Not Like This von Umi (Sequel zum Film) ================================================================================ Kapitel 1: Back ---------------     Um ehrlich zu sein: er hatte nie erwartet, wieder zurück zu kehren.     Doch Yugi... nein, Atemu hatte ihn zurück geschickt. Am Höhepunkt ihres Duells.   Er hatte gesehen, wie seine Bewegungen langsam aber sicher immer fahriger wurden, gehört, wie seine Lippen und seine Zunge ihm zunehmend den Dienst verweigerten und vielleicht auch gespürt, wie seine Seele - dieses störrische und unerwartet weltliche, nicht greifbare Etwas, das ihn ausmachte - Stück für Stück den Halt in seinem Körper verlor. Es hatte das Duellieren nicht leichter gemacht, aber Seto hatte es trotzdem irgendwo genossen zu fühlen, wie diese fleischliche Hülle, zu der er nie ein besonders enges Verhältnis gehabt hatte, sich immer weiter auflöste. Und bei jedem Zug, bei dem Atemu seinen Zustand zu ignorieren schien, weil er genau wie er nichts sehnlicher wollte als dieses Duell, hatte es stärker in Setos Brust gebrannt.   Er hatte sich noch nie so lebendig gefühlt wie in dem Moment, in dem ihm klar wurde, dass er ihr Duell wohl nicht überleben würde.   Und noch nie so orientierungslos wie in dem Moment, in dem Atemu plötzlich seinen Zug abbrach, den Kopf schüttelte, auf ihn zutrat und etwas sagte, dass Seto schon nicht mehr wirklich aufnehmen, geschweige denn verstehen konnten. Atemus Stimme wirkte fest, auch wenn ein bedauernder Unterton in ihr lag. Versprach er ihm, dass sie sich wiedersehen würden? Oder erklärte er ihm nur, warum er nicht sterben durfte? Setos Sicht war zu verschwommen, als dass ihm die Miene des anderen hätte weiterhelfen können, und seine Muskeln bereits zu schwach um wieder mehr Abstand zwischen sie zu bringen.   Hände legten sich auf seine Brust, schoben ihn in warmes Licht.     Bis bald? Leb wohl? Was hatte der andere gesagt?     Die Helligkeit blendete ihn, obwohl er die Augen geschlossen hatte. Seine Lungen füllten sich mit Sauerstoff und Seto stellte fest, dass er vergessen hatte, wie solch ein einfacher Atemzug sich anfühlte. Sein Brustkorb hob sich nur stockend, sein Herz schien sich kurz ratlos zu überschlagen, ehe es in den richtigen Rhythmus zurückfand und sein ganzer Körper fühlte sich steif und heiß-kalt, regelrecht fiebrig an. Es dauerte seine Zeit, bis er die Geräusche um sich herum einordnen konnte.   Hinter ihm Autos, ihre Motoren, ihre Bremsen, ihre Hupen. Außerdem Schritte. Stimmen. Über ihm ein Flugzeug. Irgendwo klingelte ein Handy.   Unter seinen Fingern und seiner Wange spürte er Dreck.   Er öffnete die Augen und fand sich in einer Seitengasse wieder.   Für einen kurzen Moment kam ihm der Gedanke, einfach liegen zu blieben und zu warten, ob er sich mit der nächsten Ohnmacht vielleicht wieder bei ihm vorfinden würde. Weil all das um ihn herum in Wahrheit nur ein Traum war und er in Wirklichkeit immer noch dort war. Aber je mehr seine Sinne zurückkehrten, desto unwohler fühlte er sich auf dem nackten Boden.   Er rollte sich auf den Rücken und stemmte mühsam seinen Oberkörper in eine aufrechte Position. Seine Arme zitterten unter der ihnen scheinbar fremd gewordenen Anstrengung und die ganze Welt um ihn herum schwankte leicht. Ihm war schlecht. Sein Schädel dröhnte. Er blickte an sich herunter und erkannte seine Kleidung und seinen Körper - teils enttäuscht, teils erleichtert - wieder.   Kurzer Check seiner DuelDisk. Sie reagierte nicht. So wie auch alles andere elektronische Equipment, das er an sich trug.   