusammen an einem Ort zu lassen." "Warum nicht?" "Die beiden Elemente kommen nicht sonderlich gut miteinander aus." Verdutzt ziehe ich eine Augenbraue hoch. Was soll das nun wieder heißen? "Das heißt ganz einfach, dass sich Wind und Erde, sowie Feuer und Wasser gegenseitig an die Gurgel gehen würden. Du kennst das sicher: In deiner Vergangenheit gab es doch bestimmt auch jemanden, den du von Anfang an nicht leiden konntest und der so gegensätzlich zu dir war, dass ihr niemals auch nur im Ansatz auf einen gemeinsamen Nenner gekommen wäret." "Solche persönlichen Feinde hat wohl jeder." Ian lacht bei meiner zerknirschten Miene auf und drückt kurz meine Hand. "So kann man es auch ausdrücken. Aber umgekehrt gibt es auch Elemente, die sich gegenseitig stärken und damit ungeahnte Kräfte freisetzen können. Wind facht Feuer an und kann gigantische Feuerstürme erzeugen. Während Erde die Struktur von Wasser verstärkt und es resistenter gegen Angriffe macht." Ich mustere ihn interessiert. Meine Kraft würde also seine Magie verstärken? Überrascht sieht er mich an. "So verlockend die Vorstellung auch ist, meine Kräfte mit deinen zu bündeln, so sehr würde ich es doch bevorzugen, nicht in eine solche Situation zu geraten, in der dies notwendig sein wird." "Entschuldige. So war das nicht gemeint..." gebe ich beschämend zurück. Wie konnte ich nur so dumm sein und dabei vergessen, dass er dabei automatisch an eine Kampfhandlung denkt. Und vermutlich auch an die Ereignisse von vor 500 Jahren. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ich darf so etwas nicht denken! Er kann es doch hören und dann kommen die Erinnerungen erst recht hoch. "Du solltest dich nicht für etwas schelten, für das du nichts kannst. Niemand kann seine Gedanken vollständig kontrollieren. Und denkst du nicht, dass ich mittlerweile alt genug bin, um da drüber zu stehen? Ich kann die Vergangenheit nicht ändern und ich habe längst gelernt mit den Folgen von damals zu leben." "Du wirst mir nicht erzählen, was damals vorgefallen ist, oder?" "Nein." Das habe ich bereits geahnt. Aber einen Versuch ist es wert gewesen. Er entzieht mir seine Hand, streckt sich kurz, bevor er sich zur Seite auf mein Bett fallen lässt. Damit distanziert er sich nun völlig von mir. Anscheinend bin ich gerade einen Schritt zu weit gegangen. "Wenn ich vorher geahnt hätte, wie anstrengend deine Neugier ist, hätte ich abgelehnt, dich auszubilden..." brummt er unzufrieden. Jetzt bin ich also schon anstrengend? Und das nur, weil ich ihm eine Frage zu seiner Vergangenheit gestellt habe. Soviel also zu seiner überlegenen Haltung dem Thema gegenüber, pah! "Du musst das hier nicht tun, wenn es dir so auf die Nerven geht, Ian. Sag mir einfach, wie ich zu meiner Familie komme, den Rest schaffe ich dann auch allein. Ich bin immerhin kein Kind mehr." Er will Distanz? Bitteschön! "Du bist noch nicht so weit. Würde ich dich jetzt in die Untere Welt lassen, würdest du wahrscheinlich von einem Inkubus aufgegabelt und verführt oder gar von Schatten angefallen werden. Unsere Heimat ist kein Spielplatz aber das wirst du noch früh genug merken. Es ist sicherer, wenn du vorerst noch hier bleibst und so viel wie möglich lernst. Sobald ich dich zu deiner Familie gebracht habe, wirst du mich ohnehin los sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mir auch deine weitere Ausbildung noch aufbürden werden. Dafür gibt es sicher irgendwo einen ausreichend qualifizierten Erddämonenausbilder." "Steht auf meiner Stirn irgendwo »Unerfahrene Jungfer« oder wie?" motze ich zurück. "Ob du es glaubst oder nicht aber du hast fast Recht. Ein Inkubus spürt genau, ob du noch unberührt bist oder nicht. Das Gleiche gilt natürlich auch für die weiblichen Vertreter. Und ja, auch die Schatten haben so etwas wie einen sechsten Sinn für unerfahrene Kämpfer. Sie stürzen sich grundsätzlich auf das schwächste Glied der Kette." Angesäuert erhebe ich mich vom Bett und werfe einen letzten kurzen Blick auf den Blauhaarigen. "Noch irgendetwas, was ich wissen sollte?" frage ich mit völlig unterkühlter Stimme. "Für den Moment nur zwei Dinge: Erstens: Freundschaftliche Gefühle suchst du bei mir vergebens. Ich bin dein Ausbilder, nicht dein Spielgefährte. Merk dir das! Wenn du Freunde willst, such am besten bei den Feuerdämonen. Bei all den Unterschieden von Erde und Feuer, sind sie sich doch wieder so ähnlich, dass sie gar nicht anders können, als in Freundschaft miteinander zu leben. Das Gleiche gilt natürlich auch für Wind und Wasser. Und zweitens: Wenn du jetzt vorhast, zu gehen, bleib in der Nähe, damit ich dir im Notfall helfen kann. Auch hier gibt es mehr als genug Unholde und du bist ein begehrtes Ziel, schon seit deiner Geburt, ob du es glaubst oder nicht. Du bist die Tochter des Alphapaares des Wolfsrudels, noch dazu ledig und somit die derzeit begehrteste Junggesellin im ganzen Dämonenreich." Kapitel 7: Schmerz ------------------ Kapitel 7: Schmerz Schneller, als ich denken kann, habe ich mir meine Jacke übergeworfen, meinen Schlüssel geschnappt und die Wohnung verlassen. Was ist nur in ihn gefahren? Warum ist er plötzlich so kühl und abweisend? Es ist doch nicht meine Schuld, dass er sich wie ein Teenager verhält, nur weil er nicht über die Geschehnisse der Vergangenheit reden kann. Anscheinend ist ihm seine Eismagie zu Kopf gestiegen oder er hat sie sich zu sehr zu Herzen genommen - haha, jetzt mache ich schon Wortwitze. Warum nehme ich mir seine Reaktion eigentlich so sehr zu Herzen? Mitten im Park, der sich direkt hinter unserem Haus befindet, mache ich kurz Halt und richte meinen Blick gen Himmel. Seit unserer ersten Begegnung vor über einem Monat, habe ich eine unerklärliche Sympathie für den blauhaarigen, jungen Mann entwickelt. Und in den letzten 24 Stunden ist diese exponentiell gewachsen. Packe ich meine Emotionen gerade in mathematische Formeln? Oh Gott, ich muss mich echt dringend ablenken! Kopfschüttelnd setze ich meinen Weg fort zum östlichen Ausgang des Parks. Von hier aus ist es nur noch ein Katzensprung zu Tara Taminos Tanzstudio, meinem ganz persönlichen Rückzugsort. Früher bin ich oft hier gewesen aber seit Beginn meines Studiums sind meine Besuche rar geworden. Dabei mag ich kaum etwas so sehr, wie zu tanzen. Etwas schüchtern betrete ich die große Halle und erblicke in der hintersten Ecke Tara Tamino. Doch noch mache ich nicht auf mich aufmerksam, denn sie ist nicht allein. Ihr Tanzpartner Jee ist gerade dabei, sie im Takt der Musik herumzuwirbeln und gebannt verfolge ich die geschmeidigen Bewegungen der beiden, die so harmonisch und sinnlich sind, wie man es nur bei professionellen Tanzpaaren sehen kann. Ich staune immer wieder, wie perfekt die Zwei zusammen agieren. Jee ist nur knapp einen Kopf größer als Tara, braungebrannt mit strahlend grünen Augen und kurzen, schwarzen Haaren, die teils an seiner Stirn kleben. Das und die Tatsache, dass sein Hemd mittlerweile mehr offen als zugeknöpft ist, weist eindeutig darauf hin, dass sie schon seit mehreren Stunden üben. Auch an Tara geht so etwas nicht spurlos vorbei. Sie trägt nur noch ein bauchfreies Top, wodurch man ihre verschwitzte Haut umso besser im Licht der Neonlampen glitzern sehen kann, und auch ihr kleben vereinzelte Strähnen ihrer langen braunen Locken im Gesicht, obwohl sie diese zu einem Zopf zurück gebunden hat. Das Musikstück endet und schwer atmend lachen die Beiden sich an. "Das war spitze, danke Jee." Lächelnd nickt er ihr zu und reicht ihr eines der beiden zuvor bereit gelegten Handtücher. "Manchmal frage ich mich, warum du uns so hart trainieren lässt, Tara. Von perfekt gibt es keine Steigerung." Lachend schlägt sie mit dem Handtuch nach ihm und erst jetzt bemerkt sie mich. "Oh, Aki. Was treibt dich denn hier her? Solltest du nicht in der Uni sitzen und fleißig lernen? Es stehen doch bald Prüfungen an." Ich rolle mit den Augen. "Es stehen IMMER Prüfungen an. Hi erstmal." Wir umarmen uns herzlich zur Begrüßung. "Ich brauche einfach eine Pause. Muss den Kopf dringend frei kriegen. Ist Tommas auch da?" Ich schiele zu einer Tür, die diesen Raum von einem weiteren abgrenzt. Dahinter befindet sich eine ähnlich große Halle. Tommas, ein Junge in meinem Alter, ist so etwas wie mein Trainingspartner. Von allen Tanzpartnern, die ich bisher gehabt habe, harmoniert er am besten mit mir. Wie auf's Stichwort öffnet sich die Tür und ein zerstreut wirkender Blondschopf tritt in die Halle. "Tara, kannst du mir helfen? Ich komm mit der Choreo einfach nicht weiter, es ist zum Kotzen. Ohne Aki komm ich echt nur halb so gut voran und..." er blinzelt zwei Mal und starrt fassungslos über Taras Schulter zu mir. Dann verziehen seine Mundwinkel sich zu einem gigantischen Grinsen und seine azurblauen Augen strahlen mir regelrecht entgegen. "Aki! Hey, Kleines. Was machst du denn hier? Ist das schön, dich zu sehen!" In seiner überschwänglichen Freude hebt er mich hoch und vollführt einige Drehungen mit mir, während ich mich völlig überrumpelt einfach nur an ihm festkralle. "Tommas, halt, nicht so stürmisch." kichere ich. Ich habe fast vergessen, wie sehr mir diese Menschen hier am Herzen liegen. Tara und Tommas sind für mich von Anfang an so etwas wie ältere Geschwister gewesen. Umgekehrt sehen sie mich auch als ihre kleine Schwester an. Entsprechend wenig verwunderlich ist diese herzliche Begrüßung. "Du kommst wie gerufen, ehrlich. Ich hoffe, du hast Lust und Zeit zum Tanzen?" Voller Vorfreude strahlt er mich an. "Genau dazu bin ich hergekommen. Ich ziehe mich nur eben um." Damit flitze ich durch die Halle. Im hinteren Teil befindet sich, etwas versteckt, eine weitere Tür, die zu den Umkleiden führt. Hier habe ich immer Sachen für's Training gebunkert. Meine Hose und mein Oberteil fliegen achtlos in meinen Spind und werden durch eine schwarze Leggins und ein bauchfreies, eng anliegendes weißes Top ersetzt. Kaum angekommen in der zweiten Halle, hebt Tommas mich hoch, dreht sich einmal schwungvoll mit mir, um mich abzusetzen und mich eine weitere Drehung vollführen zu lassen. Nur einen Wimpernschlag später zieht er mich in Tanzpose und dirigiert mich in den Takt für einen Mambo. Musik spielt keine. Wozu auch? Wir haben unsere ganz eigene Melodie im Ohr, zu der wir uns bewegen. Das ist schon immer so gewesen. "Ich staune immer wieder. Du warst nun so lange nicht hier aber du hast nicht einen Schritt vergessen." Grinst der Blondschopf, lässt mich erneut eine Drehung vollführen, bevor er mich wieder an sich heran zieht. "Ach komm, es waren nur zwei Monate. Auch wenn sie mir wie eine Ewigkeit vorgekommen sind..." "Sag ich ja. Warum schmeißt du dein blödes Studium nicht und steigst endlich bei uns ein? Du hast so viel Potenzial als Tänzerin. Außerdem wäre Tara begeistert, wenn du die Tanzschule weiterführen würdest." Hoffnungsvoll sieht er mich an, doch ich seufze nur. Wie oft haben wir dieses Gespräch in den letzten zwei Jahren nun schon geführt? 100 Mal? 200 Mal? "Tommas..." fange ich leidig an. Wir haben in unseren Tanzschritten inne gehalten. "Ich weiß schon. Dir bedeutet dein Studium einfach zu viel. Aber ich sehe doch, wie sehr du das Tanzen liebst, wie glücklich es dich macht. Wirf das nicht einfach hin." "Das tue ich doch auch gar nicht. Aber es ist nur ein Hobby. Ich könnte mir niemals vorstellen, Profitänzerin oder Tanzlehrerin zu werden." "Das sagst du jedes Mal." Er lacht leise, lehnt seine Stirn gegen meine und sieht mir tief in die Augen. "Warum fragst du mich dann immer wieder?" Seine Finger streichen über meine Arme. Normalerweise macht mir das nichts aus, aber jetzt gerade hat sich irgendetwas verändert. Seine Haltung ist eindeutig angespannter, als sie es eben noch beim Tanzen gewesen ist. "Weil wir uns verändert haben, Aki. Wir sind keine Kinder mehr. So langsam sollten wir auch an unsere Zukunft denken, Pläne schmieden..." Seine Finger streifen mein Kinn, Nervosität breitet sich in mir aus. Mir gefällt ganz und gar nicht, in welche Richtung dieses Gespräch geht. "Tommas, lass das bitte." Ich greife nach seinen Händen und drücke sie zur Seite, entferne mich dabei einige Schritte von ihm. Allmählich wird mir seine Nähe unangenehm. "Willst du mir erzählen, du fühlst nicht das Gleiche wie ich?" startet er einen erneuten Versuch. Abwehrend hebe ich meine Arme, als er seine Hand nach mir ausstreckt. "Du warst für mich immer wie ein großer Bruder, ein Beschützer, ein guter Freund. Nicht mehr und nicht weniger. Und daran wird sich auch nie etwas ändern." "Woher willst du das wissen? Gib mir wenigstens eine Chance!" "Nein!" Mit Nachdruck hebe ich mahnend meinen Zeigefinger und verlasse schnellen Schrittes die Halle, vorbei an einer verdutzt drein blickenden Tara, zurück in die Umkleidekabine, und knalle erst einmal meine Spindtür derart kraftvoll zu, dass sie sofort wieder auffliegt. "Verdammt!" brülle ich das wehrlose Metallgebilde an und trete einmal dagegen, dass es scheppert. Warum hat der Idiot auch alles kaputt machen müssen? Tränen bahnen sich ihren Weg über meine Wangen und zuckend gleite ich an meinem verbeulten Spind hinab auf den Boden. Ich habe doch nur kurz in meine heile Welt flüchten wollen. Fernab von Dämonen, dem blauhaarigen Magier und anderen übernatürlichen Katastrophen. Und ausgerechnet heute kommt Tommas mir mit so einer stümperhaften Liebeserklärung daher. Ob das daran liegt, was Ian zuvor gesagt hat? Aber kann etwas, das eigentlich nur für die Untere Welt von Bedeutung ist, auch hier in der Irdischen Welt Konsequenzen haben? Meine Nägel bohren sich in meine Oberarme und zu den heißen Tränen der Verzweiflung kommt nun auch noch mein kochendes Blut. Meine aufgewühlten Emotionen müssen mein Dämonenblut anstacheln. Ich muss nach Hause und zwar so schnell wie nur möglich! Zitternd erhebe ich mich, stopfe meine Sachen in einen Beutel, der sich mit unzähligen anderen in meinem Spind tummelt, werfe mir meine Jacke über, ohne mich umzuziehen und eile aus dem Tanzstudio. Ich beschließe, mich nicht noch einmal umzudrehen, ignoriere Taras Fragen und Tommas' verzweifelte Rufe und laufe einfach so schnell ich kann zurück zu meiner Wohnung. Auf dem Weg durch den Park scheint sich zumindest mein Blut wieder etwas zu beruhigen. Ein kurzer Blick über meine Schulter garantiert mir, allein zu sein und nicht verfolgt zu werden. Es ist weise gewesen, einige Schleichpfade fernab der Hauptwege zu nehmen. Somit habe ich einen Augenblick für mich. Natürlich wäre es schön, wenn ich endlich jemanden an meiner Seite hätte. Jemanden, der immer für mich da ist. Jemanden, dem ich voll und ganz vertrauen kann. Jemanden, der mich nicht für das verurteilt, was ich jetzt bin, und mich so nimmt, wie ich bin. Aber Liebe ist mit einem Mal etwas derart Großes für mich geworden, dass ich nicht eben einfach so testen kann, ob Tommas und ich eine Zukunft gehabt hätten. Würde dieser Test scheitern, wäre ich auf ewig allein. Spätestens aber in etwa 60 Jahren, wenn er alt und gebrechlich und sein sterbliches Leben sich dem Ende entgegen neigen würde, ich aber um keinen Tag gealtert wäre. Habe ich mich deswegen nie verliebt? Weil mein Innersten bereits gewusst hat, was ich wirklich bin. Ein unsterbliches Leben und die Liebe eines Sterblichen sind eben nicht füreinander gemacht. Ein bitteres Lächeln huscht über meine Lippen. Wie ätzend kann dieser Tag eigentlich noch werden? Als ich endlich den Park verlasse und auf das Wohnhaus zusteuere, in dem ich seit fast drei Jahren mit Rhea zusammen lebe, überkommt mich ein mulmiges Gefühl, gepaart mit einer unschönen Vorahnung. Mulmig ist mir hauptsächlich deswegen, weil ich nicht weiß, wie mein Mentor derzeit auf mich zu sprechen ist und ich einen erneuten Konflikt gern vermeiden möchte. Das ungute Gefühl überkommt mich dadurch in Bezug auf meine beste Freundin - sie darf ja gar nichts von meinem neuen Ich wissen! Und nicht nur das. Wahrscheinlich werden unsere Wege sich nun für immer trennen. Diese Erkenntnis trifft mich härter, als jeder Schlag. Rhea ist mir immer eine gute Freundin gewesen. Sie ist eine Seele von Mensch, zwar sehr temperamentvoll und sie trägt ihr Herz auf der Zunge aber sie ist immer - wirklich immer! - für mich da gewesen, wenn ich Hilfe gebraucht habe. Was soll ich denn jetzt ohne sie machen? Wieder den Tränen nahe, starre ich hinauf zu unserer Wohnung. Wie konnte es passieren, dass mein Leben plötzlich derart kompliziert geworden ist? Völlig unerwartet streift eine mächtige Aura mein Bewusstsein und ich zucke zusammen. "Aki? Wo warst du so lange? Ich hab dir doch gesagt, du sollst in der Nähe bleiben!" Diese Stimme würde ich unter tausenden wiedererkennen! Ian. Aber wieso kann ich seine Stimme in meinem Kopf hören, ihn aber nirgends sehen? "Mentale Kommunikation. Das wirst du auch noch lernen müsse,n aber nicht jetzt. Deine kleine Freundin hat sich vorhin bei dir gemeldet und sich für 17 Uhr angekündigt. Sie wird herkommen." Warte - was? Rhea kommt her? Wie spät ist es denn jetzt? "16:55 Uhr. Lass sie auf keinen Fall in die Wohnung! Ich habe dein Chaos noch nicht vollständig beseitigen können. Aber versuche dieses Mal bitte trotzdem in der Nähe zu bleiben. Du hast selbst gemerkt, was für eine Wirkung du mittlerweile auf Männer hast. Das wird kein Einzelfall bleiben." Wütend fixiere ich mein Zimmerfenster. Ich wette, er steht direkt dahinter! Was heißt hier bitteschön mein Chaos? Er ist doch Schuld daran gewesen, dass ich die Beherrschung verloren habe. Und wie kann er es nur wagen, mir derart nach zu spionieren?! "Ich habe doch gesagt, ich passe auf dich auf. Wäre der Typ handgreiflich geworden, hätte ich eingegriffen." Zufrieden und gnädiger stimmt diese Antwort mich nicht gerade aber ich weiß, dass sie ehrlich ist. Also werde ich mich wohl damit zufrieden geben müssen. "AAAAAkiiiiiiiii!" dringt es fröhlich an mein Ohr. Ich fahre panisch herum und blicke auf die gegenüberliegende Straßenseite. Verflucht - seit wann ist Rhea denn bitteschön so pünktlich? Ich bin seelisch und moralisch noch gar nicht darauf eingestellt, mich jetzt schon mit ihr zu unterhalten. Geschweige denn, mich der Tatsache zu stellen, sie für immer aus meinem Leben ausschließen zu müssen. Zügig und voller Elan überquert sie die Straße und zieht mich direkt in eine Umarmung. Etwas widerwillig lege ich meine Arme um ihren zierlichen Körper. "Es ist so schrecklich langweilig ohne dich in der Uni. Geht es dir schon wieder besser? Du kannst doch bei den Temperaturen nicht nur in Leggins durch die Gegend laufen. Mensch, Aki, was machst du nur?" plappert sie einfach drauf los, und ich muss hart mit mir kämpfen, nicht einfach in Tränen auszubrechen. Schon wieder. Vorsichtig schiebe ich sie etwas von mir weg, lächle sie traurig an. "Rhea, ich muss mit dir reden." "Jederzeit. Was ist denn passiert? Du guckst so ernst." Forschend blickt sie mich an, doch ich schüttel nur mit dem Kopf. "Nicht hier." Ich deute stattdessen auf ein kleines Café zwei Blocks weiter. Wir haben einen kleinen Tisch in der hintersten Ecke besetzt und etwas zu trinken bestellt. Schweigend starre ich auf meine Hände, die zusammengefaltet vor mir auf dem Tisch liegen. Auch als die Kellnerin unsere Getränke hingestellt hat, schaffe ich es einfach nicht, das Wort zu ergreifen. Während der gesamten Zeit spüre ich deutlich, wie meine beste Freundin mich eingehend mustert. Wie soll ich ihr nur etwas erklären, was ich nicht erklären darf? Lustlos nippe ich an meiner heißen Schokolade. Ich weiß, dass ich sie unter keinen Umständen belügen will, aber vollkommen ehrlich sein, kann ich auch nicht. Also bleibt mir nur übrig, alles so zu verpacken, dass sie nichts hinterfragen wird. "Rhea?" versuche ich mit halblauter Stimme anzusetzen. Natürlich sieht sie mir sofort in die Augen, versucht in mir zu lesen, was mich so aufwühlt. "Du weißt, dass ich immer für dich da bin, Aki." Aufmunternd lächelt sie mich an, und kurz huscht auch ein Lächeln über meine Lippen. "So wie du das sagst, klingt es, als hätte ich etwas ausgefressen." "Hast du nicht?" Etwas verblüfft legt sie ihren Kopf schief, schaut mich aus ihren rehbraunen Augen an und beugt sich leicht in meine Richtung. Ruhig schüttel ich den Kopf, ein mildes Lächeln auf meinen Lippen. "Nein." "Was bedrückt dich dann?" "Das ist kompliziert." Das ist es wirklich. Überlegend falte ich meine Hände vor meinem Gesicht zusammen und lehne meine Stirn leicht dagegen. "Ist es wegen Tommas?" schießt sie einfach ins Blaue und überrascht fahre ich wieder hoch. "Wie kommst du jetzt darauf?" "Du hast die Klamotten an, die du sonst nur zum Tanzen trägst. Du warst also bei Tara. Und so zerstreut, wie du wirkst, würde ich tippen, unser lieber Blondschopf hat endlich seinen Mut zusammen genommen und dir seine Gefühle gestanden." "Du wusstest davon?" fahre ich sie harsch an. "Natürlich. Du etwa nicht? Das war sowas von offensichtlich, dass er auf dich steht." Seufzend lässt sie sich in ihren Stuhl zurückfallen. "Aber wie ich dich kenne, hast du ihm eine Abfuhr verpasst. Man, Aki, so wirst du noch als alte Jungfer sterben." mault sie weiter. Ich muss mich sehr beherrschen, jetzt nicht an ihre Gurgel zu springen oder anderweitig die Kontrolle zu verlieren. Mein Blut beginnt gerade wieder, gefährlich zu brodeln. Bitte nicht. Nicht jetzt. Nicht hier. Und schon gar nicht vor Rhea! Also atme ich tief ein und wieder aus, versuche, meinen Herzschlag zu kontrollieren und wieder herunter zu fahren. "Vergiss es, Rhea. Er ist nicht der Richtige." "Und woher willst du das wissen, wenn du es nicht einmal versuchst?" "Vertrau mir einfach. Ich weiß es eben." "Also ist er gar nicht der wirkliche Grund, warum du mit mir reden wolltest?" "Nein." Und dann kehrt wieder Stille ein zwischen uns. Genervt greift die Schwarzhaarige nach ihrer Kaffeetasse und starrt mürrisch in die schwarze Plörre. "Ich werde die Stadt verlassen müssen." eröffne ich ihr dann nach einigen weiteren schweigsamen Minuten. Rhea fällt fast die Tasse aus der Hand. "Wieso? Was hast du angestellt? Du kannst mich hier doch nicht allein lassen!" "Es ist wegen etwas, das mit meiner Vergangenheit zu tun hat. Und meiner Zukunft. Ich habe gestern etwas über mich erfahren, das mich zu diesem Schritt zwingt." Nicht die ganze Wahrheit aber auch keine Lüge. "Ok." kommt es langsam von meiner besten Freundin, bevor sie sich mit einem verschwörerischen Grinsen zu mir vorbeugt. "Wann hauen wir ab?" Jetzt bin ich diejenige, die völlig verdattert guckt. Hat sie gerade "wir" gesagt? "Ich hab sowieso keine Lust mehr auf dieses ätzende Studium. Lass uns unsere Sachen packen und abhauen. Wir gehen zusammen auf Reisen, erkunden die Welt und ergründen nebenbei alle Geheimnisse, die dich betreffen." Sie ist Feuer und Flamme, völlig überzeugt davon, dass wir das gemeinsam durchziehen werden. "Das geht doch nicht, Rhea. Was ist mit deiner Zukunft? Deiner Familie? Du kannst doch nicht einfach alles stehen und liegen lassen." "Ich bin erwachsen. Ich kann tun und lassen, was mir beliebt. Ich hab genug Geld auf die Seite gelegt, dass es für eine Weile reichen sollte, und ansonsten können wir ja nebenbei ein bisschen jobben, um wieder an Kohle zu kommen. Das wird ein riesiges Abenteuer!" "Du stellst dir das viel zu einfach vor. Die Welt ist doch kein Spielplatz!" Sie wischt meinen Einwurf mit einer Handbewegung weg und grinst einfach nur breit. "Du weißt besser als jede andere, dass ich mich sehr wohl wehren kann. Ich bin nicht so nett, wie ich aussehe. Außerdem wären wir doch nicht allein. Wir bleiben zusammen. Ich lasse dich nicht im Stich!" Fast steckt sie mich mit ihrer Euphorie an und lässt mich völlig meine verzwickte Lage vergessen. Aber eben nur fast. Traurig senke ich den Kopf. "Es geht nicht." Sie greift nach meinen Händen, lächelt mich aufmunternd an. "Mach dir nicht so viele Gedanken, Kleines. Ich bin bei dir. Gemeinsam schaffen wir alles." Ihre Worte rühren mich beinahe zu Tränen. Ich entziehe ihr meine Hände wieder, verstecke sie unter dem Tisch in meinem Schoß. "Ich muss das alleine machen." flüstere ich kaum hörbar. "Du musst gar nichts alleine machen! Wir sind doch beste Freundinnen." "Versteh mich doch, Rhea! Da, wo ich hingehe, kann ich dich nicht mitnehmen. Ich weiß ja selbst nicht, was mich erwartet. Ich will dich nicht unnötig in Gefahr bringen. Ich kann... ich DARF dich da nicht mit reinziehen. Es tut mir Leid." Meine Hände krallen sich in den dünnen Stoff meiner Leggins. Hoffentlich hab ich eben nicht zu viel verraten. Aber es stimmt ja. Ich würde sie nur in Gefahr bringen, wenn ich sie weiterhin in meiner Nähe dulden würde. Ein resigniertes Seufzen lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf meine Gesprächspartnerin. "Aber du... du lässt doch ab und an von dir hören, oder?" Ihre Niedergeschlagenheit ist deutlich aus ihrer Stimme zu hören. "Ich... ich werde es versuchen." "Aki, du kannst jederzeit zu mir kommen, hörst du. Egal wann. Ich werde immer für dich da sein. Wir werden immer beste Freundinnen bleiben." Und dann bricht der Staudamm doch. Ich springe auf, falle Rhea regelrecht um den Hals und drücke sie fest an mich, lasse meinen Tränen freien Lauf. "Immer." schluchze ich und "Danke." Sie hält mich einfach nur fest, streicht mir sanft über den Kopf, beruhigt damit unwissentlich mein Dämonenblut, den Wolf in mir, der am liebsten gerade das gesamte Café auseinander nehmen würde. Sowie alles andere, was mich zu diesem schweren Schritt zwingt. Etwa eine Stunde später stehe ich vor meiner Wohnungstür. Allein. Meinen Schlüssel halte ich zwar in der Hand, bin aber nicht bereit, ihn zu benutzen. Ich kann das einfach nicht. Ich schaffe das nicht allein. Ich will Rhea nicht zurücklassen. Auch wenn mir der Rest der Welt gerade irgendwie gestohlen bleiben kann, aber nicht meine beste Freundin. Ich will nicht in einer Welt leben, in der es sie nicht gibt. Leise wird die Tür geöffnet und schwingt nach innen auf. Noch immer stehe ich wie zur Salzsäule erstarrt einfach nur da, schaffe es gerade so, meinen Kopf anzuheben und in Ians Gesicht zu blicken, dessen Züge derartig viel Verständnis zeigen, dass ich mich am liebsten bei ihm ausheulen würde. Doch ich senke nur meinen Kopf wieder, schlurfe wortlos an ihm vorbei und in mein Zimmer. Es ist längst dunkel geworden und ich liege zusammengekauert auf meinem Bett. Die Energie, die mich letzte Nacht noch immer weiter angetrieben hat, scheint sich zusammen mit meinen Tränen davon gestohlen zu haben. Leise tritt Ian zu mir. Dass ich ihn dennoch hören kann, bestätigt mir nur, was ich bereits geahnt habe: Ich bin nicht mehr in meiner menschlichen Gestalt. Seine Hand streichelt über meinen Kopf, krault mir die Ohren. "Du warst heute sehr tapfer, Aki." meint er im Flüsterton. Ich schließe nur meine Augen. Eigentlich ist er gerade eines der letzten Lebewesen, die ich sehen will. Aber leider ist er derzeit der Einzige, der mich so sehen darf. "Das mit deiner Freundin tut mir Leid. Ich weiß, wie es ist, wenn man einen geliebten Menschen zurücklassen muss." Nun doch wieder etwas neugieriger, öffne ich meine Augen und sehe ihn an. "Ich habe vor mehr als 800 Jahren auch meine damalige Familie und meine Freunde verloren. Als mir von meinem Mentor eröffnet wurde, was ich bin und wo mein eigentlicher Platz ist, war ich anfangs genauso verwirrt wie du. Allerdings hat er mir nicht die Zeit gelassen, mich zu verabschieden, sondern mich noch in der selben Nacht mitgenommen. Als ich dann 50 Jahre später endlich selbst in der Lage war, mich zwischen den Welten zu bewegen, gab es mein Heimatdorf nicht mehr. Ich weiß bis heute nicht, was aus den Menschen geworden ist, die mir so viel bedeutet haben. Oder aus dem Mädchen, das ich damals so sehr geliebt habe..." Ich drehe meinen Kopf etwas, lege ihn auf seinem Oberschenkel ab. Irgendwie überkommt mich gerade das Gefühl, ihn umarmen zu wollen, ihm Trost zu spenden. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er das nicht will. Also zeige ich ihm mit dieser kleinen Geste mein Verständnis. Sanft lächelt er mich an. "Ist schon gut, Aki. Es ist lange her. Vergiss einfach, was ich eben gesagt habe." Ich schließe einfach nur wieder meine Augen. Nein, vergessen kann ich es nicht. Denn es hat mir mehr als deutlich gezeigt, dass hinter dieser Fassade sehr wohl ein menschliches Herz schlägt. Ein Herz, das noch immer trauert und das einmal geliebt hat. Ich weiß nicht, wie das ist. Denn ich habe nie jemanden wirklich geliebt. Aber wenn mich der Verlust meiner besten Freundin schon derart schmerzt, wie viel größer muss der Schmerz dann erst sein, den er verspürt? "Hör schon auf darüber nachzugrübeln." Er schiebt mich wieder von sich und steht auf. "Vielleicht ist es besser, wenn wir heute Nacht hier bleiben. Wir brechen dafür morgen zeitig auf. Versuch zu schlafen." Kaum hat er die Tür hinter mir zugezogen, dämmere ich auch schon weg. Dieser Tag ist mehr als nur anstrengend für mich gewesen. Kapitel 8: Mentale Kommunikation -------------------------------- Kapitel 8: Mentale Kommunikation Es ist Samstagabend und zum zweiten Mal in dieser Woche befinde ich mich weit außerhalb der Stadt an einem wunderschönen See mitten in den Bergen. Alles wirkt so friedlich. Die laue Nachtluft weht durch mein dichtes Fell und lässt die Blätter der Bäume einige Meter weiter leise rascheln. Es könnte so schön sein... Wäre da nicht ein gewisser blauhaariger Dämonenausbilder, der mich gerade dezent grießgrämig mustert. Leider, wie ich zugeben muss, zurecht. Denn ich tue alles, außer ihm konzentriert zuzuhören. Aber was erwartet er denn bitteschön auch von mir? Ich habe mich erst gestern mit dem Gedanken anfreunden müssen, meine beste Freundin für immer zu verlieren. Und das nur, damit das Geheimnis der drei Welten gewahrt bleibt. Wütend verschränkt Ian die Hände vor seiner Brust und funkelt mich böse an. Der stechende Blick seiner grünen Augen lässt mich zusammenfahren. Dabei hat er nicht einmal etwas gesagt. Oder habe ich es nur überhört, weil ich mit meinen Gedanken schon wieder ganz woanders gewesen bin? "Du willst mich nicht wirklich wütend erleben, Aki." kommt es sehr gefasst von ihm. Seine Stimme ist eindeutig zu ruhig und ich ziehe meinen Kopf etwas ein. "Ich bin ja gewillt, dir etwas beizubringen aber du musst auch gewillt sein zu lernen. Sonst können wir uns das hier schenken." Und da ist er wieder, der kalte Eisblock. Ich schüttel kurz meinen Kopf, versuche, mich nur auf Ian zu konzentrieren und sehe ihn an. Kurz huscht ein zufriedener Ausdruck über seine Züge. Aber wirklich nur ganz kurz. "Also noch einmal von vorne." beginnt er im oberlehrerhaften Tonfall. "Mentale Kommunikation. Du hast ja gestern bereits Bekanntschaft damit gemacht. Im Grunde ist es nichts anderes, als das Eindringen deines Geistes in den eines anderen - oder mehrerer - um Gedanken zu übertragen, ohne dass andere es hören können. Einzige Ausnahme sind Ausbilder, da diese ja in der Lage sind, jedwede Gedanken ihrer Spezies zu lesen." Somit könnte ich bewusst mit Ian kommunizieren, obgleich ich mich in meiner dämonischen Gestalt befinde? "Ganz genau. Im Übrigen ist es die gängige Kommunikation im Wolfsrudel. Du solltest sie also beherrschen, bevor ich auch nur in Erwägung ziehe, dich in die Untere Welt zu bringen." Was muss er da bitte erst in Erwägung ziehen? Ich denke, ich gehöre in die Untere Welt - vielleicht würde ich sogar besser lernen, wenn ich nur endlich einmal dorthin könnte. Warum nur gehen mir gerade wüste Beschimpfungen auf meinen Mentor durch den Kopf? Ich bin mir dessen sehr wohl bewusst, dass er sie hören kann, aber unterdrücken kann ich es auch nicht. Will ich auch gar nicht. Wozu auch? Er hat selbst gesagt, dass das hier lediglich eine Mentor- Schüler- Beziehung ist. Kein Grund also, nett zu ihm zu sein. Der Zug ist abgefahren. "Ein bisschen Respekt wäre trotzdem angebracht, Aki." kommt prompt der Tadel, mit dem ich bereits gerechnet habe. Ja, ja. Ich werde ihm schon nicht den Kopf abbeißen... "Ich bezweifle, dass du dafür auch nur nahe genug an mich heran kommen würdest." Spöttisch verzieht er seine Mundwinkel und mir entfleucht ein drohendes Knurren. "Na komm, versuch's doch." Der feine Regen aus Eiskristallen und Tröpfchen umgibt ihn wieder und er wechselt von seiner menschlichen zu seiner dämonischen Gestalt. Ist ihm eigentlich bewusst, dass das verdammt unfair ist? Er kann fliegen - ich nicht! Dennoch gehe ich auf seine Herausforderung ein und sprinte auf ihn zu. Aber wie schon in der kleinen Wohnung weicht er mir auch hier mit Leichtigkeit aus. Noch mehr, da er in seiner Bewegung nicht eingeschränkt wird durch kleine Räume und Wände. Ich setze ihm nach, springe und versuche, nach seinem Bein zu schnappen - und bin selbst davon überrascht, wie hoch ich springen kann! Elegant lande ich wieder auf meinen Pfoten, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes getan. Beflügelt von diesem unbeschreiblichen Gefühl, wiederhole ich es noch einmal. Dieses Mal mit mehr Kraft. Ganz ehrlich: Nur fliegen ist schöner! Ich habe so einen Spaß dabei, dass der eigentliche Grund, warum ich überhaupt das erste Mal gesprungen bin, völlig in den Hintergrund rückt. Immer wieder stoße ich mich kraftvoll ab und versuche, noch ein kleines Bisschen höher zu kommen, als beim vorangegangenen Sprung. Nicht nur mein Körper scheint völlig losgelöst zu sein, auch mein Geist ist befreiter. Ich kann nicht sagen, wieso das so ist. Vielleicht tut