Breathless von Ryuuko ================================================================================ Kapitel 1: ----------- “Yo, Haru. Wir gehen. Beeil dich und mach dich fertig.“ „Gehen? Wohin?“ „Ist das nicht offensichtlich? Natürlich unseren Sieg feiern!“ Wenige Stunden später waren Rins Worte genau so verschwommen wie die Pflastersteine zu Harukas Füßen. Er versuchte, seinen Blick zu fokussieren, um gegen den Schwindel anzugehen, doch vergebens: Die einzelnen Steine gingen ineinander über, manchmal drei, vier auf einmal, tanzten im Kreis, schienen alles zu tun, um sich von ihm fernzuhalten und ihn glauben zu machen, jeder nächste Schritt würde in Leere versinken. Rin stieß einen hörbaren Seufzer aus. „Du hättest sagen können, dass du nichts abkannst.“ Der vorwurfsvolle Unterton entging Haruka nicht, und er meinte, daneben für den Bruchteil einer Sekunde noch so etwas wie Mitleid auszumachen. Nicht, dass ihm Mitleid jetzt noch etwas nützte. Immerhin war Haruka es, der sich von Rin aus der Hotel-Bar nach draußen hat schleifen lassen, weil dieser offensichtlich besser als er selbst wusste, wie viel gut für ihn war - und dass er diese Grenze längst überschritten hatte. Es brauchte einen Augenblick, ehe sich ihm zu den Wörtern auch der dazugehörige Sinn erschloss. Anfangs bemühte er sich, die umherschwirrenden Wörter in seinem Kopf zu einer Antwort zu sortieren, musste jedoch schnell kapitulieren und hüllte sich stattdessen in Schweigen. Seinen Kopf hielt er gesenkt; sosehr dieser Spaziergang einem Balanceakt auf einem Teppich glich, der ihm unter den Füßen weggezogen wurde, so konnte er sich nicht dazu durchringen, Rin ins Gesicht zu schauen. „Lass den Kopf nicht so hängen.“, sagte Rin und drückte den in seinem Arm hängenden Haruka an sich. „Das haben wir alle schon mal mitmachen müssen.“ Diesmal war seine Aussage gefärbt von Schadenfreude. Als vermeintlich aufmunternde Geste tätschelte er Harukas Hand, die sich seit Beginn ihres Spaziergangs an Rins Hüfte festklammerte. „Halt die Klappe“, nuschelte Haruka prompt. Seine eigene Stimme fühlte sich seltsam fremd an in seinen Ohren. Dass andere das gleiche hinter sich hatten, war ihm keine große Hilfe. Mal abgesehen davon, wie schaffte Rin es, noch so klar bei Verstand zu sein? Sie hatten die gleiche Menge getrunken - natürlich wusste Haruka nicht mehr, wie viel, geschweige denn was sie alles in sich hineingekippt hatten, bloß, dass er sich bemüht hatte, Schritt mit Rin zu halten -, trotzdem wirkte Rin nicht großartig anders als sonst. Oder Haruka war einfach so fertig, dass ihm sein Verstand vorgaukelte, sein Freund wäre tatsächlich imstande, sich selbst noch um jemanden zu kümmern. „Du hast mich doch überhaupt erst dazu überredet ...“, fügte er noch hinzu, den Blick auf seine Füße richtend. Links. Rechts. Links. Rechts. Wenn seine Beine sich bloß nicht so anfühlen würden, als bestünden sie aus Streichhölzern. "O-oi! Niemand hat sich gezwungen, also hör auf, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben!", verteidigte Rin sich lautstark. Dennoch plagte ihn das schlechte Gewissen, wenn er sich Haruka so anschaute. Dieser schwieg. Rin wusste, dass er besser auf den Älteren hätte aufpassen müssen. Auch, wenn sie das Hotel letzten Endes nicht verlassen hatten, befanden sie sich in einem fremden Land, noch dazu in einem, dessen Sprache sie nicht beherrschten. Da war es fast schon als Glücksfall zu betrachten, dass Haruka zu denjenigen gehörte, die