Mit einem leisen Murren unternahm er einen ersten Versuch, auf seine Beine zu kommen, die ihm nie länger und ungelenker vorgekommen waren. Landete unsanft auf seinem Hintern. Versuchte es noch einmal, diesmal erfolgreich, auch wenn es seine Umgebung nur noch stärker schwanken ließ. Er nahm einen tiefen Atemzug. Noch immer spürte er für seinen Geschmack viel zu deutlich, wie seine Lungen sich öffneten, sein Brustkorb sich ausdehnte, und meinte seinen Herzschlag und das Rauschen seines Blutes in jeder Ader seines Körpers hören zu können.   Ihm war immer noch schlecht.   Er ging ein paar Schritte hin und her, um sich an die Bewegung zu gewöhnen und sicher zu sein, dass er das Schwindelgefühl im Griff hatte. Dann verließ er die Gasse und machte sich in die Richtung auf, in der er das KC Hauptgebäude über dem Rest der Stadt aufragen sah.   Er konnte nur hoffen, dass der Schaden an seinem Equipment bloß oberflächlich war und das System selbst noch voll funktionsfähig. Natürlich würde er ein paar Modifikationen vornehmen müssen, damit seine nächste Reise zu ihm nicht wieder dasselbe Ende fand sondern er diesmal entweder für immer bleiben konnte oder zumindest auf eine Art und Weise zugrunde ging, die ihr Duell nicht beeinträchtigte und ihm keine Gelegenheit ließ, ihn wieder fortzuschicken...   Der Weg ins Labor war weiter als er angenommen hatte. Als er endlich den Haupteingang der KC erreicht hatte, fühlten seine Beine sich an, als würden sie jeden Moment unter ihm nachgeben, und kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn.   Den Wagen, der hinter ihm zum Stehen kam, bemerkte er erst, als seine Türen sich öffneten. Isonos Stimme, weit weg, Wortfetzen über Termine, Adressen, Uhrzeiten, die Stimme eines jungen Mannes antwortete, verstummte mitten im Satz, ein unangenehm hohes Fiepen stieg aus dumpfer Tiefe in Setos Wahrnehmung auf, er wollte sich umdrehen, um Isono anzuweisen, das Labor für ihn vorbereiten zu lassen, denn das brauchte Zeit, und Seto war nicht dumm, ihm war klar, dass er drauf und dran war, das Bewusstsein zu verlieren, und da machte es nur Sinn, die Zeit, die ihn das kosten würde, sinnvoll nutzen zu lassen, aber das Fiepen war inzwischen so laut, dass er nicht mitbekam, ob sein Mund die Worte hervorbrachte, die er loswerden wollte, und die Bewegung des sich Umdrehens ließ ihn das Gleichgewicht verlieren...   Er fand sich plötzlich ungelenk auf dem Boden sitzend wieder. Hob den Blick, Isono suchend.   Stattdessen fand er die verstört geweiteten Augen eines Fremden. Oder? Schulterlanges, wirres dunkles Haar... vertraute Gesichtszüge, die dafür sorgten, dass sich etwas in ihm unangenehm zusammenzog... Er hatte seine Gründe gehabt, die Fotos zu zerreißen, und war sich sicher gewesen, sich inzwischen nicht mehr an die Menschen auf ihnen zu erinnern. An das ernste, schmale blasse Gesicht seiner Mutter. Die etwas kantigere Miene seines stets viel zu gut gelaunten und viel zu abwesenden Vaters, die er jetzt wieder vor sich sah. Wenn auch ohne jede Spur eines Lächelns... war er wirklich noch so jung gewesen, als er starb? Und warum war er es, den er sah. Warum war das der Weg, den seine Seele ging, zu diesem Fremden, anstatt zurück zu ihm, Atemu, der ihm doch so viel näher war...   Die Welt kippte.   Und wurde schwarz. Kapitel 2: Wanted -----------------     "Soll ich Sie einen Moment allein lassen?" "Nein, schon okay... ... Aber sag das Mittagessen mit Noda ab. Verschieb es auf den nächstbesten freien Termin." "Sehr wohl. Was ist mit dem Dinner mit den Schröders?" "Das belassen wir bei der vereinbarten Zeit. Sie sind extra angereist und müssen morgen weiter, und wer weiß, wann sich die nächste Gelegenheit für ein persönliches Gespräch ergibt. War das alles für heute?" "Bis auf das monatliche Gespräch mit der Personalvertretung um 17Uhr war das alles, Sir." "Gut. Danke, Isono."   