die klare Nachtluft ihr Übriges dazu. Oder Ian hat wieder irgendetwas gemacht, wovon ich noch keine Ahnung habe. Als ich wieder sicher auf meinen Pfoten lande, den weichen Boden unter mir spüre, schaue ich hinauf zu meinem Mentor, dessen Miene gerade unergründlich ist. Ich strecke meinen Geist nach ihm aus - es passiert fast automatisch - und werde mit einer mächtigen Aura konfrontiert. Beinahe ehrfürchtig sehe ich zu ihm hinauf. Ich habe ja gewusst, dass er alles andere als schwach ist, aber diese Macht überrascht mich dann doch. Abgeschreckt von diesen überwältigenden Empfindungen ziehe ich meinen Geist wieder zurück. Es fühlt sich ein bisschen so an, als würde man sich die Finger an einer Herdplatte verbrennen. Ian landet direkt vor meiner Nase und sieht mich fragend an. "Was hat dich aufgehalten? Du hattest es doch schon fast geschafft." Was genau habe ich fast geschafft? Falls er mein ursprüngliches Vorhaben damit meint, ihm den Kopf abzubeißen... "Nein, das meinte ich nicht. Für dieses Unterfangen bist du mindestens 200 Jahre zu früh dran." Ein überlegenes Grinsen huscht über seine Lippen. "Ich meinte das Eindringen deines Geistes. Dabei war ich noch gar nicht dazu gekommen, dir zu erklären, wie du das anstellen sollst. Ich bin ehrlich gesagt etwas überrascht, dass es dir so einfach gelungen ist, aber ich schätze, das liegt an deinen Genen." Ja. Nein. Egal. Moment - was? Ich bin verwirrt. "Das hab ich mir gedacht. Um auf mentaler Ebene mit jemandem kommunizieren zu können, musst du deinen Geist lösen, ihn befreien. Nur so bist du in der Lage, den Geist eines anderen Dämons zu berühren. Mich würde allerdings interessieren, warum du dich wieder zurückgezogen hast, nachdem du meinen Geist berührt hattest." Weil ich mich daran verbrannt habe! "Oh." ist alles, was er dazu zu sagen hat. Nachdenklich tippt er sich an sein Kinn und mustert mich eingehend. "Aber das kann eigentlich gar nicht sein..." murmelt er leise. Ich lege den Kopf schief. Warum soll es nicht sein können? Kann er mit mir auch in verständlichen Sätzen reden? Überrascht sieht er mich an. War das Gemurmel etwa nicht für meine Ohren bestimmt gewesen? Dann wird er sich wohl angewöhnen müssen, Dinge zu denken, statt sie auszusprechen, denn ich habe verdammt gute Ohren! Kopfschüttelnd lacht er mich an. "Ich bin es einfach nicht gewohnt, mit Erddämonen zu arbeiten. Ich vergesse daher hin und wieder ihre Qualitäten." Er kommt zu mir und streichelt mir über den Kopf. "Dennoch ist es ungewöhnlich. Ich begreife ja, dass es, dank deiner Abstammung, ein Leichtes für dich ist, die mentale Kommunikation zu erlernen. Aber das, was du gespürt hast, ist eine eher seltene Gabe, die nur wenigen, sehr talentierten Dämonen und Engeln vorbehalten ist." Bedeutet in meine Sprache übersetzt jetzt was? "Die Gabe, die Kraft eines Wesens über den eigenen Geist wahrzunehmen, ist etwas ganz Besonderes." Aufmunternd lächelt er mir zu. Soll ich mich jetzt geschmeichelt fühlen, weil ich mir jedes Mal, wenn ich auf ein mächtiges Wesen treffe, die Finger verbrenne?! "Bullshit!" Ian blinzelt mich überrascht an. "Dir ist bewusst, was du gerade getan hast, oder?" Ähm, nein? "Also ein Zufallstreffer? Aber ein interessanter. Du scheinst ohne Probleme in meinen Geist eindringen zu können, wenn ich dich berühre. Oder hast du eben einen Schmerz verspürt?" Seine Hand ruht auf meinem Kopf. "Versuch es bitte noch einmal." "Was genau soll ich versuchen?" Und dann fällt es auch mir auf. "Ich kann's!" "Ja. Irgendwie. Das scheint bei dir eher intuitiv zu passieren." Er nimmt seine Hand weg und geht zwei Schritte rückwärts. "Versuch es jetzt einmal." Auffordernd streckt er seine Arme von sich. Wie soll ich etwas steuern, was intuitiv passiert? Na gut, versuchen kann ich es ja. Ian fixierend, rufe ich mir das Gefühl in Erinnerung, als ich das erste Mal meinen Geist befreit hatte. Und dann sehe ich etwas, das da vorher definitiv noch nicht gewesen ist! Mein Mentor ist umgeben von blau und einigen grün leuchtenden Verwirbelungen. Ihre Energie ist geradezu greifbar. Auch um mich schwirren vereinzelte Verwirbelungen in einem goldbraunen Ton. Aber längst nicht so viele wie bei Ian. Ihre Kraft ist auch eher... mickrig im Vergleich zu seiner. Gebannt beobachte ich die Verwirbelungen, wie sie sich um mich und den Magier herum bewegen. Ob ich sie willentlich steuern kann? Ian nicht aus den Augen lassend, konzentriere ich mich auf eine Verwirbelung, die direkt vor meiner Nase umher tanzt. Ich will, dass sie sich den blauen Wirbeln nähert - nur den blauen! Die grünen sind mir irgendwie unheimlich - warum, kann ich selbst nicht so genau sagen. Und tatsächlich! In schnörkelnden Bahnen bewegt sie sich in die gewünschte Richtung. Doch als sie den blauen Wirbel berührt, durchzieht mich wieder der gleiche Schmerz, wie schon zuvor und erneut trete ich den Rückzug an. "Nicht! Zieh dich nicht jedes Mal zurück, nur weil du einen leichten Schmerz verspürst. Überwinde diese kleine Hürde. Du wirst merken, danach ist es nicht mehr unangenehm." Etwas widerstrebend wiederhole ich das Ganze noch einmal. Die Verwirbelungen umspielen einander, scheinen miteinander zu tanzen und dann entlässt das Blau mein Goldbraun und der Schmerz verschwindet. Mein kleiner Wirbel allerdings befindet sich nun inmitten von Ians. "Hat es geklappt? Es hat geklappt, oder? Kannst du diese ganzen Verwirbelungen eigentlich auch sehen? Sie sind wunderschön. Du hattest Recht, der Schmerz vergeht, sobald mein Geist eingedrungen ist. Ist das eine Art Schutzmechanismus?" "Langsam, langsam, Aki. Nein, das ist kein Schutzmechanismus. Du nimmst die Berührung des Geistes nur anders wahr, als die meisten anderen. Damit zusammen hängt auch das, was du siehst. Ich selbst bin nicht in der Lage diese... Verwirbelungen, wie du sie nennst, zu sehen." "Schade. Empfinde ich also immer einen gewissen Schmerz, wenn ich versuche, mit jemandem auf dieser Ebene zu kommunizieren, der wesentlich stärker ist, als ich?" "Ja. Aber du gewöhnst dich mit der Zeit daran. Dagegen solltest du eine gewisse Überlegenheit verspüren, wenn du in den Geist von jemandem eindringst, der schwächer ist, als du." "Es ist also so etwas, wie ein Frühwarnsystem." "Könnte man so sagen, ja. Du musst nämlich den Geist eines anderen nicht zwangsläufig berühren, um seine Stärke zu ermitteln. Du siehst es anhand der Aura." "Die Verwirbelungen!" "Genau." Ian hält kurz inne und mustert mich wieder abschätzend. "Das klappt ja schon ganz gut. Lass uns testen, auf welche Entfernung du die mentale Kommunikation aufrecht halten kannst." Damit geht er gemächlichen Schrittes von mir weg. Erst einige hundert Meter weiter bleibt er stehen und blickt in meine Richtung. Ich bin mir ganz sicher, dass da ein herausforderndes Leuchten in seinen Augen ist! Es hat durchaus seine Vorzüge, ein Wolf zu sein - als Mensch würde ich Ian kaum noch sehen können. Also schön. Ich löse meinen Geist und sehe sofort die Verwirbelungen wieder. Wie schon zuvor, schicke ich einen kleinen Teil davon in die Richtung des Magiers. Es ist das gleiche Spiel - ein kurzes Umspielen, ein Tanz, dann ist mein Teil des Geistes mitten in seinem. Ein kurzes Nicken seinerseits signalisiert mir, dass ihm das nicht entgangen ist. Und schon setzt er sich wieder in Bewegung, geht noch weiter von mir weg, verschwindet im Wald. Ein wenig nervös macht es mich schon, dass ich ihn jetzt nicht mehr sehen kann. Unruhig erhebe ich mich und tappse von einer Pfote auf die andere. "Nervös?" Der Schalk ist deutlich heraus zu hören. Er macht das also mit Absicht - dieser...! Nein! Ich werde mich jetzt nicht dazu hinreißen lassen, ihn zu verfluchen. Irgendetwas sagt mir, dass es gerade besser wäre, mich darauf zu konzentrieren, Ians Aura wiederzufinden. Wie genau soll ich das eigentlich machen? Ich sehe ihn ja nicht mehr. Vermutlich werde ich später im Rudel das gleiche Problem haben. Schwer vorstellbar, dass alle immer aufeinander in Sichtweite hocken. Es muss also einen Trick dabei geben, wie ich jemanden... finden kann, ohne ihn sehen zu können. "Kluges Mädchen. Und was machst du nun?" hallt seine Stimme erneut durch meinen Geist. Es scheint ihm ein diebisches Vergnügen zu bereiten, mich zu ärgern. Wart's nur ab! Ich finde dich schon. Denk nach, Aki - wie kannst du jemanden finden, den du nicht sehen kannst? Ich schließe meine Augen und sofort scheint sich mein Geruchs- und Hörsinn zu verstärken. Stimmt ja. Ich bin ein Wolf. Doch so sehr ich mich auch anstrenge, hören kann ich Ian nicht. Und durch die klare Nachtluft wird sein Geruch ebenfalls überlagert. So geht es also schonmal nicht. Was kann ich noch? Grübelnd scharre ich in der Erde und dann kommt mir eine Idee. Mein Element! Vielleicht kann ich... Ich suche den Boden um meinen Pfoten herum ab. Ich bin mir nicht sicher, wonach ich suche. Aber irgendetwas muss es doch geben, womit ich einen Teil meines Geistes verbinden kann. Aber da ist nichts. Absolut gar nichts! Wütend schnaube ich und spüre zur selben Zeit, wie Ian meinen Geist streift. In diesem Bruchteil einer Sekunde kann ich sein Lachen ganz deutlich vernehmen. Ich ringe um Fassung. Ich darf mich nicht von ihm provozieren lassen! Ich muss irgendetwas Grundlegendes übersehen. Seufzend senke ich den Kopf und nehme dabei den frischen Geruch von jungem Gras wahr. Ich mag diesen Duft. Er ist ganz individuell. Genau wie der von Laub- oder Nadelbäumen. Ja natürlich! Warum bin ich da nicht schon früher drauf gekommen? Das ist es! Alles hat seinen ganz eigenen, individuellen Geruch, Geschmack und Struktur. Wenn der Wind über Grasland weht, klingt es anders, als wenn er die Blätter der Bäume zum Rascheln bringt. Verändert man die Struktur, verändert man auch den Klang, die Eigenarten - und das geschieht bereits durch einfache Berührungen. Zum Beispiel, wenn jemand an einer bestimmten Stelle steht - die Struktur des Untergrunds verändert sich - oder auf einem Baum sitzt - das zusätzliche Gewicht erzeugt ein leises Knarzen. Ich muss also nur nach einer Anomalie in der Struktur der Erdelemente suchen . Es dauert etwas, denn nicht nur Ian hinterlässt diese Spuren, sondern auch jedes verdammte Lebewesen in diesem Wald! Aber schlussendlich finde ich ihn und schaffe es sogar, mit meinem Geist bis zu ihm vorzudringen. "Das hat ja ganz schön gedauert. Ich will nicht gemein sein, aber dir ist hoffentlich bewusst, dass das nicht der richtige Weg war, mich zu finden." "Das ist nicht dein Ernst!? Wie sollte es denn sonst gehen?" "Hast du dir einmal Gedanken darüber gemacht, was die Feuerdämonen in deiner Situation getan hätten? Wind, Erde und Wasser sind überall um uns herum in teilweise kleinsten Molekülen. Aber Feuer?" "Reicht es nicht einfach, dass ich dich gefunden habe?" knurre ich genervt zurück. Ich gebe es ungern zu, aber die ganze Aktion ist anstrengender gewesen, als es vielleicht den Anschein hat. Wäre er noch weiter weg gewesen, hätte ich ihn vermutlich nicht mehr mit meinem Geist erreicht . Denn das Ausstrecken zu einem anderen, weit entfernten Geist und das Verbinden mit diesem hat Muskelkater-Potential - Muskelkater für meine grauen Zellen! Das muss man sich erst einmal vorstellen - allein davon bekomme ich schon Kopfschmerzen... Plötzlich taucht Ian wieder direkt vor mir auf - wie macht er das nur so schnell? Langsam werde ich neidisch. Er streicht mir über den Kopf, wuschelt über meine Ohren und klopft mir auf den Hals. Jetzt komm ich mir wirklich vor, wie ein Pferd! "Degradier dich nicht selbst, Aki. Du gehörst zur Familie der Wolfsdämonen, einer der stolzesten vom Stamm der Erddämonen. Was dein Blut und deine Herkunft angeht, bist du sogar mir ebenbürtig." Ein charmantes Lächeln umspielt seine Lippen. Aber der unterschwellige Ärger verraucht deswegen noch lange nicht. "Warum behandelst du mich dann wie ein Hündchen?" "Weil du noch ganz am Anfang deiner Ausbildung stehst und mir somit weit unterlegen bist." Sein Grinsen wird wieder überheblich. Ich hasse es, wenn er mich so ansieht! Warum kann er nicht freundlich zu mir bleiben ? Das steht ihm ohnehin viel besser. Trotzig drehe ich meinen Kopf zur Seite, damit ich ihn nicht mehr ansehen muss. Doch Ian setzt sich vor mich ins Gras und schaut von schräg unten zu mir herauf. "Du willst es nicht verstehen, kann das sein?" "Ich weiß nicht, was du meinst!" "Doch, das weißt du ganz genau! Aki, wir sind grundverschieden. Wir wären uns nie begegnet, wenn Erina mich nicht darum gebeten hätte, dich auszubilden." Ich horche auf. Ich dachte, meine Mutter hätte... Und dann fällt der Groschen: Erina ist der Name meiner Mutter. Irgendwie wird mir gerade warm ums Herz. Einfach nur, weil ich ihren Namen gehört habe. Ist das immer so bei Dämonen? Ian schenkt mir ein warmes Lächeln und streicht mir sacht über die Stirn. "Ja, das ist bei uns so. Wenn wir den Namen einer geliebten Person oder eines Familienmitglieds hören, stellen sich diese Gefühle ein. Immer. Es ist eine tiefe, unzertrennliche Verbundenheit. Und ja, deine Mutter wird Erina gerufen - es ist nicht ihr wahrer Name, aber ich bin mir mehr als sicher, dass dieser mindestens genauso klangvoll ist." "Kannst du mir nicht etwas über meine Mutter erzählen?" bitte ich ihn. "Ich habe vorher nie mit ihr zu tun gehabt. Ich kann dir also nur von meinen ersten Eindrücken berichten und dem, was ich über sie gehört habe." Ich lege mich neben ihn ins nachtkalte Gras. Es ist mir gleich, was und wie viel er weiß - solange ich nur endlich irgendetwas erfahre. "Erina ist eine bildhübsche Frau. Ihre Haare sind lang und schneeweiß - genau wie ihr Wolfsfell. Ihre eisblauen Augen strahlen unendliche Güte und Liebe aus. Trotz ihrer zierlichen Erscheinung hat sie einen unglaublich starken Willen. Man sagt, ihre Willensstärke und ihr Sturschädel werden nur von ihrer Liebe zu ihrer Familie übertroffen. Damit wäre zumindest geklärt, woher du deinen Dickkopf hast." Neckend wuschelt er mir über den Kopf. Eigentlich müsste ich jetzt leicht angefressen sein, bin ich aber nicht. Im Gegenteil. Ein unendliches Glücksgefühl durchströmt mich. Ich habe etwas mit meiner leiblichen Mutter gemein. "Erina ist stark und stolz. Niemand würde es wagen, ihr die Rolle als Alpha des Rudels streitig zu machen. Und falls doch, müsste derjenige sich warm anziehen! Nicht nur sie ist eine ausgesprochene Kämpfernatur, sondern auch ihr Gefährte - dein Vater. Ich bin ihm nie begegnet, aber man sagt, sein Fell soll glänzen, wie der Silberstreifen am Horizont, kurz bevor die Sonne aufgeht. Seine Stärke ist mit nichts und niemandem vergleichbar. Es war sein Verdienst, dass die zersprengten Rudel damals zu der großen Schlacht vor 500 Jahren zusammen gefunden haben." "Es gibt mehr als nur ein Rudel?" Traurig schüttelt Ian den Kopf. "Nicht mehr. Früher gab es fünf oder sechs größere Rudel und einige kleinere Familienverbände. Dein Vater, Arkor hat sie zu Beginn des Krieges alle ausfindig gemacht und zu einem großen Rudel vereint." Er macht eine Pause. Sein Blick scheint in weite Ferne gerichtet zu sein, als würden die Bilder von damals gerade vor seinem geistigen Auge erneut zum Leben erwachen. Ich will ihn nicht so niedergeschlagen sehen. Es tut mir in der Seele weh, wenn er diesen leidenden Gesichtsausdruck bekommt. Also stupse ich ihn kurz an. "Wie viele Wölfe hat das Rudel eigentlich?" "Mit dir zusammen sind nur noch 12 übrig." Seine Stimme hat einen düsteren Klang. "Die meisten Wölfe starben in der alles entscheidenden, letzten großen Schlacht. Man hatte beschlossen, das Rudel, welches ja sowieso den Schutz der Welten zur Aufgabe hatte, als Vorhut gegen die Schatten auszusenden. Eigentlich sollten die Walküren an ihrer Seite sein aber ein Verrat aus den eigenen Reihen der Engel sorgte dafür, dass nichts mehr so lief, wie es ursprünglich geplant war. Zu spät erst bemerkte man den Fehler. In dieser Zeit waren die Wölfe bereits soweit eingekesselt worden, dass es nahezu an ein Wunder grenzte, dass überhaupt welche überlebt haben." Ian hält inne und streicht mir gedankenverloren durch mein Fell. Was für ein grausames Szenario muss das damals gewesen sein. Ich mag gar nicht daran denken. Da läuft es einem ja eiskalt den Rücken herunter! "Ich gehörte damals einer Spezialeinheit an. Unsere Aufgabe bestand darin, dem Rudel den Rücken frei zu halten und es zu unterstützen. Als wir jedoch dort ankamen, fiel es uns schwer zu glauben, dass überhaupt noch irgendwo ein Wolf lebend zu finden wäre. Wir töteten so viele Schatten, wie wir nur konnten. Als dann auch endlich die Walküren eintrafen, haben wir verzweifelt nach dem Rudel gesucht. Gefunden haben wir nur noch 6 von ihnen. Sie hatten sich in einer kleinen Höhle verschanzt. Nur deswegen konnten sie überleben." Seine Hand krallt sich in mein Fell. "Sechs Wölfe. Von einstmals mehr als 200." "Ian, es ist nicht deine Schuld. Und immerhin konntet ihr überhaupt welche retten." versuche ich ihn etwas aufzumuntern aber der Blick, mit dem er mich bedenkt, ist alles andere als Wohl wollend. "Aber zu welchem Preis? Wir haben in diesem letzten Gefecht viele gute Dämonen verloren und das nur, weil der senile Greis, der zum damaligen Zeitpunkt noch Herrscher der Engel war, viel zu gutgläubig und blauäugig an die Sache heran gegangen ist! Wir haben gebüßt für einen Fehler, den sie begangen haben!" Ich schrecke auf beim Klang seiner Stimme und betrachte ihn aufmerksam. Ist das... Hass in seinen Augen? Verachtung? Und plötzlich verändert sich seine ganze Haltung wieder. Er wirkt abgespannt, müde und irgendwie deprimiert. "Ich weiß, ich sollte nicht so reden. Keiner von uns - weder Engel noch Dämonen - hatten bemerkt, was da vonstatten ging." Noch einmal wuschelt er mir durch mein Fell, dann steht er auf, streckt sich und lächelt mir wieder entgegen, als sei nichts gewesen. "Genug in der Vergangenheit gewühlt! Deine Familie wartet ungeduldig auf deine Rückkehr - wir sollten uns wieder deiner Ausbildung widmen. Also, schließ die Augen!" "Was? Wieso?" Ich bin mental gerade überhaupt nicht mehr auf Training eingestellt! "Du verlässt dich zu sehr auf deine Augen. Es mag ja gut und schön sein, dass du die Gabe des Sehens besitzt, aber sie hilft dir hier nicht weiter. Was du brauchst, ist eine Fähigkeit, die jeder Dämon besitzt." Ich rolle mit den Augen, komme dann aber seiner Aufforderung nach. "Und jetzt lausche. Nicht mit den Ohren, sondern mit deinem Geist." Mit meinem Geist? Was kann ich eigentlich noch alles mit meinem Geist machen? "Schieb die überflüssigen Fragen bei Seite! Konzentrier dich und dann sag mir, was du hörst." Ich befreie meinen Geist und konzentriere mich ganz auf das, was dieser mich empfinden lässt. Erstaunt stelle ich fest, dass mein Mentor Recht hat. Ich muss nicht sehen, um erkennen zu können, was um mich herum ist. Selbst meine und seine Aura sind für mich sichtbar auf eine merkwürdige Weise, die ich nur schwer zu beschreiben vermag. Und dann ist da noch etwas. Etwas, das mir zuvor gar nicht aufgefallen ist: Eine Art Klang. Und eine Farbe, die durch diesen Klang erzeugt wird. "Genau das habe ich gemeint. Du kannst die Augen wieder öffnen, wenn du willst." "Diese Melodie... hat jeder Dämon eine andere?" "Ja. Ebenso wie die Engel und jedes andere Wesen, zu dem du eine Bindung aufbaust. Für jeden hörst du einen anderen Klang und kannst die Person somit identifizieren. Außerdem folgt dein Geist diesen Tönen und verbindet sich mit ihnen, wodurch du wiederum in der Lage bist, mit demjenigen mental zu kommunizieren." "So einfach ist das?" "Ja, so einfach ist das." Er lächelt mich wieder an und dieses Mal kann ich deutlich erkennen, dass er stolz auf mich ist. "Die Sonne wird bald aufgehen. Gehen wir nach Hause." Ian reicht mir seine Hand und noch ehe ich irgendetwas denken kann, ergreife ich sie mit meiner eigenen. Seine simple Geste hat ganz allein dazu geführt, dass ich meine menschliche Gestalt angenommen habe und bringt mich zum Schmunzeln. Es ist so einfach. Fast wie atmen. Über diesen Gedanken döse ich schließlich weg, während Ian mit mir durch die allmählich endende Nacht fliegt. Kapitel 9: Vertrauensbeweis --------------------------- Kapitel 9: Vertrauensbeweis Ein neuer Morgen, ein neues Glück. Sagt man doch so oder? Nun, wenn ich meine derzeitige Lage so betrachte, würde ich mit diesem Jemand, der diesen Spruch in die Welt gesetzt hat, gern mal ein ernstes Wörtchen reden! Ich komme schon irgendwie damit klar, dass ich mein bisheriges Leben hinter mir lassen muss. Auch, dass es damit zusammen hängt, dass ich eine Dämonin bin - und rein zufällig die Häuptlingstochter vom Wolfsrudel. Ja, ich komme sogar mit dem Muskelkater meiner Nervenzellen zurecht, der sich anfühlt, wie eine Mischung aus vakuumierter Matschbirne und Verkehrsunfall. Aber womit ich nicht klar komme - ABSOLUT nicht! - ist die Tatsache, dass ich hier auf dem ziemlich engen und leicht unbequemen Sofa mit Ian liegen muss! Womit hab ich das bitteschön verdient?! Wie es dazu gekommen ist? Hah! Ganz einfach: Ich. Bin. Zu. Nett! Nachdem wir in den frühen Morgenstunden endlich wieder zurück gekommen waren, wollte ich mich direkt in mein Zimmer verkriechen. Doch Ian, der sich ganz schnell auf das Sofa gekauert hatte, sah aus, wie ein geschlagener Hund. Also bin ich zu ihm, hab mich neben ihn gesetzt und... Ja, was eigentlich? Wir haben uns eine gefühlte Ewigkeit angeschwiegen gehabt. Weil es mir irgendwann zu blöd wurde, wollte ich aufstehen, doch er hat nur nach meinem Handgelenk gegriffen und mich gebeten nicht zu gehen. Das Ende vom Lied sieht nun so aus, dass ich hier, halb von ihm erdrückt in einem Kuscheltierwürgegriff, liege, hellwach bin, aber nicht aufstehen kann, da jede meiner Bewegungen ihn sofort wecken würde. Also denke ich mich an einen kühleren Ort. Vielleicht einen der Bergseen der letzten Nächte? Eine frische Frühlingsbrise, die über die Wiesen weht. Vögel, die zwitschern an diesem noch recht kühlen Morgen. Ein Erdbeben, das mich durchschüttelt... Warte - was? Schreckhaft reiße ich meine Augen auf, die ich gerade erst wieder geschlossen hatte. Tatsächlich fühlt es sich ein bisschen so an, als würde das Sofa beben. Mein Kopf fährt zu Ian herum und ich muss einen Schreckenslaut unterdrücken. Sein Atem geht nur stoßweise, seine Züge sind verkrampft, Schweiß hat sich auf seiner Stirn gebildet und immer wieder fährt ein Zucken durch seinen gesamten Körper. Hat er etwa einen Albtraum? Leicht stupse ich ihn an, flüstere seinen Namen, aber das scheint nicht zu helfen. Also befreie ich mich aus seinem Griff, bin dabei so unvorsichtig, wie nur möglich, in der Hoffnung, ihn damit zu wecken. Aber: Fehlanzeige. Ich rüttle an seiner Schulter. "Ian! Ian, wach auf!" Doch statt der erhofften Reaktion, krampft er sich nun richtig zusammen, schlägt die Fingernägel in seine Oberarme und... wimmert? Was zur Hölle träumt er? Als dann auch noch ein erstickter Schmerzenslaut seine Kehle verlässt, steigt in mir Panik auf. Ich muss ihn wach bekommen! Ich rüttle energischer an seiner Schulter, rufe seinen Namen, zwicke ihn in die Seite, aber nichts erzeugt die erwünschte Reaktion. In meiner Hilflosigkeit verpasse ich ihm dann eine derart heftige Ohrfeige, dass es durch das gesamte Zimmer halt. Ups. Das ist vielleicht ein bisschen zu fest gewesen. Ian schreckt hoch, sieht sich gehetzt im Raum um, scheint aber noch immer nicht richtig wach zu sein. Also setze ich mich vor ihn, versuche seine Hände zu bändigen, die wild um sich schlagen. Seine Augen leuchten bedrohlich grün und ich kann die Kälte seiner Magie deutlich um uns herum spüren. "Ian! Sieh mich an! Es ist alles in Ordnung, dir passiert nichts. Niemand ist hier. Ian! Hörst du mich?" Er blinzelt ein paar Mal und endlich scheint er mich wirklich anzusehen. "Aki?" "Ja. Ich bin hier. Es ist alles gut. Es war nur ein Traum." versuche ich beruhigend auf ihn einzureden. Sein Ausdruck wird gequält, das bedrohliche Leuchten in seinen Augen verschwindet und sie werden wieder nachtblau. Erschöpft lässt er seinen Kopf auf meine Schulter sinken. Aus einem Reflex heraus lege ich meine Arme um ihn, streiche sanft über seinen Rücken. Es ist eine automatisierte Geste. Denn früher bei meiner Pflegefamilie hatte ich ein jüngeres Geschwisterchen, das auch oft Albträume hatte. Ich war dann immer zur Stelle, um es wieder zu beruhigen. Allerdings hat die kleine Nervensäge mich danach immer wieder sofort beiseite geschoben und so getan, als wäre nichts gewesen. Ob Ian mich auch weg stoßen wird? Ich weiß nicht, wie lange wir so verharrt haben, bevor er seinen Kopf langsam von meiner Schulter nimmt. "Entschuldige. Ich hätte wissen müssen, dass das passiert." "Schon okay. Mir macht das nichts aus..." "Mir aber!" fährt er mich plötzlich an, springt auf und rauscht aus dem Zimmer - vermutlich ins Bad - und lässt mich völlig irritiert zurück. War ja klar, dass das passieren würde, oder? Mister Unnahbar will sich eben nicht in die Karten gucken lassen. Dabei habe ich ihm lediglich helfen wollen, ganz ohne Hintergedanken. Ich habe seinen Traum ja nicht ergründen wollen. Ich wollte nur für ihn da sein. Mehr nicht. Kopfschüttelnd gehe ich in mein Zimmer, um mir saubere Kleidung zu suchen. Doch das Badezimmer ist ja leider noch besetzt. Also lehne ich mich an mein Fenster und beobachte die Menschen auf der Straße. Und fahre panisch zusammen. Da unten steht Rhea und kramt gerade in ihrer Umhängetasche umher. Sucht sie etwa den Wohnungsschlüssel? Will sie etwa hier rein? Jetzt? Verflucht! Eilig stürme ich aus meinem Zimmer, greife nach meiner Jacke und meinem Schlüssel und flitze die Treppen hinunter. Aber bevor ich die letzten Stufen nehme, fällt mir etwas ein: Ian hat keine Ahnung. Ich sollte ihn zumindest informieren. Also kurz entspannen. Den Geist lösen und seine Aura aufsuchen. "Ian, Rhea ist hier. Ich weiß nicht warum, aber ich tue mein Möglichstes, damit sie wieder geht." Das war ja leichter als gedacht. So langsam habe ich den Bogen raus. Zufrieden mit mir und meiner Leistung - immerhin habe ich gerade die mentale Kommunikation in meiner menschlichen Gestalt angewendet - setze ich nun meinen Weg fort und laufe meiner besten Freundin direkt in die Arme. Oder... ist sie jetzt meine ehemalige Freundin? Ach, egal, das tut jetzt nichts zur Sache. "Rhea, guten Morgen - so eine Überraschung, was tust du denn hier?" Überrascht sieht sie mich an. "Das Gleiche könnt ich dich fragen. Ich dachte... du sagtest doch... Ich meine, wolltest du nicht...?" Rhea stottert. Dass ich das einmal erleben darf. Normalerweise ist sie sehr schlagfertig, wenn es um Worte geht. "Ich muss erst noch einige Vorbereitungen treffen." rede ich mich heraus. Ganz falsch ist es eigentlich nicht. Ian hat gesagt, er muss mir erst einige Dinge beibringen, bevor er mich zu meiner Familie mitnimmt. Dann fällt sie mir um den Hals und drückt mich fest. Ich kann gar nicht beschreiben, wie gut das tut. Rhea wäre auch weiterhin für mich da, wenn ich das zulassen würde. Ich kann mich wirklich glücklich schätzen,eine so tolle Freundin wie sie zu haben. Ob Ian auch so einen guten Freund hat? Einen, dem er nicht alles erzählen muss, der aber trotzdem bedingungslos zu ihm steht. Jemand, der ihm einfach Halt gibt, wenn er ihn braucht. Der für ihn da ist, wenn er nicht alleine sein will. So wie ich in der letzten Nacht für ihn da war. Rhea wirft mir einen fragenden Blick zu und holt mich aus meinen Gedanken. "Ist alles in Ordnung bei dir?" "Geht schon. Nur die Umstände machen mir etwas zu schaffen." "Verständlich." dann strahlt sie mich über das ganze Gesicht an. "Ich weiß, was da hilft. Komm!" Sie zieht mich hinter sich her, hält meine Hand ganz fest und eine Welle der Zuneigung überrollt mich. Vielleicht muss ich unsere Freundschaft doch nicht vollständig aufgeben. Noch nicht zumindest. Ich möchte sie so gerne noch ein klein wenig auskosten und genießen. Wenn ich darf? Die Schwarzhaarige schleppt mich in ein riesiges Einkaufszentrum und scheucht mich durch wirklich jeden Laden. Wir probieren verschiedene Klamotten an, bummeln durch die Geschäfte, lachen zusammen, gönnen uns einen Früchteeisbecher für zwei und genießen unsere gemeinsame Zeit. Zum ersten Mal seit meinem Geburtstag kann ich unbeschwert lachen und Spaß haben, vergessen, was mich erwartet, was mir noch bevor steht. Nur Ian kann ich nicht aus meinem Kopf verbannen. Immer wieder stelle ich mir vor, er könnte mit uns gemeinsam unterwegs sein und mit uns zusammen lachen. Sicher würde ihm das genau so gut tun wie mir. Vor einem Geschäft mit Abendkleidern bleibe ich dann stehen. Rhea kommt zu mir, umklammert meine Hand und sieht mich mit diesem alles-sagenden, tröstenden Blick an. Sehnsüchtig blicke ich auf das hellgrüne Petticoat-Kleid mit der weißen Spitze. Ich habe lange gespart, um es mir leisten zu können - aber nun werde ich es nicht mehr kaufen müssen. Ich brauche es nicht mehr. "Du wirst an dem Wettbewerb nicht mehr teilen nehmen, nicht wahr?" fragt sie mich leise und ich schüttel mit dem Kopf. "Nein. Aber vielleicht finde ich irgendwann einmal einen anderen Grund, um es mir kaufen zu müssen." Denn ohne Grund würde ich mir niemals ein derart sündhaft teures Kleid kaufen, das ich sonst ohnehin niemals tragen könnte. Rhea zieht mich Richtung Ladentür. "Was hast du vor?" "Zieh es an. Nur einmal. Bitte! Für mich." Ihre rehbraunen Augen funkeln mich an - wie könnte ich da noch nein sagen? Keine zehn Minuten später stehe ich zwischen Rhea, der Ladenbesitzerin und dem überdimensionalen Spiegel. "Gott, Aki, es ist traumhaft! Es betont deine Figur so schön!" schwärmt meine Freundin, die Ladenbesitzerin nickt eifrig. "Haben Sie die Schnürungen im Rücken bemerkt?" fragte die Dame völlig begeistert und Rhea pflichtet ihr sofort bei. "Und wie fantastisch der Herzausschnitt und der Neckholder alles abrunden?" Wieder nickt Rhea eifrig. Ich könnte heulen! Ehrlich. Ich kenne die Qualitäten dieses Kleides - ich habe es unzählige Male anprobiert und mich immer wieder von allen Seiten betrachtet. Ich wüsste sogar, wie ich mir die Haare dazu machen könnte und weiß auch genau, wo ich die passenden Schuhe dazu finde. Aber Fakt ist, ich werde mir dieses Kleid NICHT kaufen. Der Tanzwettbewerb in zwei Monaten ist für mich gestorben. Nicht nur wegen der Aktion von Tommas, sondern auch, weil ich... weil ich nicht mehr in diese Welt gehöre. Wortlos begebe ich mich zurück in die Umkleide und lege das Kleid wieder ab. Ein letztes Mal streichle ich über den Stoff. Das hier bin nicht länger ich. Zeit, mit der Vergangenheit abzuschließen. Also straffe ich meine Schultern, ziehe den Vorhang der Umkleidekabine zurück und hänge das Kleid zurück. Anschließend verlasse ich den Laden. Draußen atme ich die kühle Frühlingsluft tief ein. Ich glaube, jetzt bin ich endlich so weit. Rhea stolpert mit fragendem Gesichtsausdruck aus dem Laden. "Was war los?" "Nichts weiter. Ich habe nur endlich etwas begriffen." "Und was?" Neugierig schiebt sie sich in mein Gesichtsfeld und grinst mich dabei an. Ich erwidere ihr Lächeln. "Manchmal muss man die Vergangenheit einfach loslassen, um weiter voran zu kommen. Und wenn einem ein guter Freund dabei zur Seite steht, ist es auch viel einfacher." Rhea hakt sich glücklich bei mir ein. "Ist doch Ehrensache, Süße!" Lachend zieht sie mich wieder mit sich. Eine Zeit lang schlendern wir noch durch die Straßen, bis ich einen flüchtigen Blick auf eine der unzähligen Uhren riskiere, die an den meisten Läden hängen. Es ist schon reichlich spät. Ich habe nicht nur den gesamten Vormittag, sondern auch einen Großteil des Nachmittags mit meiner besten Freundin verbracht. "Rhea,..." Sofort bleibt sie stehen und sieht mich lächelnd an. "Schon okay. Du musst zurück, hab ich Recht?" "Ja." Geknickt senke ich meinen Blick. "Lass den Kopf nicht hängen, Aki. Wir sehen uns bestimmt bald wieder. Du bist ja nicht aus der Welt -und ich auch nicht. Soll ich dich noch bis nach Hause begleiten?" "Nein, musst du nicht. Aber danke." "Dafür doch nicht." "Wo schläfst du eigentlich momentan?" Mir fällt gerade ein, dass ich sie ja quasi aus unserer Wohnung geworfen habe, ohne mir Gedanken darüber zu machen, wo sie hin soll. "Na bei meinen Eltern -wo sonst? Ich hab einfach mein altes Zimmer wieder bezogen." Ich muss auflachen. Das ist so typisch für die Schwarzhaarige. Aber wenigstens muss ich mir so keine Sorgen mehr um sie machen. Auf halben Wege zwischen unseren Wohnungen verabschieden wir uns voneinander mit einer herzlichen Umarmung. Ich werde Rhea jetzt schon vermissen. Aber vielleicht kann ich sie in den nächsten Tagen doch wieder sehen - ich werde Ian einmal fragen. So in Gedanken versunken, stoße ich an einer Häuserecke mit jemandem zusammen. "Entschuldigung, ich habe nicht aufgepasst." Ich sehe auf, und sofort läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Der Typ, mit dem ich zusammen gestoßen bin, ist mindestens drei Köpfe größer als ich, bullig, mit einer Narbe über dem rechten Auge, während sein linkes mich mit einem Ausdruck fixiert, der mir so gar nicht behagen will. Dabei kann ich nicht einmal beschreiben, was genau ich da gesehen habe. Gier? Verwunderung? Mordgelüste? Alles zusammen? Schnell ziehe ich meinen Kopf ein und stiefel zügig an ihm vorbei, spüre seinen Blick in meinem Nacken. Der Kerl ist mir nicht geheuer. Als ich noch einmal einen kurzen Blick über die Schulter werfe, ist er verschwunden. Habe ich mir das Stechen in meinem Rücken dann