mit steigendem Pegel immer stiller - noch stiller als üblich - wurden, anstatt sich womöglich auf eigene Faust auf Erkundungstour zu begeben. Wer weiß, wo man ihn wieder aufgelesen hätte. Natürlich würde Rin niemals zugeben, dass er sich verantwortlich fühlte. Das Mindeste, was er zur Beruhigung seines Gewissens tun konnte, war, auf Haruka aufzupassen. Zumindest soweit er konnte. Der Fußweg erstreckte sich schier endlos. Arm in Arm folgten sie dem fein-säuberlich gepflasterten Weg. In der von hohen Gebäuden gesäumten Straße hallte der Lärm der vorbeifahrenden Autos wider. In der Ferne heulte eine Sirene. Dafür, dass es nach Mitternacht war, war es ungewöhnlich laut; es unterstrich das Schweigen zwischen den beiden Männern unangenehm. Wie lange sie wohl schon unterwegs waren? Das Hotelgebäude war ein riesiger Komplex, und drum herum sah alles irgendwie gleich aus, nichts hätte einen möglichen Orientierungspunkt bieten können. Der Rausch tat sein Übriges, jegliches Zeitgefühl zu beseitigen. Plötzlich blieb Haruka stehen und hob seinen Kopf. „Was ist los, Haru?“, wollte Rin wissen, als er es ihm gleichtat. Harukas Augen begannen zu glänzen. „Es regnet“, wisperte er fast schon ehrfürchtig. Rin schaute ebenfalls auf. Tatsächlich. In Gedanken versunken - oder vielmehr bemüht darum, sein Gesicht zu wahren und sich sein eigenes Torkeln nicht anmerken zu lassen - hatte er nicht mitbekommen, wann die Tropfen begonnen hatten, zu Unzähligen auf den Asphalt zu klatschen und das Echo der Umgebung zu schlucken. Der Blick Rins richtete sich auf Haruka, dessen Miene zwar so ausdruckslos war, wie man es von ihm kannte, dafür aber mit einem nicht zu übersehenden Funkeln in seinen Augen. Wenn man ihn so beobachtete, konnte man glatt neidisch werden. Auf den Regen. Genüsslich schloss Haruka seine Augen und reckte seinen Hals dem Wolkenbruch entgegen, begierig darauf, sein Gesicht von den kühlen Wassertropfen liebkosen zu lassen. Dieser Typ änderte sich wohl nie. „Also gut, lass uns weitergehen“, sagte Rin und machte einen Schritt - um feststellen zu müssen, dass da jemand andere Pläne hatte. „Nein.“ „...Ha?“ „Ich bleibe hier.“ Dieser Typ änderte sich wirklich nie! „Was soll das heißen, du bleibst hier?!“ Während er sprach, war Haruka bereits dabei, sich aus der halben Umarmung - oder was auch immer diese seltsame Position war, in der sie sich die letzte Zeit gemeinsam fortbewegt hatten - zu befreien. „Nichts da!“, bestimmte Rin und zerrte seinen Freund ohne Rücksicht auf Verluste hinter sich her. „Ich habe gesagt, ich bleibe hier!“, entgegnete dieser aufgebracht, doch absolut überzeugt. „Und ich hab' gesagt, du kommst mit! Ich hab' keinen Bock, meine Trainingspause mit einer Erkältung im Bett zu verbringen wegen dir!“ „Dann geh eben alleine!“ „Ich lass' dich doch nicht hier allein zurück!“ „Ich komme schon allein zurecht!“ Allmählich war Rins Geduldsfaden auf ein kritisches Maß ausgedünnt; was sich nicht zuletzt bemerkbar machte an einer bedrohlich zuckenden Augenbraue. Er war kurz davor, Haruka wirklich stehen zu lassen. Auf jeden Fall bereute er, diesen mit nach draußen genommen zu haben. Nächstes mal würde Rin ihn zum Ausnüchtern irgendwo einsperren, eine Besenkammer, oder so, mit einem Planschbecken. Entnervt fuhr er sich durch die Haare. "Haru... Du bist ganz schön anstrengend, wenn du besoffen bist." Dieser zeigte sich unbeeindruckt. "Guck dich doch an." Das vereinzelte Zucken der Augenbraue ging über in eine durchgehende Bewegung. Bis gerade eben war Harukas Verhalten noch als kindisch durchgegangen.. Bis gerade eben. Jetzt aber ... Jetzt war er nicht mehr kindisch, sondern einfach scheiße! Gut, als Kind war er teilweise auch unnahbar und echt seltsam gewesen, aber gerade jetzt in diesem Moment wie sie hier standen war er einfach nur noch scheiße. Es reichte Rin. „Dann mach doch, was du willst! Leck mich!