Stille. Ein Seufzen.   "Soll ich Ihnen einen Kaffee bringen, Sir?" "Gerne."   Schritte, die sich entfernten. Erneute Stille.   Seto schlug blinzelnd die Augen auf. Sein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt und seine Muskeln protestierten schwach, als er sich in eine bequemere Position zu bringen versuchte. Ein drückender Schmerz in seiner Armbeuge. Ah, eine Infusion... Ergab Sinn. Er blickte in die Richtung, aus der die Stimmen gekommen waren.   Ein junger Mann, etwa in seinem Alter, vielleicht auch etwas älter, saß in legerer Pose mit übereinander geschlagenen Beinen in einem unbequem aussehenden Plastikstuhl neben seinem Bett. Er trug einen dunkelgrauen, sichtlich teuren Anzug, darunter ein marineblaues Hemd, ohne Krawatte. Die obersten beiden Knöpfen waren geöffnet. Dazu gelbe Turnschuhe. Keine Socken. Seine Aufmerksamkeit schien auf den vor ihm schwebenden holografischen Bildschirm gerichtet. Selbst im hellen Licht des Krankenzimmers und ohne die verzerrte Wahrnehmung einer sich ankündigenden Bewusstlosigkeit war die Ähnlichkeit zu ihrem Vater noch verblüffend, auch wenn sein Gesicht bei näherer Betrachtung etwas weicher wirkte. Seine Ohrläppchen waren gepierct und mit kleinen silbernen Kugeln verziert, das dunkle Haar hinter die Ohren gestrichen.   Seto schloss die Augen und seufzte leise. "Wie lange war ich weg?" "... Etwa 7 Jahre." "Dann bist du jetzt... 19." "21. Ich war 13 und es war Frühling, als du weg bist. Jetzt haben wir Ende Juli." Seto nickte bloß abwesend. Mokuba ließ mit einer flüchtigen Bewegung eine virtuelle Tastatur unter seinem Monitor erscheinen und tippte etwas. "Isono braucht lange für deinen Kaffee." "Kann sein." "Seit wann trinkst du Kaffee?" Mokuba seufzte, blickte aber nicht von seiner Arbeit auf. "Ich bin kein Kind mehr, Nii-" Er runzelte die Stirn. "Seto. Es hat sich halt irgendwann ergeben." Sein Bruder nickte ein weiteres Mal.   Dann schwiegen beide.   Die Tür öffnete sich.   "Verzeihen Sie das Warten, Sir. Die Schlange in der Kantine war lang und... Leute haben gefragt." Mokuba winkte gelassen ab und nahm den kleinen Pappbecher entgegen. "Schon okay. Was hast du ihnen gesagt?" "Ich habe sie darum gebeten, erst einmal Stillschweigen zu waren und sie an die entsprechenden Klauseln in ihrem Arbeitsvertrag erinnert." "Gut." Isono wirkte erleichtert. Dann fiel sein Blick auf Seto. Er zögerte einen Moment, verbeugte sich dann aber. "Willkommen zurück, Seto-sama, Sir." Seto tastete nach dem Schalter, mit dem er das Kopfende seines Bettes hochfahren konnte, und betätigte ihn. Auf Isonos Begrüßung fiel ihm nur ein leises Murren ein.   Erneut trat unangenehmes Schweigen ein.   Seto wurde das Gefühl nicht los, nicht wirklich willkommen zu sein. Er verdrängte es. An sich war es ihm ohnehin egal. Er war nur auf der Durchreise. Sobald er wieder auf den Beinen war, würde er sich an die notwendigen Modifikationen für das DimensionsDomänenEmulator-System machen und wieder zu ihm zurückkehren. Sie hatten ihr Duell nicht beendet und er vermisste es, nicht jeden Atemzug, jede noch so kleine Muskelzuckung und das angestrengte Schlagen seines Herzens spüren zu müssen.   Mokuba ließ seine holografische Arbeitsfläche mit einer lockeren Handbewegung verschwinden und blickte ihm das erste Mal, seit er wieder zu sich gekommen war, offen ins Gesicht. "Ich will direkt sein: Dinge haben sich geändert." Es kostete Seto einige Anstrengung, nicht mit den Schultern zu zucken. Stattdessen hob er abwartend eine Augenbraue.   "Auf legaler und offizieller Ebene bist du tot."   