nur eingebildet? Sicherheitshalber bleibe ich im Schatten der Häuser, mische mich unter die Menschen und wähle einige Wege, die ich sonst lieber meide. Nach einer Weile lässt dieses unbehagliche Gefühl endlich nach, wenngleich es nicht zur Gänze verschwindet. Aber das ist sicher nur die Nachwirkung der unheimlichen Begegnung. "Ian? Hörst du mich? Entschuldige bitte, dass es so spät geworden ist. Ich bin jetzt auf dem Heimweg." "Ich weiß. Aki?" "Ja?" "Sag mir bitte, dass ich mich irre, und du nicht verfolgt wirst." "Quatsch, ich werde doch nicht..." In dem Moment erblicke ich den grobschlächtigen Kerl wieder, mit dem ich vor wenigen Minuten an der Ecke zusammen gestoßen war. Ein knapper Blick über meine Schulter bestätigt mir, dass da noch ein weiterer Kerl ist, der mich ganz offen angafft und auf mich zuhält. Als ich meine Sinne ausstrecke, nehme ich unheimlich finstere Auren wahr. Entweder sind die Typen abgrundttief böse oder sie planen etwas abgrundttief Böses. "Vergiss, was ich gesagt habe - ich WERDE verfolgt!" damit setze ich meinen Weg eilig fort, biege in eine Seitengasse und beschleunige meinen Schritt noch weiter. "Verflucht! Sieh zu, dass du da weg kommst, Aki!" Und im nächsten Moment ist Ians Aura verschwunden. Ich renne durch die Gassen, aber wo auch immer ich hin laufe, es scheint bereits einer von den unheimlichen Kerlen auf mich zu warten. Ich schlage Haken, biege planlos in irgendwelche Seitenstraßen und hoffe damit, meine Verfolger abzuschütteln. Bis ich am Ende selbst nicht mehr weiß, wo ich bin. An einer unbelebten Kreuzung stehen dann gleich drei von den Typen und grinsen mir überheblich entgegen. Als ich zurück will, kommt auch von dort einer auf mich zu. Ein Blick über meine Schulter verrät mir, dass auch der letzte Fluchtweg versperrt wurde. Verdammt, ich bin eingekesselt! Was soll ich jetzt nur tun? Langsam drehe ich mich um meine eigene Achse. Fünf Kerle, allesamt von einer finsteren Aura umgeben. Das sind keine gewöhnlichen Menschen. Demzufolge könnte ich... "Tu es nicht, Aki!" "Ian!" Erleichterung durchströmt mich. Er weiß also, wo ich bin. "Ich bitte dich, tu nichts Unüberlegtes. Ich bin bereits auf dem Weg zu dir. Vertrau mir. Du darfst ihnen nicht zeigen, was du wirklich bist." Ich zögere kurz, wäge meine Möglichkeiten ab. "Beeil dich bitte. Die Auren dieser Kerle sind so finster wie ihre Visagen!" Also schön. Ich muss ja nicht ewig weglaufen. Nur noch eine kurze Zeit, bis Ian da ist. Ich weiche den Pranken des ersten Häschers aus, rutsche unter den Beinen eines zweiten hindurch, springe auf und renne die Straße entlang. Einfach immer weiter rennen. Ian ist gleich bei mir. Doch weit komme ich nicht, denn als ich um eine Ecke biege, befinde ich mich in einer Sackgasse. Als ich mich umdrehe, um zurück zu laufen, sind da bereits drei der Kerle und versperren mir den Weg. Ich sitze in der Falle... Hinter mir eine Mauer, rechts von mir ebenfalls eine Mauer. Vor mir die schmierigen Typen und links von mir... Eine Lagerhalle? Ich habe jetzt keine Zeit, mir Gedanken zu machen. Schwungvoll werfe ich mich gegen die Tür und stolper direkt in den muffigen, dunklen Raum. Kopflos renne ich in die Dunkelheit, höre schwere Schritte und hämisches Gelächter direkt hinter mir. Ich stolpere über irgendetwas und schlage der Länge nach hin. Verdammt! Gerade als ich mich wieder aufrappeln will, werde ich grob an den Armen gepackt und auf meine Füße gezerrt. "Sieh doch mal einer an. Da ist uns aber was besonders Hübsches ins Netz gegangen." höre ich eine Stimme links von mir. Der raue, gefährliche Ton darin behagt mir ganz und gar nicht. "Und du bist dir sicher, dass sie eine Dämonin ist? Das war ja fast zu einfach." Die Stimme gehört einem anderen der Kerle. Er steht etwas weiter weg von mir. Zu weit, um in meiner Reichweite zu sein - oder ich in seiner. Aber direkt rechts hinter mir steht noch einer. Wo die anderen beiden sind, weiß ich nicht. "Ja, sie ist eine Dämonin. Aber noch jung. Sie muss vor Kurzem erst erwacht sein." bestätigt der Erste. "Was wollt ihr von mir?" zische ich. Ich muss Zeit schinden, bis Ian endlich hier ist. Er wird kommen. Er wird mich finden. Dreckiges Lachen hallt durch die dunkle Lagerhalle. Na gut, wenn sie mir keine Antworten geben wollen - ich werde nicht darauf warten! Ein gezielter Tritt hinter mich und der Typ, der meine Arme im Schraubstockgriff hielt, lässt jaulend los. Ich tauche unter ihm hindurch, um dem Zweiten zu entgehen. Und dann tauchen vor mir die anderen beiden Auren auf. Bedrohlich. Und viel zu nah. "Aber, aber, kleines Mädchen. Wo willst du denn hin? Dir sollte doch bewusst sein, dass du allein gegen uns sowieso keine Chance hast." In dem Moment streift mich ein kühler Luftzug und ein diabolisches Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. "Ich bin niemals allein!" Ein gellender Schrei und ein ersticktes Gurgeln erfüllen die Halle und kurz darauf fallen zwei schwere Körper dumpf zu Boden. "Was...? Das.. das... wie ist das möglich? Warum bist du hier, Kori?" fragt der Typ, der mir eben noch weiß machen wollte, dass ich keine Chance gegen sie hätte, mit zitternder Stimme. Direkt danach schießt etwas Kaltes links und rechts an mir vorbei und wieder fallen Zwei in den Staub. "Es geht dich eigentlich nichts an..." schneidet Ians eiskalte Stimme durch den Raum. Er steht direkt vor dem Kerl, drückt ihm seine Hand auf's Gesicht und kalter Dampf steigt auf. "Ihr wolltet Hand an meine Schülerin legen. Ich mag es nicht, wenn man meine Schützlinge bedroht. Fahr zur Hölle!" Ein unschönes Knacken ertönt, dann sackt auch der Letzte zu Boden. Kurz darauf finde ich mich in einer besitzergreifenden Umarmung wieder und weiß gar nicht so recht, wie mir geschieht. Dieser rasante, emotionale Wandel von eiskalt zu freundschaftlich warm ist gerade doch etwas zu schnell. "Ist dir auch nichts passiert? Haben sie dir irgendetwas angetan?" flüstert er. Leicht schüttle ich den Kopf. " Alles in Ordnung. Mir ist nichts passiert. Du warst ja da, um mich zu beschützen." "Es tut mir Leid, dass ich nicht schneller bei dir sein konnte." "Du musst dich nicht entschuldigen." Dann herrscht ein kurzes Schweigen, in welchem ich einfach nur seine Umarmung genieße. Es ist das erste Mal, dass er sich so offen um mich sorgt. Bis mir etwas einfällt und Neugier die Oberhand gewinnt. "Warum hat der Kerl dich eigentlich 'Kori' genannt?" Ian lacht leise auf. "Ich sagte doch bereits; ich habe viele Namen unter den Dämonen." Stimmt. Das sagte er. Damals, bei unserer allerersten Begegnung. "Danke, dass du auf mich gehört hast. Wenn sie gewusst hätten, mit wem sie es zu tun haben, hätten sie ebenfalls ihre Kräfte entfesselt, und dann wäre es nicht so leicht geworden, dich zu retten." Er klingt ehrlich erleichtert und dankbar. "Wer waren diese Typen überhaupt?" angewidert starre ich auf die leblosen Körper. "Abtrünnige. Engel wie Dämonen." kommt die knappe Antwort von meinem Retter. "Was passiert jetzt? Was machen wir jetzt mit ihnen? Wir können sie ja schlecht hier liegen lassen." "Das erledige ich schon." Damit löst er sich von mir. "Und was machst du mit ihnen?" Ich lerne es einfach nicht, meine Neugier zu zügeln, doch Ian quittiert es nur mit einem kurzen Schmunzeln. "Ihre Seelen waren bereits so verdorben, dass ihre Körper nur noch an einen Ort können: ins Loch der schwarzen Seelen. Sie werden ohnehin zu Schatten werden. Besser es geschieht dort und nicht hier." Eine Gänsehaut jagt mir über den ganzen Körper. Ich habe nicht vergessen, was Ian mir über diesen Ort berichtet hat. "Ich werde allein gehen und nehm die Taugenichtse hier mit. Warte bitte hier auf mich, ich möchte nicht riskieren, dass dir erneut etwas zustößt." Er legt seine Hand auf meinen Kopf und streicht liebevoll darüber. Dann dreht er sich zu den fünf Körpern, lässt seine Magie wirken und eröffnet eine Art Portal. Augenblicklich scheint es die Unholde zu sich zu ziehen. "Ach ja, Aki..." wendet mein Mentor sich noch einmal an mich und wirft mir dabei ein charmantes Lächeln zu, welches mein Herz zum Stolpern bringt. "Danke. Für heute Morgen und dafür, dass du keine Sekunde an mir gezweifelt hast. Ich weiß das zu schätzen. Wirklich. Danke." Und dann verschwindet er, das Portal ebenfalls und ich bin wieder allein. Aber dieses Mal habe ich keine Angst. Ich weiß, Ian wird gleich zurück sein, und irgendwie habe ich jetzt das Gefühl, dass er mir endlich vertraut. Kapitel 10: Haru ---------------- Kapitel 10: Haru Drei Tage ist der Vorfall im Lagerhaus nun her, und seitdem scheint sich irgendetwas in Ian verändert zu haben. Er duldet meine Nähe, ist mir gegenüber offener und lacht auch viel häufiger als sonst. Als ich ihn noch am selben Abend auf den Albtraum ansprach, ging er kurz in sich, sah mich danach ernst an. Er meinte, er habe schon lange nicht mehr diese Träume gehabt - Träume von der Schlacht von vor 500 Jahren. Es war nicht nur die Grausamkeit, die ihm des Nachts diese Bilder bescherte, sondern viel mehr ein ganz bestimmter Verlust, über den zu sprechen er aber noch nicht bereit sei. Noch nicht. Das heißt für mich allerdings, dass er durchaus vorhat, es mir irgendwann zu erzählen - oder etwa nicht? Ich habe ihm viele Fragen in jener Nacht gestellt - und ausnahmslos alle hat er mir beantwortet. Von den fünf unheimlichen Kerlen, die mir aufgelauert hatten, waren zwei Engel und drei Dämonen. Abtrünnige. Sie haben ihre Welten verlassen, um sich ihren Pflichten dort zu entziehen, und leben nun in der Irdischen Welt. Das allerdings stört das empfindliche Gleichgewicht der drei Welten, weswegen nicht selten Engel und Dämonen des Feuer- und Windstammes entsandt werden, um sie wieder einzufangen. Doch hin und wieder entwischen ihnen einige. Von finsteren Gedanken getrieben, sorgen sie nicht selten für Unheil und Chaos, lauern jungen Unsterblichen- wie mir - auf, um sie zu quälen und sie ihrer Macht zu berauben. Denn einmal den eigenen Wurzeln den Rücken gekehrt, wird das ewige Leben plötzlich wieder vergänglich. Und sie benötigen eine Energiequelle, um am Leben zu bleiben. Gruselige Vorstellung. Nicht zum ersten Mal bin ich heilfroh, dass Ian rechtzeitig zur Stelle war. Diese unreinen Kreaturen würden früher oder später zu Schatten mutieren, und das hätte verheerende Folgen für die Irdische Welt und ihre Bevölkerung. Denn die Wesen der Finsternis laben sich an allem, was lebt - und sie sind immer hungrig. Da sie auch nach dem Tod vor diesem Schicksal nicht gefeit sind, hat Ian sie an den einzigen Ort gebracht, wo sie vorerst kein Unheil anrichten können: Zum Loch der schwarzen Seelen, der Kluft zwischen der Oberen und der Unteren Welt. Da diese Unholde einst auf unserer Seite standen, ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass sie Ian kannten. Er hat sich in der Schlacht einen Namen gemacht. Leider geht so etwas auch immer mit Missgunst und Neid einher, weswegen üble Gerüchte bald folgten und allen Ruhm verdrängten. Eines dieser Gerüchte besagte - oder besser; besagt, denn es hält sich hartnäckig bis heute, wie mir Ian verraten hat -, dass er seine Kameraden kaltblütig ermordet und den Schatten als Opfer dargebracht hätte, nur um seine eigene Haut zu retten. Völliger Blödsinn! Aber was wirklich geschehen ist, mochte er dann nicht erzählen. Noch nicht. Allerdings wird er fortan 'Kori' genannt, was so viel wie 'Eis' bedeutet und leider nicht auf seine Magie zurück zu führen ist. Auf meine Frage hin, warum er die Gerüchte nicht ausgeräumt und alles richtig gestellt hat, meinte er nur traurig: "Niemanden interessierte die Wahrheit. Die Leute wollten einfach einen Sündenbock haben..." Irgendwie tut er mir Leid. Er hat so eine große Bürde zu tragen. Aber nach Außen hin scheint ihn das überhaupt nicht zu berühren. Doch in seinem Inneren brodelt es, da bin ich mir sicher. Ich habe gerade das Wohnzimmer wieder aufgeräumt - hier herrschte ein Chaos ohnegleichen - als Ian in der Tür steht, belustigt zu mir rüber schaut und sogar leise lacht. Wie ich es hasse, wenn jemand beim Arbeiten nur zuguckt, statt mit anzupacken. "Du darfst mir gern helfen. Schließlich ist das Meiste hier dein Mist!" schimpfe ich leicht beleidigt. Sofort stößt er sich von dem Türrahmen ab, an den er sich gelehnt hatte und kommt zu mir. Er hat wirklich vor, mir zu helfen. Ich bin begeistert! Kaum steht er neben mir, steigt mir ein wohl bekannter Geruch nach Apfel in die Nase. Verwirrt blicke ich den Magier an. "Hast du etwa mein Shampoo genommen?" "Ist das so schlimm? Erdbeere ist jetzt nicht so meins." antwortet er trocken. Ist das sein Ernst?! Ich habe ja auch gar nicht verlangt, dass er Rheas Shampoo nehmen soll, aber... "Wie wäre es das nächste Mal, wenn du fragen würdest?" Verständnislos sieht er mich an. "Ich nehme es schon die ganze Zeit, seit ich hier bin." WIE BITTE?! In dem Moment unterbricht ein merkwürdiges Knacken meine Gedanken. Ist das... das Türschloss? Nicht schon wieder! Ian scheint es auch gehört zu haben, denn er lehnt sich im gleichen Moment zur Wohnungstür wie ich. Ohne zu zögern, schiebe ich ihn aus dem Wohnzimmer in das meinige und knalle die Tür hinter ihm zu. "Bleib bloß da drin!" zische ich noch, als nur eine Sekunde später die Wohnungstür auffliegt und Rhea mich verdutzt ansieht. "Du bist hier?" "Wo sollte ich sonst sein?" frage ich sie etwas verständnislos. "Na ja... sagtest du nicht, du musst die Stadt verlassen?" "Muss ich auch." Die Schwarzhaarige schließt die Tür und sieht mich dann ernst an. "Aki, ich kann es gar nicht leiden, wenn man mich anlügt! Also?" Doch noch bevor ich mir eine Antwort aus den Fingern saugen kann, schnüffelt sie kurz in der Luft, dann an mir und blickt mich fragend an. "Hast du etwa Besuch?" "Was? Ich? Nein. Wie kommst du darauf?" "Es riecht nach deinem Apfelshampoo aber es haftet weder an dir, noch siehst du aus, als würdest du gerade geduscht haben. Also noch einmal: Hast du Besuch?" "Neeeeheeeiiin." antworte ich gedehnt, mache eine abwertende Handbewegung und meide bewusst den Blickkontakt. "Aki?" setzt sie wieder mit strenger Stimme an. "Hast du etwa Herrenbesuch?" "Nö, bin ganz allein. Ehrlich." Sie wirft mir einen letzten prüfenden Blick zu, der mir verdeutlicht, dass sie mir nicht im Geringsten glaubt, und geht dann in ihr Zimmer. "Ich wollte nur noch ein paar Sachen holen. Wollte ich vor ein paar Tagen schon, aber dann bist du mir ja in die Arme gefallen und ich habe es total vergessen." plappert sie einfach drauf los, während sie einige Klamotten aus ihrem Schrank in eine Tasche stopft. Ich schüttle nur den Kopf. "Lass mich das machen. So zerknautschst du deine Sachen doch nur wieder." Rhea ist und bleibt eine kleine Chaotin. Aber eine liebenswerte Chaotin. Meine liebenswerte Chaotin. Also helfe ich ihr beim Packen, während sie im Bad verschwindet und mit einer unüberschaubaren Anzahl an Kosmetiktöpfchen, Schminktöpfchen und Duschgel zurück kommt. "Warum ist eigentlich die Couch ausgeklappt und für zwei bezogen?" fragt sie mich ganz plötzlich total beiläufig. Mir jagt es einen Eisschauer nach dem anderen über den Rücken, bei der Art, wie sie mich gefragt hat. "Hab in letzter Zeit nachts nicht mehr in meinem Zimmer schlafen können. Und mir war kalt." Skeptisch hebt sie eine Augenbraue. "Dir ist nie kalt." Daraufhin steht sie auf und schlendert aus ihrem Zimmer. Direkt zu meinem! Ich schaffe es nicht mehr, sie daran zu hindern oder sie aufzuhalten und so bleibt mir fast das Herz stehen, als sie die Tür aufreißt, einen prüfenden Blick hinein wirft und dann zu meinem Kleiderschrank spaziert. "Hast du eigentlich noch dieses niedliche Oberteil, das ich dir einmal ausgeliehen habe? Darf ich es zurück haben? Ich steh total auf diesen Blauton und die vielen Rüschen und Schleifchen." "Ähm, ja, glaub ich zumindest. Warte, ich suche es dir eben raus." Wir wühlen kurz durch den Stapel mit den Sommersachen und werden schnell fündig. In einem vernünftigen Haushalt geht eben nichts verloren. Unauffällig suche nun auch ich den Raum ab. Wo ist Ian? Ich strecke meinen Geist aus. Aber hier im Zimmer scheint er nicht mehr zu sein. "Ich bin auf dem Dach. Langsam nervt deine kleine Freundin. Ich dachte, du hättest ihr die Freundschaft gekündigt - warum ist sie immer noch hier?" "Ich habe ihr nicht die Freundschaft gekündigt! Nur gesagt, dass ich sie nicht mehr sehen kann und dass ich die Stadt verlassen muss." "Dafür klebt sie dir aber sehr hartnäckig am Hintern." "Du magst sie nicht oder?" "Nein. Nicht im Mindesten." Dann löst sich sein Geist von meinem und es ist wieder still. Tja, also doch kein Eisbecher zu dritt. Schade irgendwie. Mit einem Mal steht Rhea direkt hinter mir und flüstert: "Spürst du das auch?" Ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen! "Bist du des Wahnsinns? Ich hab mich zu Tode erschrocken!" "Hier ist eine merkwürdige Aura in deinem Zimmer. Spürst du das auch?" fragt sie mich nur erneut. "Nein, ich spüre überhaupt nichts. Was meinst du?" gebe ich vor. Dabei kann ich Ians Macht ganz deutlich spüren. Es ist wie ein unnatürliches Kribbeln auf der Haut. Davon abgesehen, dass ich die Reste seiner Aura hier im Zimmer sogar noch sehen kann, dank meiner Gabe. Rhea tippt sich überlegend an ihr Kinn. "Komisch. Ich könnte schwören, dass sich hier irgendetwas verdammt unnatürlich anfühlt." Sie wirft mir einen Seitenblick zu, den ich nicht zu deuten vermag. Glaubt sie etwa immer noch, ich würde jemanden vor ihr verstecken - okay, ich tue es, aber... Ach egal! Oder weiß sie irgendetwas? Ich schüttle den Kopf. Völlig ausgeschlossen! Menschen wissen nichts von der Existenz von Dämonen und Engeln. Sie glauben zwar daran - zumindest einige - aber sie haben keine Beweise dafür. Rhea streckt sich ausgiebig und lächelt mich dann wieder auf ihre gewohnte Art an. "Ich muss leider wieder los. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du noch hier bist, sonst hätte ich meinen Tag nicht bereits verplant. Aber wenn du magst, lass ich dir meine Lunchbox da." Freudestrahlend holt sie eine rote Box aus ihrer Umhängetasche und sofort schlägt mir der Gestank von Knoblauch entgegen. Und zwar noch bevor sie die Box geöffnet hat! Würgend schlage ich mir die Hände vor den Mund. "Lass gut sein, Rhea, trotzdem danke." Überrascht sieht sie mich an. "Ich dachte, du liebst meine Aufläufe. Dieses Mal war ich sogar sparsam mit dem Knoblauch." Sparsam? Das Teil stinkt zehn Meilen gegen den Wind! Angewidert wende ich mich ab, flüchte geradezu ins Bad. Ich habe das Gefühl, mich überkommt gleich ein Brechreiz. "Entschuldige, ich wusste nicht, dass der Geruch dich noch immer derart aus der Bahn wirft. Geht es wieder?" Die Stimme meiner besten Freundin ist ehrlich besorgt und zum Glück hat sie die Box auch wieder verstaut, wofür ich ihr unendlich dankbar bin. Beinahe zeitgleich verebbt auch die Übelkeit. "Geht schon wieder. Ich glaube, ich kann einfach nur den Geruch von Knoblauch nicht mehr ab." Ich schenke ihr ein Lächeln, welches sie erwidert. "Na gut, ich mach mich dann mal auf. Wir sehen uns sicher noch. Bis dann." Damit verschwindet sie winkend zur Wohnungstür hinaus. Ich lehne mich an die kühlen Fliesen und lasse die aufkommenden Tränen zu. Ian hatte mir versprochen, dass wir heute in die Untere Welt aufbrechen würden. Eigentlich hatte ich mich ehrlich darauf gefreut. Doch Rheas Worte versetzen mir einen erneuten Stich in mein Herz. Vielleicht hätte ich sie die letzten Tage wirklich nicht noch einmal sehen dürfen. Denn jetzt macht sie sich falsche Hoffnungen, während der Schmerz über ihren Verlust mich nun vollends im Griff hat. "Das ist echt nicht komisch, Ian!" herrsche ich meinen Mentor an, der mich nun schon seit geschlagenen zehn Minuten auslacht. "Ich meine es ernst! Hör endlich auf zu lachen!" "Gib doch zu, dass die Situation für dich zeitweise genau so komisch war, wie für mich." "NEIN! War sie nicht!" wütend baue ich mich vor ihm auf. Doch Ian legt lediglich einen Arm um mich, zieht mich an sich und schmunzelt noch immer wie ein Honigkuchenpferd. Er beugt sich zu mir runter, bis seine Nasenspitze mein Ohr streift. "Ich musste dich einfach ein bisschen ärgern. Anders bekomme ich dich nämlich nicht wieder auf die Beine, mein kleiner Trauerkloß." Er wuschelt mir durch die Haare und lässt mich einfach stehen. Ich brauche einen kleinen Moment, um diese Situation zu verarbeiten. Hat er gerade zugegeben, dass er sich absichtlich über mich lustig gemacht hat? Einfach nur, weil das Bild, welches Rhea und ich abgegeben haben, als sie versuchte herauszufinden, ob und welche Art von Besuch ich verstecke, für einen Außenstehenden merkwürdig schräg ausgesehen hat. Und hat er es absichtlich zugegeben, um mich noch weiter wütend zu machen? Nun, das ist ihm gelungen - ich bin stinksauer! "IAN!!!" brülle ich ihm hinterher und schließe wieder zu ihm auf. "Lass es gut sein, Aki. Verschwende doch deine Energie nicht damit, mich zu beschimpfen. Mich lässt das ohnehin völlig kalt. Sieh dich lieber um." entgegnet er immer noch schmunzelnd. Natürlich komme ich dieser Aufforderung nicht direkt nach. Zumindest nicht offensichtlich, denn nach außen hin schmolle ich noch ein bisschen. Aber meine Umgebung nehme ich dennoch wahr. Ian hat uns über ein Portal, welches er im Wohnzimmer geöffnet hat, in die Untere Welt gebracht. Nebenbei erwähnte er dann noch, dass nur Dämonen und Engel diese Portale sehen und benutzen können. Für Menschen ist dies unmöglich. Bedächtig lasse ich meinen Blick schweifen. Das Portal hat uns direkt auf eine Hochebene befördert. Überall blühen Blumen, Kräuter und Gräser, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Links von unserem Pfad geht es teilweise ziemlich steil bergab, während es an anderen Stellen über seichtere Wege hinunter ins Tal geht, welches in einem riesigen Wald mündet, über den sich die ein oder andere Nebelbank legt. Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen, als ich hinunter schaue. Sofort erwacht wieder der Drang in mir, zum Wald zu preschen und durch das Unterholz zu jagen. Aber ich muss ihn beiseite schieben, denn dafür hat Ian mich nicht hierher gebracht. Er führt uns an einem kleinen Bach entlang, dessen Ufer von üppigem Grün bewachsen sind. Dieser schlängelt sich weiter in ein anderes Tal hinab, wo bereits die Ausläufer einer großen Stadt erkennbar sind - vermutlich unser Ziel. Zu unserer rechten Seite erhebt sich ein gewaltiges Gebirge, dessen Gipfel zum Teil in den Wolken verschwinden. Ehrfürchtig blicke ich nach oben und muss stehen bleiben. Denn was meine Augen dann erfassen, habe ich so noch nie gesehen und es verschlägt mir die Sprache: Über uns erstreckt sich ein Himmel, der in den unterschiedlichsten Violett-Tönen leuchtet, sogar leicht zu flimmern scheint. Er ist durchzogen von grünen und goldenen Schleiern und an seinem Firmament funkeln silberne Sterne. Nie zuvor habe ich etwas vergleichbar Schönes gesehen. Ian stellt sich neben mich und schaut ebenfalls zum Himmel. "Daran werde ich mich nie satt sehen können. Egal wie oft ich in diesen Himmel blicke, er sieht jedes Mal anders aus." Lächelnd sehe ich meinen Mentor an, der meinen Blick nach kurzer Zeit erwidert. Ein näher kommendes Knirschen zerstört allerdings diesen friedlichen Moment und gleichzeitig blicken wir auf den Pfad vor uns, wo sich nun eine große Gestalt abzeichnet. Noch bevor ich wirklich erkennen kann, wer da auf uns zu steuert, erkenne ich die Aura, die die Person umgibt. Sie ist meiner sehr ähnlich - die gleichen goldbraunen Funken tanzen um die Gestalt herum. Es ist also ein Erddämon? "Nicht nur irgend ein Erddämon, Aki." Ich schnaube verächtlich. Ian lernt es einfach nicht! "Jetzt schimpf doch nicht gleich wieder - ich bin nicht mehr der Jüngste, vergiss das nicht. Ich brauche etwas länger, um etwas Neues zu lernen." erwidert er breit grinsend. "Alter Knacker." antworte ich darauf nur belustigt. "Küken." kommt es mit dem gleichen Grinsen zurück. Ob wir es wohl jemals lernen, uns wie zwei Erwachsene zu unterhalten? Ich werfe einen zweifelnden, wenn auch belustigten Blick zur Seite. Ian grinst noch immer. Nein, wohl eher nicht. Als der Dämon in Sichtweite ist, mustere ich den Mann interessiert. Er hat kurze braune Haare, sein Pony hängt ihm in einem schiefen Scheitel leicht in den Augen, die grün leuchten. Auf seinen Zügen zeichnet sich ein verschmitztes Grinsen ab, als er auch uns bemerkt. Er beschleunigt seine Schritte, was die Kapuze seines Shirts, welches natürlich offen ist, damit man die Muskeln besser sehen kann - müssen hier eigentlich alle oben offen herum rennen? - zum Hüpfen bringt. Fröhlich winkt er in unsere Richtung, bleibt direkt bei Ian stehen und begrüßt diesen mit einem kräftigen Schlag auf die Schulter. Der Magier zuckt dabei nicht einmal mit der Wimper - mich hätte der Schlag einige Meter nach vorne katapultiert. "Yrrian, du alter Haudegen. Was machst du denn hier?" erklingt seine Stimme. "Meinen Schützling nach Hause bringen." "Oh." Der junge Mann mit dem braunen Haar mustert mich breit grinsend und wuschelt mir dann einmal durch die Haare. Genervt knurre ich ihn an und versuche zu retten, was von meiner Frisur noch zu retten ist. Sind denn hier alle gleich?! "Die ist ja putzig - wenn ich ihre dämonische Aura nicht spüren würde, hätte ich glatt behauptet, sie wäre ein Engel, so klein wie sie ist." Ich bekomme gleich Schnappatmung! Klein? ICH?! Doch noch bevor ich meinen Gefühlsausbruch in Worte fassen kann, legt Ian mir seine Hand auf meine Schulter. "Haru, das ist Aki. Aki, das ist Haru. Er ist..." plötzlich verändert sich Ians Gesichtsausdruck. "Verflucht, warum sind DIE hier?" Auch Haru dreht sich in die Richtung, in die Ian schaut. "Was machen die Viecher hier so nah an der Stadt?" "Was? Was meint ihr?" frage ich und blicke verwirrt zum Horizont. "Schatten." kommt es mit einem grollenden Unterton von dem Braunhaarigen. Geschockt blicke ich zu meinem Mentor auf, dessen Mimik mittlerweile alles andere als gut gelaunt ist. Von der eben noch ausgelassen Stimmung ist nichts mehr übrig. "Das scheint wohl das Empfangskomitee für euch zu sein." meint Haru noch, ehe ihn ein Wirbel aus Staubkörnern und kleinen Blättern umgibt und im nächsten Moment ein verdammt großer brauner Wolf vor mir steht. Mir bleibt der Mund offen stehen. Sieht das bei mir auch so cool aus? "Du solltest dich vielleicht auch verwandeln. In deiner menschlichen Gestalt bist du ein leichtes Opfer für die Schatten." reißt Ian mich aus meinen Gedanken. Ich blinzle ein paar Mal, bevor die Information zur Gänze in meinem Hirn ankommt. Wir werden kämpfen müssen. Aber wie bekämpft man Schatten? Ich bin ja zuvor noch nie welchen begegnet. "Folge einfach deinen Instinkten." Ja, klar. Hat er vielleicht noch so einen oberschlauen Tipp für mich? Ich werfe Ian noch einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor ich dann ebenfalls meine dämonische Gestalt annehme. Sehr zu meinem Leidwesen muss ich feststellen, dass ich gut zwei Köpfe kleiner bin als Haru. "Na so eine Überraschung, du bist ja auch ein Wolf, kleines Mädchen." dringt Harus belustigte Stimme in meinen Geist. Danke auch! Ich knurre ihn nur kurz an und blicke dann auf den Hochpfad, der aus dem Gebirge direkt auf unseren Weg führt. Wie eine Lawine der Finsternis poltern die Kreaturen den Pfad hinab. Mir läuft es kalt den Rücken herunter. Diese... Wesen wirken irgendwie hässlich verzerrt, ihre eigentlich seelenlos wirkenden Augen haben einen grausamen, düsteren Glanz. Ihre Hände und Füße sind zu scharfen Klauen mutiert und einige von ihnen besitzen sogar einen Schweif, der in einem skorpionartigen Stachel endet. Ihre Körper sind schlichtweg so dunkel, wie die Finsternis selbst, und scheinen alles Licht und Leben zu absorbieren. "Und was genau tun wir jetzt?" wende ich mich an meine beiden Begleiter. Ich gebe zu, diese Situation überfordert mich gerade etwas. "Wir müssen sie zerstören, bevor sie die Stadt erreichen." kommt es von Haru. Zerstören? Aber wie? Das hier ist immerhin meine allererste Begegnung mit diesen Dingern. "Hör auf zu denken, Aki. Du hast Klauen und Reißzähne. Was glaubst du wohl, wozu?" tadelt Ian mich. "Und lass dich nicht von ihnen erwischen. Wenn sie dich beißen oder kratzen, infizieren sie deinen Körper mit Finsternis und du wirst eine von ihnen." Die Information hätte er gern auch für sich behalten können! "Du musst wissen, womit du es zu tun hast. Ich will nicht, dass du leichtsinnig wirst." "Machst du dir etwa Sorgen um mich?" "Träum weiter, Prinzessin." Er wirft mir noch einen belustigten Blick zu. Schon klar. Von wegen. Ich habe das kurze Aufblitzen von Sorge sehr wohl gesehen. Die Flut der finsteren Kreaturen ist nur noch knapp 20 Meter von uns entfernt, als eine Eislanze eine von ihnen durchbohrt. Sofort ertönt ein gellender Schrei und das Wesen bricht in sich zusammen, während eine dunkle Wolke gen Himmel steigt. "Es ist völlig egal, wo du sie verletzt, jede Wunde ist tödlich!" "Ok." Damit stürme ich voran, direkt hinter Haru hinter her, der sich bereits mitten ins Getümmel wirft. Geschickt weicht er den Klauen und Zähnen der Schatten aus, schlägt seine eigenen Fänge in die Kreaturen und hat bereits eine Handvoll von ihnen erledigt, bevor ich bei ihm bin. "Haru, hinter dir!" warne ich ihn gerade noch rechtzeitig. Er duckt sich, springt ein Stück zur Seite und weicht somit einem Stachel aus, der sich nun in den steinigen Untergrund bohrt. Direkt danach verbeiße ich mich in der Schulter der Kreatur, die ebenso gellend aufschreit, wie die anderen zuvor. Aus der Wunde strömt eine stinkende Masse aus, und sofort lasse ich von dem Vieh ab, welches direkt danach in sich zusammen fällt. "Du solltest nicht zu viel davon einatmen. Es betäubt die Sinne und lähmt die Muskulatur." warnt mich Haru. Keuchend und hustend versuche ich, das Zeug irgendwie wieder aus meinen Lungen zu bekommen. Ein ekelerregender Geschmack legt sich auf meine Zunge und meine Augen beginnen, wie Feuer zu brennen, während ein leises Fiepen in meinen empfindlichen Ohren ertönt. "Aki!" Kühler Wind rauscht an mir vorbei und ein Zischen und Splittern erklingt in meiner unmittelbaren Nähe. Hat Ian mich gerade gerettet? Wäre nicht das erste Mal... "Links von dir!" Auf Harus Hinweis hin, beiße ich nach links und bekomme auch irgendetwas zu fassen, das sich nicht lebendig anfühlt - ich scheine den Schatten erwischt zu haben. Gleich nachdem ich ihn gebissen habe, ziehe ich mich wieder ein Stück zurück. Ich muss ja nicht noch mehr von dem Zeug einatmen. Mit zwei Sätzen bin ich vorerst aus der Gefahrenzone, schüttle mein Haupt kräftig, in der Hoffnung, die Benommenheit würde nachlassen. Doch leider ist dies von minderem Erfolg gekrönt. Blinzelnd versuche ich mir ein Bild zu machen. Gar nicht so einfach. Und dann kommt mir eine Idee. Ich muss nicht mit den Augen sehen - ich kann ihre finsteren Auren auch mit meinem Geist sehen - und den können sie nicht vergiften! Also schließe ich meine schmerzenden Augen und konzentriere mich. Ich nehme Ians mächtige Aura ein Stück weiter hinter mir wahr, sowie seine Magie, die er auf die Schatten schleudert - es sind blaue Funken, gepaart mit kleinen grünen. Ich kenne diese Konstellation bereits, auch wenn sie mich noch immer verwundert. Etwas abseits auf meiner rechten Seite befindet sich ein Knäuel an goldbraunen Funken, welches wild um sich schlägt - Haru. Und um ihn herum und vor mir rabenschwarze Funken, die jeglichen Glanz verloren haben. Einige verteilen sich, wie ein explodierender Feuerwerkskörper und lösen sich in Nichts auf. Das müssen die Schatten sein, die die Jungs erledigen. Dann teste ich doch einmal, ob meine Rechnung aufgeht. Ich weiche einer dunklen Wolke aus, wende direkt hinter ihr und beiße zu. Im nächsten Moment verteilt sich die Finsternis in alle Himmelsrichtungen und schnell weiche ich etwas zurück. Es klappt tatsächlich. Es dauert nicht lange, da haben wir alle Schatten zerstört. Der Letzte war hinter Haru aufgetaucht und in einem waghalsigen Sprung war ich über den Wolf hinweg gefegt, erwischte die Kreatur im Flug und riss sie mit meinen Zähnen und Klauen von ihm weg. Allerdings war ich dabei so unsanft auf dem Rücken gelandet, dass ich erst einmal kurz liegen bleiben musste. Es dauert einen Moment, da erscheinen über mir zwei Schatten - keine Monster, sondern Ian und Haru in ihrer menschlichen Gestalt - und halten mir je eine Hand hin, um mir aufzuhelfen. Ein beleidigtes Schnauben meinerseits -schließlich wäre ich auch allein wieder hoch gekommen -, dann nehme auch ich meine menschliche Gestalt wieder an, kann mir ein Grinsen nicht verkneifen und ergreife beide mir dargebotenen Hände. "Sie stellt sich gar nicht mal so dämlich an. Du hast sie besser ausgebildet als erwartet, Yrrian." "Oh, glaub mir, Haru, sie auszubilden, ist ein Leichtes. Sie zu ertragen, eine ganz andere Sache..." "Ach was, so schlimm kann sie gar nicht sein, oder?" Der junge Mann umarmt mich freundschaftlich und wuschelt mir erneut durch meine Haare. Diese unerwartete Nähe treibt mir die Schamesröte ins Gesicht. Es ist bisher verdammt selten vorgekommen, dass ich von einem derart gut aussehenden Mann umarmt wurde. Ich bekomme noch weiche Knie, wenn er mich nicht gleich wieder los lässt. Ian räuspert sich belustigt. Amüsiert er sich etwa über meine Gedanken? "Ich wurde vorhin leider unterbrochen. Aki, darf ich dir Haru vorstellen. Dein Bruder." "Mein... WAS?!" Kapitel 11: Abschied? --------------------- Kapitel 11: Abschied? "Mein... mein..." ich kann nur noch stottern. Wie kann das möglich sein? Ich meine, bis vor wenigen Wochen habe ich geglaubt, meine richtige Familie sei verstorben, und jetzt habe ich nicht nur Eltern, sondern auch noch einen Bruder? Haru zieht mich zurück in eine Umarmung, wuschelt mir wieder durch die Haare und grinst dabei wie ein Honigkuchenpferd. "Dein Zwillingsbruder, um es ganz genau zu nehmen." Ich kollabiere gleich. Darf ich? Nur ganz kurz. Damit ich das hier verarbeiten kann... Ian lacht. Haru auch. Nur ich stehe da, wie ein bedröppelter Klotz. Nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen oder anderweitig logisch zu denken. "Haru, du solltest ihr vielleicht ein wenig Luft zum Atmen lassen. Ich glaub, sie wird sonst gleich ohnmächtig." kommt es belustigt von meinem Mentor. Ich werde losgelassen, merke, wie ich leicht taumele, dann lege ich meinen Kopf in meine Hände. Ganz ruhig, Mädchen! Alles halb so wild. Du hast nur ganz kurz deinen eigenen Bruder angeschmachtet. Deinen Zwillingsbruder. Oh Gott, ich will sterben! Ian kann sich kaum noch beherrschen, ich höre deutlich sein Glucksen. Er liest meine Gedanken, wie einen Comic. Schön, dass wenigstens einer von uns das Ganze hochgradig amüsant findet. Ich würde am Liebsten vor Scham im Boden versinken! Mein Bruder stupst mich von der Seite an, geht etwas in die Knie, um mit mir auf Augenhöhe sein zu können. "Hey, Schwesterchen, alles okay bei dir?" Dann streichelt er mir über den Kopf. Ok, jetzt reicht es! "Griffel weg aus meinen Haaren! Ich bin doch kein Hündchen, dem man ständig durch's Fell wuscheln kann! Und Ian, wenn du nicht sofort aufhörst zu lachen, schwör ich, bring ich dich eigenhändig ins Grab!" Ja, ich habe soeben die Geduld mit den Beiden verloren. Als ob einer von ihnen nicht schon anstrengend genug wäre. Aber beide zusammen sind ein furchtbares Duo, zumindest so lange man die Leidtragende ist. "Ach komm, Aki. Stell dich nicht so an. Ist doch nichts passiert." lacht der Blauhaarige und kassiert dafür von mir vernichtende Blicke, die ihn herzlich wenig kümmern. Nur Haru blickt gerade weniger belustigt, dafür sehr interessiert zwischen uns hin und her. "Yrrian? Hat meine Schwester dich gerade 'Ian' genannt?" Sofort wird mir mein Fehler bewusst und ich schlage mir die Hand vor den Mund. Ian ist doch Teil seines wahren Namens. Hier in der Unteren Welt sollte ich ihn doch nur Yrrian nennen. Er hatte mir das extra noch eingeschärft, bevor wir durch das Portal gegangen sind. Das Lachen meines Mentors erstickt schlagartig und er schaut schnell woanders hin. "Du musst dich verhört haben, Haru." "Definitiv nicht." Haru stößt Ian seinen Ellbogen in die Seite. "Du alter Schwerenöter. Dabei weißt du doch ganz genau, dass man einem Wolf nicht den Kopf verdreht." "Das hast du in den falschen Hals bekommen, Haru." würgt er meinen Bruder ab und legt die altbekannte Kälte in seine Stimme. Eine Weile ist es still und die beiden fixieren sich einfach nur. Haru grinst dabei breit, während Ians Blick vor Kälte regelrecht zu lodern scheint. Ich lege den Kopf schief und schaue etwas genauer hin. Ihre Auren sind an einer Stelle miteinander verbunden. Sie reden also über mentale Kommunikation miteinander. Ob ich mich da mit einklinken kann? Vorsichtig strecke ich meine Aura zu ihnen aus, doch so sehr ich mich auch bemühe, mich an die bereits verbundenen Verwirbelungen zu heften, es klappt einfach nicht. Entweder tanzen sie einfach davon oder andere Verwirbelungen stellen sich meiner Aura in den Weg. Ok, den Wink habe ich verstanden. Es ist also eindeutig ein Privatgespräch. "Seid ihr dann auch irgendwann fertig damit, euch gegenseitig zu beschimpfen? Oder wollen wir hier übernachten?" murre ich genervt und sofort schießt ein eiskalter Blick zu mir herüber. "Ich bringe dich schon noch rechtzeitig an deinen Bestimmungsort, Prinzessin. Ich muss nur eben noch etwas mit dem Holzkopf hier klären!" knurrt Ians Stimme in meinem Kopf. Er muss richtig sauer sein. "Kein Grund, mich derart anzuknurren. Und im Übrigen bin ich keine Prinzessin!" fauche ich zurück. Was kann ich bitte dafür, wenn mein Bruder ihn aufzieht und verärgert? Ein kleines Lächeln umspielt seine Züge, während er mir einen schnellen Seitenblick zuwirft. "Genau genommen bist du das schon. Als Tochter des Alphapaares bist du die direkte Nachfolgerin. Du wirst irgendwann in ihre Pfotenstapfen treten und das macht dich zu etwas wie einer Prinzessin." "Ich will aber keine Prinzessin sein! Und ich will schon gar nicht, dass du mich so nennst! Bei dir klingt es so, als würdest du mich verschaukeln." "Vielleicht tue ich das ja auch." "Du bist so ein Arsch!" wütend funkel ich zu ihm herüber, doch er lächelt mir nur keck entgegen. Am liebsten würde ich ihn auf den Mond schießen! Nach einer Weile winkt Haru ab und setzt wieder sein breites Grinsen auf. "Schon gut, Yrrian. Belassen wir es dabei. Ich muss jetzt ohnehin los." Er winkt mir fröhlich zu. "Und wir sehen uns dann später, Schwesterchen." "Aki! Mein Name ist Aki! Und warum bin ich überhaupt die Kleine?" "Weil du sage und schreibe zwei Minuten jünger bist, ätsch." Haru streckt mir frech die Zunge raus und nimmt die Beine in die Hand. Er folgt dem Gebirgspfad, den zuvor die Schatten herunter gekommen waren. Genervt verschränke ich meine Arme vor der Brust. "Der Kerl regt mich jetzt schon auf. Bist du sicher, dass wir verwandt sind? Diese absolute Fröhlichkeit nervt!" Ian grinst mich beschwichtigend an. "Ich bin mir ganz sicher. Du wirst dich schon noch an ihn gewöhnen. Eigentlich ist er gar kein schlechter Kerl. Ich mag ihn." "Sind alle im Rudel so überdreht wie er?" "Nein." "Du hast schon wieder keine gesteigerte Lust mit mir zu reden, oder?" seufze ich leise, nachdem er im Anschluss an seine einsilbige Antwort sich wieder in Schweigen gehüllt hat. "Haru zieht mich nur noch immer auf. Er weiß einfach nie, wann Schluss ist. Das hat nichts mit dir zu tun." antwortet er monoton. Nein. Natürlich nicht. Es hat ja nie etwas mit mir zu tun. Dennoch bin ich immer diejenige, die seine Launen abbekommt. Völlig gleich, ob ich sie heraufbeschworen habe oder nicht. "Nimm nicht immer alles so persönlich, Aki. Damit könntest du leicht anecken bei einigen Personen." "Wie zum Beispiel bei dir?" brumme ich nur. Ich hasse es, wenn er mich belehren will. Ich bin doch kein kleines Mädchen mehr! Ich weiß, wie ich mich benehmen muss. Ian tippt sich an die Stirn und reibt ein wenig darüber. Anscheinend ist er wirklich nicht bei bester Laune. Also beschließe ich, einfach die Klappe zu halten, auch wenn ich weiß, dass das nur bedingt etwas bringt, da er ja meine Gedanken hören kann. Jetzt muss ich mich also auch noch zusammen reißen und aufpassen, was ich denke. So habe ich mir diesen Tag wirklich nicht vorgestellt. Und er sicher auch nicht. Ein kurzer Seitenblick verrät mir, dass mein Mentor einfach nur stur geradeaus guckt. Er versucht mich zu ignorieren. Ich sollte ihm dafür dankbar sein, oder? Immerhin feinden wir uns so nicht weiter an. Da meine Begleitung das Reden eingestellt hat, und ich auch sonst nichts Besseres zu tun habe, sehe ich mich weiter um. Wie ich schon vermutet habe, führt Ian mich schnurstracks zu der Stadt, die ich bereits erspäht hatte. Sie ist viel größer, als ich gedacht habe. Von unserer erhöhten Position aus kann man einen Teil des Aufbaus sehr gut erkennen. Mittig steht ein riesiges Gebäude mit einem hohen Turm, dessen Spitze in allen möglichen Farben des hiesigen Himmels zu leuchten scheint. Fast könnte man denken, dass die Turmspitze mit Spiegeln ausgekleidet ist und damit die Umgebung spiegelt. Der Turm selbst scheint ein eigenständiges Gebäude zu sein und in einer Art Garten zu stehen, der umgeben ist von einem pompösen, rundlichen Gebäude, welches in jede Himmelsrichtung in einem gigantischen Torbogen ausläuft. Ich gehe jede Wette ein, dass dort Luzifer lebt. Von den Torbögen aus erstreckt sich je eine breite Straße, die die Stadt damit in vier gleich große Teile teilt. Diese Straßen führen direkt zu einem Ring, der die Viertel und den Turm einschließt. Mir fällt auf, dass es nur einige wenige Gebäude im Inneren dieses Kreises gibt. Dafür sind diese aber umso größer, wirken herrschaftlich und ihre Dächer erstrahlen, je nach Viertel, in einem anderen Glanz: Rot, blau, grün und golden. Sicher stehen die Farben für die einzelnen Elemente. Wenn sie sich an den Farben der Aura eines Dämons orientieren, würde rot für Feuer stehen, blau für Wasser, gold für Erde und grün demnach für Wind. Dabei fällt mir etwas ein, das mir neulich schon aufgefallen ist. Ich werfe einen flüchtigen Blick zu Ian. Doch als ich einen Blick auf seine Aura werfen will, verschwindet diese plötzlich. Irritiert sehe ich ihn an. Wie geht das? Und warum macht er das? Ok, die letzte Frage streichen wir. Er wird wissen, was ich herausfinden wollte. Dabei wollte ich nur noch einmal prüfen, ob meine Augen mich damals nicht getäuscht hatten. Als wir die mentale Kommunikation geübt haben, war ich mir sicher, neben seinen blauen Verwirbelungen, auch einige grüne gesehen zu haben. Wenn meine Theorie zu den Farben der Dächer also stimmt, würde das doch bedeuten, dass grüne Verwirbelungen für einen Winddämonen stehen. Aber kann das möglich sein? Und wenn ja, dann müssten doch viel mehr Spannungen zwischen uns herrschen, da Wind und Erde nicht miteinander auskommen. "Lass deine Nase aus Dingen, von denen du keine Ahnung hast." reißt der scharfe Ton seiner Stimme mich aus meinen Überlegungen. Ich habe also schon wieder so einen wunden Punkt erwischt. Auch wenn ich nicht so genau weiß, warum ihn das so verärgert. Aber ich beschließe, mir keine weiteren Gedanken mehr darüber zu machen. Stattdessen blicke ich wieder auf die Stadt, die unter uns liegt. Unser Pfad schlängelt sich derzeit am Rande des Gebirges entlang, sodass ich einen hervorragenden Ausblick habe. Hinter dem Ring scheint die eigentliche Stadt erst richtig loszugehen. Die Straßen verzweigen sich weit, wie die Äste eines Baumes und die Viertel vermischen sich untereinander. Obwohl dass die Häuser hier viel kleiner wirken, scheinen sie nicht minder herrschaftlich zu sein. Und sie haben noch etwas gemein: Alle haben schwarz glänzende Dächer. Die Häuser verlieren sich irgendwann in der Landschaft, anscheinend gibt es keine Stadtgrenze. Sie wächst mit ihrer Bevölkerung. Ich sehe mich weiter um. Der große Wald, den ich bereits bei unserer Ankunft erspäht habe, säumt eine Seite der Stadt und immer wieder ist zwischen den Baumkronen etwas Glitzerndes zu erkennen: Ein Fluss. Seine Arme erstrecken sich nicht nur durch den Wald, sondern führen überall an der Stadt vorbei und durch sie hindurch. Ich bleibe stehen und betrachte das Panorama verträumt. Dieser Anblick ist mir so vertraut, als würde ich ihn schon mein Leben lang kennen und doch zugleich unendlich fremd. Eine sanfte Brise weht mir durch mein zerzaustes Haar und lässt mich leise seufzen. Ich entknote mein Haarknäuel und genieße, wie der warme Wind mit meinen Haaren spielt. Ganz tief in mir kann ich es deutlich fühlen: Das hier ist meine Heimat. Genau hier gehöre ich hin. Am Rande meines Blickfeldes nehme ich eine Bewegung wahr. Ian ist zu mir gekommen. "Bist du böse mit mir?" frage ich leise, doch er schüttelt den Kopf. "Bist du böse auf Haru?" Wieder ein Kopfschütteln. Nun sehe ich ihn doch an. Er hat wieder seine ausdruckslose Maske aufgesetzt. "Was ist es dann?" starte ich einen letzten Versuch. "Dein Bruder hat mich nur an etwas erinnert, dass ich in den Wochen bei dir beinahe vergessen hätte. Es ist besser, wenn wir nicht allzu vertraut miteinander umgehen. Das ist alles." Traurig senke ich den Blick. Er isoliert sich also wieder. Dabei dachte ich wirklich, wir wären Freunde geworden. "Ich habe es dir schon einmal gesagt, Aki. Wir können keine Freunde werden." Ja, das hat er. Aber das war, bevor er mich gerettet hat. Die letzten Tage waren doch so angenehm gewesen. Hätte ich doch nur nicht so darauf gepocht, endlich zu meiner Familie zu können, dann hätte er seine Meinung vielleicht geändert. "Das glaube ich nicht. Irgendwann wirst du es verstehen. Lass uns weiter gehen." Damit wendet er sich um und setzt den Weg fort. Schweigend folge ich ihm. Nach weiteren, mir endlos vorkommenden Minuten Fußweg, in denen keiner von uns mehr ein Wort verloren hat, kommen wir an den ersten Häusern der Stadt vorbei. Neugierig sehe ich mich wieder um. Die Gebäude sind ausnahmslos zweistöckig und die Dächer recht flach gehalten. Die Außenwände sind alle verziert mit malerischen Landschaften mit Wiesen, Flüssen, Bergen und Wäldern. Kein Motiv gleicht dem anderen, aber jedes ist wunderschön. Anscheinend gibt es richtige Künstler unter den Dämonen. Ich halte kaum noch Schritt mit Ian, da ich mir am Liebsten jedes Haus genau betrachten würde, mahne mich aber selbst dazu, nicht stehen zu bleiben. Eigentlich habe ich ja auch mehr als genug Zeit, mir jedes Kunstwerk einzeln zu betrachten. Immerhin werde ich ja nun nicht mehr älter. Eine innere Vorfreude breitet sich in mir aus. Es gefällt mir mit jeder Minute besser in der Unteren Welt. Je weiter wir kommen, umso voller werden die Straßen. Ich komme kaum noch heraus aus dem Staunen. Hier laufen die unterschiedlichsten Fabelwesen umher! Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich alle benennen könnte. Zudem sind viele Dämonen in ihrer humanoiden Gestalt unterwegs, weswegen ich sie lediglich aufgrund ihrer Auren zu den einzelnen Elementen zuordnen kann. Plötzlich bleibt Ian stehen, verkrampft sich zusehends und blickt verärgert nach rechts. Ich folge dem Blick und sehe zwei Damen direkt auf uns zusteuern. Ihren Auren nach zu urteilen, sind es Feuerdämonen. Sie sind hochgewachsen, kurvig und knapp bekleidet. Da, wo ihre Füße sein sollten, sind Hufe und auf dem Kopf haben sie Hörner. Ich muss nicht lange raten, um zu wissen, dass da zwei Sukkuben zu uns kommen. "Die Zwei haben mir gerade noch gefehlt..." knurrt er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Verständlich, dass er nicht erpicht auf ihre Gesellschaft ist. Immerhin können Wasser und Feuer sich nicht ausstehen. "Glaub mir, diese Antipathie beruht nicht auf Elementarbasis. Sukkuben verstehen es meisterhaft sich dem Element anzupassen, das sie zu umgarnen versuchen. Sie sind Meisterinnen der Täuschung und verflixt trickreiche Biester. Ich kann die Damen deswegen nicht ausstehen, weil sie nicht begreifen, dass ich es bereits lange hinter mir gelassen habe, mich mit ihnen einzulassen." Ok, das sind Bilder, die ich nicht unbedingt haben wollte. Mir ist vollkommen klar gewesen, dass Ian durchaus erfahrener ist, aber die Vorstellung, wie er... mit einer Sukkubus... nein, zwei! Das wird mich noch einige Albträume lang verfolgen... "Yrrian!" begrüßt die Erste ihn überschwänglich und klammert sich direkt an seinen linken Arm. Ihr langes, ebenholzfarbenes Haar schwingt einmal um ihren Körper und nun kann ich auch einen Blick auf ihren Schweif erhaschen. Diese Sukkubus erfüllt wirklich jedes Klischee: Vollbusig, animalisch, verrucht. "Wer hätte gedacht, dass wir diesem gut aussehenden Mann heute über den Weg laufen würden. Du warst recht selten hier in den letzten Jahren. Es heißt, du hättest eine neue Eroberung verführt. Stimmt das?" Das zweite Weibsbild hängt an seinem anderen Arm und malt ihm mit dem Zeigefinger Kreise auf die Brust. Genervt und mit eiskaltem Blick löst er sich aus den Umklammerungen. "Ich habe keine Zeit für euch. Weder heute noch sonst irgendwann. Wenn die Damen mich dann also entschuldigen würden. Ich habe noch etwas Wichtiges zu erledigen." Nun erspähen die Dämoninnen auch mich und sofort beginnen ihre roten Augen zu lodern. Ein ungutes Gefühl beschleicht mich. Doch noch bevor auch nur eine von ihnen einen Schritt auf mich zu machen kann, packt Ian sie am Handgelenk. "Wagt es und ich vergesse mich!" droht er ihnen und seine Augen leuchten grün auf. Die Schwarzhaarige entzieht ihm ihr Handgelenk und weicht einige Schritte vor ihm zurück. Zischend sieht sie erst ihn und dann mich an. Wobei sie ein drittes Auge entblößt, welches bis eben verborgen war und mich nun fixiert. Sofort läuft es mir kalt den Rücken herunter. Mit den Damen ist nicht gut Kirschen essen. So langsam begreife ich, warum Ian mich damals nicht hat alleine gehen lassen. Ich gebe es nur ungern zu, aber er hatte Recht: Allein hätte ich nicht den Hauch einer Chance gegen diese beiden Verführerinnen gehabt. Mein Mentor lässt einen kleinen Eissturm aufkommen, was die Damen in die Defensive treibt. Das dritte Auge verschwindet wieder und sie weichen weiter zurück. "Und jetzt verschwindet endlich. Ihr habt uns lange genug aufgehalten." Ein schneller Blick über meine Schulter zeigt mir, dass es anscheinend niemanden gekümmert hat, was sich hier eben abgespielt hat. Somit bin ich mehr als erleichtert, als die Beiden uns endlich den Rücken zukehren. "Also wirklich, Yrrian. Wo hast du nur dein Benehmen gelassen? Kaum bist du ein paar Jahre nicht im Land, schon vergisst du deine Manieren." ertönt es etwas abseits von uns. Ich drehe mich zu der weiblichen Stimme um, die so liebevoll und sanft klingt. Mein Herz klopft mir bis zum Hals, meine Hände werden schweißnass und mein Innerstes ist mit einem Mal extrem aufgewühlt. Wie in Zeitlupe passiert alles. Meine Augen erblicken eine wunderschöne Frau, die am Rande eines der Dächer sitzt und uns anlächelt. Ihr langes, schneeweißes Haar fällt fließend an ihrem Körper herab, ist im Rücken locker zusammengebunden, während zwei Strähnen nach vorne fallen. Ihre himmelblauen Augen nehmen mich sofort gefangen und lösen in mir einen Sturm aus Emotionen aus. Als sie mich erblickt, werden ihre Augen groß und beginnen zu glänzen. Elegant hüpft sie vom Dach und landet direkt vor mir. Zitternd streckt sie ihre schlanken Arme nach mir aus und eine erste Träne löst sich aus ihren Augen. "Mein kleines Mädchen. Endlich!" flüstert sie, überbrückt die letzten Zentimeter zwischen uns und schließt mich in eine Umarmung, die auch mir die Tränen in die Augen treibt. Kann das sein? Ist diese Frau etwa...? "Ja, du bist es. Ich würde dich überall wieder erkennen, egal wie lange ich dich nicht sehen durfte. Endlich habe ich dich wieder. Meine Eiyu." Die letzten Worte hat sie so leise gesprochen, dass nur ich sie hören konnte. Mein Körper reagiert ganz von allein auf den Namen und auch ich schließe meine Arme um die Frau. Jetzt sind wirklich alle Zweifel ausgeräumt. Diese Frau, die mich gerade so herzlich in ihren Armen hält, ist meine Mutter. Und Eiyu ist mein wahrer Name. Mein Herz überschlägt sich fast vor Freude. Mir war überhaupt nicht bewusst, was für starke Gefühle diese Begegnung hervorrufen würde. Und so lasse ich es einfach geschehen, kralle mich in ihren Kimono und atme tief ihren Duft ein. Meine Mutter duftet nach Wald und einer blühenden Sommerwiese. Wie wundervoll. Viel zu kurz hält die Umarmung meiner Meinung nach an, doch sie schiebt mich ein Stück von sich und betrachtet mich dann voller Stolz. "Du hast die Augen deines Vaters, weißt du das?" Ich schüttle nur leicht den Kopf. Woher hätte ich das auch wissen sollen. Dann blickt sie zu Yrrian, lächelt dankbar und streichelt ihm über die Wange. Ich bin mehr als überrascht, dass er diese Berührung einfach so zulässt. "Danke, Yrrian. Kein Wort kann meine tiefe Dankbarkeit ausdrücken. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel es mir bedeutet, meine Tochter nach 21 Jahren endlich wieder in meinen Armen halten zu dürfen." "Sie hat nicht nur die Augen ihres Vaters, sondern auch deinen Sturkopf, Erina. Aki ist eindeutig deine Tochter." Meine Mutter lacht herzhaft. "Einer von beiden musste den Sturkopf ja bekommen. Wobei auch Haru es meisterhaft versteht, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen." "Ja, ich weiß. Übrigens haben wir ihn auf dem Weg hierher getroffen. Was macht er oben in den Bergen?" "Er hat von Luzifer den Auftrag bekommen, mit den Walküren in Kontakt zu treten. Anscheinend stehen uns wieder finstere Zeiten bevor." Erina wirkt bedrückt, doch als sie mein vor Sorge gezeichnetes Gesicht sieht, lächelt sie sofort wieder und streichelt mir über den Kopf. "Keine Angst, meine Tochter. Ich werde auf dich aufpassen. Immer." Sie beugt sich zu mir, nimmt mein Gesicht in ihre Hände und küsst mich auf die Stirn. Ich widerstehe dem Drang, mich direkt wieder in ihre Umarmung zu stürzen, aber das wohlig warme Gefühl lasse ich zu. Es ist so angenehm. So fühlt es sich also an, eine Mutter zu haben. Einfach nur wunderschön. Erina nimmt mich bei der Hand und läuft zielstrebig mit uns durch die verwinkelten Straßen der Stadt. "Erzähl schon, Yrrian. Ich sehe dir an der Nasenspitze an, dass dir etwas auf der Seele liegt. Du wolltest es nur nicht direkt auf der Straße laut aussprechen. Habe ich Recht?" "Es ist immer wieder erschreckend, wie gut du mich zu lesen weißt, Erina. Ja, es gibt da etwas, über das ich mit dir sprechen wollte. Kurz nachdem wir Haru begegnet sind, haben uns Schatten angegriffen." Sie hält kurz inne und schaut den Magier eindringlich an. "Wie viele?" "Etwas mehr als ein Dutzend. Sie kamen vom Gebirgspass, den dein Sohn gerade nimmt. Ich hoffe sehr, dass er nicht noch so einer Horde in die Arme rennt." "Das hoffe ich auch. Komm bitte noch mit herein, Yrrian. Arkor wird wissen wollen, was sich dort oben abgespielt hat." Er nickt knapp und wir beschleunigen unser Tempo, schreiten durch einen riesigen Torbogen, der sich mitten in einer Mauer befindet, und mir wird klar, dass wir gerade den Ring ins Innere der Stadt passiert haben, den ich vom Gebirgspass aus gesehen habe. Wir steuern auf ein Haus links von der Hauptstraße zu. Na ja, Villa trifft es wohl eher. Auch wenn dieses Gebäude ebenfalls nur zwei Stockwerke besitzt, so ist der Grundriss doch riesig. Wie viele Zimmer es hier wohl gibt? Direkt über der Eingangstür prangt eine kunstvolle Schnitzerei mit einem anmutigen Wolf. Immerhin kann ich mich so niemals in der Tür irren. Wir treten ein und augenblicklich kommen uns schnelle Schritte entgegen. "Erina!" Ein Mann mit schwarz-grau meliertem Haar, das zu einem Zopf gebunden ist, stürmt auf meine Mutter zu, hebt sie hoch, dreht sich mit ihr und schließt sie sofort in eine innige Umarmung, nachdem er sie wieder auf ihre Füße abgesetzt hat. "Ein Glück, dir ist nichts geschehen." "Was sollte mir schon passieren?" entgegnet sie lächelnd. Er löst sich ein wenig von ihr, um seine Stirn gegen ihre zu lehnen. "Es soll einen Überfall durch die Schatten gegeben haben. Ich hatte einfach Angst um dich." Er sieht ihr tief in die Augen, streicht liebevoll über ihre Wange und küsst sie dann. Schnell wende ich meinen Blick ab. "Was ist denn los? Du bist ja ganz rot." stichelt Ian. "Ach halt den Mund!" "Sag bloß, dir ist das unangenehm, dass deine Eltern so zärtlich zueinander sind, trotz Publikum." macht er einfach weiter. Ich hebe meinen Blick, meine Augen verengen sich zu Schlitzen, während ich ihn wütend anfunkle. "Ian!" "Du hast Recht, sie hat wirklich meine Augen - und deinen Todesblick." erklingt die Stimme des Mannes in meiner unmittelbaren Nähe. Sofort fahre ich zusammen und drehe mich zu ihm um. Entschuldigend verbeuge ich mich - einen tollen ersten Eindruck habe ich da hinterlassen! "Und das ist nur deine Schuld!" rüge ich den Blauhaarigen. "Ist doch nichts Verkehrtes daran, wenn deine Eltern gleich wissen, wie streitsüchtig du bist." "Das machst du doch mit Absicht!" "Eigentlich hast du dir diese Situation selbst zuzuschreiben. Da habe ich ausnahmsweise kaum etwas dazu beigetragen." Amüsiert hallt seine Stimme in meinem Kopf nach. "Und die mentale Kommunikation beherrscht sie anscheinend auch schon sehr gut. Du hast ganze Arbeit geleistet, Yrrian. Und das in so kurzer Zeit." lobt der Schwarzhaarige meinen Mentor. Ian verbeugt sich knapp. "Das ist zu viel der Ehre. Deine Tochter ist eine gelehrige Schülerin mit einer schnellen Auffassungsgabe. Sie ist sehr wissbegierig und besitzt obendrein noch die Gabe des Sehens." "Tatsächlich? Das ist ja eine Überraschung. Diese Fähigkeit ist selten." "Arkor, warum nimmst du deine Tochter nicht endlich in die Arme?!" fordert Erina, doch er hüstelt nur gekünstelt und schaut in eine andere Richtung. "Also wirklich, Erina! Unsere Tochter ist eine erwachsene Frau. Ich kann ihr doch nicht einfach so um den Hals fallen - wie sieht denn das aus?" Verdutzt blicke ich zwischen meinen Eltern und Ian hin und her. Ist er etwa schüchtern? "Ja, das ist er. Am Liebsten würde er dich ganz fest drücken und seiner Freude, dich endlich wieder zu haben, Ausdruck verleihen. Aber vielleicht holt er das noch nach, wenn ich verschwunden bin." Habe ich schon erwähnt, dass es mir tierisch auf die Nerven geht, wenn Ian in meinen Gedanken herum wühlt? "Themawechsel: Ich sollte von dem Überfall berichten." kommt es dann mit gewohnt unterkühlter Stimme von meinem Mentor. Natürlich hat er sofort Erinas und Arkors Aufmerksamkeit und sie geleiten uns in eine gemütliche Stube, wo wir uns setzen - ich auf einen Stuhl, Ian auf einen Stuhl daneben, meine Eltern auf das Sofa. Kurz und bündig berichtet der Magier von dem Vorfall am Gebirgspass. "Haru hat viel gelernt in den letzten Monaten, ich war positiv überrascht. Außerdem haben er und Aki wie eine Einheit agiert. Ihr habt wirklich schlagfertigen Nachwuchs. Allerdings beunruhigt es mich, dass die Schatten so nah an der Stadt waren. Außerdem schienen sie nicht so kopflos wie sonst anzugreifen. Ich mache mir Sorgen. Es begann schon einmal so." Mein Vater nickt. "Uns ist das auch schon aufgefallen. Die Gruppen, in denen sie angreifen, werden größer, ihre Angriffe strukturierter und sie wagen sich immer näher heran. Sollten sich die Vorfälle von damals wiederholen, befürchte ich allerdings, dass wir dieses Mal nicht so glimpflich davon kommen werden. Wir müssen herausfinden, wer dahinter steckt. Irgendjemand muss im Hintergrund die Fäden ziehen." "Ich werde helfen, so gut ich kann. Du kannst auf mich zählen, Arkor." "Danke, Yrrian. Deine Hilfe bedeutet uns viel. Und wieder stehen wir in deiner Schuld." Ian winkt ab. "Ohne das Rudel würde hier alles den Bach runter gehen. Wir brauchen euch mehr als ihr uns, glaub mir." Mein Eltern und Ian stehen auf und verlassen das Zimmer. Etwas irritiert über den Gesprächsverlauf und das abrupte Ende, stolpere ich ihnen hinterher. "Ich melde mich bei dir, wenn ich etwas herausgefunden habe." Der Blauhaarige reicht Arkor die Hand zum Abschied. "Also dann. Ich verabschiede mich jetzt. Erina. Arkor." Ian verbeugt sich höflich vor meinen Eltern und dreht sich dann um. Er hebt die Hand zu einem letzten Gruß. "Leb wohl, kleine Aki." Moment, wie war das gerade? Lebe wohl? Kein 'Auf Wiedersehen'? "Yrrian, warte! Wann kommst du wieder?" Ich strecke meine Hand nach ihm aus, werde von meinem Vater allerdings zurück gehalten. Er bleibt stehen und neigt seinen Kopf leicht in meine Richtung. "Gar nicht. Deine Ausbildung liegt nicht länger in meiner Hand. Meine Aufgabe habe ich erfüllt. Wir werden uns so bald nicht wiedersehen." damit dreht er sich nun endgültig um, verlässt das Haus, verwandelt sich und fliegt davon. Mein Kopf rattert wie verrückt. Das kann er doch nicht ernst gemeint haben! Meine Hand ist noch immer in die Richtung gestreckt, in die Ian verschwunden ist. "Yrrian..." flüstere ich kaum hörbar. "... du kannst doch nicht..." einfach so wieder aus meinem Leben verschwinden... Kapitel 12: Familienbande ------------------------- Kapitel 12: Familienbande Die Tür fällt zu und trotz, dass meine Eltern mit mir in diesem Raum stehen, fühle ich mich plötzlich allein gelassen. Die geschlossene Tür ist wie die symbolische Mauer, die Ian zwischen uns gezogen hat. Unüberwindbar. Er auf der einen Seite, ich auf der anderen. Verständnislos schüttle ich den Kopf. Ist das wirklich alles gewesen? Er setzt mich bei meinen Eltern ab und das war es dann? "Aki?" Eine Hand legt sich behutsam auf meine Schulter und als ich den Kopf drehe, schaue ich in die himmelblauen Seelenspiegel meiner Mutter. Sie strahlen soviel Wärme und Fürsorge aus, dass sich meine Mimik direkt ein Stück aufhellt. "Es ist irgendwie komisch. Ich kann gar nicht glauben, dass er weg ist." "Na komm, meine Kleine. Ich zeig dir erst einmal dein Zimmer. Du willst dich bestimmt etwas ausruhen." Sie schiebt mich an meinem Vater vorbei, biegt hinter der Eingangshalle nach rechts ab und steigt mit mir eine Treppe hinauf ins Obergeschoss. Wir laufen den Gang bis ans Ende und an der vorletzten Tür macht sie kurz Halt. "Das hier ist Harus Zimmer. Dein Vater und ich haben unser privates Zimmer direkt hier drunter." Dann geht sie weiter zur letzten Tür und öffnet diese. "Und das hier ist dein persönliches Reich. Es ist nur mit dem Nötigsten eingerichtet, da wir nicht wussten, was du so magst. Wir können es auch jederzeit umgestalten, ganz wie du es möchtest." Sie schenkt mir ein warmes Lächeln und lässt mich eintreten. Langsam sehe ich mich um. An der Wand links von der Tür steht ein Bücherregal mit einigen wenigen Büchern, über deren Rücken ich behutsam streiche. Keiner der Titel sagt mir etwas. Vermutlich ist es keine irdische Lektüre. Ich muss kurz schmunzeln. Wie das klingt... Direkt daneben steht ein Schreibtisch. Die kleine Lampe darauf wirkt irgendwie fehl am Platz, da von draußen durch die große Fensterfront mehr als genug Licht herein kommt, trotz, dass es eigentlich mitten in der Nacht ist. Mit Sicherheit ist das auch der Grund für die schweren, dunkelgrünen Vorhänge an den Fenstern. An der Wand gegenüber vom Schreibtisch steht ein gemütliches Bett, dass gerade eindeutig ganz laut nach mir ruft! Wie gerne würde ich mich jetzt einfach einkuscheln, die Decke über den Kopf ziehen und alles ausblenden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Erina mich auch allein lassen würde, würde ich sie darum bitten. Aber es kommt mir so unhöflich vor. Also sehe ich mich weiter um. Neben dem Bett steht ein kleiner Nachtschrank, ebenfalls mit einer Lampe bestückt. An der letzten Zimmerwand steht mittig ein gigantischer Schrank, den ich sogleich aufreiße. Gähnende Leere. Etwas zerknirscht verziehe ich das Gesicht. Ich werde noch einmal in die Wohnung zurück müssen, um meine Sachen hierher zu holen. Gedanklich bestücke ich meinen überdimensionalen Kleiderschrank mit allem, was ich habe: Sommersachen, Wintersachen, Jacken und sogar Schuhe. Und trotzdem wäre hier noch genug Platz um sogar Rhea ihre gesamten Klamotten unterzubringen - und ihr Kleiderschrank platzt aus allen Nähten! Schnell schließe ich das Ungetüm wieder, schließe die Augen und verbanne den Gedanken an meine beste Freundin ganz weit weg. Genau wie die Gedanken an Ian. Eine fiese Stimme in meinem Kopf gratuliert mir herzlich dazu, dass Rhea jetzt nicht mehr alleine in meinem Unterbewusstsein versauern muss. Ich wende mich zu der Tür, die meiner Zimmertür direkt gegenüber und zwischen dem Nachtschrank und dem Kleiderschrank liegt. "Wo führt die Tür hin?" frage ich mit dem Finger auf sie zeigend. Erina lacht kurz auf und schiebt mich durch den Raum. "Was fehlt denn noch zu einem eigenen Zimmer?" Ich überlege kurz. Der begehbare Kleiderschrank wird es wohl kaum sein. Und dann kommt die Erleuchtung: "Ich habe ein eigenes Bad?!" "Natürlich! Jedes Zimmer hat ein angrenzendes Bad. Sonst würde es ewig dauern, bis alle gemeinsam am Tisch sitzen. Oder wolltest du dir ein Badezimmer mit 11 weiteren Dämonen teilen?" "Elf? Wer wohnt denn noch alles hier?" "Na das ganze Rudel. Die meiste Zeit halten sie sich aber irgendwo anders auf, sind unterwegs oder patrouillieren. Vor ein paar Jahrzehnten haben wir ausgemacht, dass wir uns wenigstens einmal am Tag alle zu einer Mahlzeit hier zusammenfinden. Immerhin sind wir eine Gemeinschaft." Ein bisschen mulmig wird mir gerade schon. Neben meiner Familie gibt es also noch acht weitere Wölfe. Wer weiß, wie die so drauf sind, und ob sie mich überhaupt mögen werden. Geschweige denn, mich akzeptieren. Gedankenverloren lege ich meine Hand auf die Türklinke zum Bad und werfe einen kurzen Blick hinein. Es ist nicht groß, hat eine Dusche, ein Waschbecken und eine Toilette, sowie einen kleinen Schrank und trotzdem versprüht es einen unglaublichen Charme. Ob es daran liegt, dass die Wände so hübsch bemalt sind? Ich komme mir vor, wie am Ufer eines Flusses. Ein Blick auf den Boden lässt mich kurz schmunzeln. Genau darauf hat es abgezielt: Der Boden ist mit blauen Fliesen ausgelegt, die dank ihres wellenförmigen Musters tatsächlich wie ein Flussbett wirken. Ich wende mich wieder meinem Zimmer zu und mein Lächeln wird breiter, als mir auch hier endlich die künstlerische Gestaltung auffällt. Eine Waldlichtung. Und der Fußboden ist mit grasgrünem Teppich ausgelegt, der derart flauschig und weich ist, dass es sich fast wie Moos anfühlt. Ich bücke mich, um mit den Fingern über die Oberfläche zu streichen. "Gefällt es dir?" In Erinas Stimme schwingt so etwas wie Sorge mit. Ungläubig sehe ich sie an. Ob es mir gefällt? Hat sie denn meine Gedanken nicht... Ach nein. Nur Ausbilder haben ja die Fähigkeit, die Gedanken anderer Dämonen zu hören. Schon ein bisschen komisch, musste ich in Ians Gegenwart doch immer darauf achten, was ich denke. Ich gehe ein paar Schritte auf meine Mutter zu und umarme