Die Helfende Hand von karlach (— Road Trip mit Geist) ================================================================================ Kapitel 1: Gladio würde gerne betonen, er sei unschuldig. --------------------------------------------------------- Die Idee, so fand Gladio auch jetzt noch, war beknackt. Wieso er letzten Endes doch mitgezogen war, konnte er sich nur dadurch erklären, dass Leute unterschätzten, wie verlockend Freunde einem Ideen verkaufen konnten, auf die man von selbst nicht gekommen wäre.   Der Road-Trip war auf Talis Mist gewachsen, denn selbstverständlich war er es, der sich so etwas einfallen ließ. Tali mochte sowohl Gladio als auch Sun mittlerweile um einen guten halben Kopf überragen (auch wenn Gladio darauf bestand, dass Haare nicht zählten!), aber die kindliche Freude, mit der er scheinbar alles im Leben anging, hatte sich auch nach seinem Zwanzigsten wacker gehalten. Längeres Haar und ein lässiger Dreitagebart konnten nichts daran ändern. Die erste Nachricht im Gruppenchat war denkbar unschuldig gewesen. Etwas über eine Hausaufgabe für seinen fortgeschrittenen Fotografiekurs, die nach den Semesterferien eingereicht werden sollte. Was darauf gefolgt war, hatte sich absolut nach Tali und überhaupt nicht nach universitätsgerechtem Hausaufgabenmaterial angehört, aber im Nachhinein hätte es ihn gar nicht erst überraschen sollen.     [Tali schrieb um 00:32:15 Uhr]: „Ich will einen ort fotografieren an dem es spukt!“ [Sun schrieb um 00:32:58 Uhr]: „Ist das die Vorgabe?“ [Tali schrieb um 00:33:09 Uhr]: „Nee, die ist „fremde ufer“. Aber ula-ula ist ja quasi fremdes ufer.“ [Gladio schrieb um 00:33:48 Uhr]: „Wie genau ist Ula-Ula für dich fremdes Ufer?“ [Tali schrieb um 00:33:57 Uhr]: „!! Gut, du bist noch wach!“ [Tali schrieb um 00:34:05 Uhr]: „Es ist was neues, wenn wir auf der  suche nach dem übersinnlichen gehen!“ [Gladio schrieb um 00:34:16 Uhr]: „Eine der Prüfungen auf Ula-Ula findet in einem verlassenen Supermarkt statt.“ [Tali schrieb um 00:34:22 Uhr]: „Genau! Deshalb ist ula-ula doch perfekt!“ [Gladio schrieb um 00:34:25 Uhr]: „…“ [Sun schrieb um 00:34:30 Uhr]: „Jungs, ich steig nicht durch.“ [Sun schrieb um 00:34:36 Uhr]: „Es ist nach Mitternacht. Gnade.“     Eine Weile lang hatte man weiterhin versucht, aus Tali herauszukitzeln, wo sich genau der Aspekt der Fremde in seiner Idee verbarg, aber relativ schnell war Gladio zur Erkenntnis gekommen, dass ein müder Sun gewaltig an Kompetenz einbüßte und solche Unterhaltungen besser morgens nach einer Tasse Koalelu-Kaffee geführt werden sollten. Man traf sich also am Morgen danach im Café des Pokémon Centers auf dem Campus der Kapu-Riki University von Hau'oli City. Tali wirkte trotz der relativen Frühe bereits munter und aufgeregt, Sun eher so, als wolle er in seinem etwas zu weiten Pullover verschwinden und weiterschlafen. Anders als Tali, der scheinbar mit jedem weiteren Lebensjahr an Energie zu gewinnen schien, war Sun, der ohnehin nie besonders gesprächig oder ausdrucksvoll gewesen war, zunehmend stiller geworden. Es war erstaunlich, wie locker und akkurat Tali und Gladio bestimmen konnten, was gerade im Kopf ihres Freundes vorgehen musste, aber die Mehrheit der Leute, die den Champion von Alola persönlich trafen, schienen meistens etwas enttäuscht, keinen Charmebolzen wie Cynthia, Lauro oder Troy, sondern bloß einen jungen Mann mit einem stillen Lächeln kennenzulernen. Der Tisch, den die beiden für ihre Zwecke beschlagnahmt hatten, war bereits mit Blättern übersät. Karten mit rot eingezeichneten Routen, Zeitungsartikel, etwas, das verdächtig nach Kopien von auf Reddit gefundener Creepypasta aussah, und ein besonders zerknittertes Blatt, das in fetter Schrift mit „Semesterevaluation, Fotografie und Kultur“ überschrieben war. „Gladio, du bist spät!“, grüßte Tali und gestikulierte auf einen freien Flecken am Tisch, den man scheinbar bereits ihm zugedacht hatte. Sun gab ein mattes aber freundliches Summen vor sich und nippte an seiner Tasse Kaffee. „Wenn du überpünktlich bist, ist es schon klar, dass ich zu spät sein werde“, gab Gladio etwas missmutig zurück und zog seine Lederjacke aus. Tali grinste breit. „Ich wollte dir auch ’nen Kaffee bestellen, aber Sun hat sich daran erinnert, dass du deinen so heiß wie Lava trinkst. Hätte sich also gar nicht gelohnt. Wir warten, bis du auch was hast.“   Das Konzept für die Arbeit wurde mit etwas mehr Erklärung zu einer humanen Stunde marginal verständlicher. Es war immer noch relativ weit hergeholt, aber wenn sich Tali bei seiner Präsentation so wacker schlug wie bei ihrem Powwow, da waren sich Sun und Gladio einig, könnte es klappen. „Könnte“ war in der Einschätzung dabei das Schlüsselwort.       — — · — —       Gladio hätte angeboten, dass sie eines der Autos der Äther-Stiftung verwenden könnten, aber Tali bestand auf authentisches Road Trip-Feeling. „Als hättest du bei deiner Inselwanderung nicht genug davon gehabt“, grummelte Gladio, gab aber nach, als Sun versprach, dass der Wagen seiner Mutter bequem Platz bot für die drei jungen Männer sowie Gepäck und das allfällige klaustrophobe Pokémon hier und da. „Für Amigento oder Fuegro haften kann ich nicht, aber Lucario hat bestimmt Platz,“ meinte er mit einem Nicken in Richtung Wohnzimmer, in dem sich die Pokémon des Trios aufhielten. Gladio mochte das Ambiente des Cafés auf dem Universitätscampus ganz gerne, aber das Internet in seiner Wohnung war immer noch schneller. Zum Zweck einer effizienteren Planung hatten sie sich das nächste Mal also bei ihm eingefunden. Lilly war mit ihrem Verhaltensbiologiekurs in Sinnoh und es tat gut, wieder etwas Leben in der Wohnung zu sehen. „Deine Mam braucht ihr Auto nicht?“ Tali zückte hoffnungsvoll seinen Kugelschreiber, bereit, das Auto auf ihrer scheinbar ewig langen To Do-Liste abzuhaken. „Sie meinte nein. Notfalls fährt der Professor sie, aber eigentlich haben wir in unserem Stadtviertel gute Busverbindungen.“ Sun zuckte mit den Schultern. „Auto, hätte ich gesagt, haben wir.“ „Dann nehme ich an, dass du fahren magst?“ Gladio lehnte sich gegen den Tresen, der Küche von Wohnzimmer trennte. Der verwirrte Blick aus tellerrunden Augen verriet ihm, dass er wohl eine falsche Frage gestellt hatte. „Ich kann nicht fahren.“ Für einen Augenblick war es still in der Küche, dann räusperte sich Tali. „Also. Ich kann schon–“ „Tali 'Opunui, ich steige nie wieder in ein Auto, wenn du fährst“, drohte Gladio düster. Beim letzten Abenteuer dieser Art hatte sich herausgestellt, dass ein betrunkenes Tangela wahrscheinlich so souverän wie ein nüchterner Tali fahren konnte. Wie der Junge seinen Führerschein bekommen hatte, wusste Gladio nicht, aber er tendierte eher dazu, zu glauben, dass er Glück in einer Lotterie oder etwas Ähnlichem gehabt hatte. „Dann… musst… du fahren?“ Sun setzte seinen unschuldigsten Gesichtsausdruck auf und klimperte übertrieben mit den Wimpern. Im Wohnzimmer kicherte sein Gengar, als wolle es Gladio auslachen.       — — · — —       Das ganze Organisieren war weitaus komplizierter, als Tali erwartet hatte. Gladio hätte ihm das auch so sagen können, aber immerhin, weil es ohnehin seine Arbeit war, investierte Tali viel Zeit und Energie darin, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Hier und da musste er darauf hingewiesen werden, dass ihr Budget bei seinem Malasada-Konsum und den Benzinkosten nicht reichen würde oder dass Ula-Ula wahrscheinlich aufgrund geografischer Gegebenheiten weitaus kälter und regnerischer als Mele-Mele sein würde. Alles in allem fühlte sich aber sogar Gladio mild zuversichtlich gestimmt, als sie sich endlich eines Morgens um sechs im Hafen trafen, Taschen gepackt, Auto frisch getankt und eine Tüte warmer Malasadas auf dem Rücksitz, die nach frittierter, zuckriger Verlockung dufteten. Die Überfahrt nach Ula-Ula verbrachten sie, nach ihrem kalorienreichen Frühstück wohlgemerkt, in einem schläfrigen Dämmerzustand, zu dritt auf eine schlecht gepolsterte Fährenbank gequetscht und ihre Pokémon zu ihren Füßen. Gladio erwachte mit einem eingeschlafenen Bein als die Lautsprecher knisterten und der Kapitän die Ankunft in einer Viertelstunde ankündigte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Talis Raichu quer über den Schoß aller drei Jungs ausgebreitet und sein eigenes Iksbat sich auf seinem Fuss niedergelassen. Tali schnarchte leise und selig vor sich hin, Sun döste an Gladios Schulter gelehnt vor sich her. Wenn auch unbequem, war der Moment ungewohnt friedlich und für einen Augenblick glaubte Gladio, dass diese ganze Road Trip-Angelegenheit vielleicht doch nicht so katastrophal ausfallen würde, wie befürchtet. Er hätte da gleich auf Holz klopfen sollen.       — — · — —       Die seltsamen Vorfälle begannen gegen Abend ihres ersten Tags unterwegs. In den beinahe elf Jahren, in denen die drei Jungs bereits befreundet waren, hatte man schnell festgestellt, dass Talis Liebe für Oldies und Gladios für Progressive Hard Rock schwer zu vereinigen waren. Sun war flexibel (auch wenn er sich sichtlich freute, wenn man ihn seine EDM-Tunes einschalten ließ), aber Gladio und Tali hatten sich als Teenager schon oft genug in den Haaren gelegen, um zu wissen, dass das Radio bei gemeinsamen Fahrten am besten einfach ganz ausblieb. Als die Stereoanlage im Auto also plötzlich ansprang und damit begann, laut The Volbeats abzuspielen erschrak Gladio dermaßen, dass er von seinem Sitz gehüpft wäre, wäre er nicht wie jeder verantwortungsbewusste Autofahrer angeschnallt gewesen. So blieb ihm nichts Anderes übrig, als blitzartig auf die Bremse zu treten, um seinem Schock Ausdruck zu verleihen. Tali, der zu diesem Zeitpunkt im Beifahrersitz damit beschäftigt gewesen war, mit Suns Mimigma zu spielen gab einen Schreckenslaut von sich und auch Sun - das sah Gladio trotz dem langsam schwindenden Tageslicht - sah im Rückspiegel leichenblass aus, während er Talis Koalelu zurück auf die Sitze half. Zu ihrem Glück waren die Straßen außerhalb von Malihe City relativ leer. Der abrupte Stopp ihres Autos brachte den Jungs nur ein Protesthupen und Überholtwerden ein, Unfälle blieben dankenswerterweise aus.   