Damit war zu rechnen gewesen.   "Deine Firmenanteile sind an mich übergegangen."   Nachvollziehbar.   "Ich habe nicht vor, das wieder rückgängig zu machen."   Setos Augen weiteten sich unwillkürlich, während die seines Bruders sich etwas verengten und seine Augenbrauen sich zusammenzogen. Mokuba erhob sich. "Ich meine damit, dass ich dir natürlich helfe, gültige Papiere zu kriegen. Und natürlich bleibst du du, mit deinem Namen und allem weiteren. Wenn es dich glücklich macht, dann veranstalten wir meinetwegen ein kleines DuelMonsters-Turnier, um deine Rückkehr von den Toten offiziell zu feiern." Seine Stimme verlor auch noch den letzten Rest Wärme, der bis eben vielleicht noch in ihr gelegen haben mochte. "Aber ich bleibe CEO. Du wirst deine Anteile an der KaibaCorp nicht zurückbekommen, um dann einfach so weitermachen zu können als wäre nie etwas gewesen. Wie gesagt, die Dinge haben sich geändert. In vielerlei Hinsicht." Er wandte sich ab, zog sein Jackett zurecht, und ging.   Isono verbeugte sich noch einmal in Setos Richtung, versprach, ihn am Abend - sofern das medizinische Personal sein Okay gab - abzuholen und nachhause zu bringen, und folgte Mokuba dann.     Als wenige Minuten später die zuständige Ärztin den Raum betrat, war Seto gerade dabei, sich vorsichtig die Infusion aus dem Arm zu ziehen und aufzustehen. Erst versuchte sie, ihn freundlich dazu zu überreden, sich wieder hinzulegen. Dann wurde sie energischer, hatte aber offensichtlich nicht die Befugnisse, ihn aufzuhalten. Also begnügte sie sich damit, ihn über seine Verantwortungslosigkeit und die Risiken, denen er sich damit aussetzte, zu belehren. Er ließ sie notgedrungen ausreden, ehe er den Raum verließ - mit einer knappen Erinnerung daran, wer sie bezahlte, konnte er sie in seiner momentanen Lage ja leider nicht zum Schweigen bringen.   Der Buschfunk schien so effektiv wie eh und je zu funktionieren - jeder, den er passierte, bedachte ihn mit einem unverhohlen neugierigen Blick, aber niemand machte Anstalten, ihn anzuhalten oder aufzufordern, sich zu identifizieren. Vermutlich gab es bisher noch keine offizielle Ansage, wie man mit ihm verfahren sollte. Das musste er ausnutzen. Er konnte nicht einschätzen, welche Taten Mokuba seinen Worten folgen lassen würde.     'Die Dinge haben sich geändert.' Es zog unangenehm in seiner Brust. Er ignorierte es.   Die Welt hatte sich auch ohne ihn weiter gedreht. Das war okay. Er war ohnehin nur auf der Durchreise...     Das Sicherheitssystem des Labors schien in seiner Abwesenheit erneuert worden zu sein und akzeptierte weder seinen Fingerabdruck noch sein Retina-Profil.   Stimmen aus Richtung der Kantine näherten sich.   "Was denkst du, wann wir heute fertig werden?" Ein Mann. "Vermutlich in ein, höchstens zwei Stund- ... oh." Eine Frau. "Was ist los?" "Eine Mail. Wir haben gerade eine... Situation hier. Eben kam ein Update von oben." "Was für eine Situation?" "Etwas Internes. Tut mir leid. Du bist kein fester Mitarbeiter."   Die beiden blieben stehen.   "Und nun?" Sie seufzte. Ihre Stimme klang entschuldigend. "Du hast Feierabend. Wir sollen das Labor für heute zu machen. Aber keine Sorge, du kriegst die volle Zeit bezahlt." Der Mann klang trotzdem enttäuscht. "Und es fing gerade an, Spaß zu machen..." "Tut mir leid, Jounouchi-san. Ich werf dich ungern raus, aber..." "Die Situation." "Genau. Die Situation." Er seufzte theatralisch. "Ihr wart immer schon und bleibt auch für immer ein komischer Haufen. Echt mal. Kann ich eben noch meine DuelDisk und die Jacke holen?" "Klar, kein Problem."   Sie setzten sich wieder in Bewegung und bogen in den Gang, in dem sich der Laboreingang befand, ein.   