sie herzlich. "Es ist wundervoll, danke!" Erleichtert atmet sie aus und erwidert meine Umarmung. Eine ganze Weile stehen wir einfach nur Arm in Arm schweigend in meinem neuen Zimmer. Es bedarf keiner weiteren Worte. Dann klopft es zaghaft an meiner Zimmertür und mein Vater streckt seinen Kopf zu uns ins Zimmer. "Und? Gefällt es ihr?" Erina entlässt mich aus der Umarmung und nickt ihm freudig zu. "Es war übrigens dein Vater, der sich hier künstlerisch ausgetobt hat. Du solltest ihm bei Gelegenheit auch danken, meine Kleine." Ich werfe ihr einen kurzen überraschten Blick zu. Arkor hat das hier alles gestaltet? Mit einem breiten Grinsen im Gesicht umarme ich auch ihn - na gut, ich bin ihm regelrecht um den Hals gesprungen... Was ihn aber nicht daran hindert, die herzliche Geste zu erwidern. Erneut durchflutet mich diese wundervolle Wärme. Familie. Ich habe wirklich eine richtige, echte Familie. "Du solltest dich jetzt etwas ausruhen, Aki. Nachher kommen die Anderen zurück und glaube mir, das wird eine Herausforderung für sich." Erina lächelt mir zu und verlässt dann zusammen mit Arkor mein Zimmer. Ich schließe die Tür und werfe mich auf mein himmlisch weiches Bett. Beinahe sofort übermannt mich die Müdigkeit. So anstrengend hatte ich diesen Tag bisher eigentlich gar nicht empfunden. Aber mein Körper wird schon wissen, warum er mich direkt ins Land der Träume schickt. Ein Poltern holt mich aus meinem Schlaf und müde blinzle ich in die viel zu helle Nacht. Ich hätte die Vorhänge zuziehen sollen, bevor ich mich hingelegt hatte. Langsam richte ich mich auf und versuche, das Geräusch zu orten, welches mich aus meinem Schlaf gerissen hat. Das laute Poltern schien allerdings ein einmaliges Ereignis gewesen zu sein und verwirrt sehe ich mich im Raum um. Was könnte dieses Geräusch verursacht haben? Oder habe ich es mir nur eingebildet? Ich gehe auf die Fensterfront zu und öffne eines der Fenster. Eine frische Brise weht herein und lässt mich entspannen. Jedoch nur kurz, denn im nächsten Moment ertönt ein weiteres Poltern und plötzlich schwingt Haru sich durch das offene Fenster und bleibt breit grinsend auf der Fensterbank sitzen. Ich dagegen habe mich fast zu Tode erschrocken und bin rücklings zurück auf mein Bett gefallen. "Hallo Schwesterchen. Na, alles klar bei dir?" Wieder meinen Atem findend, gifte ich ihn direkt an. "Bist du wahnsinnig mich so zu erschrecken?! Spinnst du eigentlich total?" Haru lacht nur amüsiert. "Nimm es mir nicht übel. Ich wollte das schon immer mal machen." "Was genau? Mir einen Herzinfarkt verpassen?" brumme ich missmutig und verschränke, immer noch auf dem Bett sitzend, meine Arme vor der Brust. "Nein, ich würde dir niemals absichtlich etwas antun. Ich meinte eigentlich, dass ich schon immer vom Dach aus in ein Fenster springen wollte. Das geht bei meinem Zimmer leider nicht. Und eigentlich haben es mir Mam und Dad auch verboten..." er legt einen Finger auf die Lippen und zwinkert mir zu. "Also sag ihnen nichts, ja?" Ich muss anfangen zu lachen. "Du bist ja verrückt, Haru." "Heißt das, du verpfeifst mich nicht?" Er legt den Kopf schief und mustert mich neugierig. "Da brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Ich halte dicht. Aber ich bezweifle, dass deine Aktion unbemerkt geblieben ist, wenn selbst ich das Poltern gehört habe." Grinsend hüpft mein Bruder von der Fensterbank und wirft sich zu mir auf das Bett. "Du hast halt einfach gute Ohren. Was man von unserem alten Herrn nicht gerade behaupten kann. Er ist mit seinen 1032 Jahren ja auch nicht mehr der Jüngste." In dem Moment fliegt meine Zimmertür auf und ein dezent beleidigter Arkor rauscht herein. "Das habe ich genau gehört! Wenn ich dich erwische, Haru - na warte!" Haru springt auf, ist mit einem Satz wieder beim Fenster, schwingt die Beine heraus und winkt mir noch zu, bevor er verschwindet. "Bis später, Schwesterchen." "HARU! Dir zieh ich das Fell über die Ohren!" schimpft mein Vater aus dem Fenster seinem lachenden Sohn hinterher. Die ganze Situation ist schon belustigend. Ich stehe auf und lege meinem Vater beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. "Irgendwann wird auch er erwachsen." Arkor zieht eine Augenbraue hoch und lacht auf. "Haru? Niemals! Wenigstens scheinst du etwas vernünftiger zu sein." Ein warmes Lächeln umspielt seine Lippen, bevor er mir über den Kopf streichelt. "Echt jetzt? Warum streicheln mir alle über den Kopf? Ich bin doch kein Hündchen!" Überrascht sieht er mich an, bevor er wieder lacht. "Du bist aber die Jüngste und weckst somit den Beschützerinstinkt im Mann." "Menno... Yrrian und Haru machen das auch andauernd. Ich will das nicht!" murre ich unzufrieden, ziehe einen Flunsch und verschränke erneut die Arme vor der Brust. "Ich nehme meine Aussage zurück: Du bist genauso kindisch wie dein Bruder, Aki." lachend verlässt Arkor dann wieder mein Zimmer und lässt mich mit ungläubigem Gesichtsausdruck zurück. Ich bin nicht kindisch! Nachdem mein Gemüt sich wieder abgekühlt hat, beschließe ich, nach unten zu gehen. Im Erdgeschoss angekommen, sehe ich mich vorsichtig um. Wohin jetzt? Ich gehe zurück zum Eingangsbereich und steuere von hier aus zu der Stube, in der wir vorhin noch gemeinsam gesessen hatten. Doch sie ist leer. Verwirrt lehne ich mich wieder in den Flur und sehe mich um. Keiner da? Komisch. Da ich von rechts gekommen bin und sich dort nur der Eingangsbereich und um die Ecke die Treppe ins Obergeschoss befindet, wende ich mich nach links und folge dem Gang weiter. Ich komme an einigen Zimmern vorbei, die entweder abgeschlossen oder ebenso leer sind, wie die Stube. Am Ende des Ganges angekommen blicke ich unschlüssig auf die Tür. Wenn ich es richtig behalten habe, muss das das Zimmer meiner Eltern sein. Zaghaft klopfe ich an und keine Sekunde später, öffnet Erina mir die Tür. "Aki, mein Schatz, was machst du hier? Ist alles in Ordnung?" Besorgt sieht sie mich an und sofort hebe ich beschwichtigend die Hände. "Alles in Ordnung. Aber..." Erneut sehe ich mich um. Was genau will ich eigentlich? "Soll ich dir zeigen, wo die Küche und das Esszimmer sind?" rät sie ins Blaue und schnell nicke ich. Erina nimmt mich bei der Hand und zieht mich durch den langen Gang zurück Richtung Eingangsbereich und dann weiter zu der Treppe. Doch steigt sie diese nicht nach oben, sondern geht den kurzen Gang weiter bis ans Ende und öffnet dann linker Hand eine Tür. Sofort blendet mich helles Licht und eine kühle Brise weht mir um die Nase. Etwas irritiert drehe ich mich um. Wir haben das Haus verlassen und befinden uns jetzt in einem wunderschönen Garten. Der Kiespfad, den wir entlang laufen, ist gesäumt von herrlich duftenden orangefarbenen Blumen. Links von uns befindet sich das Haus und rechts schlängelt sich ein schmaler Bach durch den Garten. Ob das ein kleiner Nebenarm des Flusses ist, den ich vom Gebirgspass aus gesehen habe? Erina geht geradewegs auf ein Nebengebäude zu. Es ist einstöckig und so groß wie die Wohnung, in der Rhea und ich die letzten Jahre gewohnt haben. Das flache Dach ist goldbraun, genau wie die Aura eines Erddämons. Auch hier sind die Außenwände verziert, allerdings anders, als die Gebäude, die ich bisher gesehen habe. An den Wänden tummeln sich unzählige Wölfe im hohen Gras, zum Teil schlafend, andere miteinander spielend und über alle wacht ein aufmerksames Wolfspaar, welches optisch Ians Beschreibung meiner Eltern in ihrer dämonischen Gestalt sehr ähnlich sieht. Magisch zieht es mich zu dem Bild und ich lege meine Finger auf die raue Struktur. "Seid ihr das?" frage ich leise und Erina tritt neben mich. "Ja. Dein Vater hat es gemalt, bevor..." sie bricht ab und schaut traurig zu Boden. Habe ich etwas falsch gemacht? "Entschuldige." "Schon gut. Du musst dich nicht entschuldigen, Aki." Sie holt tief Luft, wischt sich ein Tränchen aus den Augenwinkeln und lächelt mich wieder an. "Ich bin mir sicher, Yrrian hat dir erzählt, was vor 500 Jahren geschehen ist." "Oh. Deswegen. Er hat mir erzählt, dass es eine große Schlacht gab. Ein Kampf gegen die Schatten. Zu jener Zeit soll Arkor alle Rudel unter sich vereint haben zu einem großen Verband. Allerdings hat das nicht viel genützt, denn es gab einen Verrat auf Seiten der Engel, sodass die Wölfe in eine tödliche Falle liefen. Nur sechs von ihnen sollen damals überlebt haben. Mehr hat er nicht erzählt. Er wird sehr schweigsam, wenn es um das Thema geht." "Ja, das sieht ihm ähnlich. Komm mit rein, dann werde ich dir alles erzählen." Erina öffnet mir die Tür und wir gehen hinein. Ich staune nicht schlecht, als ich die lange Tafel sehe, die bereits gedeckt ist. Es fehlt nur noch das Essen. Meine Mutter dirigiert mich an den Tisch und lässt mich den ersten Stuhl neben der Stirnseite nehmen. Sie selbst setzt sich neben mich an die Stirnseite, blickt kurz verträumt auf den freien Stuhl neben sich und lächelt mich dann wieder an. "Yrrian schweigt so beharrlich über jene Zeit, weil er selbst einen schrecklichen Verlust erlitten hat. Dazu kommt, dass viele Dämonen ihn dafür verantwortlich machen, dabei hat er alles in seiner Macht stehende getan, um seinen besten Freund zu retten. Und nicht nur ihn. Wäre Yrrian nicht gewesen, wäre die Familie der Wolfsdämonen heute wahrscheinlich ausgestorben. Wir verdanken ihm unser Leben. Und deines ebenso." Ich bin verwirrt. "Warum denn meines auch? Abgesehen von dem Vorfall im Lagerhaus... Und dem Angriff am Gebirgspass..." Erina kichert. "Ich habe also wirklich eine gute Wahl mit deinem Mentor getroffen. Freut mich, das zu hören. Aber nein, die Vorfälle meinte ich nicht. Es gibt ein völlig veraltetes Gesetz, das besagt, dass Zwillinge nicht miteinander aufwachsen dürfen. Der jüngere Zwilling muss in die Irdische Welt gebracht werden und ist dort sich selbst überlassen." "Aber damit verurteilt man ihn doch zum Tode! Ein Neugeborenes kann unmöglich alleine überleben! Egal, ob es ein Dämon oder ein Engel ist, es ist wehrlos und hilflos und..." Meine Mutter legt mir ihre Hand auf meine Schulter. "Ich weiß. Mir war bereits während der Schwangerschaft bewusst, dass ich Zwillinge erwarten würde. Also bin ich heimlich zu Yrrian. Dein Vater wusste nichts davon. Ich bat ihn darum, eine Familie für dich zu finden, im Verborgenen auf dich zu achten, bis zu deinem 21. Geburtstag. Dann sollte er dich ausbilden und anschließend wieder zu mir zurück bringen." Ich muss an meine erste Begegnung mit Ian zurückdenken. Damals kam mir alles noch so unwirklich vor, wie ein Traum. "Er kam regelmäßig zu mir. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr es mein Herz erfreute, zu hören, dass du wohlauf warst. Yrrian, der sehr kontaktscheu geworden war, begann wieder aufzutauen, denn er ließ sich von meiner Freude mitreißen. Beinahe jede Woche kam er zu mir und berichtete von meiner kleinen Prinzessin. Er formte Eisskulpturen mit deinem Ebenbild, damit ich immer wusste, wie du aussiehst. Er erzählte von deinen ersten Laufversuchen, deine ersten Tage im Kindergarten und deinen Besuchen bei der Tanzschule. Und er hatte ein unglaubliches Talent, deine Mimik und Gestik nachzuahmen, wenn du wegen irgendetwas bockig wurdest. Er hat sich dann immer über dich lustig gemacht." Erina lachte leise und strich über meine Hand. "Er hat mich heute auch Prinzessin genannt." Betrübt schaue ich weg. "Er mag dich, Aki. Auch wenn er es dir nicht so zeigen kann, wie du es dir vielleicht wünschst. Aber glaub mir, du bedeutest ihm viel." "Warum ist er dann gegangen? Er hätte mich doch weiterhin ausbilden können. Ich verstehe das nicht." Seit wenigen Stunden sind wir erst getrennt voneinander und schon vermisse ich diesen sturen Eisklotz. Na toll! "Du wirst einen neuen Mentor bekommen, Aki. Aber davon abgesehen, denke ich, hat er das auch für dich getan. Du musst wissen, dass seine lebhaften Schilderungen von dir mit der Zeit umschlugen. Er wurde vorsichtiger mit seinen Formulierungen, versuchte, eine gewisse Distanz wieder zu schaffen. Um so erwachsener du wurdest, um so mehr zog er sich zurück." "Klingt eher, als würde er mich hassen." "Im Gegenteil. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er durchaus eine Schwäche für dich hat. Aber man verdreht einem Wolf nicht den Kopf, wenn man nicht vorhat, bei ihm zu bleiben." Verdutzt hebe ich meinen Kopf wieder. "So etwas ähnliches hat Haru auch schon gesagt." "Du weißt, dass wir Wölfe monogam leben, oder?" "Ja. Yrrian erwähnte das." "Siehst du. Wir haben nur ein Herz zu verschenken. Yrrian will nicht, dass du das deine an ihn gibst." "Es wäre ohnehin verschwendet. Er hat immer wieder durchblicken lassen, dass er niemanden an sich heranlässt. Selbst Freundschaften schlägt er aus." "Eine Freundschaft mit dir hat er ausgeschlagen. Mit Haru ist er nämlich befreundet. Wobei es sehr schwer ist, mit deinem Bruder nicht befreundet zu sein." "Also ist der Eisklotz nur so unnahbar mir gegenüber, weil er nicht will, dass ich mich zu ihm hingezogen fühle?" "Eure Verbindung hätte ungeahnte Konsequenzen." "Wobei Eis spuckende Wölfe sicher niedlich sind." kommt es belustigt aus einer anderen Ecke des Raumes. Ich drehe mich auf dem Stuhl um und sehe in Harus breit grinsendes Gesicht, der lässig einen Apfel hochwirft und wieder auffängt. "Haru, leg den Apfel weg! Es gibt bald Essen." Tadelt Erina ihn und augenblicklich lässt er das Obst in einer seiner Hosentaschen verschwinden, grinst unschuldig und lässt sich auf dem Stuhl mir gegenüber nieder. "Mam, wusstest du, dass Yrrian ihr erlaubt hat, ihn 'Ian' zu nennen?" mischt er sich frech in das Gespräch ein. Das hat mir gerade noch gefehlt. Meine Mutter mustert mich interessiert, während mir die Röte ins Gesicht schießt. "Du bist so ein Arsch!" "Gern geschehen, Schwesterchen." "Was sollte das?" "Mam sollte wissen wie weit das mit euch beiden schon ist." "Da ist überhaupt nichts zwischen uns! Hast du nicht zugehört? Er will nicht einmal mit mir befreundet sein. Außerdem ist er auf und davon. Wer weiß, ob ich ihn überhaupt jemals wieder sehe." "Die Welt ist klein. Und sein Beschützerinstinkt dir gegenüber verdammt groß. Glaub mir, du wirst ihn schneller wiedersehen, als dir lieb ist. Spätestens aber, wenn du in Gefahr schwebst." Genervt funkel ich meinen Bruder an, der nur frech die Zunge herausstreckt und grinst. Erina knallt ihre flache Hand auf den Tisch und lässt uns beide zusammenzucken. "Eiyu! Rayu! Hört ihr beide endlich auf, euch wie zwei Teenager zu benehmen?!" herrscht sie uns an und keiner von uns wagt es mehr, auch nur ein Wort zu verlieren. Die Wirkung, die unsere wahren Namen in dieser Situation auf uns haben, ist beängstigend. Kerzengerade sitzen wir da, die Köpfe gesenkt, die Hände auf dem Schoß. Nicht einen Muskel wagen wir zu rühren. Es ist so, als wäre mein Körper und mein Verstand an diese Position gefesselt. Ich traue mich kaum zu blinzeln, geschweige denn zu meiner Mutter zu sehen. Geschmeidig, wie eine Raubkatze umrundet sie den Tisch, bevor sie sich erneut auf ihren Platz setzt. "So. Unser lieber Yrrian hat dir also einen Teil seines wahren Namens verraten." Der Tonfall ihrer Stimme wirkt geschäftig und ich spüre deutlich ihren Blick auf mir ruhen. Und noch etwas spüre ich: Mein Körper gehorcht mir zum Teil wieder. Ich sehe auf, meiner Mutter direkt in ihre himmelblauen Augen, die gerade verdammt einschüchternd wirken. Die Kontrolle, die ich glaube zu haben, ist also von ihr beabsichtigt. Ich stehe noch immer unter ihrer Magie. "Du kennst seinen wahren Namen?" frage ich vorsichtig nach. Allem Anschein nach darf ich mich also auch wieder mit ihr unterhalten. Ein flüchtiger Blick zu meinem Bruder verrät mir, dass es ihm allerdings nicht gestattet ist. Erina stützt ihren Kopf auf ihrer Hand ab und lächelt flüchtig. "Natürlich. Und wenn die Zeit gekommen ist, wirst auch du ihn kennen. Genau wie eine Vielzahl anderer Namen. Ich hoffe, du bist weise genug, mit dieser Macht umzugehen. Du spürst gerade am eigenen Leib, was diese Magie bewirken kann. Und das ist nicht einmal im Ansatz alles. Als zukünftige Alphawölfin musst du lernen, wann es richtig ist, deine Macht zu gebrauchen." Sie schaut kurz zu Haru und ihre Züge verfinstern sich. "Habe ich dich wirklich so schlecht erzogen, mein Sohn?" Haru schüttelt schnell den Kopf, sieht aber nicht auf. "Warum bereitest du mir dann immer solchen Kummer? Denke nicht, ich hätte nicht mitbekommen, wie du durch Akis Fenster in ihr Zimmer eingestiegen bist. Wir haben es dir nicht ohne Grund verboten." Betretenes Schweigen herrscht am Tisch. Keine fünf Stunden bin ich hier und schon bekomme ich meine erste Rüge. Erina seufzt gedehnt. "Ihr seid eindeutig Zwillinge! Aki, wage es gar nicht erst, zu protestieren. Du hast Haru nämlich versprochen, ihn nicht zu verpfeifen. Es ist also keiner von euch besser als der Andere. Ihr beiden seid sogar schlimmer als die Kinder meiner Schwester..." "Roni ist nicht einmal halb so unschuldig, wie sie immer tut." mault Haru beleidigt und kassiert sofort wieder einen stechenden Blick Erinas. "Meine Nichte weiß sich mir gegenüber aber zu benehmen, im Gegensatz zu dir!" Schwungvoll wird im nächsten Moment die Tür geöffnet und eine junge Frau, mit schulterlangen braunen Haaren mit pinken Strähnen und himbeerfarbenen Augen tritt ein. "Hier bist du Tantchen, ich habe dich schon gesucht." begrüßt sie Erina fröhlich. "Wenn man vom Teufel spricht..." brummt Haru und schaut demonstrativ in eine andere Richtung. Also ist das dort Roni? Als sie mich bemerkt, strahlt sie sofort über das ganze Gesicht. Sie kommt auf mich zu, schüttelt mir überschwänglich die Hand und fängt an zu plappern. "Endlich bist du da! Tante Erina und Onkel Arkor reden seit Wochen von nichts anderem mehr. Sie haben uns alle total angesteckt mit ihrer Vorfreude. Wie gefällt es dir hier bei uns? Hast du schon viel gesehen? Wann bist du angekommen? Wenn du willst, können wir nachher einen Stadtbummel machen. Oder bist du für die Patrouille eingeteilt? Übrigens sind wir beide verwandt, wusstest du das schon? Unsere Mütter sind Schwestern, was uns zu Cousinen macht, ist das nicht klasse?" Ich komme gar nicht zu Wort, sie redet einfach viel zu schnell, ich komme kaum hinterher. Doch ihr Redefluss wird je unterbrochen und plötzlich wirft sie Haru einen giftigen Blick zu. Anscheinend hat er ihr über mentale Kommunikation gerade mitgeteilt, was er von ihrem Redefluss hält. Ich verkneife mir ein Lachen. "Auch wenn das wieder Ärger geben wird... Danke." "Dafür nicht, Schwesterchen. Roni und ich geraten seit ein paar Jahren öfter aneinander. Sie tut nur so freundlich, lass dich nicht täuschen, sie ist ein Biest. Und wenn sie hundert Mal meine Cousine ist - ich mag sie einfach nicht!" "Dabei ist ihr Temperament dem deinen sehr ähnlich." "Sie ist besserwisserisch, nervig und hat schreckliche Stimmungsschwankungen! Sie ist mir kein bisschen ähnlich!" "Na, wenn du das sagst, mein lieber Bruder." "Setz dich doch Roni. Ich wollte Aki gerade etwas über die große Schlacht berichten." "Wirklich? Sonst wird das Thema doch auch tot geschwiegen. Warum jetzt nicht mehr?" Ich werfe einen flüchtigen Blick zu Haru und ziehe eine Augenbraue hoch. Er winkt kurz ab - er versteht mich auch ohne Worte. Die Dame neben mir trägt ihr Herz auf der Zunge und wenn sie immer so impulsiv ist, kann ich meinen Bruder durchaus verstehen, dass er so seine Probleme mit ihr hat. "Aki soll wissen, was damals vorgefallen ist. Immerhin ist es Teil unserer Geschichte und sollte nicht in Vergessenheit geraten." Meine Mutter wirft mir einen Blick zu, der mir verdeutlicht, dass sie sehr wohl gesehen hat, wie ich Haru angesehen habe und dass sie ab jetzt meine volle Aufmerksamkeit haben will. Roni setzt sich auf den Platz in meiner Reihe am anderen Ende der Stirnseite. Ich glaube, so langsam begreife ich die Sitzordnung hier. An einer Stirnseite das Alphapaar mit ihren Kindern, ihnen gegenüber Erinas Schwester mit Mann und Tochter. Vielleicht haben sie auch noch mehr Kinder. Ich werde es noch früh genug erfahren. Die übrigen Plätze sind für die restlichen Mitglieder des Rudels. Erina seufzt kurz, faltet ihre Hände vor sich auf dem Tisch und beginnt zu erzählen. "Vor etwa 600 Jahren begannen die Angriffe der Schatten sich zu häufen. Griffen sie bis dahin nur alle paar Wochen einmal an, wurde es plötzlich zur täglichen Routine sie abzuwehren. Doch nicht nur die Häufigkeit nahm zu, auch ihre Zahl wuchs stetig. Wir machten uns Sorgen, gab es zum damaligen Zeitpunkt ja nur viele kleinere Familienverbände, die weit verteilt über die Untere Welt lebten. So waren sie leicht angreifbar und würden einem großen Angriff nicht standhalten können. So geschah es, dass dein Vater auf das Alphapaar zuging, die über das bis dahin größte Rudel wachten. Er redete lange mit ihnen über die drohende Gefahr und die Möglichkeit, die Rudel zu vereinen. Doch der damalige Alphawolf zögerte, schickte Arkor wieder weg und versagte ihm die Hilfe. Jeder solle sich um seine eigenen Grenze kümmern, so wie man es immer schon getan hatte. Damals waren die Grenzgebiete nämlich aufgeteilt und jedes Rudel hatte seines zu beschützen. 70 weitere Jahre strichen ins Land, in denen die Kämpfe heftiger und verlustreicher wurden. Da entschloss dein Vater sich, erneut loszuziehen. Dieses Mal vermied er es allerdings, direkt zum großen Rudel zu gehen. Er überzeugte viele kleine Familienbände, sich unserem Rudel anzuschließen, bis unseres dem größten an Stärke ebenbürtig war. Erfolgreich hatten wir 20 weitere Jahre alle Grenzen verteidigt, trotz, dass wir nun ein großes Rudel waren. Dann ging Arkor wieder zum großen Rudel aber auch dieses Mal wollte der Alphawolf nichts von einer Vereinigung hören, trotz des Bittens seiner Frau und den mehr als eindeutigen Beweisen, dass sie gemeinsam viel mehr erreichen konnten. Und so kam, was kommen musste. Das große Rudel wurde von einem Angriff der Schatten stark geschwächt und als sie erneut angegriffen wurde, wurde der Alphawolf und sein ältester Sohn getötet. Hätten wir damals nicht eingegriffen, hätten vielleicht sogar noch mehr Wölfe ihr Leben lassen müssen. Arkor sah dies als seine Chance an, die Rudel endlich zu einen. Jedoch stellte sich ihm der Letztgeborene des verstorbenen Alphas in den Weg. Er beschuldigte deinen Vater absichtlich erst so spät eingegriffen zu haben, das stimmte natürlich nicht. Wir waren so schnell wie möglich zu ihnen geeilt, wurden aber selbst angegriffen und verloren eine Tochter." Sie hielt kurz inne, blinzelte eine aufkommende Träne weg und atmete tief durch. "Miri, die Alphawölfin, versuchte verzweifelt ihren Sohn zurück zu halten. Sie wollte nicht noch ein Kind verlieren. Doch die beiden Sturköpfe hörten auf nichts und niemanden mehr und ein brutaler Kampf entbrannte, den keiner von ihnen aufgeben wollte. In ihnen beiden floss immerhin Alphablut - eine Niederlage bedeutete, sich zu unterwerfen. Arkor fügte dem jungen Wolf eine hässliche Wunde quer über das rechten Auge zu, doch noch bevor der Kampf weiter ausufern konnte, wurden wir erneut angegriffen. Dein Vater und Tora, die eben noch aufeinander losgegangen waren, kämpften nun Seite an Seite, um die zu beschützen, die sie liebten. Im allgemeinen Durcheinander wurden die Beiden vom Rudel getrennt und waren auf sich allein gestellt. Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber als wir die Streithähne fanden, waren sie unversehrt und ihr Streit beigelegt." Ein leises Rascheln lenkt meine Aufmerksamkeit auf den hinteren Teil des Raumes, der in die Küche übergeht. Hinter einer der Säulen kann ich deutlich jemanden erkennen und ich scheine nicht die Einzige zu sein, die denjenigen bemerkt hat. Auch Haru, Erina und Roni drehen sich in diese Richtung. Als die Person bemerkt, dass sie entdeckt wurde, tritt sie aus dem Schatten hervor und mir stockt der Atem. Der junge Mann mit dem dunkelblonden Haar trägt eine lange Narbe quer über sein rechtes Auge und ich weiß sofort, dass er der Sohn des Alphawolfes ist, der mit meinem Vater gekämpft hat: Tora. "Ich weiß, dass Arkor nie darüber gesprochen hat, allerdings verstehe ich nicht, warum. Die Antwort, wieso wir uns vertragen haben, ist denkbar simpel: Er hat mir das Leben gerettet." Er kommt entspannt in unsere Richtung geschlendert, doch der Blick, den er mir zuwirft, ist alles andere als ruhig. Sein Auge, welches bis eben noch einen hellblauen Schimmer hatte, bekommt die Farbe der aufgewühlten See, in ihm brennt ein Feuer, dass sich selbst auf sein blindes Auge zu übertragen scheint und ich muss all meine Kraft aufbringen, um seinem Blick standzuhalten, während meine Eingeweide sich unangenehm zusammenziehen. Mit einem Mal tauchen vor meinem geistigen Auge Bilder auf, die mir einen kalten Schauer nach dem anderen über den Rücken jagen. Ich sehe meinen Vater in seiner dämonischen Gestalt, wie er unzählige Schatten zerstört, der Boden zu seinen Füßen sich dabei in ein mattes Schwarz färbend, während mein Körper selbst sich taub und schwer anfühlt. Mein Blick verschwimmt, wird unscharf und die Bilder verschwinden wieder aus meinem Kopf. Ich begreife sofort, dass das, was ich eben gesehen habe, Toras Erinnerungen sind. "Arkor hätte mich an jenem Tag einfach meinem Schicksal überlassen können. Aber er hat mich beschützt, als wäre ich Teil seiner Familie. Dein Vater hat sich mit seinem selbstlosen Handeln meinen tiefen Respekt und meine Dankbarkeit verdient, ebenso deine Mutter. Schaffst du das auch, Prinzessin? Denn nur dann wird dir das Rudel folgen, wenn deine Zeit gekommen ist." Ich sehe ihn einfach nur an - was soll ich ihm darauf auch antworten? Ich kenne ihn ja gar nicht, woher soll ich dann wissen, wie ich mir seinen Respekt verdienen kann? Er ist viel erfahrener im Kampf gegen die Schatten, es wird also kaum so bald passieren, dass auch ich in den Genuss komme, sein Leben zu retten. Eher umgekehrt. "Ich gebe zu, mit einem Schweigen habe ich nicht gerechnet. Eher mit einer impulsiven Antwort, vorschnellen Versprechen oder dergleichen. Ich bin gespannt, wie du dich entwickeln wirst, Prinzessin." Seine Stimme klingt belustigt, als wäre das nur ein Spiel für ihn. "Mein Name ist Aki! Hör auf, mich Prinzessin zu nennen, so langsam nervt das nämlich..." rutscht es mir dann doch heraus, was Tora ein Schmunzeln entlockt. Doch er geht überhaupt nicht darauf ein. "Noch eins, Prinzesschen: ICH werde nicht dein größtes Problem sein innerhalb des Rudels." Damit wendet er sich von mir ab und setzt sich auf den freien Stuhl neben meinen Bruder. "Wo sind die anderen? Sind sie noch nicht zurück?" wendet meine Mutter sich nun an den Blonden. "Narii und Vina wollten sich noch einmal frisch machen. Wo die anderen sind, weiß ich nicht. Ich habe sie bisher noch nicht gesehen." "Vina ist Mams Schwester und Narii ihr Mann. Sie sind die Eltern von Roni und Riyo." erklärt mir Haru und ich bin ihm mehr als dankbar, dass er es nicht laut ausspricht und mich somit bloß stellt. Ian hat mir nie etwas über die restlichen Mitglieder des Rudels erzählt. Hoffentlich kann ich mir die Namen alle merken. "Und wer fehlt noch? Wenn ich mich nicht verzählt habe, sind hier noch 3 weitere Stühle zu besetzen." Haru lacht leise. "Bekommst du langsam Angst?" "Blödsinn! Es wäre nur schön zu wissen, wie viel Verwandtschaft ich noch besitze. Bis gestern wusste ich nur, dass ich Eltern besitze, dann hatte ich plötzlich noch einen Bruder und jetzt noch Tante, Onkel, Cousin und Cousine. Und... was ist Tora eigentlich? Er ist ja nicht mit uns verwandt." "Der freie Stuhl neben Roni ist für Yun, daneben sitzt Toras Mutter. Zwischen ihm und Riyo sitzt Sai. Damit wäre der Tisch voll besetzt. Tora ist ein Mitglied des Rudels. Und da ein Rudel gleichzusetzen ist mit einer großen Familie, ist er auf gewisse Weise so etwas wie unser großer Bruder. Zumal er neben seiner Mutter und unseren Eltern der Älteste ist. Selbst Onkel Narii und Tante Vina sind jünger." "Toras Mutter? Miri?" "Ja. Sie ist eine der wenigen Wölfe, die die Angriffe damals überlebt hat. Bei ihrer kämpferischen Erfahrung ist es aber auch kein Wunder. Immerhin ist die alte Dame mittlerweile über 1847 Jahre alt." "Was?!" "Beachtliches Alter oder? Tora ist jetzt 763 Jahre alt, das heißt, Miri hat mit knapp 1100 Jahren noch Nachwuchs bekommen. Na ja, unsere Eltern sind ja auch nicht besser. Immerhin sind die Zwei auch schon etwas über 1000 Jahre alt." "So langsam komme ich mir wirklich wie ein Küken vor. Yrrian ist ja auch schon über 823 Jahre alt." "Ehrlich? Mir hat er nie sein Alter verraten. Wer hätte gedacht, dass er schon so alt ist?" "Yrrian hat nie viel über sich erzählt." "Das denkst du nur. Er hat dir viel mehr offenbart, als sonst irgendjemanden. In unserem kleinen Gespräch am Gebirgspass ist ihm so das ein oder andere Detail heraus gerutscht. Und wenn du immer noch denkst, er könne dich nicht leiden, bedenke, dass er all die Zeit bei dir geblieben ist und selbst zum Schlafen deine Nähe gesucht hat. Sonst verbringt er nur die allernötigsten Stunden mit seinen Schülern, hält keinen Smalltalk, bleibt immer auf Distanz, meidet direkten Körperkontakt und manche behaupten sogar, sie haben ihn nie auch nur lächeln sehen. Soll ich weiter machen?" "Ist ja gut! Ich glaube dir ja..." "Worüber unterhaltet ihr Zwei euch eigentlich die ganze Zeit so angeregt?" Ronis völlig überzuckerte Stimme reißt Haru und mich aus unserem Gespräch. "Über Dinge, von denen du keine Ahnung hast." zischt mein Bruder böse. Erina räuspert sich und wirft ihrem Sohn einen warnenden Blick zu. "Was ist überhaupt bei dem Treffen mit der Walkyre herausgekommen, Haru?" wechselt sie abrupt das Thema. Er lehnt sich im Stuhl zurück und zuckt mit den Schultern. "Nichts. Sie kam nicht. Sonst wäre ich wohl kaum schon wieder zurück oder?" Er klingt irgendwie verletzt. Ob er es sehr persönlich nimmt, dass der Engel ihn versetzt hat? "Typisch. Es bleibt also doch wieder alles an uns hängen." knurrt Tora. Er scheint keine hohe Meinung von den Walkyren zu haben. "Ich werde mich darum kümmern. Wir müssen nachher ohnehin zu Luzifer, da können wir das gleich klären." erwidert mein Vater, der gerade aus der Küche kommt und massiert sich den Nasenrücken. War er schon die ganze Zeit über hier? Auch ihm scheint dieses Thema an die Nieren zu gehen. Warum haben alle so eine schlechte Meinung von unseren Verbündeten? Oder... war das damals nur ein Zweckbündnis und jetzt backt jeder wieder seine eigenen Brötchen? Meine Mutter winkt ab und steht auf. "Verschieben wir das auf später. Lasst uns den Tisch zu ende decken. Ich bin mir sicher, die Anderen spazieren hier auch jeden Moment herein." Wie war das? Wir müssen nachher noch zum Herrscher der Unteren Welt? Doch hoffentlich ohne mich! Ich habe erst einen kleinen Teil des Rudels kennen gelernt und bin nervlich schon total am Ende. Und wenn ich Tora Glauben schenken darf, sitzt mein größtes Problem noch nicht mit uns im Raum. Sollte ich diesen Tag überleben, brauche ich dringend Urlaub! Am besten in der Irdischen Welt, irgendwo in einem Vorlesungssaal, fernab von meinen neuen Problemen und Herausforderungen! Kapitel 13: komplizierte Familienbande -------------------------------------- Kapitel 13: komplizierte Familienbande: Wir betreten gemeinsam den hinteren Teil des Raumes, der durch eine große Schwingtür vom Essbereich getrennt ist. Sofort schlägt mir eine Mischung aus Gerüchen entgegen. Teils angenehme, wie der Duft nach gebratenem Fleisch, und weniger angenehme, wie das gekochte Gemüse. Angewidert bleibe ich stehen und bekomme sofort eine Reihe merkwürdiger Blicke zugeworfen. "Was ist los, Schwesterherz? Du bist plötzlich so blass." fragt Haru, kommt sofort zu mir und legt mir seine Hand auf die Stirn. "Fieber hast du aber keines. Ist dir das alles etwa zu viel?" Tora lacht kurz belustigt. "Sie hat nichts Ernstes. Aber seit ihrer Metamorphose wird sie kein Gemüse oder Obst mehr gegessen haben. Das schlägt ihr anscheinend auf den Magen." Mir ist viel zu übel, um darauf irgendetwas zu antworten, auch wenn ich ihm gerade verdammt gerne eine bissige Antwort geben würde! Ein bisschen erinnert Tora mich gerade an Ian. Die Zwei haben auf jeden Fall den gleichen Humor... Erina dreht sich überrascht zwischen dem Essen und mir hin und her. "Wirklich? Dabei ist eine ausgewogene Ernährung doch so wichtig. Und eigentlich gibt es - dem Wolf in uns zum Trotz - eher selten Fleisch. Was machen wir denn jetzt?" Ihr Blick wandert weiter zu meinem Vater, der nur kurz die Schultern zuckt. "Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Haru, gib ihr deinen Apfel und geh einen Moment mit ihr nach draußen." Väter können so grausam sein... Leise murrend schleift Haru mich mit sich und drückt mir den Apfel in die Hand, den er zuvor in seiner Hosentasche gebunkert hatte. Draußen angekommen sieht er mich fragend an. "Hast du wirklich nur Fleisch gegessen seither?" Ich nicke langsam. "Seit meinem Geburtstag ertrage ich den Geruch von gekochtem Gemüse nicht mehr und habe es nicht mehr angerührt. Für Obst gilt das Gleiche." Skeptisch betrachte ich den Apfel und rolle ihn zwischen meinen Händen hin und her. Sonst habe ich ja gerne Obst und Gemüse gegessen aber jetzt habe ich Angst, dass es mir nicht mehr schmeckt. "Mam hat Recht: Eine ausgewogene Ernährung ist wichtig. Wir müssen bei Kräften bleiben. Schieb den Wolf in dir beiseite und probier einfach den Apfel. Wenn du deinem Magen klar machst, dass du