Einen Augenblick war es bis auf die Musik, die Tali eilig leiser stellte, totenstill im Wagen. „Mam muss eine CD in der Stereoanlage vergessen haben“, murmelte Sun schließlich heiser, schnallte sich los und lehnte sich über die Konsole, um die Musik wieder auszustellen. Shaun Lemon wurde äußerst rüde mitten im Satz unterbrochen, danach war wieder Ruhe. Ein weiteres Hupen. Gladio erinnerte sich daran, dass sie immer noch mitten auf der Straße waren und praktisch stillstanden. Mimigma fiepte, unglücklich darüber, dass Talis Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt worden war. Der Motor sprang friedlich wieder an, ganz, als ob Gladio ihn nicht gerade explosiv in den kompletten Stillstand gezwungen hätte. „Deine Mam hat 'nen coolen Musikgeschmack, Sun“, meinte Tali dann, sein Lachen immer noch etwas angespannt. „Besser als Gladios Gitarrenlärm.“ Gladio befand das Niveau des Kommentares unter seinem und fuhr stur weiter.   Sie kamen vielleicht eine halbe Meile weiter, bevor die Stereoanlage wieder ungebeten zum Leben erwachte. Dieses Mal war es das Radio, das ihnen laut und deutlich die Hitparade um die Ohren warf und Sun, der zu Taylor Sternschauers neuster Rachenummer einen Beinahe-Herzinfarkt bekam. Statt jedoch den Sound wieder auszumachen, stellte Tali ihn dieses Mal lediglich leiser und begann, schief mitzusingen. Für einen Augenblick saß Gladio verdattert und Sun schwer atmend da, das Koalelu auf seinem Schoss besorgt an seinem Ärmel zupfend, bevor beide ähnlich unmelodisch in das Gejaule einstiegen. Es wäre das wohl epischste Cover von „Look What I Made You Do“ geworden, wäre die Stereoanlage nicht, genau als der letzte Refrain anfangen sollte, wieder still geworden. Gladio bemerkte es als Erster und hielt inne, Suns Stimme setzte eine Zeile weiter aus und am Ende blieb nur Tali, der äußerst enthusiastisch das Lied zu Ende singen, musste um zu bemerken, dass etwas nicht stimmte. „Wo ist unser Backing Track hin?“   Sie beschlossen, für die Nacht das nächste Pokémon Center zu finden und Gladio konnte sich beim Einchecken nicht einen paranoiden Blick raus auf den Parkplatz verkneifen.       — — · — —       Nach der Stereoanlage blieb es eine gute Weile lang ruhig. Die drei Reisenden verbrachten eine ruhige Nacht in einem Pokémon Center bei einer Tankstelle und Tali machte weitaus mehr Fotos, als er für seine Arbeit brauchte (Gladio hoffte sowieso, dass die Fotos von ihm beim Stressrauchen niemals auftauchen würden. Lilly hasste seine Angewohnheit und er hatte wenig Lust darauf, dass sie die sah). Sie blieben zu lange auf, stellten die Wecker zu früh und verschliefen heillos und als ihr Gepäck bereit für die Abfahrt war, musste Frühstück organisiert werden, das dann zu Brunch im Auto wurde, was zu noch mehr absurden Fotos führte. Als ein ehemaliger Inselwanderer, hatte Tali Wert darauf gelegt, eine Route auszusuchen, die weder er noch Sun zu ihren Jugendtagen gemacht hatten. Der Weg über Mount Hokulani nach Po'u war nicht nur länger, sondern auch verlassener, aber die Wälder hatten einen ganz eigenen, wenn auch nicht ganz behaglichen Charme. Langsam konnte sich Gladio vorstellen, dass das Schnäppchenparadies nicht der einzige Ort auf der Insel war, an dem sich das Übersinnliche gerne zeigte.   Die nächste Etappe auf dem Weg nach Po'u lag auf vielleicht etwas mehr als drei Vierteln des Weges von Malihe City und lag in einem winzigen, traditionsreichen Dorf namens Ho'omana'o. Nicht wenige Sagen, die auf Ula-Ula ihren Ursprung gefunden haben sollten, so hatte ihm Talis Recherche verraten, waren, wenn nicht mit dem Dorf der Kapu, dann mit diesem Städtchen verbunden. Das Pokémon Center hier befand sich in einem alten Herrenhaus aus Zeiten, an denen Ausländer wie er oder Sun mit weitaus weniger friedlichen Motiven die Insel besucht hatten und die alte Dame, die an der Rezeption stand, war glücklich, dem Trio etwas über die Gegend erzählen zu können. Während Sun einen arbeitsbedingten Anruf von Kahili entgegennehmen musste, erhielten Gladio und Tali eine Blitzeinführung in den lokalen Mythenkreis. Die Mehrheit der Geschichten kannten die beiden bereits, man tat die Recherche ja nicht ganz umsonst, aber an einer Stelle wurde Tali stutzig. „Das verlorene Choreogel?“ Die alte Dame lachte und nickte. „Als ich ein junges Mädchen gab, kam eine ehrgeizige Trainerin namens Kona hierher, um ihre Choreogel zu trainieren. Es waren wunderschöne Exemplare.“ Sun betrat das Foyer des Pokémon Centers und Tali winkte ihm begeistert zu. „Wir haben eine weitere Geschichte gefunden“, erklärte er begeistert, bevor er der alten Dame entschuldigend zulächelte. „Verzeihung. Könnten sie womöglich wieder von Anfang an loslegen?“ Die Frau lachte.   „Selbstverständlich, junger Mann. Euer Interesse ist selten. Die jungen Menschen hier gehen lieber fort, als sich für die Traditionen zu erwärmen. Also: Als ich ein junges Mädchen gab, kam eine ehrgeizige Trainerin namens Kona hierher, um ihre Choreogel zu trainieren. Es waren wunderschöne Exemplare. Einige von hier, doch viele auch von auswärts. Das schönste der Truppe, ihr Augenstern, das war Leilani, ein Poni-Choreogel. Doch die Methoden der Trainerin waren harsch und die armen Pokémon litten unter der harten Arbeit und dem Verlust ihrer Freiheit. Bald begannen die schwächsten ihres Schwarms vor Trauer zu sterben. Eines nach dem anderen wurden sie von ihrer Trauer dahingerafft, bis nur noch fünf übrig waren. Doch als Kona eines Morgens Leilani aus ihrem Pokéball ließ, floh das Choreogel. Leilani entkam in den Wald und als Kona mit ihr zurückkehrte, waren ihre Flügel gebrochen. Die Schwester Joy, die damals hier in Ho'omana'o gearbeitet hat, konnte die Verletzung nicht rechtzeitig behandeln und Leilani verlor ihre Fähigkeit zu fliegen – und die zu tanzen. Da setzte Kona Leilani in demselben Wald aus, in den das Choreogel geflüchtet war. Man sagt sich–“ Das Klingeln des Telefons ließ alle drei Jungs urplötzlich aus der Erzählung schrecken. Die Rezeptionistin warf einen Blick zurück ins Büro, aus dem das Geräusch zu kommen schien. „Sie haben bestimmt Besseres zu tun als uns drei Jungspunde zu bespaßen“, beschwichtigte Sun sie freundlich. „Wir wollen Sie nicht von der Arbeit abhalten.“ Die Frau klopfte ihm sanft auf die Schulter. „Ihr seid gute Jungs. Achtet aber etwas auf euch. Der Legende nach hört man noch heute an besonders stillen Nächten, wie das Choreogel um die verlorenen Flügel trauert.“       — — · — —       „Die Geschichte klingt nach jedem generischen Horrorfilm, der auf Pokémon-Missbrauch aufbaut.“ Gladio nahm einen energischen Schluck von seinem Milkshake. Nach der Lektion in Ortskunde hatte Tali seinen Hunger bejammert und prompt waren die drei Musketiere mitsamt Pokémon-Entourage auf die Suche nach dem lokalen Diner gegangen. „Nehmen sie euch im Biostudium denn jeglichen Sinn für rührende Erzählungen weg? Ist alles Wissenschaft und Evolution?“ Sun grinste und lehnte sich über den Tisch, um sich stinkfrech an Gladios Pommes zu bedienen. Der Laut der Empörung den die Aktion erntete, wurde übergangen. „Ich fand Leilanis Geschichte furchtbar traurig“, meldete sich Tali, seine Worte durch einen Bissen Burger genuschelt. „Ugh, Tali, Mund zu, wenn du isst! Hat dir deine Mutter das nie beigebracht?!“, beschwerte sich Gladio, musste aber lachen, als Sun die Finger an einer Serviette abwischte und dann Talis Kinnlade behutsam aber bestimmt wieder hochschob. Was auch immer ihr Freund hatte sagen wollen, es verwandelte sich in ein unverständliches Summen. „Ich glaube, ich finde hier bestimmt was für die Arbeit!“, wiederholte Tali, der sein Essen beim zweiten Anlauf mit einem großen Schluck Milkshake heruntergespült hatte. „Also bleiben wir hier?“ Gladio fühlte sich nicht wirklich behaglich dabei und erinnerte sich daran, wie während der Hinfahrt der Netzempfang auf all ihren Handys mindestens einmal ausgefallen war. Wenn etwas passieren sollte… Energisch nahm der Blonde einen weiteren Schluck seines Getränks. Die doofe Gruselgeschichte (die in seinen Augen nicht mal wirklich eine war, ehrlich jetzt!), war bloß das: eine Geschichte. Da war nichts dran. „Hätte vorerst nichts dagegen.“ Sun zuckte mit den Schulten. „Tali, was brauchst du alles noch für Aufnahmen?“ „Wenn wir uns nach dem Abendessen noch etwas umsehen könnten, fände ich das eigentlich ganz schön. Dann kann ich notfalls auch morgen noch Bilder machen, sollte das Tageslicht heute nicht mehr reichen.“       — — · — —       Gelegenheit, sich umzusehen, gab es im Dörfchen nicht viel. Ho'omana'o war so winzig, dass man im Stadtzentrum unmöglich die Orientierung verlieren konnte. Neben dem Diner und dem Rathaus, besaß das Dorf noch eine kleine Apotheke (lokal, hatte Gladio festgestellt, keiner Kette zugehörig) und einen noch kleineren Laden, der scheinbar alles Mögliche verkaufte – von Kleidung bis hin zu Fischkleister. Ihre gesamte Rasselbande Pokémon wurde aus ihren Bällen entlassen, was ihnen von der kargen Bevölkerung einige bewundernde Blicke einbrachte. Reisende Trainer waren hier scheinbar eine Seltenheit. Dazu kam, dass Gladions Amigento nicht besonders unauffällig war. Während er in seinen jüngeren Jahren lange die primären drei Typen Pflanze, Wasser und Feuer für seinen Partner verwendet hatte, lief das synthetische Pokémon aktuell mit der Geist-Software. Sun, der mit dem Typ viel Erfahrung hatte, hatte sich dazu bereit erklärt, gemeinsam mit ihm auszutesten, was das Betriebssystem aus der Disc machte. Ironisch passend, befanden sie sich doch gerade auf einer Suche nach Spuklokalen. Der neue Typ schien seinem Pokémon auch ein Zugehörigkeitsgefühl zu geben. Es hatte sich seit dem Beginn des neuen Trainings mit Talis Silvarro sowie Suns zwei Geist-Typen Mimigma und Gengar angefreundet. Auch jetzt, lange nachdem seine Mutter die Leitung der Aether-Stiftung hatte abgeben müssen, war es herzerwärmend, Amigento mit anderen Pokémon interagieren zu sehen. Vielleicht lag es an der Freundschaft, die ihre drei Trainer miteinander verband, aber die kleine Gruppe Geister wirkte glücklich und einträchtig. Gladio hoffte lediglich, dass diese Eintracht nicht bedeutete, dass die vier kurz davor standen, Ho'omana'o eine Nacht des Terrors zu bringen.   