Seto hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, sich zu verstecken, sich dann aber dagegen entschieden. Das war sein Labor. Er hatte es entworfen, den Bau beaufsichtigt, und darin Dinge entwickelt, die die Welt verändert hatten. Einen Teufel würde er tun und sich wie ein schäbiger Einbrecher in irgendeiner Ecke unsichtbar machen.   Die Frau sah ihn zuerst. Seto erkannte sie nicht, was aber nicht heißen musste, dass sie sich noch nie begegnet waren. Er runzelte misstrauisch die Stirn, als sie sich, ohne den Blick von ihm abzuwenden, mit den Fingerspitzen über das Handgelenk fuhr, entspannte sich aber wieder, als er ein Pflaster an diesem entdeckte. Kein Armband mit integriertem Funkgerät oder gar Alarm. Gut. Er ließ seinen Blick zu Jounouchi wandern, der ihn zwar ebenfalls anstarrte, aber offensichtlich noch nicht ganz verarbeitet hatte, wen er da sah. Blond gefärbte Haare, wie eh und je, wenn auch inzwischen lang genug, um in einem lockeren Knoten getragen werden zu können, der aussah, als würde er sich jeden Moment auflösen. Ob die Narbe auf Höhe des Kieferknochens neu oder immer schon da gewesen war, und erst jetzt durch den Dreitagebart so wirklich auffiel, wusste Seto nicht. So genau hatte er sich Jounouchi nie angeschaut. Hätte die Frau ihn nicht beim Namen genannt, hätte er ihn im ersten Moment wahrscheinlich gar nicht erst erkannt.   Jounouchi blinzelte irritiert und blickte von ihm zu der Frau und wieder zurück. Dann wieder zu ihr. "Watanabe?" "Ja?" "Du siehst ihn auch, oder?" Sie nickte. Jounouchi tat es ihr kurz mit nachdenklicher Miene gleich. Dann sah er wieder zu Seto. "Jo, Kaiba, bist du echt?" "Was soll die dumme Fra-" Ein dumpfes "Whump", ein Aufflackern zahlloser Lichtpunkte in seinem Sichtfeld, und einen Sekundenbruchteil Orientierungslosigkeit später fand Seto sich auf seinem Hintern wieder. Seine linke Wange und sein Kiefer pochten, in seinen Ohren fiepte es, er schmeckte Blut. Jounouchi blickte zufrieden auf seine Faust. "Doch, ja... fühlt sich echt an." Er pustete seine Knöchel an wie Western-Helden ihre rauchenden Colts, löste die Faust und ließ seine Hände locker in den Hosentaschen verschwinden, bevor er den Blick wieder auf Seto richtete. "Der war dafür, dass du deinen kleinen Bruder im Stich gelassen hast. Ich würd dir noch mehr verpassen, aber..." Jounouchi runzelte die Stirn und musterte den vor ihm sitzenden eingehend, und wirkte schließlich fast schon enttäuscht. "... Fuck, Mann. Du bist ja fast noch 'n Kind!"   Schritte.   Watanabe seufzte erleichtert auf, als der Sicherheitsdienst um die Ecke bog, und wies - zu Setos Empörung - nicht auf Jounouchi sondern auf ihn. "Wir haben ihn gefunden. Er..." Sie stockte kurz, tauschte einen kurzen Blick mit Jounouchi aus, und versuchte sich dann an einem beschämten Lächeln. "Ich bin in ihn hineingerannt." Jounouchi blinzelte kurz irritiert, grinste dann aber breit und nickte eifrig. "Direkt in ihn rein, Dickschädel voraus. Tragischer Unfall und so. Falls Mokuba fragt." Seto wollte den Mund gerade zu einem warnenden "Das wird Konsequenzen haben!" öffnen, als er einen kleinen Gegenstand neben seiner Zunge spürte. Er spuckte ihn aus. Ein Zahn. Auch ohne aufzusehen wusste er, dass Jounouchis Grinsen nur noch breiter wurde.   "Kaiba-sama." Einer der Sicherheitsleute - von denen keiner ihm bekannt vorkam - trat näher und verbeugte sich kurz höflich. "Wir sollen Sie zurück zum Krankenzimmer begleiten. Bitte folgen Sie uns freiwillig."   