ihn nicht vergiften willst, wird es von ganz alleine besser." "Du sagst das so einfach. Wieso kümmert es dich eigentlich nicht? Solltest du nicht die gleichen Probleme haben, wie ich?" "Hatte ich anfangs auch, aber Mam und Dad haben nicht lang gefackelt und mir schon am nächsten Abend jede Menge Grünzeug vor die Nase gesetzt. Du hast ja keine Ahnung wie grausam unsere Eltern sein können, ha ha!" er lacht herzhaft und fährt sich durch sein braunes Haar. "Sag bloß, sie haben dich gezwungen, das Zeug zu essen?" Ungläubig sehe ich ihn an, doch er lacht nur wieder und zuckt unschuldig mit den Schultern. "Der erste Bissen ist der schlimmste. Ist der runter, wird es mit jedem weiteren erträglicher, bis der Ekel sich ganz gelegt hat. Und jetzt probier endlich den Apfel, sonst verpassen wir das Essen - ich habe einen mordsmäßigen Kohldampf!" Ich schlucke schwer. Warum überkommt mich gerade das Gefühl, dass Haru mir die grün leuchtende Frucht auch einprügeln würde, nur damit er pünktlich zum Essen kann? Also erhebe ich zögernd den Apfel und führe ihn an meinen Mund. Leider schnuppere ich auch kurz daran und ziehe das Obst direkt wieder weg, verziehe angeekelt das Gesicht, während Haru nur genervt die Augen verdreht. "Mensch, Aki. Stell dich nicht so an!" Er schnappt sich den Apfel, teilt ihn mit bloßen Händen, reicht mir eine Hälfte zurück, während er selbst herzhaft in die andere beißt. Überrascht sehe ich ihn an. Er hat nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Na also schön. Wie sagt man noch gleich? Nase zu und durch! Ich halte die Luft an und beiße in die süße Frucht. Noch während ich kaue, atme ich automatisch weiter und bemerke, wie das süß-saure Aroma meine Geschmacksrezeptoren kitzelt. Die Erinnerung an die wohlschmeckende Frucht drängt sämtliche Übelkeit zurück und sofort beiße ich erneut zu. Ich habe den Geschmack wirklich vermisst. Haru grinst zufrieden. "Du schuldest mir einen Apfel, Schwesterchen." "Einen halben Apfel!" korrigiere ich ihn und steige in sein Lachen mit ein. "Darüber verhandeln wir noch. Denn eigentlich habe ich sogar zwei verdient für die Mühe, die du mir gemacht hast." Ich boxe ihn empört in die Seite. Er ist einfach unmöglich! Aber ich mag ihn. Und ich möchte meinen Bruder gar nicht anders haben. Gerade als wir uns erheben wollen, hören wir, wie sich eine Gruppe dem Gebäude nähert. "Das müssen die Anderen sein. Komm." fordert Haru mich auf. Da wir uns auf der anderen Seite des Gebäudes befinden, kann ich vorerst nur Stimmen hören. "... mir völlig egal, wer sie ist. Sie muss sich genauso integrieren, wie jeder andere auch!" schimpft eine dunkle Stimme. "Sie ist die Tochter des Alphas und steht somit, genau wie Haru im Rang über dir! Zeig wenigstens etwas Respekt!" rügt eine zweite männliche Stimme in knurrendem Tonfall. "Kann mir doch egal sein. Und wenn sie Luzifers Tochter wäre - ich beuge mich keinem Menschen!" ertönt die erste Stimme wieder. Rauer, angriffslustiger. Es wird unruhig auf dem Kiesweg. Schnelle Schritte und Kampfgeräusche sind zu hören. Haru hält mich zurück und zieht mich wieder hinter den Giebel. "Narii! Sai! Hört ihr wohl auf damit! Ihr benehmt euch ja wie Kinder." tadelt eine Frau. In ihrer doch eher weichen Stimme liegt eine unglaubliche Dominanz. "Arkor hat dich und Yun aus Mildtätigkeit aufgenommen, euch behandelt wie seine eigenen Kinder und so dankst du es ihm? Du kennst die Gesetze, Sai! Sie hat es sich nicht ausgesucht, in der Irdischen Welt aufzuwachsen. Zeig etwas mehr Respekt." Mit einem Poltern wird die Tür aufgerissen. "Was ist hier draußen los?" fordert mein Vater zu wissen. Deutliches Knurren wird hörbar, sowie ein strenges Räuspern. Dann erklingt die gedemütigte Stimme des ersten Mannes wieder. Sai, wenn ich das richtig mitbekommen habe. "Gar nichts..." "Nur eine kleine Meinungsverschiedenheit. Die jetzt aber geklärt ist." antwortet der zweite Mann mit Nachdruck. Schritte erklingen wieder, sowie die Tür, die wieder zugezogen wird. Mit rasendem Herzen stehe ich einfach nur da, unfähig irgendetwas zu sagen oder mich zu bewegen. Mein Appetit ist gänzlich verflogen. Dafür macht sich Angst in mir breit. Angst, die ich nach Harus und Ronis freundlicher Begrüßung fast völlig verdrängt hatte. Angst, nicht akzeptiert zu werden. "So ein Vollidiot." schimpft Haru neben mir, wirft mir einen besorgten Blick zu und streichelt mir über den Kopf. "Nimm es dir nicht so zu Herzen. Der Holzkopf ist einfach zu impulsiv und hat schon eine Menge durchgemacht. Aber eigentlich ist er ganz okay, wenn man ihn erst einmal besser kennen lernt." er lächelt ermutigend aber viel nützt es nicht. Ich fühle mich elend. Wie konnte ich auch nur einen einzigen Moment lang glauben, ich würde einfach so akzeptiert werden? Auch wenn ich Harus Schwester und das leibliche Kind des Alphapaares bin, war ich doch 21 Jahre nicht hier. Für diese Dämonen bin ich eine völlig Fremde, die einfach so in ihr Rudel eindringt und sich dreist auf den höchsten Stuhl neben der Führung breit macht, ohne jemals auch nur einen Finger dafür gekrümmt zu haben. Sai hat jeden nur erdenklichen Grund, mich zu hassen. Ich kann es ihm nicht einmal verübeln. Vermutlich würde ich sogar genauso denken wie er. "Aki?" Die Stimme meines Bruders klingt besorgt, doch ich schaffe es einfach nicht, eine unbekümmerte Miene aufzulegen. "Sai hasst mich." stelle ich stattdessen nur resignierend fest. "Er ist misstrauisch. Es hat ein halbes Jahrhundert gedauert, bis er und Yun wieder auf freundliche Gesichter trafen. Sie gehörten ursprünglich nicht zum Rudel, musst du wissen. Damals haben sich nicht alle Familienverbände zusammengeschlossen. Einige zogen die Isolation vor, und Sai und Yun sind Kinder aus eben solchen Verbänden. Allerdings sind außerhalb der Stadt die Sitten rauer. Und ihr Rudel hat sehr weit draußen gelebt. Es soll Übergriffe gegeben haben. Nicht nur von Schatten, sondern auch von anderen Dämonen und sogar Engeln, deren Herzen verdorben waren. Sai hat viele Leben genommen, um das von Yun zu beschützen und wurde dafür aus seinem vorherigen Rudel verbannt. Wir können uns kaum vorstellen, was da draußen vor sich ging." "Es gibt also selbst unter den Dämonen und Engeln solche Monster? Ich dachte, zu solch grausamen Taten wären nur Menschen fähig." "Nein. So etwas gibt es überall. Wenn sich Finsternis in einem Herzen breit macht, wird die Seele ins Verderben gestürzt. Die Folgen sind Hass, Gewalt und Grausamkeiten. Aber mach dir keine Sorgen: Sai würde nie die Hand gegen Arkor oder Erina erheben. Er liebt sie. Auf seine eigene, merkwürdige Art und Weise. Und mit der Zeit wird er seine feindselige Haltung dir gegenüber auch fallen lassen." Ich ringe mich zu einem Lächeln durch und nicke. Erneut wird die Tür aufgerissen und jemand kommt direkt auf uns zugelaufen. "Hier seid ihr. Es gibt essen. Kommt endlich, die Stimmung ist ohnehin schon angespannt genug." Ein junger Mann mit wilden, blonden Haaren und fliederfarbenen Augen steht vor Haru und blickt erst ihn und dann mich an, bevor ein verschmitztes Grinsen seine Züge erhellt. Er streckt mir seine Hand entgegen. "Du musst Aki sein. Ich bin Riyo. Du hast uns echt lange warten lassen." Sein Grinsen wird breiter. Zögerlich ergreife ich die mir dargebotene Hand und sofort schüttelt er sie eifrig. Riyo. Ich versuche den Namen zuzuordnen. Wo gehörte er noch gleich hin? "Du bist Ronis Bruder, oder?" frage ich vorsichtig und er nickt knapp, wirft Haru einen schnellen Blick zu und zieht eine Grimasse. "Ich hoffe, meine Schwester hat dich nicht zu sehr überfahren. Sie ist immer etwas... übereifrig, wenn..." "Lasst uns endlich rein gehen, mir knurrt der Magen!" unterbricht Haru den Blonden. "Du bist ziemlich unhöflich, weißt du das, Haru?" mahne ich ihn und die Jungs lachen. "Er hat ja Recht. Außerdem wird deine Mutter zur Furie, wenn nicht bald alle am Tisch sitzen. Und glaube mir, DAS willst du nicht erleben." Riyo und Haru flankieren mich, jeder eine Hand in meinem Rücken und schieben mich eiligen Schrittes zurück in das kleine Gebäude.. Kaum betreten wir den Raum, verstummen alle Gespräche und sämtliche Blicke kleben an mir. Ich fühle mich mehr als unbehaglich, doch die Jungs schieben mich erbarmungslos weiter zum Tisch. Sollte ich mich nicht vielleicht erst einmal vorstellen, bevor ich mich ganz dreist hinsetze? Doch die Entscheidung wird mir von meiner Mutter abgenommen, die mich auf meinen Stuhl platziert und dann in die Runde lächelt. "Ich denke nicht, dass ich noch viel sagen muss. Ihr alle habt mittlerweile mitbekommen, dass unsere Tochter wieder nach Hause gekommen ist. Ich hoffe natürlich sehr, dass sich Aki schnell einlebt. Und jetzt lasst uns essen. Ich höre einige laut knurrende Mägen." Sie wirft Haru einen amüsierten Blick zu und setzt sich dann selbst hin. "Tch, von wegen nach Hause gekommen... Das hier war doch nie ihr zu hause." zischt es vom anderen Ende des Tisches und sofort rebelliert alles in mir. Ich muss nicht aufsehen, um zu wissen, dass es Sai war, der diese Worte gesprochen hat. Am Liebsten würde ich einfach aufspringen und die Sache hier und jetzt mit ihm klären. Er hat nicht das Recht, so über mich zu sprechen! Auch wenn ich seine Haltung durchaus nachvollziehen kann. Oder ist das das Alphablut in mir, das ihn maßregeln will für sein vorlautes Mundwerk? Eigentlich ist das gerade völlig egal. Mein Blut kocht - und er ist schuld daran! "Das will ich überhört haben, Sai." knurrt es finster zurück und endlich sehe ich auch, zu wem diese Stimme gehört, die ihn schon vor dem Gebäude gemaßregelt hat: Narii. Mein Onkel. Unter dem dunkelblonden Schopf mit den leicht gewellten Haaren, schaut ein Paar dunkelblauer Augen finster zu Sai herüber, der zwei Plätze von ihm entfernt sitzt. Zwischen den beiden sitzt nur noch Riyo, der alles andere als glücklich aussieht, zwischen den Fronten sitzen zu dürfen. "Haru..." stupse ich meinen Bruder mental an. Er schaut kurz auf, sein Blick huscht zur Seite, dann wieder zu mir. "Du hast wirklich gute Ohren, Aki. Selbst ich habe es kaum gehört. Aber du darfst dich nicht aufregen! Ich weiß, er bringt dein Blut gerade zum Kochen aber noch ist es nicht deine Aufgabe, ihn für seine unbedachten Worte zu bestrafen." "Es ist verdammt schwer! Warum macht es mich so wütend? Abgesehen von der Tatsache, dass es verflucht verletzend ist..." "Weil er deine Position in Frage stellt. Er fordert dich mehr oder weniger heraus und als ranghöherer Wolf willst du natürlich klar stellen, dass er gefälligst nach deiner Pfeife zu tanzen hat und nicht auf deiner Nase. Ignoriere es." Ich lege die Stirn in Falten. Ich soll meine Instinkte ignorieren? Das ist schwerer, als in diesen blöden Apfel zu beißen! Zumal ich deutlich Sais Blicke auf mir spüre. Seine türkisfarbenen Augen funkeln bedrohlich unter seiner schwarzen Mähne zu mir herüber und nur mit größter Anstrengung widerstehe ich dem Drang, einfach über den Tisch und ihm an die Kehle zu springen. Dann flutet eine mächtige Aura den Raum und ich kann sehen, wie sie Sai in die Mangel nimmt. Ich folge ihr und lande bei meinem Vater, der dem Jüngeren gerade einen vernichtenden Blick zuwirft. Nur ein einziges Wort verlässt Arkors Mund, aber allein seine bedrohlich, tiefe Stimme lässt mich innehalten, auch wenn es nicht für mich bestimmt ist. "Jiyu!" Sais wahrer Name... Alle Anwesenden halten in ihrem Tun inne und beobachten gebannt das Szenario. Sai wirft meinem Vater einen verunsicherten Blick zu. Obgleich er mutig das Kinn in seine Richtung reckt, scheint er nicht darauf auf zu sein, meinen Vater noch weiter zu verärgern. Selbst meine Mutter scheint durch Sais Verhalten mir gegenüber gekränkt zu sein - ihr Blick spricht Bände! "Das gemeinsame Essen soll dazu dienen, die Bande zwischen uns zu stärken, und nicht um Machtkämpfe aufzutragen!" schimpft sie. "Hebt euch eure Energien für die Schatten auf!" Betreten schaut Sai auf seinen Teller und auch ich wende meinen Blick von ihm ab. Es wird nicht besser, wenn ich ihn weiterhin anstarre. Aber mein Hunger ist endgültig vergangen. Von links legt sich plötzlich eine blasse Hand auf meine und als ich aufsehe, werde ich von einer Frau mit strahlend grünen Augen und hellblauen, langen Haaren angelächelt. "Du solltest etwas essen, junge Aki. Auch wenn dir diese Situation etwas auf den Magen schlägt, darfst du nicht vergessen, dass wir alle unsere Kräfte brauchen." Ich erkenne ihre Stimme als die wieder, die Sai und meinen Onkel vorhin gerügt hatte. Mein Blick huscht einmal über den Tisch. Neben Narii sitzt eine Frau mit braunen Haaren und rehbraunen Augen - meine Tante. Zu ihrer Rechten sitzt Roni. Daneben, und Sai gegenüber, sitzt eine junge Frau, die ich in der Irdischen Welt vielleicht auf 17 geschätzt hätte, wenn überhaupt. Ihre blauen Haare sind zu zwei niedlichen Zöpfen gebunden und ihr gerade geschnittener Pony hängt ihr in ihre Augen, die rot leuchten. Ob das Yun ist? Dann kann die Frau, die mich gerade so warmherzig anlächelt, eigentlich nur noch Miri sein. Toras Mutter. Was logisch wäre, da er ihr direkt gegenüber sitzt. Und uns gerade sehr interessiert beobachtet. Um nicht unhöflich zu sein, nicke ich meiner Sitznachbarin kurz zu und zwinge mir ein paar Bissen hinter. Obgleich das Essen vorzüglich schmeckt, stellt sich noch immer kein Appetit ein. Klasse! Sai hat es wirklich geschafft, mir mein erstes Essen mit meiner Familie zu versauen - und ich befürchte, es wird nicht das letzte gewesen sein. Diese Reibereien strengen mich schon jetzt an. Tora hatte Recht: Nicht er ist mein größtes Problem, sondern der Schwarzhaarige! Das wird mich noch eine Menge Nerven kosten. Aber wie kann ich mich behaupten, wenn derartige Streitigkeiten sofort von meinem Vater unterbunden werden? Nachdenklich stochere ich in meinem Essen umher. Es muss doch eine Möglichkeit geben, diesem Hitzkopf zu beweisen, dass ich nicht seine Feindin bin. "Wenn du so weiter machst, kannst du dein Essen bald trinken, Schwesterchen." dringt Harus belustigte Stimme in mein Bewusstsein. Augenblicklich rutsche ich mit der Gabel ab, welche ein quietschendes Geräusch auf dem Teller verursacht. Ist das widerlich! Ich hasse dieses Geräusch. Mit einem leisen Knurren funkle ich meinen Bruder böse an, doch er lacht nur leise auf. Irgendwie geht der Rest des Essens komplett an mir vorbei. Erst, als Haru mir eine Hand auf die Schulter legt, schrecke ich hoch und bemerke, dass alle anderen schon gegangen sind. Fragend sehe ich meinen Bruder an. "Wo sind denn alle hin?" "Du Träumerin! Die sind längst ins Haus gegangen aber du trödelst hier noch immer herum." "Passiert denn jetzt noch irgendetwas? Ich bin gerade so überhaupt nicht in der Stimmung für weitere gemeinsame Aktivitäten." gebe ich ehrlich zu. "Kann ich verstehen. Es steht nichts mehr an. Wir haben ein bisschen Freizeit. Miri, Roni, Sai und Yun werden nachher auf Patrouille gehen." Erleichtert atme ich aus. Ich muss also für eine Weile nicht mit Sai in einem Gebäude hocken. Haru nimmt mir den Teller vor der Nase weg und bringt ihn in die Küche. Danach hakt er sich grinsend bei mir ein und wir schlendern zurück zum Hauptgebäude. "Ich bin mir sicher, das mit dir und Sai betut sich noch. Vielleicht haben wir ihn nur auf dem falschen Fuß erwischt. Du solltest versuchen, mit ihm zu reden. Wie gesagt, er ist eigentlich kein schlechter Kerl." fängt Haru an und grinst dabei unentwegt. Ich stoße einen gedehnten Seufzer aus. "Wenn du meinst." Wir steigen die Treppen hoch und als ich aufsehe, starren mich hasserfüllte, türkise Iriden an. Danke auch! Soviel dazu. Von wegen, Sai und kein schlechter Kerl. Pah! "Oh, wollt ihr euch noch einmal frisch machen, bevor ihr los müsst?" Sorglos und noch ein wenig naiv klingt die Stimme der jungen Frau, die uns entgegen strahlt. Ihre zwei kleinen Zöpfe wippen fröhlich auf und ab, als sie auf mich zukommt. "Wir sind gar nicht dazu gekommen, uns richtig zu begrüßen. Ich bin Yun." Die Blauhaarige streckt mir ihre Hand entgegen, ein ehrliches Lächeln ihre Lippen zierend. Ihr Lächeln ist eindeutig ansteckend und so heben sich auch meine Mundwinkel und ich ergreife die mir dargebotene Hand. "Ich bin Aki. Freut mich, dich kennen zu lernen." "Ganz meinerseits. Wir müssen leider los aber eventuell haben wir später einmal Gelegenheit, uns ein bisschen zu unterhalten. Natürlich nur wenn du magst." "Klar, gerne." antworte ich ihr begeistert. Vielleicht bekomme ich einen besseren Draht zu Sai, wenn ich mich erst einmal mit Yun anfreunde. Auch wenn dieser so gar nicht erfreut aussieht. Sein stechender Blick ruht die ganze Zeit beharrlich auf mir. Als würde er nur darauf warten, dass ich etwas Falsches sage oder tue, damit er mir an die Gurgel springen kann. Die Beiden gehen an uns vorbei, da nehme ich all meinen Mut zusammen und fordere mein Glück heraus. "Sai? Ich hoffe sehr, dass wir auch einmal miteinander reden können." Gedanklich schlage ich mir mit der flachen Hand vor den Kopf. Was für eine bescheuerte Aussage! Aber gesagt, ist gesagt. Also halte ich ihm auffordernd meine Hand hin, doch er mustert diese nur abfällig und wirft mir einen kalten, desinteressierten Blick zu. Dann verengen seine Augen sich zu Schlitzen. Doch der finstere Blick, den er jetzt aufgesetzt hat, gilt nicht mir. Ich schaue über meine Schulter und sehe Haru an, der den Schwarzhaarigen fixiert. Seine Miene ist, bis auf sein festgetackertes Grinsen, völlig unbewegt. Nach kurzer Zeit schnaubt Sai verächtlich und wendet sich ab. "Vergiss es!" Yun sieht zwischen uns hin und her, verbeugt sich dann schnell und murmelt eine Entschuldigung. "Er meint es nicht so." "Doch, Yun! Ich meine es ganz genau so! Lass uns gehen." Damit verschwindet er die Treppe hinunter, ohne sich noch einmal umzudrehen, während seine Gefährtin ihm eilig folgt. Haru schlägt kräftig gegen den Holzpfeiler neben sich. "So ein Sturkopf!" Erschrocken fahre ich zu ihm herum. Sein sonst so beständiges Grinsen ist aus seinem Gesicht gewichen und reiner Ärger zeichnet sich auf seinen Zügen ab. "Er hat nicht direkt mich gemeint, als er sagte 'Vergiss es', oder?" frage ich vorsichtig nach. "Nicht direkt, nein. " Dann herrscht Schweigen. Ich sollte es mittlerweile gewohnt sein, keine ausführlichen Antworten zu bekommen, aber gerade bei Haru hätte ich gedacht, dass er nicht so verschlossen ist. Ein wenig kränkt es mich schon. Betrübt gehe ich weiter zu meinem Zimmer und als ich mich auf mein Bett werfe, stelle ich überrascht fest, dass Haru es mir gleich tut. Warum ist er mir gefolgt? Und warum wirft er sich wie selbstverständlich auf MEIN Bett?! "Mam hat mir mal erzählt, dass es eigentlich nie geplant war, dass sie noch einmal schwanger wird." ergreift er nach einer Weile das Wort. "Nach den vielen Verlusten in der großen Schlacht und der Trauer um ihre verstorbenen Kinder, wollte sie dieses Leid nie wieder erleben. Und dann vor etwa 60 Jahren fand sie Sai und Yun mitten im Nirgendwo. Schwer verletzt und halb verhungert stellte der Sturkopf sich gegen unsere Mutter. Er dachte, sie wolle Yun etwas antun. Das konnte er natürlich nicht zulassen. Aber er war so schwach, dass er kurz darauf ohnmächtig wurde und erst wieder zu sich kam, nachdem sie hierher gebracht wurden. Unsere Eltern kümmerten sich um die zwei Streuner wie um ihre eigenen Kinder. Vor allem Sai war zu Beginn sehr still und misstrauisch. Doch je länger er beim Rudel blieb, umso mehr öffnete er sich endlich." Haru blickt mich eindringlich an. "Was ich dir jetzt erzähle, muss unter uns bleiben. Niemand außer mir und unseren Eltern weiß davon." Meine stumme Zustimmung mit einem Nicken gebend, warte ich gebannt, was nun folgt. "In ihrem früheren Rudel hatte Sai es geschafft, sich bis an die zweite Position hochzukämpfen. Nur noch das Alphatier stand im Rang über ihm, und der respektierte den jungen Hitzkopf wie einen eigenen Sohn. Als Sai 91 Jahre alt war, wurde Yun geboren. Sie war allerdings ein rangniedriger Wolf, schwächlich und klein. Sie wurde von den anderen Mitgliedern des Rudels stets ausgegrenzt. Außer von Sai. Von Anfang an war er an ihrer Seite. Er beschützte sie vor den älteren Jungwölfen, trainierte mit ihr und bereitete sie auf das vor, was sie zu ihrem 21. Geburtstag erwarten würde. Doch soweit sollte es nicht kommen. Die beiden verliebten sich ineinander und bereits im Alter von 17 Jahren verwandelte Yun sich das erste Mal." "Was? Aber das heißt ja, dass... die Beiden... also... hätte Sai das nicht umbringen müssen?" Oder hat Ian mir da etwas völlig Falsches erzählt? Haru lacht leise. "Unter normalen Umständen schon. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, diesen Moment des völligen Kontrollverlustes zu umgehen. Und ich werde ganz sicher nicht fragen!" Verständlich. Auch wenn es mich schon interessieren würde. "Jedenfalls kam dadurch allerdings auch heraus, dass die Zwei eine Beziehung führen, was dem Alpha ganz und gar nicht zusagte. Er stellte Sai vor die Wahl: Entweder das Rudel oder Yun. Aber egal wie er sich entschied, Yun würde für ihre frevelhafte Tat bezahlen." Geschockt weiten sich meine Augen. "Aber warum denn das? Ein Wolf verliebt sich doch nur einmal!" "Das tut dort draußen nichts zur Sache. Liebe ist hinderlich. Nur Wölfe gleichen Ranges dürfen untereinander verkehren. Wäre Yun stark gewesen und hätte in absehbarer Zeit eine ranghöhere Position für sich beanspruchen können, wäre das damals vielleicht anders ausgegangen. Aber das war sie leider nicht." "Also hat Sai mit ihr das Rudel verlassen?" "Das hatte er vor. Er wollte mit Yun zusammen weg. Irgendwohin, ein eigenes Territorium suchen, eine eigene Familie gründen. Doch es kam ganz anders..." Haru, der die Arme hinter seinem Kopf verschränkt und mich bisher angesehen hatte, schließt nun die Augen und atmet tief durch. "Der Alphawolf wollte einen starken Kämpfer wie Sai nicht verlieren und so machte das Rudel Jagd auf die Beiden, um Yun zu töten. Um sie zu retten und zu beschützen, hat er viele Leben genommen. Er hat sein gesamtes ehemaliges Rudel auf dem Gewissen." Ich halte den Atem an. Er hat ein ganzes Rudel ausgelöscht? Nur um die Frau zu beschützen, die er liebt. "War das denn wirklich notwendig? Ich meine, hätte er die anderen nicht einfach nur verletzen und dann weiterziehen können?" "Ein ganzes Rudel war hinter ihnen her. Jeden Angreifer, den er nicht ausgeschaltet hätte, hätte ihm bald darauf wieder im Nacken gesessen. Er hatte keine andere Wahl. Diese Wölfe hatten ihm keine andere gelassen..." "Wie schrecklich..." "Nachdem die Gefahr durch ihr altes Rudel endlich vorüber war, stolperten sie von einer Gefahr in die nächste. Angriffe von Schatten, Übergriffe durch gefallene Engel oder verdorbene Dämonen standen bald an der Tagesordnung. Natürlich wurde Yun mit der Zeit dadurch viel stärker und heute ist sie eine geschickte und gefährliche Jägerin, dennoch ist es zu zweit beinahe unmöglich lange da draußen zu überleben. Etwa 50 Jahre sind sie umher geirrt, bis sie hier her kamen. Na ja, und im Laufe der Jahrzehnte hatte Sai sich wieder Hoffnungen gemacht, im Rang aufzusteigen. Denn das Alphapaar hatte ja keine eigenen Kinder und Arkor hatte ihm immer wieder versichert, dass er Sai als seinen Sohn ansah." Betrübt lasse ich den Kopf in mein Kissen sinken. Ich ahne, wohin das führt. "Und dann wurde Erina doch schwanger. Sais anfängliche Freude wandelte sich schnell in Eifersucht und dann in Angst. Er befürchtete, erneut verstoßen zu werden und zog sich immer mehr von den anderen zurück. Das blieb natürlich nicht unbemerkt. Unsere Eltern führten lange Gespräche mit den Beiden, sicherten ihnen zu, dass sie ein fester Bestandteil des Rudels wären und Sai arrangierte sich irgendwie damit. Während meiner Kindheit war Sai immer an meiner Seite, wie ein großer Bruder. Wir hatten uns schnell angefreundet und ich hatte nie das Gefühl, dass er mir meinen Platz streitig machen wollen würde. Er schien wirklich damit klar zu kommen, lediglich als mein Leibwächter zu dienen, statt selbst in eine Führungsrolle zu schlüpfen. Ich weiß nicht, in wie weit ihm bewusst war, dass du eines Tages wieder zum Rudel zurückkehren würdest, nachdem du in die Irdische Welt gegeben wurdest. Fakt ist jedoch, dass er sich seit unserem 21. Geburtstag anders verhält. Alle redeten nur noch davon, dass du bald nach Hause kommen würdest, dabei kannte dich niemand. Und doch sprach jeder von dir, als wärest du schon Jahrhunderte Teil dieses Rudels und nur mal eben für ein paar Wochen unterwegs gewesen. Er war der Einzige, der deiner Rückkehr nichts abgewinnen konnte." "Es ist doch offensichtlich, wieso das so ist. Sai hat sein Leben lang für eine bestimmte Position gekämpft. Ich nicht. Und doch bin ich das heimkehrende Prinzesschen, das mit offenen Armen empfangen wird. Ich habe all das, was er sich immer gewünscht hat. Aber ich habe nie etwas dafür tun müssen." Eine gewisse Bitterkeit fließt in meine Worte mit ein. Ich kann es nicht verhindern. "Als er und Yun uns vorhin im Flur begegnet sind, habe ich ihn zuerst gebeten, dir wenigstens eine Chance zu geben, doch er hat abgelehnt. Dann habe ich ihn daran erinnert, dass er dir zumindest einen gewissen Respekt zu zollen hat, da er ja im Rang unter dir steht. Das hat dann seine Reaktion heraufbeschworen." "Das ist die Kurzform, oder?" "Du willst die vollständige Fassung nicht hören, glaub mir, Aki." Sein Blick huscht zu mir und ein freches Grinsen zeichnet sich auf seinen Zügen ab. Ich erwidere sein Grinsen. Es ist mir viel lieber, wenn er lacht, als wenn er so todernst ist, wie im vorangegangen Gespräch. Immerhin verstehe ich jetzt Sais Beweggründe. Auch wenn ich noch immer keine Ahnung habe, wie ich zu ihm durchdringen kann. Ein Klopfen an meiner Zimmertür lässt uns beide aufsehen und im nächsten Moment streckt unsere Mutter ihren Kopf herein. "Hier seid ihr also. Wir wollen los. Den Herrn der Unteren Welt lässt man lieber nicht allzu lange warten." Etwas verwirrt blinzle ich und schaue zwischen Erina und Haru hin und her. Der Herr der Unteren Welt? Und dann macht es 'Klick'. Luzifer. Ich soll nach dem desaströsen Essen nun auch noch dem mächtigsten Dämon dieser Welt vorgestellt werden? Ob ich das noch irgendwie abwenden kann? "Na komm, Schwesterchen. Wenn er heute jemanden beißt, dann mich. Denn allem Anschein nach habe ich das Treffen mit der Walküre verbockt. Er wird arg übel drauf sein. Vielleicht heitert ihn dein Gesicht ja etwas auf, also komm ja nicht auf die Idee mich da allein zu lassen!" scherzt mein Bruder und zieht mich hinter sich her. Auf dem Flur begegnet uns Roni, die uns kurz mustert. "Aki, du willst doch nicht ernsthaft in den Klamotten in die Große Halle? Das kann nicht dein Ernst sein!" Dann schweift ihr Blick zu Haru. "Und du solltest dir besser auch etwas Vernünftiges anziehen, Haru. Ein Hemd oder irgendetwas anderes, dass nicht so viel Haut zeigt." Ich werfe einen Blick zur Seite. Was ist so schlimm daran, wenn er seinen durchtrainierten Körper zur Schau stellt? Oder fallen dann alle weiblichen Dämonen in Ohnmacht? Bei der Vorstellung muss ich kurz kichern, was Haru völlig falsch interpretiert. Unzufrieden knurrt er mich an und verschwindet in seinem Zimmer, während Roni mich eine Tür weiter schleift in ihr Reich. Vor ihrem gigantischen Kleiderschrank bleibt sie stehen und hält mir ein süßes schwarzes Kleidchen mit Herzausschnitt hin. Geschockt sehe ich sie an. Das Teil werde ich unter gar keinen Umständen anziehen! Doch sie strahlt nur von einem Ohr zum anderen. "Es ist perfekt! Tante Erina meinte auch, dass es dir stehen würde. Also los, zieh dich um. Luzifer lässt man besser nicht warten." Fassungslos starre ich meine Cousine an. Das muss ein Albtraum sein! Kann mich bitte jemand wecken?! Kapitel 14: Der Herr der Unteren Welt ------------------------------------- Kapitel 14: Der Herr der Unteren Welt: Ich fasse es einfach nicht! Roni hat uns ernsthaft noch abgepasst, bevor sie mit den Anderen losgezogen ist, nur um uns in diese oberpeinlichen Klamotten zu stecken. Ich meine ja nur, so niedlich dieses schwarze Kleidchen auch ist, aber ich sehe aus wie 16! Ein mürrischer Seitenblick zu Haru verrät mir, dass er ebenso begeistert ist von seinen Klamotten, wie ich von meinem Kleid. Mit dem feinen Unterschied, dass er in dem schwarzen Hemd und der beigen, langen Hose unverschämt gut aussieht! Das ist sowas von nicht fair! "Musste es ausgerechnet dieses Hemd sein? Es kratzt!" beschwert mein Bruder sich lautstark, während er immer wieder versucht, den Kragen von seinem Hals wegzuziehen. Mit minderem Erfolg. Denn Erina hat ihm verboten, auch nur einen einzigen Knopf zu öffnen. "Ich weiß gar nicht, warum du dich beschwerst, Haru. Wenigstens siehst du nicht aus wie ein kleines Mädchen." brumme ich unzufrieden. "ES KRATZT!" motzt er sogleich zurück und bringt mich damit zum Lachen. Allerdings bleibt mir dieses bei seinem nächsten Kommentar direkt wieder im Hals stecken. "Und warum meckerst du eigentlich? Du siehst doch niedlich aus in dem Kleid. Jetzt musst du nur noch ein bisschen unschuldig gucken und schon frisst dir jeder aus der Hand." "SCHNAUZE!" fauche ich ihn an. Ich will nicht niedlich sein und ich will auch nicht unschuldig gucken. Ich will einfach nur ich sein! Arkor fährt zu uns herum, seine Mundwinkel dabei gefährlich zuckend. "Hättet ihr zwei die unendliche Güte, euch eures Alters entsprechend zu benehmen?!" Haru und ich schlucken schwer und nicken eifrig. "Das ist allein deine Schuld!" stichle ich mental weiter. "Du hast ja wohl angefangen!" "Gar nicht wahr!" "Doch wahr!" Wir liefern uns ein grimmiges Anstarrduell. Und kassieren eine Sekunde später jeder eine verdammt schmerzhafte Kopfnuss. "Ich sagte, ihr sollt euch benehmen!" rügt uns unser Vater. Ein leises Lachen ist von meiner Mutter zu hören, die dieses allerdings geschickt hinter ihrem hellblauen Fächer verbirgt. "Fall du mir doch auch noch in den Rücken!" Arkor hat es also doch bemerkt. Ich frage mich, warum er überhaupt so gereizt ist. Selbst beim Essen war er die Ruhe selbst. Zwar bedrohlich, als er Sai gemaßregelt hatte, aber ruhig. Was ist jetzt anders? Ich strecke meine Aura nach meiner Mutter aus. Vielleicht kann sie mir sagen, was los ist. "Darf ich dich etwas fragen?" taste ich mich vorsichtig heran. Ihr Blick huscht kurz über ihre Schulter zu mir und sie nickt kaum merklich. "Warum ist..." Mir fällt gerade auf, dass ich gar nicht weiß, wie ich Arkor benennen soll. Vater? Papa? Dad? Meine Mutter bemerkt mein Stocken. "Warum dein Vater so unruhig ist?" rät sie ins Blaue und trifft den Nagel auf den Kopf. "Genau. Selbst vorhin war er wesentlich ruhiger. Einfach nur dominant Sai gegenüber, aber jetzt?" "Es liegt an Luzifer." "Wieso das? Ist er so furchteinflößend?" Erina zögert einen Moment. "Nicht direkt. Du wirst es bald sehen." Damit beendet sie das Thema. Ich werde es sehen? Was denn? Schweigend gehen wir weiter und gedankenversunken bewundere ich den eisblauen Kimono meiner Mutter. Auf ihm sind viele verschiedene Schneekristalle abgebildet, die zum Saum hinunter gleiten. Der mintgrüne Obi mit der silbernen Kordel unterstreicht die Kühle des Bildes angenehm und ich kann nicht anders, als Erina dafür anzuhimmeln, wie gut ihr der Kimono steht und wie wunderschön sie darin aussieht. Wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätte ich auch lieber einen Kimono angezogen. Aber es hat sicher einen Grund, dass Haru und ich - von seiner beigen Hose einmal abgesehen - in schlichtem Schwarz und unsere Eltern im hellblauen Anzug und Kimono gekleidet sind. "Dort vorn ist schon die Große Halle. Ihr redet nur, wenn ihr angesprochen werdet und bitte verkneift euch jedwede Kommentare. Keiner kann sagen, wie der Herr der Unteren Welt gerade drauf ist. Und wenn ihr Pech habt, bekommt er eure achtlos gesprochenen Worte in den falschen Hals und wir bekommen richtig Probleme. Niemand verärgert ihn, außer man verspürt eine gewisse Todessehnsucht." erklärt Arkor uns. Also ein Herrscher mit Stimmungsschwankungen? Großartig! War es das, was meine Mutter vorhin meinte? Die breite Straße, die von unserem Haus direkt zu einem der Eingänge der Großen Halle führt, kommt mir gerade viel länger vor, als ich es vom Gebirgspass aus in Erinnerung habe. Und jeder weitere Schritt verstärkt das Unwohlsein in meiner Magengegend. So wohl ich mich auch bei meiner Familie fühle, ich kann nicht gerade behaupten, dass ich gerade das Gleiche empfinde. Ich weiß nicht wieso, aber schon jetzt scheine ich die Präsenz des Herrschers zu spüren. Und je näher wir kommen, umso mehr wandelt sich das Unwohlsein in Schmerz. Es ist fast so, wie beim Training der mentalen Kommunikation. Als ich das erste Mal versucht hatte, in die Aura von... Ich kneife kurz die Augen zusammen. Selbst der Gedanke daran, seinen Namen nur zu denken, versetzt mir einen unangenehmen Stich in die Brust. Warum zur Hölle fehlt dieser Idiot mir nur so sehr? Ist es, weil er von Anfang an für mich da war? Immerhin war er der Erste, der meine neue Gestalt gesehen und mir jede Angst danach genommen hat. Oder vielleicht auch weil er mich immer beschützt hat? Vielleicht vermisse ich ihn auch nur deswegen so sehr, weil ich mich einfach an seine Gegenwart gewöhnt habe. Ich massiere mir meinen Nasenrücken. Ich sollte nicht so viel darüber nachgrübeln. Ich werde ihn ohnehin nicht wiedersehen. Also schiebe ich die Gedanken an ihn möglichst weit weg und