Sie entschieden sich dafür, das Dorf nach einer kurzen Inspektion für einen Spaziergang zu verlassen. Der Wald schien mehr Optionen für Motive zu bieten und ermöglichte es den jungen Männern, ihre Pokémon etwas leichteren Gewissens ihr Unwesen treiben zu lassen. Der Road Trip war zwar angenehm und Gladio hatte schon lange nicht mehr so viel Zeit dafür gehabt, mit seinen Freunden Gespräche zu führen, die über das hektische Unileben hinausging. Was allerdings die traurige Wahrheit war, war dass ihre Pokémon-Begleiter viel zu wenig Bewegung erhielten, trotz der regelmäßigen Pinkel- und Fotografierpausen. Dass sie hier nun endlich wirklich Auslauf erhielten war gut und wichtig.   Tali schien sich in der Abgeschiedenheit des Waldes gut zu fühlen, Sun hingegen ertappte Gladio regelmäßig dabei, wie er Mount Lanakila, nun kaum mehr als eine dunkle Silhouette am Horizont, schuldbewusste Blicke zuwarf. „Hey Sun.“ Der Champion zuckte zusammen, als Gladio ihn sanft in den Oberarm boxte. „Du hast Urlaub. Lass die Liga dort, wo sie hingehört.“ „Kahili hat eben angerufen, hatte ich erwähnt, ne?“ Tali nickte und ließ sich etwas zurückfallen, damit auch er etwas am Gespräch teilhaben konnte. „Das hat mich halt daran erinnert, wie wenig ich das letzte Jahr über im Liga-Gebäude war.“ „Du hast studiert.“ Gladio schnaubte. „Die Liga verlangt ja hoffentlich nicht, dass Kinder, die das Turnier gewinnen, ihnen ihr gesamtes Leben verschreiben.“ „Genau!“ Tali nickte und legte Sun kameradschaftlich einen Arm um die Schultern. „Du hast High School und regelmäßige Herausforderer geschaukelt. Du hast dir eine Pause verdient.“ Der Champion seufzte und lehnte sich in die Berührung. „Danke, Leute. Ich muss vor Semesterbeginn wieder kurz hoch. Ich spiele mit dem Gedanken, den Champion-Titel endgültig abzugeben.“   Diese Ankündigung kam überraschend, sowohl für Gladio, der sie nur mit angehobenen Augenbrauen quittierte, als auch für Tali, der ein lautes „Waaas?!“ von sich gab. „LeBelle und Anabel haben 'ne Mail geschrieben. Deshalb hab ich vorhin auch den Anruf gekriegt. Ich hab die Chance auf ein Stipendium für mein Kriminalpsychologie-Studium von InterPol, vorausgesetzt dass ich nächstes Jahr ein Praktikum bei ihnen absolviere.“ Für einen Augenblick waren Suns Freunde still. Silvarro gab in der Ferne ein glückliches Kreischen von sich und schoss im schwindenden Licht wie ein dunkler Pfeil über die Baumwipfel des Waldes hinweg. „Du kriegst 'ne Stelle bei InterPol?“, krähte Tali dann begeistert. „Wieso sagst du uns das erst jetzt?“ „Ich weiss das doch auch erst seit heute, du Nuss!“ Sun lachte peinlich berührt und Gladio fühlte, wie seine Brust vor Stolz anschwoll. Er kannte die InterPol-Agenten, die damit beauftragt worden waren, Alola vor zehn Jahren vor den Ultrabestien zu beschützen etwas. Damals hatte er Pia bei ihren Forschungen aushelfen dürfen. Sun hingegen hatte eng mit ihnen zusammengearbeitet und es war verständlich, dass Anabel danach in Kontakt mit ihm geblieben war. Sun war auch bereits mit elf Jahren kompetent gewesen und hatte auch danach regelmäßig bei Ermittlungen mitgewirkt. So gesehen sollte ihn die Karrierewahl seines Freundes gar nicht groß überraschen. „Also wechselst du Studienfach?“ Gladio schob seine Hände in seine Jackentaschen, um sie vor der zunehmend kühler werdenden Luft zu verstecken. „Denke schon. Ich würde das Praktikum gerne machen.“ „Nur, Champion zu sein wird dann natürlich nicht gehen“, vervollständigte Tali den Gedanken. Sun nickte.   Es war seltsam, darüber nachzudenken, was sie mit ihrem Leben anstellen wollten. Für Gladio war irgendwie immer klar gewesen, dass er das, was seine Mutter mit ihrer Gier zerstört hatte, wiederherstellen wollte: der wahre Zweck der Aether-Stiftung. Eine Organisation, die wirklich darum bemüht war, den Pokémon von Alola zu helfen. Viele der endemischen Arten waren aufgrund von zahlreichen Faktoren bereits bedroht und Gladio wusste, dass er und das Vermögen, das ihm und Lillie hinterlassen worden war, der Schlüssel dazu sein könnte, eine komplette Ausrottung zu verhindern. Tali hingegen hatte immer davon geträumt, Kahuna zu werden. Sein Fotografiestudium wurde von Professor Kukui finanziert, der ihn dazu ermutigt hatte, vor dem Antritt seiner Position auch etwas zu machen, das rein gar nichts mit Pokémon-Kämpfen zu tun hatte. Und Fotografie machte ihm Spaß, das wussten alle, die sich regelmäßig um Tali aufhielten (sonst wäre dieser ganze