Seto fühlte, wie seine Wangen sich unwillkürlich aufheizten, und rappelte sich, dem Blick sämtlicher Anwesenden ausweichend, auf die Beine. Den blutigen Speichel in seinem Mund schluckte er einfach herunter, das leichte Zittern seiner Knie ignorierte er. Er ballte die Hände so krampfhaft zu Fäusten, dass ihre Knöchel sich weiß färbten, und begann hoch erhobenen Hauptes in die Richtung zu gehen, aus der er ursprünglich gekommen war.   Er musste zurück.   Zu ihm.   So schnell wie möglich.   Sonst hatte er bald keine andere Wahl mehr, als sich damit auseinander zu setzen, dass die Welt, in der er sich jetzt befand, ihn offensichtlich nicht mehr brauchte - geschweige denn, wollte. Kapitel 3: Haze ---------------     Seto hungerte und egal, was oder wie viel er vielleicht aß, der Hunger würde bleiben und nur noch stärker werden. Es gab nur eine Sache, die ihn stillen konnte.   Kribbeln, das sich fast schon wellenartig unter seiner Haut entlang ausbreitete. Hitze in seiner Brust, ungewohnt leicht, darin ein ungeduldiges Flattern statt einem Pochen. Und das Gefühl, die Welt, nein, sich selbst nie klarer gesehen zu haben als in dem Spiegelbild, das ihm aus Atemus Augen entgegenblickte, wann immer der andere ihn - nur ihn und nichts und niemanden sonst - ansah.     Seto verzehrte sich danach.     Schon vor seiner Reise zu ihm war der Rest der Welt zu nichts weiter als einer stumpfen, billigen Kulisse verkommen. Er kaufte sie, die Bühne, sämtliche Schauspieler, das ganze Theater, verpasste allem einen neuen Anstrich... doch egal, wie kräftig die Farben anfangs leuchten mochten, sie verblassten noch beim Trocknen und der einzige Unterschied zu vorher war, dass es nun auch noch stank und er keine Luft mehr bekam.   Alles Geld der Welt half nichts, wenn das, was er eigentlich wollte - brauchte! - nicht mehr in dieser Welt existierte. Er war auf dem Höhepunkt seiner Macht angelangt und hatte sich nie machtloser gefühlt.   Er war nicht dumm. Ihm war natürlich klar, dass der Weg, für den er sich schließlich entschied, nicht gerade unter die Rubrik "geistig gesund" fiel. Aber es war ihm schlichtweg egal. Falls er jemals gewusst hatte, wie "geistig gesund" sich anfühlte, war ihm die Erinnerung daran schon vor Jahren erfolgreich ausgetrieben worden. Und die wenigen Menschen in seinem erweiterten Umfeld, die es vermutlich besser wussten, lebten ein Leben, das ohnehin nie seines sein würde, also warum es versuchen?   Leben wurde überbewertet.   Also gab Seto seines auf und ließ es hinter sich. Und es hatte sich so gut angefühlt...     Aber nun war er wieder zurück. In dem Gefängnis seines grauenhaft engen, stofflichen und viel zu menschlichen Körpers.   Er hatte nie damit gerechnet, noch einmal zurück zu kehren, und sich daher auch nie darum geschert, sich einen Platz in dieser Welt frei zu halten. Rückblickend betrachtet wohl ein Fehler. Aber wie hätte er auch damit rechnen können, dass es in Atemus Macht lag, ihn wieder zurück zu schicken?     Seto seufzte leise und wischte mit einer abwesenden Geste den aktuellen Inhalt des virtuellen Monitors vor sich beiseite und rief das nächste Suchergebnis auf.   In seiner Abwesenheit hatte die Firma mehrere Krisen durchlebt, aber aktuell standen die Aktienkurse so hoch wie noch nie - und das, obwohl Mokuba scheinbar eine Menge in wohltätige Zwecke investiert hatte: Kinderheime, Schulen, Spielplätze, eine neue Obdachlosenunterkunft, eine Psychiatrische Klinik... Kein Wunder, dass die Öffentlichkeit ihn liebte. Und inzwischen dann wohl endgültig vergessen hatte, dass die Stadt nach wie vor komplett unter der Kontrolle der KaibaCorp stand.   Seto musste unwillkürlich schmunzeln.   Mokuba mochte vielleicht hin und wieder ein zu weiches Herz haben, aber naiv war er definitiv nicht. Einmal erlangte Kontrolle gab man nicht wieder ab. Diese Lektion schien er glücklicherweise verinnerlicht zu haben.   