versuche mich stattdessen auf meine Umgebung zu konzentrieren. Über eine steinerne Treppe kommen wir zu einem reich verzierten Torbogen. Mein Schritt verlangsamt sich, als ich die eingravierten Bilder bewundere. Ganz oben befindet sich mittig das Zeichen für Yin und Yang. Dieses liegt eingebettet in einem blau schimmernden Kreis und rundherum sind die Zeichen für die vier Elemente angeordnet. Links und rechts davon sind je ein Wolf und ein Pferd mit Flügeln abgebildet, die sich auf die Zeichen zubewegen. Steht das Pferd für die Walkyren? Ob dann Yin und Yang für die Obere und die Untere Welt stehen? Und wäre dann dementsprechend der blaue Kreis die Irdische Welt? Hinter dem Pferd sind eine Reihe anderer zierliche Gestalten abgebildet. Wahrscheinlich Engel und Feen und andere Bewohner der Oberen Welt. Während sich hinter dem Wolf geflügelte, satyrähnliche Wesen und Drachen befinden. "Aki! Trödel nicht so herum, komm!" reißt Harus Stimme mich aus dem Staunen heraus. Ich muss ein paar Male blinzeln, um mich daran zu erinnern, warum ich überhaupt hier bin. Doch dann schließe ich eilig zu meiner Familie auf. Ich lande in Teufels Küche, wenn wir wegen mir zu spät kommen. Gedanklich schlage ich mir vor die Stirn. Ha ha! Vorerst darf ich den Teufel in seiner Audienzhalle besuchen. Der große Torbogen schließt direkt an eine Eingangshalle an, die ebenso reich verziert ist mit Wandmalereien. Als ich etwas länger zu einem der Bilder starre, scheint sich dieses allerdings zu bewegen - als würde eine Szene aus dem Leben der abgebildeten Wesen zum Leben erwachen. Unheimlich. Und faszinierend! Die Halle endet vor einer gigantischen Flügeltür, die ein Stück für uns geöffnet und, nachdem wir eingetreten sind, auch direkt wieder geschlossen wird. Der Raum, in dem wir uns jetzt befinden, ist größer als die beiden Tanzhallen in Taras Tanzstudio zusammen, und höher als die zwei Stockwerke unseres Hauses. Auf halber Höhe sind ovale Fenster in die Wände eingelassen, die für ausreichend Licht sorgen und darunter hängen orange-rot leuchtende Stoffe, welche die dahinterliegenden Wände bedecken. Hin und wieder schimmert aber doch die sandsteinähnliche Farbe hervor und ich glaube sogar so etwas wie eine Tür hinter einem der Stoffe auszumachen. Zu uns tritt ein Wesen, welches ich spontan als Gargoyle bezeichnen würde: Seine schiefergraue Haut wirkt so glatt und schön, wie polierter Marmor, er hat spitz zulaufende Ohren und seinen Kopf zieren zwei eindrucksvolle Hörner. Seine Augen sehen aus wie glühende Lava und als er uns entgegen lächelt, entblößt er verdammt scharfe Eckzähne. Wenn ich jemals hätte beschreiben müssen, wie ich mir einen echten Dämonen vorstelle... nun, hier steht er! "Der Meister ist soeben zurück gekehrt. Er wird Sie gleich empfangen. Einen Augenblick Geduld bitte noch." Seine Stimme ist so kalt und rau wie die Oberfläche eines in der Brandung liegenden Steines. Mir läuft es eiskalt den Rücken herunter. Zu meinem Glück entfernt die Kreatur sich wieder und ich erhasche einen Blick auf seinen Rücken, an dem sich ein eingefaltetes Paar Flügel befindet. Das ist mir eben gar nicht aufgefallen. Genauso wenig wie sein langer, dünner Schweif, der in einem skorpionartigen Stachel endet. Jetzt ist mir der Typ gleich nochmal so unheimlich. Einen Moment später geht beinahe geräuschlos eine Tür am hinteren linken Ende des Raumes auf und noch bevor ich irgendjemanden ausmachen kann, flutet eine mächtige Aura den Raum und schnürt mir fast die Luft ab. Der selbe Schmerz wie schon vor dem Gebäude durchflutet mich - nur stärker - und ich schlage meine Finger in meine Oberarme, da ich sonst das Gefühl habe, auseinander gerissen zu werden von dieser Macht. Nur mühsam kann ich meinen Blick noch auf die Tür richten. Ganz langsam scheint alles vor meinen Augen zu verschwimmen und unscharf zu schimmern. Ein bedrohliches Knurren ertönt, reißt mich aus meiner Starre und schärft meine Sinne wieder. Mein Blick gleitet zu meinem Vater, der die Tür ebenso fixiert, wie ich es bis eben noch getan habe. Und endlich wird der Schmerz weniger. "Ist alles in Ordnung, Aki?" Arkors Stimme in meinem Kopf ist samtweich und wirkt unglaublich beruhigend auf mich. Er muss bemerkt haben, wie sehr mir diese Aura zu schaffen macht. "Ja, es geht wieder. Danke." Er sieht mich liebevoll an und nickt. Einmal tief durchatmend, strecke ich meinen Rücken wieder durch. Ich muss nicht fragen, um zu wissen, wem diese Aura gehört, die sich jetzt ganz langsam verändert. Ihre Bedrohlichkeit nimmt ab und statt der erdrückenden Schwere tanzen nun schwarz leuchtende Partikel durch den Raum. Ich erkenne sie sofort als Verwirbelungen einer Aura aber diese Farbe habe ich noch nie gesehen. Wie erwähnt, sind sie leuchtend schwarz aber nicht einfach dunkel, wie man es erwarten würde. Diese Wirbel strahlen eine einladende Wärme aus, die Intensität ihrer Dunkelheit wechselnd, als würden sie alle Nuancen dieser sonst so tristen Farbe aufzeigen wollen. Mir fällt wieder ein, dass Ian mir einmal sagte, wir Dämonen seien Wesen der Nacht, Wesen der Dunkelheit, und zeitgleich muss ich an das Yin Yang Zeichen über dem Torbogen denken. Wenn wir Wesen der Dunkelheit sind, ist dann der Herrscher der Unteren Welt der Gebieter über die Dunkelheit? Und wenn dem so ist, wäre dann nicht automatisch der Herr der Oberen Welt der Gebieter des Lichts? Und die Engel demzufolge Wesen des Tags und des Lichts? Klingt das nur für mich erschreckend logisch? Endlich tritt eine großgewachsene Gestalt aus der Tür heraus, die ich sofort interessiert betrachte. Zweifellos ist es ein Mann. Seine schwarzen, nach hinten gegelten Haare schimmern dunkelgrün in dem einfallenden Licht und als er sich zu uns wendet, stechen zwei leuchtend rote Augen unter seinem langen, wilden Pony hervor. Der Mann, den ich eindeutig als Luzifer identifizieren würde - alleine schon deswegen, weil die schwarzen Verwirbelungen alle von ihm ausgehen -, streicht sich einmal über seinen schwarzen Kinnbart, klopft sich dann den unsichtbaren Staub von seinem violetten Hemd und richtet seine Aufmerksamkeit vorerst auf seine Ärmel. Luzifer, der gerade die Manschettenknöpfe seines violetten Hemdes schließt, betritt völlig gelassen, beinahe gelangweilt den Raum. Wenn er schon dabei ist, könnte er auch gleich noch die 2 - 3 oberen Knöpfe seines Hemdes schließen, weil man sonst so einen faszinierenden Ausblick auf die durchtrainierte Brust hat! Ja, der Herr der Unteren Welt ist durchaus ein ansehnliches Exemplar. Nicht ganz so ansehnlich wie ein gewisser Wasserdämon, aber dennoch schon fast unverschämt attraktiv. "Das sind ja ganz entzückende Gedankengänge, kleine Aki. Ich fasse das einfach als Kompliment auf, auch wenn es mir nicht sonderlich passt, dass du Yrrian als attraktiver einstufst." hallt plötzlich eine belustigte, dunkle Stimme in meinem Kopf wieder. War das... Luzifer? Sein Blick ist noch immer auf die Manschettenknöpfe gerichtet. Nichts deutet daraufhin, dass das wirklich seine Stimme in meinem Kopf war. Aber... wer hätte es sonst sein sollen? "Scharf kombiniert." ertönt die gleiche Stimme noch immer hochgradig amüsiert. Ich werfe dem Mann im violetten Hemd einen bissigen Blick zu. Darf ich ihn jetzt schon zum Kotzen finden? So ein arroganter, von sich eingenommener... "Na, na, na! Jetzt aber nicht beleidigend werden. Wir lernen uns doch gerade erst kennen." Ich explodiere gleich! "Übrigens, falls ich das erwähnen darf, stimmt deine Theorie bezüglich Dunkelheit und Licht vollends. Yrrian hat nicht untertrieben, als er meinte, du wärest eine mit Intelligenz gesegnete Dämonin." Seine Worte werfen mich völlig aus der Bahn. Gar nicht so sehr die Tatsache, dass ich richtig kombiniert hatte, sondern viel mehr, dass Ian so positiv von mir denkt. Auch wenn ich mir sicher bin, dass er es anders formuliert hat. Der Herr der Unteren Welt bleibt einige Schritte vor uns stehen, lächelt freundlich und nickt uns zu. "Wie schön, dass ihr es einrichten konntet. Und wie ich sehe, ist die Familie nun wieder vollständig." Sein Blick huscht zu mir, seine Mundwinkel sich dabei noch ein kleines Stück weiter hebend. "Ihr seht so aus, als wolltet ihr etwas sagen, junge Dame." wendet er sich nun direkt an mich. Diese Höflichkeit, die in so völligem Kontrast zu dem steht, was ich eben in meinem Kopf gehört habe, bringt mich zum Platzen. Und natürlich ist meine Zunge einmal mehr schneller als mein Hirn. "Wozu etwas sagen, Sie können es doch ohnehin in meinen Gedanken lesen!" Er lacht kurz auf. Von meinen Eltern bekomme ich einen mahnenden Blick, während Haru mir nur anerkennend zugrinst. "So sehr ich mentale Schlagabtausche auch genieße, es interessiert mich doch, was jemand bereit ist, auch laut auszusprechen. Na, wie viel Mumm hat die kleine Dämonin in ihren Knochen?" Er provoziert mich, oder? Er will mich nur provozieren, damit ich etwas Unbedachtes und Dummes von mir gebe. Aber eine kleine Spitze kann ich mir dann doch nicht verkneifen. "Ich finde nur, Sie sollten etwas diskreter im Umgang mit den Gedanken Ihres Gegenüber sein. Es gibt Gedanken, die sind für niemanden bestimmt, egal, wer in der Lage ist, sie zu hören." "Aki!" zischt meine Mutter und ich rolle mit den Augen. Ist doch so! "Nicht doch, Erina, meine Teure. Maßregle deine Tochter nicht für ihre Ehrlichkeit. Ich finde es bewundernswert, wie sie meine Herausforderung angenommen und trotzdem höflich geblieben ist." Dann beugt er sich zu mir, hält eine Hand zwischen seinen Mund und meinem Ohr und flüstert mir zu: "Dein Bruder war genauso rebellisch. Aber sag's deiner Mutter nicht. Das bleibt unser kleines Geheimnis." Verwirrt sehe ich ihn an. Wenn er gewollt hätte, dass es ein Geheimnis bleibt, hätte er mir das mental mitteilen sollen. Denn jetzt wissen es meine Eltern unter Garantie! Immerhin stehen sie keinen Meter von uns entfernt und haben genauso gute Ohren wie ich. "Was denkst du von mir? Hälst du mich für so gewöhnlich? Ich weiß sehr wohl zu verhindern, meine Gespräche zu belauschen, die nicht für alle Ohren gedacht sind." Ich lege den Kopf leicht schief und kurz frage ich mich, was er noch so alles kann, bevor mir erneut durch den Kopf schießt, wie sehr er doch von sich eingenommen ist. Na ja, diese Arroganz entwickelt man sicher im Laufe der Jahrhunderte von ganz allein. "Jahrtausende, Schätzchen. Jahrtausende." klingt es erneut amüsiert in meinem Kopf. Sagte ich arrogant? Ich korrigiere mich: Sein Ego ist mit keiner mir bekannten Größe zu messen! "Hör endlich auf damit! Sag uns lieber, warum die Walkyre nicht wie verabredet erschienen ist." knurrt mein Vater ungeduldig. Luzifer wendet sich von mir ab, nicht jedoch, ohne mir einen letzten aufmerksamen Blick mit seinen glühenden Augen zu schenken. Will er mir damit irgendetwas sagen? Ist unsere Unterhaltung etwa noch nicht abgeschlossen? Bitte nicht! Schon nach diesen ersten wenigen Minuten bin ich mir mehr als sicher, dass ich nicht mehr Kontakt als unbedingt nötig mit ihm haben möchte. "Die Frage kann ich nicht beantworten, Arkor. Walkyren sind sehr eigen und starrsinnig. Vielleicht war sie da, hat aber entschieden, dass dein Sohn nicht der ist, mit dem sie bereit ist, sich zu unterhalten." Überlegend schaut er zu Haru und fährt sich mit Zeigefinger und Daumen über seinen Kinnbart. "Dort war niemand. Ich habe nicht nur untätig herum gesessen und gewartet, sondern mich auch umgesehen. Aber außer dem Gestank der Schatten konnte ich keine Witterung aufnehmen. Die Walkyre war nie dort gewesen." entgegnet mein Bruder bissig. "Könnte der Geruch nicht auch alle anderen Gerüche überlagert haben?" überlege ich laut. Augenblicklich werden Harus Augen eiskalt. Doch so schnell wie diese Emotion aufgetaucht ist, verschwindet sie auch wieder und er setzt sein typisches Grinsen auf. "Ausgeschlossen. So penetrant der Geruch der Schatten auch ist, den Gestank eines Pferdes kann er nicht überdecken." Zu spät bemerke ich, dass ich mit meinen Worten Harus Stolz gekränkt habe. Aber woher hätte ich denn auch wissen sollen, dass er weiß, wie eine Walkyre riecht? "Richtig, du weißt es nicht. Und dein Bruder ebenso wenig. Er glaubt, sie würden wie gewöhnliche Pferde riechen aber das stimmt nicht. Ihr Geruch ist hauchzart, duftet nach frischer, kalter Erde und einer frischen Herbstbrise. Sag mir, wie er so hoch in den Bergen diesen Geruch von dem normalen Geruch der Umgebung hätte unterscheiden können? Noch dazu mit dem Gestank der Schatten in der Nase. Sollte die Walkyre ihn vielleicht sogar aus der Luft heraus beobachtet haben, hätte er keine Chance gehabt, sie zu entdecken." Fassungslos starre ich den Herrn der Unteren Welt an, der sich gerade angeregt mit meinen Eltern unterhält und mich keines Blickes würdigt. Aber das war doch eben eindeutig seine Stimme in meinem Kopf. "... wie kommen Sie auf diesen Gedanken?" höre ich meine Mutter empört ausrufen. Das vorangegangene Gespräch habe ich überhaupt nicht mitbekommen. Was also bringt sie so aus der Fassung? "Lass es mich erklären, Erina. Deine Tochter besitzt die Gabe des Sehens. Sollte besagte Walkyre sich beim nächsten Treffen wieder nicht zeigen, vielleicht sogar wirklich verstecken, kann Aki ihre Aura aufspüren. Es ist unter Umständen die einzige Chance, das Bündnis zu erneuern. Außerdem könnte sie so gewissen Rudelmitgliedern beweisen, dass sie doch nicht völlig nutzlos ist." Seine roten Augen huschen zu mir und dann wieder zu meinen Eltern. Musste er Sai erwähnen? Ich hatte es gerade geschafft, mir nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, wie ich mich ihm gegenüber beweisen kann. Meine Eltern drehen sich zu mir um, und auch Harus Blick spüre ich deutlich in meinem Nacken. Ich hasse es, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen. "Warum eigentlich nicht? Wir können es versuchen. Aber sie wird nicht allein dorthin gehen!" entscheidet Arkor. "Zum Treffpunkt selbst wird sie allein müssen. Aber bis kurz davor kann sie natürlich begleitet werden. Die Angst um deine Tochter ist leider nicht unbegründet. Schatten greifen immer häufiger Siedlungen außerhalb der Stadt an und selbst hierher wagen sie sich immer öfter." Zum ersten Mal sehe ich so etwas wie Sorge auf Luzifers Gesichtszügen und sogleich wirkt er um ein Vielfaches älter. Diese andauernden Angriffe gegen sein Volk scheinen ihn sehr zu belasten. "Lass es uns wissen, wenn die Walkyre erneut für ein Treffen bereit ist. Wir tun derweil, was wir können. Leider sind wir einfach zu wenige, wir können nicht überall gleichzeitig sein." beteuert mein Vater. Erina angelt nach Arkors Hand und drückt diese fest. Ich sehe ihr deutlich an, dass sie ihren Mann am Liebsten in den Arm genommen hätte, denn die Last seiner Verantwortung - die Verteidigung der Dämonen gegen die Schatten - wiegt gerade besonders schwer auf seinen Schultern. Sie hält sich nur zurück, weil Luzifer anwesend ist. "Ich weiß. Darum will ich das Bündnis ja so schnell wie möglich erneuert sehen. Momentan scheinen sich die Angriffe nämlich hauptsächlich gegen uns zu richten. In der Oberen Welt gibt es fast keine Übergriffe. Die Gargoyles sind auch dabei die Gegend westlich der Kluft auszukundschaften, in der Hoffnung, doch noch den ein oder anderen Familienverband ausfindig machen zu können. Bisher leider ohne Erfolg. Es scheint, als würden auch diese Monster systematisch die Gegend durchkämen und alles Leben unterwegs auslöschen." "Sie agieren viel zu geordnet. Irgendjemand zieht doch im Hintergrund wieder die Fäden. Es ist fast wie vor 500 Jahren." knurrt Arkor. Er ist sehr um Fassung bemüht, das sehe ich ihm deutlich an. Luzifer legt eine Hand auf die Schulter meines Vaters und in seinen Augen flackert kurz so etwas wie Mitgefühl auf. "Niemand will, dass sich die Ereignisse von damals wiederholen. Ich am allerwenigsten. Doch wenn es so weitergeht, wird es genau darauf hinaus laufen." Sein Blick wandert zu Erina. "Wir wissen genau, was sie wirklich wollen. Sie dürfen es unter gar keinen Umständen bekommen!" Meine Mutter ballt ihre Hand vor ihrer Brust zur Faust und sieht ihrem Gegenüber fest in die Augen. Worüber sprechen die Drei? Luzifers Blick huscht zu mir. "Sie weiß es noch nicht?" Arkor schüttelt den Kopf. "Wir hatten noch keine Gelegenheit dazu." "Du solltest es ihr bald sagen. Ich habe so eine unangenehme Vorahnung." Mein Vater nickt. "Sind wir dann fertig?" Überrascht weiten sich die roten Auge. "Willst du so schnell von mir weg, Ryoshi?" "Gleich wirst du sehen, was ich gemeint habe, Aki." Ein leises Seufzen entweicht meiner Mutter und sie stellt sich zwischen Haru und mir. Ich schaue zurück und reibe mir verdutzt die Augen. Das kann nur eine Halluzination sein! Luzifer, der mich zuvor noch geärgert und ein ziemlich ernstes Gespräch mit meinen Eltern geführt hat, schmollt meinen Vater an! "Warum hast du eigentlich nie Zeit? Da wohnt ihr schon nur einen Steinschlag entfernt und du lässt dich trotzdem nur dann hier blicken, wenn es unbedingt nötig ist." "Ich bin kein kleines Kind mehr, Luzifer! Ich habe jetzt eine gewisse Verantwortung zu tragen. Oder wolltest du deine Dämonen lieber von Drachen und Satyr beschützen lassen?" Angesprochener lenkt seinen Blick in eine unbestimmte Ecke des Raumes und schmollt weiter. "Du könntest trotzdem öfter vorbeischauen." "Ich hab aber keine Zeit. Such dir einen anderen Spielgefährten!" "Die Gargoyles wollen aber nicht..." "Dann spiel halt mit Luzifera!" "Die weigert sich..." Und dann macht mein Vater etwas, dass mich vollends vom Glauben abfallen lässt: Er kneift dem Herrn der Unteren Welt in die Wangen! In beide Wangen! Und zieht diese leicht auseinander. Das muss echt schmerzhaft sein... "Ich hab 'Nein' gesagt und dabei bleibt es auch! Und jetzt hör endlich auf, mich vor meiner Familie lächerlich zu machen!" Er entlässt Luzifer aus seiner Folter und dreht ihm den Rücken zu. "Wir gehen!" Jedoch ist er nicht schnell genug außer Reichweite, denn der Herr der Unteren Welt streckt seinen Arm nach meinem Vater aus und wuschelt ihm einmal durch's Haar. "Ich würde mich trotzdem freuen, wenn du mich öfter besuchen würdest, Ryoshi." In seiner Stimme schwingt eine ehrliche Warmherzigkeit mit und so langsam frage ich mich, in welcher Beziehung die beiden eigentlich zueinander stehen. Das Verhalten der Zwei erinnert mich eher an Brüder als an Herrscher und Untergebener. Als wir die Treppe vom Torbogen hinter uns gelassen haben, zupfe ich vorsichtig am Sakko meines Vaters. Er seufzt gedehnt. "Willst du das wirklich wissen?" fragt er zur Sicherheit noch einmal nach. Anscheinend kennt er meine unausgesprochene Frage bereits. "Bei dem Verhalten, dass ihr Beide wieder an den Tag gelegt habt, würde wohl jeder Fragen stellen. Ihr könnt es einfach nicht lassen, oder?" Erina wirft ihrem Mann einen strengen Blick zu. "Ich habe keine Ahnung, wie es dazu gekommen ist, aber schon seit meiner Geburt wurde ich in aller Regelmäßigkeit in die Große Halle gebracht, während der Rest meines Rudels auf der Jagd war. Da es außer mir keine anderen jungen Wölfe in der Gemeinschaft gab, hatte ich auch keine Spielgefährten und so freundete ich mich schnell mit den Gargoyles an. Eines Tages war allerdings der Herr des Hauses da..." er kratzt sich verlegen an der Wange. "Allem Anschein nach muss ich sehr aufdringlich gewesen sein. Ich wollte unbedingt, dass er mitspielte, denn in meinen Augen sah er völlig gestresst und kaputt aus. Und da mir das Spielen ja Spaß bereitete, und er eindeutig zu wenig davon hatte, beschloss ich, ihn aufzuheitern. Frag bitte nicht nach Einzelheiten, das waren die katastrophalsten Tage, die die Große Halle je erlebt hatte!" er lacht herzhaft. "Als ich einige Zeit später wieder hierher gebracht wurde, war nur Luzifera da. Komischerweise hatte sie keinerlei Probleme damit, mit mir zu spielen und irgendwann gesellte sich auch ihr Mann dazu. Ehe wir uns versahen, entstand zwischen uns so etwas wie eine Freundschaft, die über die Jahrhunderte hin bestehen blieb. Seit die Angriffe der Schatten allerdings wieder zunehmen, habe ich nur noch selten Zeit für ihn. Auch wenn er es niemals offen zugeben würde, ich glaube, er fühlt sich einsam." Der Blick meines Vaters schweift in weite Ferne und verdeutlicht damit, dass das Gespräch hiermit beendet ist. Einsam? Luzifer? Aber hat er nicht seine Frau? Und was ist mit dem Gargoyle? Das war doch sicher nicht der einzige! Während ich so darüber nachdenke, fällt mir auf, dass ich etwas ganz Entscheidendes übersehen habe: Luzifer scheint keine Kinder zu haben. Arkor sagte, er war von Kindesbeinen an beim Herrscher der Unteren Welt und wenn ich es recht betrachte, kommt ihr Umgang miteinander auch dem von Vater und Sohn gleich. Habe ich mich also getäuscht, als ich dachte, sie würden sich wie zwei Brüder verhalten? Betrachtet Luzifer Arkor eher als Sohn? So gesehen würde ich meinem Vater dann vollends zustimmen: Ein ewiges Leben ohne eigene Familie IST verdammt einsam. Und irgendwie bekomme ich gerade Mitleid. Wir sind schon fast wieder an unserem Haus angelangt, als ich mich noch einmal in Richtung der Großer Halle umdrehe. Vielleicht sollte ich Arkor dazu ermutigen, doch öfter bei dem alten Kauz vorbei zusehen. Auch mein Vater hat so etwas wie freie Tage. Warum sollte er diese nicht mit einem guten Freund verbringen? Jemand tippt mir auf die Schulter und erschrocken fahre ich herum. Um direkt in das entschuldigende Grinsen meines Vaters zu blicken. "Entschuldige, Aki. Ich wollte dich nicht erschrecken. Würdest du mich noch ein Stück begleiten?" Er macht eine ausladende Geste die Straße hinunter. Haru und Erina gehen derweil bereits ins Haus. Das wird also eine Vater-Tochter-Aufklärungsstunde. Etwa über das, worüber Luzifer und meine Eltern vorhin gesprochen haben? Ich zucke kurz mit den Schultern. "Wenn es den Tagesablauf nicht durcheinander bringt." "Nicht im Geringsten." Damit folge ich Arkor durch den Torbogen zurück in die belebten Straßen der Stadt. Kapitel 15: Tal der Erinnerungen -------------------------------- Kapitel 15: Tal der Erinnerungen: Schweigend laufe ich neben Arkor her durch die belebten Straßen der Stadt. Immer wieder sehe ich mich neugierig um, bewundere die Wandmalereien und staune über die Vielfältigkeit der Auren, die sich hier tummeln, obgleich die meisten Dämonen in ihrer humanoiden Gestalt unterwegs sind. Längst nicht alle. Ich habe beobachtet, dass vor allem die Feuerdämonen, wie Sukkuben und Satyr grundsätzlich in ihrer dämonischen Gestalt durch die Straßen wandern. Warum ist das so? Ob ich Arkor danach fragen kann? Immerhin sind wir ja auch in humanoider Gestalt unterwegs. Dabei wären wir als Wölfe wesentlich schneller. Kaum haben wir die Stadt verlassen, bleibt mein Vater stehen, streckt sich ausgiebig und funkelt mich herausfordernd aus grünen Augen an. "Bereit für ein kleines Wettrennen?" Erst verdutzt, dann verschmitzt grinsend erwidere ich seinen Blick. "Wenn du unbedingt verlieren willst." Er lacht herzhaft. "Vergiss es! Dafür bist du 1000 Jahre zu jung." Dann verwandelt er sich und sprintet auf den großen Wald zu. "Hey! Das ist unfair! Warte gefälligst auf mich!" Auch ich verwandle mich in einen Wolf und wetze ihm direkt hinterher. In meinem Kopf hallt sein fröhliches Gelächter wieder. Sind eigentlich alle Väter so? Wir jagen durch das Unterholz des Waldes, springen über umgestürzte Baumstämme und rennen platschend durch die unzähligen Flüsse. Bald schon ist das Wettrennen vergessen und ich genieße es einfach nur noch, wie der Wind durch das satte Grün zu fliegen. Völlig berauscht von der Geschwindigkeit, mache ich ein paar besonders lange Sätze und heule vergnügt, was einige Vögel aufschreckt. Das stachelt mich nur noch mehr an und im Zick Zack geht es weiter um die gigantischen Bäume, wobei ich absichtlich etwas lauter bin, damit noch mehr Vögel in den Himmel steigen. Es ist einfach nur atemberaubend schön, wie das Licht auf ihrem bunten Gefieder reflektiert wird. "Man könnte meinen, du hast dein Leben lang nichts anderes getan, als durch den Wald zu laufen." erklingt Arkors belustigte Stimme in meinem Kopf. Ich werde etwas langsamer, sehe mich um, doch zwischen all den Bäumen und den vielen Pflanzen, kann ich den grauen Wolf nicht erkennen. Dennoch muss er in meiner Nähe sein. Als ich etwas genauer hinschaue, kann ich allerdings rechts vor mir zwischen den Bäumen und dem durch das Blätterdach einfallende Licht die gold-braune Aura meines Vaters erkennen. Ich laufe direkt darauf zu, doch er ist schnell und so folge ich ihm eine Weile schweigend. Erst als der Wald nach und nach in eine Wiese übergeht, deren üppiges Grün sich immer mehr dem schroffen Gebirgsuntergrund angleicht, wird er langsamer. Auf einem Vorsprung machen wir Halt und ich stelle mich neben ihn. Anfangs dachte ich, er wollte mir zeigen, wie atemberaubend die Aussicht von hier ist, doch schnell wird mir klar, dass das nicht der Grund ist, warum er mich hierher gebracht hat. Unter uns erstreckt sich ein öder Landstrich mit kargem Gestrüpp. Die Ebene unter uns wirkt trostlos und tot, als wäre alles Leben geflohen. "Wo sind wir?" "An der Grenze." Fragend sehe ich ihn an. Was für eine Grenze? "Diese Ebene war bis vor wenigen Jahren noch fruchtbar und grün. Wir waren oft hier draußen. Doch die Schatten verseuchen immer mehr Land. Wenn wir sie nicht aufhalten, wird es bald schon überall so aussehen." Nachdenklich betrachte ich die trostlose Gegend. Selbst wenn wir die Schatten irgendwie vertreiben oder gar besiegen könnten, wie lange würde es wohl dauern, bis sich diese Ebene wieder erholt hat? Kann sich die Natur von einer derartigen Verseuchung überhaupt wieder erholen? Meine Gedanken schweifen zur Irdischen Welt. Auch der Mensch richtet erheblichen Schaden an der Natur an, aber wo immer man ihr etwas Zeit gönnt, erholt sie sich auch wieder. Ob das hier ähnlich ist? "Ich wüsste wirklich gern, was gerade in deinem Kopf vor sich geht, mein Kind." Überrascht schrecke ich aus meinen Gedanken hoch und blicke meinem Vater direkt in die goldgelben Augen. Warmherzig sieht er mich an, bevor er seinen Blick wieder auf die Ebene richtet. "Ich habe mich gefragt, wie lange es wohl dauern mag, bis sich dieser Ort vom Einfluss der Schatten erholt hat." "Nun, das hängt davon ab, wie schnell wir diese Kreaturen vertreiben können. Es wird Jahre dauern. Vielleicht sogar Jahrzehnte oder Jahrhunderte. Wer weiß. Aber es gibt Gegenden, die schon länger unter dem Gift der Schatten leiden. Je näher wir dem Loch der verlorenen Seelen kommen, umso düsterer werden die Orte." "Warum hast du mich hierher gebracht?" "Ich will dir zeigen, was geschieht, wenn wir in unserer Aufgabe scheitern." Er wendet sich ab und sucht sich einen schmalen Pfad an der Klippe entlang, der hinunter ins Tal führt. Ich folge ihm vorsichtig, denn immer wieder bröckeln Steine unter meinen Pfoten ab, und ich bin nicht sonderlich scharf darauf, hinter ihnen her zu stürzen in diese Tiefe. Kaum betreten wir den Boden der Ebene, durchfährt mich eine unangenehme Kälte. Ich zögere, gebe ein leises Winseln vor mir und wage es nicht, mich von der Felswand zu entfernen, die wir eben herunter gekommen sind. Arkor dreht sich zu mir um und legt den Kopf schief. Dann scheint er zu verstehen und ich werde von einer angenehmen Wärme eingehüllt, die sich als seine Aura entpuppt. "Eiyu, fürchte dich nicht. Was du spürst, ist die Kälte der toten Erde unter deinen Pfoten. Aber es besteht keine Gefahr. Lass diese Finsternis nicht in dein Herz. Ich bin bei dir." Arkor kommt zu mir und stupst mich sanft an. Noch immer etwas verunsichert, setze ich eine Pfote vor die andere. Die Kälte ist mehr als unangenehm aber mein Vater hat Recht: Uns droht keine Gefahr. Kein Grund also, sich zu fürchten. Tatsächlich scheine ich mit jedem Schritt mutiger zu werden, und schon bald geht meine eher gebückte Haltung wieder über in einen aufrechten Gang mit hoch erhobenem Haupt. Immer weiter gehen wir die Ebene entlang, überqueren einige Gräben, die wie ehemalige Flussbetten aussehen und machen erst Rast, als wir vor einer schroffen Gebirgskette stehen. Arkor nimmt wieder seine menschliche Gestalt an und ich tue es ihm gleich. "Von hier an sollten wir unsere Kräfte schonen." Noch immer weiß ich nicht, wohin er mich führt. Allerdings beschleicht mich so ein ungutes Gefühl und schnell schiebe ich es beiseite, denn ich will lieber nicht daran denken. Die Klettertour zerrt deutlich an meinen Kräften und schon bald hat das schlichte, schwarze Kleid einige Risse und ist völlig verdreckt. Vielleicht hätte ich mich vorher umziehen sollen. Auf einem Vorsprung rasten wir erneut und Arkor beginnt lauthals zu lachen, als er mich dabei beobachtet, wie ich das Kleid an der Seite einreiße, damit ich wenigstens etwas Bewegungsfreiheit beim Klettern habe. "Die Aktion kommt zu spät, Aki. Ab jetzt müssen wir nicht mehr klettern." Skeptisch sehe ich zu ihm herüber. Sein Sakko liegt neben ihm im Staub und die Hose sieht aus, als hätte er absichtlich den ein oder anderen scharfkantigen Felsen gestreift, damit sie möglichst schnell kaputt geht. Nur das Hemd scheint den Aufstieg halbwegs unbeschadet überstanden zu haben. "Warum haben wir uns eigentlich nicht vorher umgezogen? Du wusstest doch, was uns erwartet." "Sagen wir einfach, ich wollte keine weitere Verzögerung." "Ah ja. Und der Anzug ist nur zufällig so ramponiert?" "Für's Protokoll und auch für deine Mutter: Ja, das war reiner Zufall!" "Und so unter uns?" grinse ich verschmitzt. "So von Vater zu Tochter..." er winkt mich heran, um mir ins Ohr flüstern zu können. "... ich habe diesen Anzug immer gehasst. Aber deine Mutter findet ihn so toll." Ich muss kichern. "Und deswegen schleppst du mich in so einen entlegenen Winkel der Unteren Welt?" "Ja, natürlich. Nur deswegen." Trotz des Lachens höre ich den Sarkasmus deutlich heraus. Ich werde wieder ernst. "Warum sind wir wirklich hier?" Arkor steht auf und wuschelt mir dabei durch's Haar. Das muss eine Männerkrankheit sein! Ohne ein Wort zu sagen, geht er los und mit einem tiefen Seufzer folge ich ihm. Unser Weg führt uns durch die kleine Gebirgskette. Dabei scheint Arkor sehr darauf bedacht zu sein, breite Pfade zu wählen, deren Abstieg kaum zu merken ist. Es dauert eine Zeit, bis wir erneut auf einer Ebene landen. Eine unnatürliche Kälte beherrscht diesen Ort. Es ist düster und sogar noch trostloser als auf der Ebene zuvor. Ich hocke mich hin, um etwas Sand aufzunehmen. Er fühlt sich kalt an, als hätte er seit Jahren keine Sonne mehr gesehen. Oder anderes Leben. Eine tiefe Traurigkeit stellt sich in mir ein. An diesem Ort hat schon lange keine Blume mehr geblüht. Der Sand rieselt durch meine Finger und wird von dem leichten Wind davon getragen. "Wir haben diese Ebene lange verteidigt. Noch vor 50 Jahren war das angrenzende Gebirge dort hinten die natürliche Grenze zwischen uns und den Schatten. Doch sie sind erstarkt und drangen einfach ins Tal. Als wir hier eintrafen, gab es bereits kein Leben mehr." "Schwer vorstellbar, dass hier überhaupt einmal irgendetwas gelebt haben soll." "Durch die Lage mag es dir wie ein einsames Tal vorkommen aber glaube mir, früher blühten hier die schönsten Nachtblumen der Unteren Welt. Es war ein friedlicher Ort und viele Jahrhunderte lang die Heimat von Harpyien und Gargoyles." "Was ist aus ihnen geworden?" Frage ich leise, denn insgeheim fürchte ich mich vor der Antwort. "Einige konnten fliehen und leben jetzt versteckt in den höheren Gebirgsketten. Aber die meisten hatten leider weniger Glück." Er geht ein Stück weiter und bleibt dann an einem knöchernen Gebilde stehen, das mich ein wenig an die gespenstischen Bäume aus den Spukgeschichten meiner Kindheit erinnert. Beinahe liebevoll streicht er darüber. "Erinnerungen?" frage ich nur vorsichtig. "Ja." Er seufzt leise und lehnt seine Stirn gegen seine Hand. "Vor über 800 Jahren war das einst der prächtigste Baum im ganzen Tal. Er war größer als die anderen, sein Stamm war dick und stark und er trug die saftigsten Früchte, die ich je gegessen hatte. Es war immer schon der Lieblingsplatz deiner Mutter gewesen. In diesem Tal hat damals unser Rudel gelebt." Arkor bückt sich und wischt ein bisschen Erde weg. Unsicher, ob und was ich sagen soll, bleibe ich an seiner Seite stehen und beobachte ihn. "Ich habe gehört, was deine Mutter erzählt hat. Hat sie seitdem das Thema noch einmal aufgegriffen?" "Nein. Mut-... Eri-..." Ich stocke. Arkor lächelt mild. "Fällt es dir so schwer? Halte es doch einfach wie dein Bruder. Sag Mam und Dad. Wir sind ja mittlerweile daran gewöhnt." Ich spüre, wie ich rot werde und drehe verlegen den Kopf weg. Es ist immer noch so fremd für mich, sie direkt anzusprechen. "Mam..." Fühlt sich komisch an. Aber nicht falsch. Vielleicht, wenn ich es öfter verwende, wird es dann vertrauter. "Sie hat das Thema seither nicht mehr angeschnitten." "Dachte ich mir fast. Für sie ist es noch immer unglaublich schwer, darüber zu sprechen. Du weißt, dass wir bei einem Angriff eine Tochter verloren hatten. Ihr Name war Laki. Sie war die jüngste unserer drei Kinder. Ihre älteren Geschwister hießen Gajun und Hirumi. Gajun, unser Ältester, war sehr temperamentvoll, ehrgeizig und hitzköpfig. Vom Wesen her war er Sai sehr ähnlich, weswegen ich wohl oft zu nachsichtig mit ihm bin. Aber auf ihn war immer Verlass und er hat seine Schwestern beschützt. Er wäre ein würdiger Nachfolger gewesen. Hirumi