Trip wahrscheinlich nie zu dieser Schnitzeljagd nach dem Unsichtbaren mutiert, auf der sie sich befanden), aber letzten Endes war klar, was die Endstation war. Sun hatte diese Gewissheit nie wirklich gehabt. Ihm war der Titel des ersten Champions von Alola im Alter von elf Jahren zugefallen und Gladio wusste, dass er lange gedacht hatte, dass dies einfach bedeutete, dass für ihn entschieden worden war, was er aus seinem Leben machen sollte. Nun die Wahl zu haben machte Sun sichtlich glücklich, aber auch nervös. Es war ein Gefühl, dass seine beiden Freunde nur zu einem Teil nachvollziehen konnten, aber ihm gerne gönnten. Jeder sollte das tun können, was sein Herz glücklich machte. Gladio wiederholte den Gedanken laut und der Blick. den Sun ihm dafür schenkte war herzzerreißend; dankbar und gerührt. „Jetzt schau mich mal nicht an, als sei ich Arceus höchstpersönlich“, schnaubte der Älteste des Trios und vergrub die Hände noch etwas tiefer in den Jackentaschen. „Ich sage dir nur, was dir jeder Mensch sagen wird, dem etwas an deinem Wohlbefinden liegt.“ „Leute, ich unterbreche den rührenden Moment nur ungern… aber wo sind unsere Pokémon?“ Talis Stimme schweifte ab und seine Freunde kamen zum Halt und sahen sich um.   Sie waren auf der Hauptstraße Richtung Po'u, doch der Wald um sie herum war finster und totenstill geworden. Ho'omana'o war lediglich ein fernes Leuchten hinter ihnen und sie waren komplett alleine. „Hey, Amigento? “ „Oyyyyy, Raichu! Silvarro! “ „Wolwerock! Bei Fuß!“ Die Rufe der Jungs wurden von der Dunkelheit verschluckt. Tali schluckte beunruhigt. „Sollten die keine Lampen hier draußen haben? Das hier ist doch theoretisch 'ne staatliche Straße!“, beschwerte sich Gladio. Ein Schaudern lief ihm den Rücken hinunter. Die absolute Stille, die aus dem Wald kam, war beunruhigend, unnatürlich. Talis Finger umklammerten den Riemen seiner Kameratasche und Sun kaute nervös auf seiner Unterlippe herum. „Hallo? Wo seid ihr?“   Dann kam der erste Ruf; leise aber hell und klar. Gladio zuckte zusammen und positionierte sich automatisch zwischen Sun und Tali, möglichst weit weg vom Wald, der die Straße von beiden Seiten her umgab. „Au Backe, Jungs. Das ist Leilani“, murmelte Tali finster. „Schwachsinn! Das war bloss 'ne alte Gruselgeschichte um uns ein bisschen Eins auszuwischen, Tali. Glaub nicht immer alles, was man dir erzählt!“, zeterte Gladio. Ein weiterer Ruf, dieses Mal näher, begleitet von Flügelschlägen. „Bestimmt nur ein Pokémon im Wald“, versuchte er weiter sein wild schlagendes Herz zu beruhigen. Die Stille im Wald ging nicht damit einher, aber das war egal. Wissenschaft. Empirische Fakten. Beweise. Das hier war kein Horrorstreifen. Sie würden sicher nicht mitten im Wald auf einer verlassenen Straße sterben, weil sie von einem trauernden Geist heimgesucht worden waren.   Der nächste Ruf war beinahe schrill, bedrohlich und wurde von lautem Rascheln begleitet. Gladios Handflächen wurden zunehmend feucht, egal wie oft er sie sich an seinen Hosen trocken rieb. „Wir bewegen uns jetzt ganz langsam“, flüsterte Sun. „Zurück, in Richtung Dorf. Gaaaanz langsam.“ Gladio spürte, wie er eine seiner Hände in die eigene nahm und griff automatisch nach Talis, um ihn mit sich zu ziehen. Sie schafften es vielleicht zehn, fünfzehn Meter weit, bevor es laut hinter ihnen flatterte und ein schriller Ruf die Nacht durchbrach. Ob jetzt Tali, Sun oder Gladio schrie oder alle gemeinsam, das wusste letzterer gar nicht mehr, als sie die Beine in die Hand nahmen und liefen.   Das Schrecklichste an der Sache? Sie fanden ihre Pokémon im kleinen Spielplatz neben dem Diner, an dem sie sie zuvor herausgelassen hatten. „Ihr Quatschköpfe seid am Ende hierher zurück? Ohne uns was zu sagen?!“, schalt Tali. Die Strenge seiner Stimme wurde etwas dadurch zunichtegemacht, dass er sein Silvarro erleichtert umarmte. Das Pokémon gurrte, als sei es sich keiner Schuld bewusst. Gladio atmete tief durch und war froh, denn Amigento trat näher und ließ sich streicheln. Wenigstens hatte keines ihrer Pokémon gesehen, wie sie sich wie verängstigte Kleinkinder im Wald zum Affen gemacht hatten. Sun schüttelte sein Gengar liebevoll. „Man sagt was, bevor man einfach verschwindet!“ Das Geist-Pokémon kicherte und hob eine Hand, um seinem Trainer durch das verschwitzte Haar zu wuscheln. Als über ihren Köpfen etwas flatterte, zuckten alle drei Jungs synchron zusammen. „He Kinners.“ Tali sah beunruhigt zu seinen Freunden. „Was sagt ihr dazu, wenn wir für heute Schluss machen und schlafen gehen?“   Die Rezeption war leer als Tali, Gladio und Sun das Pokémon Center wieder betraten. Vielleicht war das auch besser so. Wer wusste schon, was die Rezeptionistin sonst noch für Schauergeschichten über Ho'omana'o kannte.       — — · — —       Sie quetschten sich in jener Nacht zu dritt auf das Doppelbett. Eigentlich wäre das Zimmer, das sie erhalten hatten, auch mit einem Sofa ausgestattet, aber nach dem Spaziergang mochte keiner der drei alleine am anderen Ende des Raumes schlafen. Gladio fühlte sich zwischen Tali, der permanent Wärme auszustrahlen schien und Sun, der im Schlaf die Angewohnheit hatte, alles was nicht niet- und nagelfest war in den Arm zu nehmen, etwas eingeengt aber es war beruhigend, auch wenn er das nie offen zugegeben hätte. Vielleicht war er aber deshalb der Erste, der wach wurde, als mitten in der Nacht die Musik anging. Sie war leise und im ersten Augenblick ging er davon aus, dass ihre Zimmernachbarn etwas rücksichtslos waren und Talis Geschmack für Musik teilten. Als die Ukulelenklänge jedoch langsam zu wandern begannen, schnürte sich Gladio vor Nervosität die Kehle zu. Seine Finger krallten sich in Suns Arm, der sich unvermeidlich um seine Taille gelegt hatte. Das muntere „Oh, Hau'oli, how do you do?“ klang bereits deutlich näher als das Intro und „oh, Hau'oli, glad to see you“ schien direkt neben dem Bett zu wabern, seltsam bedrohlich für ein harmloses Lied mit schrecklichem Text.   „Sun. Tali.“ Gladios Stimme kam als Krächzen heraus und er rüttelte erst an der einen, dann der anderen Schulter, um seine Freunde zu wecken. Tali reagierte zuerst, sein schlaftrunkenes Murmeln schlagartig verstummend, als auch er die im Zimmer herumgeisternde Musik hörte. „Was ist das?“, flüsterte er beunruhigt. „Keine Ahnung“, zischte Gladio zurück und schüttelte Sun erneut. „Was? Wie? Ich bin wach! Jawohl! Hellwach!“ Statt wie Tali (oder jeden normalen Menschen, den Gladio kannte) einfach die Augen zu öffnen, saß Sun erst ruckartig auf. Die Musik verstummte schlagartig. Tali sah unglücklich verängstigt aus und rutschte näher zu seinen Freunden. „Da war Musik. Bei uns im Zimmer.“ „Hä?“ Sun rieb sich die Augen und sah sich blinzelnd in der Dunkelheit um, doch im schwachen Lampenlicht, das von der Straße ins Zimmer schien, war es schwierig, viel zu erkennen. „Du hast es kaputtgemacht!“, beschwerte sich Gladio barsch und griff nach dem Champion, damit der sich wieder hinlegte, als ob das einen mörderischen Geist mit miesem Musikgeschmack davon abhalten würde, sie im Schlaf zu meucheln. „Gar nichts hab’ ich…“, gab Sun missmutig zurück, leistete der unausgesprochenen Bitte aber Folge. Für einen Augenblick lauschten sie bloß. Draussen im Wald zirpten Grillen, aber davon abgesehen blieb es ruhig. „Ihr seid paranoid. Das ist-“ „I like your mountains, honest, I do, that's why you see me smiling at you… “ Die Ukulele setzte aus dem Nichts wieder ein und Gladio ächzte, als sein Brustkorb schlagartig unter der Kraft von Suns panischer Umarmung zerdrückt wurde.   „Was ist das?!“ Bei der gewöhnlichen Ausdruckslosigkeit, die Sun an den Tag legte, wäre sein angsterfülltes Flüstern eigentlich ganz lustig gewesen, wären Tali und Gladio beide nicht auch einem Herzinfarkt nahe. „Ein Geist der auf Sol K. Bright's Hollylolans steht?“, schlug Gladio gequält vor. „Shhhh!“ Tali wimmerte und verbarg das Gesicht im Haar des Blonden, scheinbar im Irrglauben, dass die Musik verschwinden würde, wenn er nichts sah. Sun brauchte drei Anläufe, um die Nachttischlampe anzuzünden. In der Zeit waren die Hollylolans von ihrem Bett zum Bad spaziert und trugen ihren Song dort weiter vor. Das Licht ließ sie wieder verstummen. „Wir gehen jetzt nachgucken“, beschloss Sun mit zittriger Stimme. „Alle drei. Vielleicht haben die hier ein Problem mit vorwitzigen Geist-Pokémon oder so.“ Und so eierten drei (nur ganz knapp) erwachsene Männer Hand in Hand durch ihr Hotelzimmer, die Schatten der Möbel im Blick als ob sich der Teufel persönlich in ihnen verstecken würde. Der Teufel war's nicht – nur Talis Handy das mit offener MeTube-App auf dem Badezimmerboden lag und ein pausiertes Musikvideo anzeigte. Alle drei Jungs stellten erst ihre Mobiltelefone komplett aus, bevor wieder an Schlaf gedacht werden konnte.       — — · — —       Tali beschloss, dass es vielleicht doch einfacher wäre, an einem Ort nach Fremden Ufern zu suchen der nicht Ula-Ula war. Am nächsten Morgen regnete es wie aus Eimern und nach einem müden, angespannten Frühstück mit viel Kaffee und wenig sonst widmeten sich er, Sun und Gladio dem Packen. Eine Woche früher zurück als geplant hin oder her, keiner der drei wollte länger auf der Insel bleiben, als absolut notwendig.   Heute begrüßte sie eine junge Frau an der Rezeption. Ihr Namensschildchen wies sie als Konani aus. Sie wirkte viel zu munter für die Tageszeit und sah die drei Reisenden unerwartet erstaunt an, als sie sich für das Check-Out meldeten. „Guten Morgen, die Herren! Ich hab’ euch gar nicht ankommen sehen! Wann war das denn?“ „Äh, gestern! Um…“ Tali wandte sich etwas hilfesuchend zu seinen Freunden. „Fünf, sechs Uhr abends?“, schlug Sun vor. „Echt? Da war ich eigentlich im Büro. Wer hat denn euer Check-In gemacht?“ Die Rezeptionistin überprüfte die Informationen in der Datenbank, aber scheinbar stimmten die alle. „Die ältere Dame vom Familienfoto dort drüben.