Sein Image war das eines gutherzigen enfant terrible.   Verwackelte Paparazzi-Fotos von ihm, wie er im Morgengrauen in Begleitung attraktiver Frauen, Männer, gelegentlich auch beidem gleichzeitig aus irgendeinem teuren Club kam und in seine Limousine stieg, gefolgt von detailliert geplanten und exzellent bearbeiteten Fotos von ihm auf den Covern internationaler Wirtschaftsmagazine. Mal in jungenhaft lockerer Pose an seinem Schreibtisch lehnend, die Arme verschränkt, die obersten Knöpfe seines Hemds geöffnet, aber den Blick ernst und fast schon zu erwachsen für sein Alter direkt in die Kamera gerichtet. Mal nur sein Gesicht im Profil in Großaufnahme, Ansätze eines Schmunzelns auf seinen Lippen, kein Junge mehr aber auch noch kein erwachsener Mann, dafür jemand, dem die ganze Welt gehören konnte, wenn er es nur wollte. Und das tat er.   Dann wieder Bilder, auf denen er mit seinem strahlendsten Lächeln riesige Schecks an gemeinnützige Organisationen überreichte, lachend Geschenke an Waisenkinder verteilte - ein kurzer Schauer huschte über Setos Rücken, als ihn das an seine erste Begegnung mit Gozaburo erinnerte - oder den Grundstein für die neue Turnhalle irgendeiner unterfinanzierten Stadtteilschule legte. Hier und da auch mal eine kurze Fotoserie aus einem Modemagazin.   Seto kam nicht umhin, einen gewissen Stolz zu empfinden.   Er hatte nie großes Interesse an diesem Ballett mit der Öffentlichkeit gehabt und es aufgegeben, sobald er die Möglichkeit gehabt hatte. Mokuba hingegen schien diesen albernen Tanz nicht nur zu genießen, er beherrschte ihn auch, und das in einer Art und Weise, wie Seto es nie gekonnt hätte. Selbst wenn er es gewollt hätte.   Er hatte sich aus guten Grund keine Sorgen um seinen kleinen Bruder gemacht, als er ihn damals allein gelassen hatte.   Eine erneute flüchtige Geste und der virtuelle Monitor verschwand.   Seto rutschte an den Rand seines Bettes und stand auf. Inzwischen trugen seine Beine ihn bedeutend sicherer als noch vor ein paar Stunden. Er tastete nach dem Kühlpflaster auf seiner Wange und entfernte es, als er feststellte, dass es seine Wirkung inzwischen aufgebraucht hatte, und warf einen kurzen Blick in den Spiegel neben dem Kleiderschrank. Aller Vorsorge zum Trotz lag ein kaltroter Schatten auf seiner linken Wange, aber immerhin gab es keine allzu kräftige Schwellung. Am nächsten Morgen hatte er einen Termin beim Kieferorthopäden, um schauen zu lassen, wie bald ihm sein verlorener Zahn ersetzt werden konnte, und ob der Rest seines Gebisses irgendwelchen Schaden genommen hatte.   Sein Gesicht verfinsterte sich.   Dass Jounouchi eine harte Rechte hatte, war nie ein großes Geheimnis gewesen, eher im Gegenteil. Und damit, dass er ihm irgendwann eine reinhauen würde, hatte Seto schon seit langem gerechnet. Er hatte diesem Moment nun nie entgegen gefiebert, aber allzu große Sorgen hatte er sich auch nicht gemacht. Mit körperlichen Schmerzen kam er recht gut zurecht und die Folgen, die so eine Attacke für Jounouchi haben würde, hatte er sich eigentlich sogar ganz amüsant vorgestellt. Allerdings hatte er in seiner Vorstellung auch immer sein Sicherheitspersonal auf seiner Seite gehabt. Und Jounouchi hatte sich nie zurück gehalten.   Nur leider weigerte die Realität sich hartnäckig, seinen Vorstellungen gerecht zu werden.   "Du bist ja fast noch ein Kind."   Er schüttelte den Kopf und wandte sich von dem Spiegel ab. Er hatte schon aufgehört Kind zu sein, als er gerade mal zehn Jahre alt gewesen war...   