dagegen war er schweigsam aber stolz und sehr klug. Für sie gab es keine Probleme, nur Lösungen, die schwerer zu finden waren. Sie war die Diplomatische. Und Laki..." Ein trauriges Seufzen entgleitet meinem Vater. " Sie war unser Sonnenschein. Immer fröhlich, aufmerksam und sie pflegte zu allen Dämonen des Tals eine freundschaftliche Bindung. Sie war das Ebenbild deiner Mutter, glich ihr bis aufs Haar. Abgesehen von ihren sturmgrauen Augen. Genau wie Erina liebte auch sie diesen Baum, kroch stundenlang im Geäst umher und winkte den Harpyien von der Baumkrone aus zu. Nach ihrem Tod haben wir sie hier begraben, damit sie eins werden konnte mit ihrem Lieblingsort und dem Tal." Er erhebt sich und blickt zu dem Pfad, den wir gekommen sind. "Für deine Mutter war es das Schlimmste, mit ansehen zu müssen, wie dieser Baum verdorrte und unter dem Gift der Schatten einging, als wir damals aus dem Tal flüchten mussten. Wir verloren nicht nur unsere Heimat, sondern auch das Andenken an unsere jüngste Tochter." "Aber du sagtest doch, ihr habt es bis vor 50 Jahren noch verteidigt?" "Das stimmt auch. Nach der Schlacht haben wir das Tal zurück erobert. Aber dieser Baum hat sich nie wieder erholt. Es war, als wäre er damals mit unseren Kindern zusammen gestorben, die bei der Verteidigung hier ihr Leben ließen. Auch wenn das Tal mit den Jahren wieder fruchtbar und bewohnbar wurde, so sind doch nur wenige der ehemaligen Bewohner hierher zurück gekommen. Zu groß war der Schmerz der Erinnerungen." Arkor legt seine Hand auf meinen Kopf und lächelt mich an. "Lass niemals zu, dass diese Generation das gleiche Schicksal ereilt." Verwirrt sehe ich ihm nach, als er sich von mir entfernt. Wieso denn ich? Einige Meter von mir entfernt bleibt Arkor stehen. "Aki, bist du glücklich? Ich meine hier bei uns." "Schwer zu sagen. Ich bin ja erst einen Tag hier. Aber irgendwie fühlt sich hier alles viel vertrauter an als in der Irdischen Welt. Ob ich glücklich bin? Ich bin auf jeden Fall glücklich, dass ich eine richtige Familie habe. Und ich denke, der Rest kommt mit der Zeit von ganz allein." "Du vermisst also nichts?" Betrübt senke ich den Kopf. Es gibt da etwas - nein, jemanden -, den ich sehr vermisse. "Meine beste Freundin." Arkor kommt zu mir, legt wieder seine Hand auf meinen Kopf und lächelt mich aufmunternd an. "Wahre Freundschaft hält ein Leben lang." Seine Worte sollten mich sicher trösten aber sie erreichen das Gegenteil. "Aber ich werde sie nie wieder sehen. Und selbst wenn: Wie soll ich ihr erklären, dass ich nicht altere? Damit mag ich vielleicht fünf oder zehn Jahre gewinnen aber was ist danach?" "Woher willst du das alles wissen? Nichts ist gewiss. Weder die Vergangenheit, noch die Gegenwart, geschweige denn die Zukunft. Begrabe deine Hoffnungen nicht, bevor du dem Lauf der Dinge nicht eine Chance gegeben hast. Ich habe auch lange geglaubt, ich würde dich nie wieder sehen. Aber nun stehst du vor mir und ich bin mehr als stolz auf die junge Frau, die du geworden bist." "Ich habe doch noch gar nichts getan, worauf du stolz sein könntest." entgegne ich leise. "Denkst du ernsthaft, Yrrian hat uns im Dunkeln tappen lassen, was dich betrifft? Ich weiß, dass du klug und ehrgeizig bist. Du setzt dich für die Leute ein, die dir wichtig sind. Du bist mutig und scheust dich nicht davor, bis an deine Grenzen und darüber hinaus zu gehen. Nur an deinem Temperament müssen wir noch etwas arbeiten, dadurch schießt du gerne über's Ziel hinaus." "Na und? Was ist so falsch daran, auch mal mit dem Kopf durch die Wand zu wollen, wenn einem keiner die Tür öffnet?" "Die Kunst besteht darin, jemanden dazu zu bringen, dir diese Tür zu öffnen und denjenigen trotzdem in dem Glauben zu lassen, er würde dich davor stehen lassen." Bitte was? Irgendwie komme ich da nicht ganz mit. "Wenn du nicht weiter kommst, gehe einen Schritt zurück, zeige Einsicht, sei kompromissbereit und schmücke deinen Standpunkt etwas aus. So wirst du viel eher an dein Ziel gelangen, als wenn du stur immer nur auf deine Meinung beharrst." Ein resignierendes Lächeln huscht über meine Züge. Hirumi war sicher eine Expertin darin. "Ich habe wohl noch eine Menge zu lernen." "Lass den Kopf nicht so hängen, Aki. Du bist erst 21 Jahre jung. Die meisten Dämonen leben schon viele hundert Jahre und entwickeln trotzdem kein Taktgefühl." Arkor zieht eine beleidigte Miene. Ob er gerade an Luzifer denkt? Ich sehe noch einmal zurück zu dem verknöcherten Gebilde. Arkor hat mich so weit von zu hause weggeführt, nur um mir diesen Ort zu zeigen. Ich hätte nie gedacht, dass meine Eltern einmal woanders gelebt haben als in dem Haus. Ich habe mir aber auch bisher keine wirklichen Gedanken darum gemacht. Aber seine Botschaft ist definitiv angekommen. Solange es in meiner Macht steht, werde ich unser Zuhause verteidigen und beschützen. Für meine Familie. Mühselig ist der Aufstieg vom Gebirgspfad und ich frage mich, warum wir nicht einfach unsere dämonische Gestalt annehmen. Das wäre doch viel leichter. "Du solltest vielleicht ein bisschen an deiner Kondition arbeiten, Aki. Du schnaufst schlimmer als ein sterbender Drache." "Als Wolf hätte ich diese Probleme nicht." Mein Vater lacht fröhlich. "Das ist doch völlig egal. Du solltest sowohl in deiner dämonischen wie auch in deiner humanoiden Gestalt gut in Form sein. Vielleicht kommst du einmal in die Verlegenheit in menschlicher Gestalt vor den Schatten fliehen zu müssen oder dich gegen sie zu verteidigen. Da fällt mir ein; kannst du eine Waffe führen?" "Natürlich nicht! Waffen sind doch verboten." "Ach, das hatte ich ganz vergessen. In der heutigen Zeit werden eher selten Schwertkämpfe ausgetragen. Yrrian erwähnte so etwas." "Wann genau warst du zuletzt in der Irdischen Welt?" Skeptisch sehe ich ihn an. "Noch nie, wieso fragst du?" Ich glaube, mich trifft der Schlag. "Noch nie? Was soll das heißen?" "Na, dass ich diese Welt noch nie verlassen habe. Erddämonen verfügen selten über genug magisches Potential um ein Portal zu öffnen. Wir könnten zwar durch das Portal gehen, dass die Welten miteinander verbindet, kämen aber nicht wieder zurück ohne fremde Hilfe." Taumelnd komme ich zum Stehen. Seine Worte sind wie ein Schlag ins Gesicht. "Sagtest du nicht vorhin noch, ich soll meine Hoffnung nicht so leicht begraben, meine beste Freundin wiedersehen zu können? Und jetzt erzählst du mir, dass ich im Grunde gar nicht mehr in die Irdische Welt zurück kann?" "Du bist wie dein Bruder. Du hörst nur das, was du hören willst. Ich sagte, es sei selten, dass ein Erddämon über das Potential dazu verfügt. Wer sagt denn, dass du es nicht besitzt? Und außerdem gäbe es ja noch die Möglichkeit, jemanden um Hilfe zu bitten. Es gibt eine Reihe hilfsbereiter Dämonen, die dich sicher auf einen Tagesausflug mitnehmen würden, wenn du sie nur nett darum bittest." Obwohl er mir Mut zuspricht, will ich diese Hoffnung nicht keimen lassen. Eigentlich hatte mir ja schon Ian geraten, Rhea zu vergessen, aber es ist so schwer. Schweigend gehe ich an Arkor vorbei, finde die Stelle, an der wir die Felswand erklommen hatten und klettere sie hinab. Erinnerungen können so schrecklich weh tun. Gerade als ich mich verwandeln will, legt mein Vater seine Hand auf meine Schulter. "Magst du mir von ihr erzählen?" "Von wem?" "Deiner Freundin. Sie scheint dir wirklich viel zu bedeuten. Manchmal hilft es, ein bisschen zu reden." "Wenn ich dich damit nicht langweile." "Ganz und gar nicht. Lass uns derweil zu Fuß weiter gehen, wir haben es nicht eilig." Ich hole tief Luft, bevor ich beginne, zu erzählen. "Sie heißt Rhea und ist seit der Mittelstufe meine beste Freundin. Sie war neu an unserer Schule und ich mochte sie auf Anhieb. Sie hat so eine erfrischend ehrliche Art an sich, sagt immer, was sie denkt und sie liebt Gerichte mit viel Knoblauch drin." Ich muss kichern. Das Bild, als ich sie zum ersten Mal hab kochen sehen, war einfach nur Gold wert. Es sollte ein Gemüseauflauf werden, nur war außer dem Knoblauch kaum Platz für großartig viel anderes Grünzeug und so taufte sie ihr Essen auf den Namen »Knoblauch-Spezial a la Rhea«. Ich habe selten etwas derart ekliges gegessen aber ihr hatte es geschmeckt. "Knoblauch? Mir gruselt es schon allein beim Namen." "Da fällt mir ein: Warum finde ich Knoblauch plötzlich so unangenehm? Das Zeug brennt tierisch in der Nase und das hat es vorher nicht!" "Genau deswegen. Es ätzt die Nasenschleimhaut weg, tränt in den Augen und betäubt die Sinne. Fast wie das Gas der Schatten." "Damit habe ich schon Bekanntschaft gemacht." brumme ich missmutig. "Aus solchen Situationen kann man nur lernen." Er ist so doof! Genau wie Ian. Darf ich ihm das eigentlich einfach so unverblümt an den Kopf werfen? Ich glaube nicht. "Aber wenn selbst der Knoblauch dich nicht vertrieben hat, muss deine Rhea wirklich ein ganz besonderes Mädchen sein." "Ja, das ist sie. Ihr fröhliches Lachen ist ansteckend und sie ist einfach immer für mich da. Wenn es mir schlecht ging, hat sie mich wieder aufgebaut und mir Mut gemacht. Nie hat sie mich hängen lassen. In der Oberstufe habe ich immer mit ihr zusammen gelernt, damit ich an meine Wunschuniversität gehen und Medizin studieren konnte. Sie hat sich sogar mit eingeschrieben. Als ich sie fragte, warum sie das tat, meinte sie nur, es könnte ja auch spannend sein und so bliebe sie in meiner Nähe, falls ich etwas Dummes anstelle. Falls es ihr doch nicht zusagt, könne sie jederzeit etwas anderes studieren. Allerdings habe ich nie aus ihr heraus bekommen, was ihr größter Berufswunsch war. Sie schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, über mein Leben zu wachen und ihm den nötigen Schwung zu verpassen, sobald es zu trist wurde. Wenn ich es mir recht überlege, war sie wie mein Schatten. Wir hatten sogar eine gemeinsame Wohnung." Überlegend schaue ich zu Arkor, der sich allerdings in Schweigen hüllt. Warum überkommt mich das Gefühl, dass ich irgendetwas übersehe? "Den Steilhang kracksel ich aber nicht so hoch. Was hälst du von einem Wettrennen zurück zur Stadt? Wer als Letztes ankommt, muss das Essen vorbereiten." "Warum nur bis zur Stadt? Warum nicht bis zum Haus?" frage ich herausfordernd, doch er schüttelt den Kopf. "Durch die Stadt können wir nicht so rennen." "Warum nicht? Die Sukkuben und Satyr laufen doch auch in dämonischer Gestalt umher." "Hast du dir einmal überlegt, was passieren würde, wenn alle in ihrer wahren Form durch die Straßen laufen würden?" Dieses Mal ist es an mir den Kopf zu schütteln. Nicht, dass ich mir keine Gedanken gemacht hätte, ich komme nur einfach auf keine Erklärung. "Stell dir vor, es würden plötzlich Drachen, Wölfe, Bären und Harpyien durch die Gassen wandern. Und dann frage dich, was nach ihrem Spaziergang wohl noch von der Stadt übrig wäre." Da muss ich nicht lange überlegen. "Ziemlich viel Schutt und Asche." "Ganz genau. Satyr und Sukkuben sind verhältnismäßig klein. Aber allein eine Harpyie kann bis zu drei Meter groß werden und erreicht eine Flügelspannweite von über zehn Metern. Im Vergleich zu einem ausgewachsenen Drachen natürlich immer noch winzig." "Was? So groß sind Harpyien? Ich dachte immer, die werden kaum größer als ein Mensch." "Man merkt, dass du nicht hier aufgewachsen bist. Bei Gelegenheit nehme ich dich einmal mit in die Berge, damit du eine echte Harpyie sehen kannst." Meine Augen müssen vor Freude angefangen haben zu strahlen, denn Arkor lächelt mich liebevoll an und gluckst leise. "Na komm, lass uns nach Hause gehen." "Ja, gern." Sofort verwandelt er sich und hüpft den Steilhang hinauf. "Wer zuletzt am Stadtrand ist, ist 'ne lahme Ente!" Wie bitte?!? Na warte! Dem werd ich's zeigen! Wäre doch gelacht, wenn ich den alten Knacker nicht überholen kann, pah! Kapitel 16: Neue Herausforderungen ---------------------------------- Kapitel 16: Neue Herausforderungen Der erste Tag hier in der Unteren Welt neigt sich dem Ende zu. Kaum waren Arkor und ich zurückgekehrt, war es auch schon Zeit für das gemeinsame Essen. Es war... weniger befremdlich als am Vorabend, aber immernoch seltsam. Sai warf mir noch immer hasserfüllte Blicke zu, wann immer er sich von den anderen unbeobachtet fühlte. Ich versuchte es zu ignorieren, so gut ich konnte aber kurz vor Ende platzte mir der Kragen und wütend knallte ich meine Faust auf den Tisch, räumte wortlos mein Geschirr ab und verschwand auf mein Zimmer. Und nun liege ich hier. Mein Kopf hängt am Fußende hinunter, mein Kissen fest an mich gepresst, den Blick nach draußen gerichtet. Keine bequeme Position aber sie hat mir immer beim Nachdenken geholfen. Und ich habe gerade verdammt viele Dinge, über die ich nachdenken muss. Da wäre zum Einen all das, was mein Vater mir heute erzählt hatte. Die Vergangenheit meiner Familie ist gezeichnet von Schicksalsschlägen und dem immer andauernden Kampf gegen die Kreaturen der Finsternis. Sie haben so viel geopfert. So viel verloren. Und doch werden sie weiter kämpfen. So lange es auch nur ein einziges Wesen in den drei Welten gibt, welches kein Schatten ist, werden sie weiter kämpfen. Ein Kampf, der nun auch der meinige ist. Allerdings frage ich mich, wie das gut gehen soll, solange mir Sai so feindlich gesinnt ist. Seit ich hier bin, bereitet er mir nichts als Kopfschmerzen und schlechte Laune. Er gibt mir ja noch nicht einmal eine Chance! Am liebsten würde ich ihn so lange anbrüllen, bis er endlich nachgibt und einsieht, dass ich ebenso ein Mitglied der Familie bin, wie er. Ich beteilige mich auch an den Kämpfen - zumindest, sobald ich mit eingeteilt werde... Dann geht mir das Gespräch mit Luzifer einfach nicht aus dem Kopf. Was ist es, was die Schatten begehren? Und warum tun sich alle so schwer, mir diese simple Frage zu beantworten? Außerdem regt mich sein arrogantes Gehabe tierisch auf! Mag ja sein, dass er hier unten der Chef ist, eine gewisse Macht besitzt und in seinem langen Leben durchaus einiges an Wissen angehäuft hat - aber das gibt dem Kerl noch lange nicht das Recht, derart unverschämt zu sein! Wenn es etwas gibt, dass er in all den Jahrtausenden nicht gelernt hat, dann ist es Anstand! Ian hat nie so herablassend mit mir geredet, obwohl ich keine Ahnung hatte. Ich rolle mich auf mein Bett und ziehe die Beine nah an meinen Körper. Er fehlt mir. Bisher war Ian der einzige, der für mich so etwas wie einem Freund gleichgekommen ist. Hier, in diesem Haus, habe ich zwar meine Familie aber da hört es auch schon auf. Oh, und einen Todfeind - nur weil ich Sai nicht leiden kann, muss ich ja nicht gleich seine Existenz unterschlagen... Ein bitteres Lächeln huscht über meine Lippen. Ich könnte wirklich jemanden gebrauchen, bei dem ich mich einfach nur auskotzen kann. Einfach nur jemand, der mir zuhört, hinterher über meine bescheuerten Probleme lacht und mir dann durchs Haar wuschelt. Ich vergrabe mein Gesicht im Kissen. Na großartig! Jetzt fehlt mir sogar schon diese bescheuerte Geste, für die ich Ian so oft verteufelt habe. Ich bin wirklich ein hoffnungsloser Fall. Ein leises Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken. Schnell springe ich auf, um die Tür zu öffnen und schaue in das entschuldigende Gesicht meines Vaters. "Entschuldige die späte Störung, Aki. Ich wollte noch kurz mit dir reden. Darf ich reinkommen?" "Klar. Was gibt es denn?" Ob ich endlich mit den anderen losziehen darf? "Du weißt, dass wir jeden Einzelnen brauchen zur Verteidigung der Welten." Ich nicke hastig, innerlich platze ich fast vor Vorfreude. "Dafür ist es wichtig, dass wir als Team zusammen arbeiten." Er sieht mich eindringlich an. "Die Streitereien zwischen dir und Sai müssen unbedingt beigelegt werden." Will er mich etwa mit Sai in ein Team stecken? Das könnte... interessant werden. "Deswegen ist es umso wichtiger, dass du stärker wirst. Du darfst ihm in nichts nachstehen." Ich stutze. Irgendwie klingt das nicht mehr danach, dass ich morgen mit den anderen mit darf. "Darum wirst du morgen deinen neuen Mentor kennen lernen. Er trainiert auch deinen Bruder. Ihr könnt zusammen dorthin." "Das ist ja..." ... nicht das, was ich mir erhofft hatte... "... großartig." Ok, dieses halbherzige, aufgesetzte Lächeln würde mir nicht einmal jemand abkaufen, der mich überhaupt nicht kennt. Arkor sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an. "Du bist nicht sonderlich glücklich." "Es kommt nur etwas überraschend. Ich habe ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, einen anderen Mentor zu bekommen." Was eine glatte Lüge ist, denn ich wusste ja bereits, dass mir ein neuer Mentor zugeteilt werden würde. Dennoch blieb da ein kleiner Hoffnungsschimmer. Der sich gerade in Wohlgefallen auflöst. "Yrrian hat viel zu tun und bereits mehr für uns getan, als ich ihm jemals vergelten könnte. Ich nehme seine Hilfe nur ungern erneut in Anspruch. Außerdem denke ich, wird es dir mit einem Mentor der Erddämonen besser ergehen. Er versteht dein Wesen viel eher als ein Wasserdämon." "Bestimmt hast du Recht. Wann soll ich morgen wo sein?" Lächelnd sieht er mich. "Haru wird dich in vier Stunden holen kommen, damit ihr pünktlich zu Sonnenaufgang am Trainingsort seid." "Dann sollte ich jetzt besser versuchen zu schlafen." Obgleich ich mir mehr als sicher bin, dass ich jetzt wohl keinen Schlaf mehr finden werde. Oder aber erst einschlafe, wenige Minuten bevor Haru mich aus den Federn werfen wird. Arkor gibt mir einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn, lächelt mich noch einmal auf eine Weise an, wie es nur Väter bei ihren Töchtern tun und verlässt dann mein Zimmer. Wäre ich jetzt noch in der irdischen Welt, würde ich mit einem Kissen die Inneneinrichtung meines Zimmers verwüsten, um meinem Frust Ausdruck zu verleihen - ich will keinen anderen Mentor! Und anschließend in Taras Tanzstudio fliehen, um Rheas Predigt zu entkommen über Problembewältigung und das innere Gleichgewicht und derartigen Kram. Scheiße! Jetzt muss ich doch wieder an Rhea denken - als ob die Gedanken um Ian nicht schon schwer genug zurückzuhalten sind - und dann heul ich auch noch! Und ausgerechnet inmitten dieser leisen Verzweiflung streift mich kurz eine Aura. Wie eine flüchtige, liebkosende Berührung. Für einen kleinen Moment hätte ich sogar schwören können, es ist die von Ian. Aber das ist völlig unmöglich. Trotzdem bewege ich mich zu meinem Fenster, berühre vorsichtig das Glas mit den Fingerkuppen und schaue angestrengt nach draußen. Doch da ist nichts. Auch über meinen Geist kann ich nichts weiter wahrnehmen, als die Auren meiner Familie. Meine Stirn gegen die kühle Fensterscheibe lehnend, atme ich einige Male tief ein und aus. Ich muss mich beruhigen. Und dann versuchen, noch etwas Schlaf zu finden. Doch auch als ich mich endlich in mein Bett kuschle, bleibt der Wassermagier in meinen Gedanken und begleitet mich selbst bis in meine Träume. Durch ein zaghaftes, aber dennoch kräftiges Klopfen an meiner Zimmertür, schrecke ich aus meinen Träumen. Ich muss ein paar Mal blinzeln, bevor ich mich daran erinnere, wo ich bin. Die Umstellung wird wohl noch ein bisschen dauern. Noch leicht verschlafen öffne ich die Tür. Und hätte sie am liebsten gleich wieder zugeschlagen! Harus breites Grinsen und seine überaus fröhliche Miene sind einfach zu viel für mich im Moment. Als ich murrend zurück zu meinem Bett schlurfe, sieht er mir nur fragend nach. "Gib mir einfach noch fünf Minuten. Oder zehn. Und Frühstück." Harus leises Lachen erfüllt mein Zimmer. "Ich bin mir nicht sicher, ob wir noch so viel Zeit haben. Ich versuche bereits seit einer halben Stunde dich zu wecken." "Was?" überrascht fahre ich herum und sehe meinen Bruder aus großen Augen an. Ok, JETZT bin ich wach! "Ich werde zu spät kommen! Am ersten Tag!" "Jetzt nicht gleich hysterisch werden, Schwesterchen. Du solltest vielleicht erst einmal etwas anderes anziehen und dann machen wir uns auf den Weg. Wir haben noch Zeit, du wirst dich schon nicht verspäten." Ich kann die Räder in meinem Kopf genau rattern hören. Direkt nach dem Aufstehen will mein Hirn einfach noch nicht so richtig arbeiten. Anziehen. Etwas anderes... anziehen... Mein Blick gleitet in Zeitlupe an mir herab. Eine kurze Schlafhose und ein viel zu großes Shirt. Ideal als Schlafanzug. Aber ich muss Haru Recht geben: Ich sollte nicht in diesem Aufzug auf die Straße gehen. In der gleichen rekordverdächtigen Geschwindigkeit schaue ich zu meinem Kleiderschrank und erneut rattern die Zahnräder. Ich habe keine weiteren Anziehsachen mit hierher geholt. Der Schrank dürfte noch genau so leer sein, wie gestern. Trotzdem begebe ich mich zu dem Ungetüm und öffne zweifelnd die Türen. Um völlig ungläubig auf eine Auswahl an Klamotten zu blicken, die ich durchaus tragen würde. Es sind nicht viele aber ich könnte schwören, dass die gestern noch nicht da waren. "Das hast du wohl Roni zu verdanken. Allerdings glaube ich, wäre es nach ihr gegangen, wären da jetzt viel mehr Rüschen, Kleidchen und rosa Sachen drin." Ich werfe Haru einen belustigten Blick über die Schulter zu. "Ich sollte mich bei ihr bedanken, dass sie nicht nur meinen Schrank befüllt, sondern dabei auch ihren eigenen Geschmack hinten an gestellt hat." "Unbedingt!" Harus breites Grinsen wirkt allmählich ansteckend und meine Morgenmuffel-Laune verkriecht sich zurück in eine dunkle Ecke. Ich entscheide mich für eine bequeme lange Hose in einem ausgewaschenen Gelbton und ein khakifarbenes Tanktop. Es dauert keine fünf Minuten, da bin ich einmal durch mein Bad gehuscht, habe wieder eine Frau aus mir gemacht und bin aufbruchfertig. Haru führt mich einen anderen Weg aus der Stadt heraus, als den, welchen ich tags zuvor mit Arkor gegangen bin. Dieses Mal scheinen wir nach Süden abzubiegen, vorbei an herrschaftlichen Häusern mit roten Dächern zu unserer linken und den normalen Stadthäusern mit ihren glänzenden, schwarzen Dächern auf der rechten Seite. So langsam bekomme ich einen Überblick über die Stadt. Allerdings bleibt mir nicht viel Zeit, alles genau zu analysieren, denn kaum haben wir die letzten Ausläufer der Stadt erreicht, verwandelt Haru sich und prescht einfach los, ohne Rücksicht auf mich zu nehmen, ob ich auch folge. Ich könnte mich jetzt einfach umdrehen und zurückgehen. Vielleicht etwas die Stadt erkunden und herausfinden, wie man hier an neue Klamotten kommt und welche Annehmlichkeiten es hier noch so gibt. Aber die Vernunft - und zugegeben auch ein klein wenig Neugierde - lässt mich dann doch meinem Bruder folgen. Es dauert nicht lange, da habe ich ihn bereits wieder eingeholt und erhalte von ihm ein breites Grinsen, welches seine scharfen Zähne enthüllt. Ob er weiß, wie skurril diese Fratze aussieht? "Zeig mir mal, wie schnell du wirklich laufen kannst, Schwesterchen." damit prescht er auf einen dschungelähnlichen Wald los und hängt mich glatt ab. Auch ich ziehe das Tempo an, komme aber kaum noch hinterher. Wie macht er das nur? "Haru, warte auf mich!" "Du denkst zu viel nach. Blende einfach alles aus, was du bisher glaubtest über Geschwindigkeit zu wissen. Und dann lauf." "Alles ausblenden? Etwa auch die gigantischen Bäume mit den tief hängenden, ineinander verschlungenen Lianen, die hier überall herumstehen? Wenn ich mit der Geschwindigkeit gegen einen dieser Stämme krache, verteilt sich mein Hirn vermutlich quer über den Waldboden!" "Nicht denken! Deine Pfoten werden immer einen sicheren Weg finden. Selbst mit verbundenen Augen könntest du hier ohne einen Kratzer durchrennen." "Fällt mir schwer, das zu glauben..." "Dann wirst du wohl zu spät kommen." "Was? Nein! Haru!" Wie von selbst beschleunige ich mein Tempo immer weiter. Ich kann es nicht kontrollieren. Wage es auch gar nicht. Ich lasse dem Wolf in mir freien Lauf und versuche alles andere auszublenden. Nicht das leichteste Unterfangen aber mich beschleicht das Gefühl, dass es doch zu einer Kollision kommen würde, würde mein ängstlicher, menschlicher Teil jetzt das Ruder wieder übernehmen. Etwa zehn Minuten fliegen wir geradezu durch den dichten Dschungel. Niemals hätte ich das für möglich gehalten. Aber Haru hat Recht: Meine Pfoten finden von ganz allein einen sicheren Pfad. Weder verheddere ich mich in den Lianen oder kollidiere mit einem Baum, noch stolpere ich über eine Wurzel oder eine Unebenheit im Waldboden. Und so langsam fange ich an, dieses Gefühl zu genießen. Dabei dachte ich damals, in meiner ersten Nacht nach meiner Verwandlung, ich wäre schnell. Aber das hier übertrifft alles um Längen! Und es ist ein großartiges Gefühl. Dabei bemerke ich gar nicht, wie ich immer weiter zu Haru aufhole, ihn sogar überhole. Erst als seine Aura an mir zerrt, wie ein Reiter am Zaumzeug eines durchgehenden Pferdes, wird mir bewusst, dass ich es geschafft habe, wirklich ALLES auszublenden. Selbst die mentale Kommunikation. "Was war denn DAS?" fragt er mich, als wir auf einer Lichtung anhalten. "Keine Ahnung. Ich habe nur getan, was du gesagt hast. Ich wusste gar nicht, dass wir so schnell rennen können." Noch immer jagt pures Adrenalin durch meine Adern, gepaart mit einer unglaublichen Euphorie. Am liebsten würde ich direkt weiter laufen. Ob es noch weit ist bis zum Treffpunkt? Die Sonne geht nämlich langsam auf. "Aki, so schnell wie du eben gelaufen bist, ist nicht einmal Miri. Und ich habe noch nie jemanden gesehen, der schneller ist, als sie. Außerdem hast du mich immer wieder aus deinem Geist geschmissen. Ich konnte dir nicht einmal sagen, dass du langsamer machen sollst, weil du mich abgehangen hast. So etwas habe ich noch nie erlebt. Wie hast du das gemacht?" "Keine Ahnung." gebe ich ehrlich zu. Mir ist nicht einmal aufgefallen, dass er versucht hat, in meinen Geist einzudringen. "Deine Schwester scheint in der Lage zu sein, das Eindringen eines fremden Geistes zu unterdrücken." erklingt eine tiefe, ruhige Stimme etwas abseits von uns. Sofort nimmt Haru seine menschliche Gestalt an, während ich nur meinen Kopf in die Richtung des Fremden drehe. Am anderen Ende der Lichtung steht ein Mann, den ich als eine Mischung aus Bär, Mönch und Indianer beschreiben würde. Er hat breite Schultern, sonnengeküsste Haut, ist großgewachsen mit langem, dunklem Haar, welches er zu einem Pferdeschwanz gebunden trägt, bis auf eine Strähne auf der linken Seite, die in einem kleinen geflochtenen Zopf herab hängt. Er trägt eine Kutte, die mit einer Schärpe zusammengebunden ist. Allerdings hat er den oberen Teil ausgezogen, der nun nach hinten herunterhängt und somit freie Sicht auf seinen durchtrainierten Oberkörper gibt. Der von einer langen Narbe dezent verunstaltet wird. Sie reicht von seiner linken Wange, über seinen Hals, die Brust hinunter und verliert sich dann auf Höhe der Rippen. Ich muss nicht groß fragen, um zu wissen, dass er Harus Mentor ist. Und jetzt auch meiner. "Du musst Aki sein, Harus Zwillingsschwester. Er hat mir schon viel von dir erzählt." Gelassen nähert er sich uns. Als er weiter auf die Lichtung tritt, bemerke ich, dass sein Haar gräulich schimmert und anscheinend nur im Schatten ausnahmslos dunkel wirkt. Und noch etwas fällt mir auf: Er trägt einen Stab bei sich, der aussieht wie ein knorriger Baum, dessen Krone wie die Blüte einer Blume geschlossen ist. Doch zwischen diesen Verästelungen scheint noch mehr zu sein. Ein braun-goldener Schimmer dringt durch das Wirrwarr an Zweigen und erzeugt ein diffuses, warmes Licht. Ganz anders, als seine eisblauen Augen, die mich fixieren, wie ein Beutetier. "Aki, willst du nicht langsam deine humanoide Gestalt annehmen?" richtet Haru das Wort an mich und lenkt somit meine Aufmerksamkeit auf sich. Überrascht schaue ich meinen Bruder an - mir ist gar nicht bewusst gewesen, dass ich noch immer ein Wolf bin. Aber ich fühle mich eindeutig behaglicher in dieser Gestalt. Von dem Mentor geht eine unglaubliche Aura aus, die alle Alarmglocken in mir schrillen lässt. Als Mensch wäre ich ihm hilflos ausgeliefert. "Sie traut mir nicht." kommt die nüchterne Feststellung. Es liegt keinerlei Emotion in seinen Worten. Ich weiß nicht, ob ihn mein Verhalten kränkt oder amüsiert oder ob er es gar gewohnt ist. Was nicht gerade dazu beiträgt, dass ich mich wohler fühle. Außerdem hat dieser unhöfliche Klotz es noch nicht einmal für nötig erachtet, sich vorzustellen! Die eisblauen Augen meines Gegenüber blitzen gefährlich auf, bevor er erneut den Mund öffnet. "Kai." Irritiert sehe ich ihn an. "Mein Name ist Kai. Und ich bin von nun an dein Mentor. Also bringe mir gefälligst den nötigen Respekt entgegen!" Uh, einer von der ganz harten Sorte. Und ich dachte, nur Winddämonen können mir auf Anhieb unsympathisch sein... Im Bruchteil einer Sekunde kassiere ich für diesen Gedanken einen Schlag mit dem Stab auf meinen Kopf. Einen äußerst schmerzvollen Schlag. "AU! Warum..." und stelle zu meinem Entsetzen fest, dass ich wieder ein Mensch bin. "Wie hast du das gemacht?" Entsetzt starre ich erst auf meine Hände, dann auf Kai, der seelenruhig dasteht, als wäre nicht das Geringste geschehen. "Der gleiche Dickschädel. Hätte ich mir denken können. Immerhin seid ihr Zwillinge." Ich werfe einen Blick zu Haru, der entschuldigend mit den Schultern zuckt. Anscheinend hat er auch schon Bekanntschaft gemacht mit diesem Stock. "Zwei Dinge, die du dir ganz schnell einprägen solltest, Mädchen. Erstens: Ich bin dein Mentor - du tust, was ich dir sage! Zweitens: Das Training findet ausschließlich in eurer humanoiden Gestalt statt. Es ist also unnötig, lange in deiner dämonischen Gestalt zu verweilen. Es verzögert nur das Training." "Und wie bitte sollen wir stärker werden, wenn wir nur als schwache Menschen trainieren? Das ergibt doch keinen Sinn!" protestiere ich prompt. Ein überhebliches Grinsen legt sich auf Kais Gesichtszüge. Die erste emotionale Regung, die ich bei ihm sehe. "Man merkt, dass du so gar keine Ahnung hast. Vielleicht ist dir bereits aufgefallen, dass nicht alle Dämonen über unendliche Energiereserven verfügen, so wie wir Erddämonen. Aber auch unsere Stärke hat seine Grenzen. Schatten verderben das Land und entziehen ihm jegliches Leben. Auch die elementaren Energien. Kämpfst du also auf verseuchtem Boden, nützt dir dein Erddämonendasein herzlich wenig. Und wenn dir deine Kraft ausgeht, dein Wolf dich verlässt, was tust du dann? Was bleibt dann noch übrig? Glaubst du, du würdest in deiner jetzigen Verfassung auch nur einen einzigen Schatten töten können? Es ist sicher toll, wenn dein Wolf unsagbar stark ist. Aber wenn der menschliche Teil schwach bleibt, bist du niemandem eine große Hilfe." Autsch. Der Seitenhieb hat gesessen und ich muss mich schwer zusammenreißen, nichts Dummes zu erwidern. Denn leider hat er Recht. Als schwacher Mensch bin ich niemandem eine Hilfe. Wahrscheinlich ist Sai auch deswegen so abweisend zu mir. "Außerdem wird auch deine dämonische Seite gestärkt, je mächtiger deine menschliche Seite wird. Aber vermutlich hast du auch das nicht gewusst." Wütend starre ich Kai an. Woher hätte ich all das denn bitte wissen sollen? Ihm muss doch auch bewusst sein, dass ich die letzten 21 Jahre in der irdischen Welt verbracht habe und rein gar nichts über meine Herkunft und alles, was damit zusammenhängt, wusste. "Es ist mir egal, wer du warst, bevor du hierher kamst. Jetzt bist du hier. Und du solltest anfangen, dich mit diesem Leben zu beschäftigen, statt dem alten hinterher zu trauern." Er sieht mich noch einmal eindringlich an, bevor er sich dann an Haru wendet, der bisher alles schweigend mit angesehen hat. "Die gleiche Strecke wie immer. Zeig sie Aki. So oft, wie es sein muss, bis sie sie im Kopf hat. Ab Morgen läufst du wieder dein Tempo und wir fahren mit dem regulären Trainingsplan fort." "Welche Strecke?" frage ich meinen Bruder vorsichtig, der sich ans südliche Ende der Lichtung begibt. "Es gibt einen Pfad durch den Dschungel. Diese Lichtung liegt ganz im Süden und hinter ihr grenzt direkt ein Gebirge an. Aber keine Sorge, die Steilpässe wirst du noch nicht ablaufen müssen." Er wirft einen schnellen Blick zu Kai. "Denke ich zumindest." Ich verdränge den letzten Teil. "Und wo genau führt dieser Pfad entlang?" "Quer durch den Dschungel. Quasi eine Runde im Inneren entlang zurück zu dieser Lichtung. Du läufst einmal im Kreis, wenn du es so willst." "Durch den... kompletten Dschungel?" "Ja, ich glaub schon. Ab und an sieht man durch die Bäume die letzten Ausläufer." "Ok. Und wie lange brauchst du sonst dafür?" "Keine Ahnung. Vielleicht eine Stunde? Aber ich bin mittlerweile auch schon ziemlich schnell. Keine Sorge, wir laufen in einem für dich angenehmen Tempo." Gleich bekomme ich Schnappatmung! Das kann doch nicht sein Ernst sein?! Ich soll völlig unvorbereitet einen Marathon laufen und das in menschlicher Gestalt! Eine Strecke, für die ich als Wolf nur etwa zehn Minuten gebraucht habe, weil ich förmlich geflogen bin. Mein Blick gleitet zu Kai, der sich auf einen Findling gesetzt hat und uns beobachtet. Sein amüsierter Blick zeigt mir deutlich, dass er daran zweifelt, dass ich die Strecke auch nur ein einziges Mal schaffe. Geschweige denn, so oft, bis ich mir den Pfad eingeprägt habe. Er kann mich nicht leiden, dessen bin ich mir sicher. Allerdings beruht diese Abneigung auf Gegenseitigkeit. Und mir hat so etwas immer zusätzliche Kraft gegeben. Ich werde diesem arroganten Kotzbrocken beweisen, dass ich nicht nur ein kleines Mädchen bin. Ich werde jede seiner Herausforderungen annehmen und bestehen. Jetzt erst recht! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)