“ Tali deutete ans andere Ende des Foyers, wo eine Aufnahme der beiden Hotelbesitzer mit Tochter und, wie sie am Vorabend angenommen hatten, der Großmutter hing. „Furchtbar freundlich, hat uns auch einige Geschichten von hier erzählt.“ „Das kann nicht sein. Oma ist vor drei Monaten verstorben.“ Talis Schultern verspannten sich auf einen Schlag und sogar Gladio, der trotz all der seltsamen Vorkommnisse der letzten Tage strikt daran festhielt, dass es eine wissenschaftliche Erklärung für alles geben musstem fühlte, wie ihm flau im Magen wurde. „A-ach wirklich?“ Suns Stimme war drei Töne nach oben gerutscht und klang hörbar angespannt. „Also, manchmal hilft eine ältere Dame aus dem Dorf hier aus, aber das ist Waiola. Die sieht Oma nicht besonders ähnlich und eigentlich müsste ich auch davon wissen.“ „V-vielleicht haben wir uns einfach verguckt! Jawohl! Das wird wohl Waiola gewesen sein, oder, amigos? Waiola war's, genau!“ Tali lachte etwas zu laut und zu angespannt, aber wenn die Rezeptionistin die drei Reisenden für wahnsinnig hielt, dann änderte das nichts an ihrer Professionalität. Die Frau war entweder Absurditäten gewohnt oder eine gute Schauspielerin. Potenziell beides, beschloss Gladio für sich. „Naja, das Wichtigste ist ja, dass alles geklappt hat! Wie war euer Aufenthalt?“ Gladio und Sun traten Tali auf den Fuß, bevor der etwas wie „bei euch spukt es, ihr solltet mal einen Geist-Pokémonexperten kommen lassen!“ zum Besten geben konnte. Sicher war sicher.       — — · — —       Scheinbar war es ein Trend unter den Kunst- und Designstudenten der Kapu-Riki University, die Auswertung ihrer Arbeiten nicht tagsüber, sondern mitten in der Nacht vorzunehmen. Gladio hatte keine Entschuldigung dafür, wieso er selbst noch wach war, aber Tali bat ihn auch nicht um eine Rechtfertigung, also sollte es ihm egal sein. Wenigstens war Suns klare Absenz in der Unterhaltung schnell genug Grund gewesen, eine konkrete Krisensitzung auf den nächsten Tag zu verlegen.     [Tali schrieb um 03:14:39 Uhr]: „!!!!!!!!!!!“ [Tali schrieb um 03:14:45 Uhr]: „ICH BIN SCHOCKIERT“ [Gladio schrieb um 03:15:02 Uhr]: „Du glaubst nicht wirklich, dass du  um diese Uhrzeit noch kryptisch tun musst, oder?“ [Tali schrieb um 03:15:06 Uhr]: „ICH WEISS“ [Tali schrieb um 03:15:08 Uhr]: „WIESO DER TRIP“ [Tali schrieb um 03:15:11 Uhr]: „SO CREEPY WAR.“ [Tali schrieb um 03:15:14 Uhr]: „!!!!!!!!!!“ [Tali schrieb um 03:15:18 Uhr]: „ERZÄHLE MEHR WENN SUN DA IST“ [Tali schrieb um 03:15:22 Uhr]: „ABER ICH WEISS ES JETZT!!!!!!“ [Tali schrieb um 03:18:49 Uhr]: „MORGEN BEI MIR, JA? JA!“     Gladio wurde von Tali, Sun, einem Tisch mit drei Cocktails und einem Laptop mit bereits offenem, laufenden Adobo Lightbroom begrüßt. „Ist es nicht noch zu früh für Alkohol?“, fragte der letzte im Bunde, während er seine Schuhe auszog. Tali winkte ab und bedeutete Gladio, sich zu setzen. „Glaube mir, du wirst den Alk wollen. Ich hab’ auch extra wenig davon reingetan. Muss nachher noch raus, meine Arbeit neu knipsen.“ Die Augenbrauen hochgezogen ließ sich der Blonde neben Sun nieder, der bereits ungeduldig auf den Laptop starrte.   „Also. Die Herren.“ Tali räusperte sich. „Wie viel seid ihr euch über die Fähigkeiten eurer Pokémon bewusst?“ Gladio schnaubte ungeduldig. „Auf was willst du hinaus?“ Tali drückte mit einer ausladenden Geste auf den Pfeil nach rechts. Das erste Foto vom Trip, eine Aufnahme vom Morgen auf der Fähre nach Ula-Ula wurde von einem Bild ersetzt, klar in der Nacht aufgenommen. Es war wacklig und lichtete Silvarro, Amigento und ein halbes Ohr eines Mimigma ab. „Ich frage so dumm, weil ich die Befürchtung habe, dass unsere untoten Begleiter beschlossen haben, deinem Amigento Nachhilfe in Spuk zu erteilen.“ Sun schob Talis Hand zur Seite und begann, die Fotos durchzuschauen, eines nach dem anderen. Zwischen den klar mit Absicht aufgenommenen Bildern die von Tali stammten waren in unregelmäßigen Abständen welche dabei, die wahrscheinlich von Gengar gemacht worden waren. Silvarro in einem Gebüsch. Ein unscharfes Selfie von Gengar, mehr Maul als sonst was. Mimigma in einer Badewanne. Amigento auf dem Dach ihres Autos. Eines von der letzten Nacht in Ho'omana'o, Tali, Gladio und Sun in einem Knäuel von Gliedmaßen.   „Scheinbar hat da wer auch Fotografenambitionen“, seufzte Sun, bevor er zu Tali sah. „Immerhin. Du wolltest Fotos von einem Ort, an dem es spukt, ne?“ Tali lachte und schob seinen Freunden je einen Cocktail zu, bevor er nach seinem eigenen griff und ihn in einem Zug zur Hälfte austrank. „Ich sag doch, Alkohol. Sonst ist das so absurd, dass man gar nicht darüber lachen kann.“ Er grinste und lehnte sich etwas zurück, während Gladio und Sun es ihm gleichtaten. „Schon doof. Warum hab’ ich nicht gleich daran gedacht, die wahren Experten um Hilfe zu bitten?“ Gladio knurrte und senkte das Glas geräuschvoll zurück auf den Tisch. „Oh, die Experten haben jetzt einiges zu erklären, das kann ich dir versichern.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)