“, verkündete er und stapfte davon. „...Rin.” Hör nicht hin. Spar dir die Kopfschmerzen., dachte er sich, die Augenbrauen zusammenziehend. „Die andere Richtung.” Nicht darauf eingehen! „Rin. Die andere Richtung.” Die Zähne zusammenbeißend ging er weiter. „Die ande-” „Was, 'die andere Richtung'?!” Verdammt, nun hatte er sich doch umgedreht. So viel zum Thema Selbstbeherrschung. „Aus der Richtung kommen wir gerade.”, wies Haruka ihn hin. „Eh?” Rin ließ seinen Blick schweifen, um prompt seinen Fehler festzustellen und mit einem nicht ganz so eleganten Schwung seines Beins auf dem Absatz kehrtzumachen. „...In die Richtung wollte ich auch gar nicht gehen!”, stellte er klar. Ein reichlich unbegeistertes Blinzeln. „Ach so.” Mit gerümpfter Nase zog Rin an Haruka vorbei, diesmal in besagte andere Richtung. Einfach so tun, als wäre nichts gewesen, und geradeaus schauen. Sollte der doch bleiben, wo der Pfeffer wuchs; er würde schon noch sehen, was er davon hat! Und außerdem ... Moment, irgendwas stimmte hier nicht. Ein Schritt. Noch ein Schritt. Warum rückte alles nach rechts mit jedem Schritt? Geradeaus, hatte ich gesagt! Okay, das gleichen wir schon wieder aus, kein Problem. Verlagern wir unser Gewicht einfach ein bisschen. So, jetzt nach rechts. Genau, rechts. Nein, rechts. Das andere Rechts! Ein wenig besorgt beobachtete Haruka das Treiben vor sich. Dafür, dass Rin bis eben noch den stoischen Aufpasser gemimt hatte, wirkte er gegenwärtig irgendwie ziemlich verloren, wenn man ihn sich so anschaute: Wie er beim Gehen stockte, als wäre der Hebel rostig, der ihn in Bewegung setzen soll; mal ganz davon zu schweigen, dass er sich so seltsam nach links lehnte und dadurch unweigerlich nur imstande zu sein schien, eine Kurve zu laufen. Oh, er ist stehengeblieben. Was macht der beschissene Bordstein hier?! Ohne einen Kommentar sah Haruka zu, wie Rin aufgebracht auf den Bordstein eintrat. Verzweiflung machte sich breit. Verzweiflung, die vor allem Rin zu spüren bekam. Elender Bordstein, stellte sich ihm dreist in den Weg. Er würde schon noch wissen, was er davon hat! Ein paar Tritte hier und da, und sowieso... und sowieso war der Drink, den Rin kurz bevor sie losgegangen waren noch auf ex gekippt hatte, wohl zu viel gewesen - oder eher einer von den zu vielen, wie ihm sein Unterbewusstsein vermittelte, denn jetzt machte sich die Wirkung mehr als deutlich bemerkbar. Was natürlich äußerst zu Rins Missfallen war. Dafür musste der Bordstein noch mal herhalten. Schon besser. „Rin.“ „Was?!“, bestellte der Angesprochene und musste in ein ausdrucksloses Gesicht gucken. Er verfluchte Haruka so sehr. Noch gerade eben schien dieser mehr tot als lebendig gewesen zu sein - obwohl man sich bei ihm manchmal nicht sicher sein konnte, ob er innerlich nicht bereits abgetreten war -, doch kaum hatte es angefangen zu regnen, war er wie neugeboren, als hätte der Regen ihn nüchterngespült. Gut, bei Haruka war das gar nicht mal so unwahrscheinlich. So, wie er auf Wasser abging, haben seine Eltern irgendwann einen Pakt mit einem Wassergott oder ähnlichem eingehen müssen, bei dem sie die Seele ihres Erstgeborenen geopfert haben. Anders war dieser Freak nicht zu erklären mit seiner Versessenheit auf Wasser, der sich ohne zu zögern die Kleider vom Leib riss, sobald sich jedwede Möglichkeit ergab, unterzutauchen. Man konnte glatt eifersüchtig werden. Darauf, wie seine Augen anfingen zu glitzern wie die Oberfläche des Meeres, an deren Wellen sich das Sonnenlicht brach, was das tiefe, unerwartet warme Blau noch hinreißender machte, als es ohnehin schon war, während man selbst hilflos danebenstand, zermürbt von der Gewissheit, dass er diese Augen nur für das Wasser hatte. Zum Kotzen. Ein Swimmingpool müsste man sein. „Was willst du? Glotz nicht so blöd!“, warf Rin hinterher, als ihm eine Antwort nicht schnell genug kam. „...Rin,“ Harukas Stimme klang beinahe zärtlich. „Nicht weinen.“ „Hä?“ „Alles ist okay.“ „Ich heul' gar nicht!“ „Ich sehe es doch.“ „'nen Scheiß siehst du!“ „Dein Gesicht ist ganz nass.“ „Es regnet ja auch!“ Dennoch fasste Rin sich aus Reflex an die Wange, um sicherzugehen. „Du musst nicht eifersüchtig sein.“ Es war fraglich, ob Haruka überhaupt zuhörte, was ihm gesagt wurde, denn Rin schaffte es lediglich, ein verwirrtes „Eh?“ einzuwerfen, ehe der Schwarzhaarige einfach weitersprach. „Ich habe dich mindestens genau so gern wie den Regen.“ Einige Augenblicke verstrichen, während Rin verarbeitete, was er da soeben gehört hatte. Dann Schweigen, das sie einhüllte, gemeinsam mit dem Klatschen der Regentropfen auf den Asphalt. Rin biss sich auf die Unterlippe. „Lügner.“ „Ich lüge nicht!“ „Trotzdem entscheidest du dich für ihn und nicht für mich!“ Haruka zog die Luft scharf ein. Er wusste, dass Rin recht hatte. Das schlechte Gewissen ergriff ihn, er schaute zu Boden. „Tue ich nicht ...“, sagte er leise und beobachtete die Regentropfen dabei, wie sie auf den Boden auftrafen und zerbarsten, sofern sie nicht das Glück hatten, sich mit einer der kleinen Pfützen, die sich in der Zwischenzeit gebildet hatten, zu vereinen. Obwohl Haruka den Augenkontakt mied, spürte er Rins abwartenden Blick auf sich. „Wenn du es ernst meinst, komm her.“, hörte er ihn verlangen. Unsicher hob Haruka seinen Kopf, den Blick seines Gegenübers suchend. Dieses stand immer noch halb abgewandt da, signalisierend, dass es jederzeit bereit war, auch alleine zu gehen, was im Widerspruch zu seinem Gesichtsausdruck stand: die Lippen zusammengepresst, die Wangen angespannt. Haruka hob langsam seine Arme und ging auf Rin zu, den er so sehr zu beschwichtigen begehrte. Ihn so zu sehen tat ihm selber weh, selbst wenn er es nicht so ausdrücken konnte, wie er es am liebsten getan hätte. Mit nach Rin ausgestreckten Armen machte Haruka weitere Schritte auf ihn zu, wobei ihm jeder dieser große Mühe bereitete. Der Regen hatte ihn vergessen lassen, dafür spürte er den Schwindelreiz jetzt, da er auf eigenen Beinen stand und niemanden an seiner Seite hatte, umso stärker. Tapfer kämpfte er an gegen die unsichtbaren Kräfte, die von allen Seiten an ihm zerrten. Ein Stück. Nur noch ein kleines Stück. Währenddessen stand Rin da und sah mit einem Blick über die Schulter zu, wie Haruka unbeholfen, die Arme ausgedehnt, von einem Bein auf das andere tippelte, mit schaukelndem Oberkörper, und Zielstrebigkeit, die sich in seinen Augen widerspiegelte. Und ohne sich auch nur einen Zentimeter vom Fleck zu bewegen. Wie gut, dass die Nacht noch jung war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)