Sein Blick glitt durch sein Zimmer. Alles sah noch genauso aus wie an dem Morgen, an dem er zu ihm aufgebrochen war. Es war frisch geputzt, das Bett neu bezogen, aber auch das ausgiebigste Lüften hatte nichts daran ändern können, dass man deutlich spürte, dass dieser Raum über Jahre hinweg kaum betreten worden war.   Bevor es sein Zimmer wurde, war es Gozaburos gewesen. Vor seinem Einzug damals hatte er es von Grund auf renovieren lassen. Trotzdem bildete er sich manchmal ein, einen Hauch kalten Zigarrenrauchs wahrzunehmen. So auch jetzt.   Er öffnete eines der Fenster, schlüpfte in seine Hausschuhe und machte sich auf den Weg in die Küche.   Sein Körper verlangte nach Energie. Er hasste ihn dafür. Je mehr er zu sich nahm, umso realer und weiter von ihm und seiner Welt entfernt fühlte die fleischliche Hülle, in der er feststeckte, sich an.   Er verzichtete darauf, das Licht anzumachen.   Der Mond warf lange Schatten durch die großen Fenster. Setos vom Teppich gedämpfte Schritte, sein Atem, das Geräusch des aneinander reibenden Stoffs seiner Kleidung war das einzige, was zu hören war. Erst als er auf der Treppe war, gesellte sich das Ticken der Wanduhr im unteren Flur dazu. Zehn Minuten vor eins. Mokuba war immer noch aus und Isono mit ihm; er war ihm hinterher gefahren, kaum dass er Seto zuhause abgesetzt hatte.   Sie mussten großes Vertrauen in die Sicherheitsvorkehrungen der KaibaCorp haben, wenn sie es wagten, ihn unbeaufsichtigt zu lassen.   Ein Glas Wasser. Eine Scheibe trockener Toast.   Seto verzog das Gesicht, kaum dass der Toast seine Zunge berührte, zum einen, weil er für einen Moment vergessen hatte, dass er nicht normal kauen konnte - verdammter Jounouchi - aber in erster Linie aufgrund des viel zu intensiven Geschmacks. Er spülte den Bissen, den er genommen hatte, mit einem großen Schluck Wasser hinunter und warf den Rest in den Müll. Essen hatte ihn nie gestört, ein oder zwei Gerichte hatte er vor seiner Reise zu ihm sogar recht annehmbar gefunden, aber nun... nun widerte ihn Essen, nein, Schmecken einfach nur noch an. Er würde sich bei Gelegenheit informieren müssen, ob nicht vielleicht Infusionen mit den notwendigen Nährstoffen eine Alternative darstellten, um ihn funktionsfähig zu halten, so lange er noch hier war.   Was, wie er hoffte, nicht mehr allzu lang war...     Die Wanduhr schlug eins.     Er wandte sich dem Kühlschrank zu, um zu schauen, ob es nicht doch noch irgendetwas ohne Eigengeschmack gab, das er herunterwürgen konnte, um seinen Magen zum Schweigen zu bringen.   Die Haustür öffnete sich.   Seto hielt inne und lauschte. Aufgrund der Entfernung konnte er jedoch kaum etwas ausmachen, außer ein, zwei Wortfetzen von Mokuba, eine kurze Erwiderung seitens Isonos, dann Schritte, die sich kurz zu nähern schienen, ehe sie vom dicken Teppich der Treppe gedämpft wurden und nicht mehr zu orten waren.   Stille.   Lange.   Dann erneut Schritte, die diesmal tatsächlich auf ihn zusteuerten.   Das Licht wurde eingeschaltet. Seto kniff geblendet die Augen zusammen.   Isono erstarrte überrumpelt, als er ihn entdeckte. Dann blickte er von Seto zum Kühlschrank, an dessen Türgriff die Hand des Jüngeren immer noch lag, und wieder zurück zu Seto. Und räusperte sich. "Soll ich Ihnen etwas zu essen machen, Seto-sama?"   "Ihr wart lange weg."   "Nicht so lange wie Sie."   Darauf fiel Seto nichts ein. Als Isono seine Hand nach der Kühlschranktür ausstreckte, zog er die seine eilig zurück. Trotzdem streiften ihre Finger sich kurz. Er verkniff es sich, seine Hand an seiner Hose abzuwischen und griff stattdessen nach seinem halbleeren Wasserglas. Er begann bereits, zu vergessen, wie seine Hände sich angefühlt hatten, als sie sich an seine Brust gelegt und ihn ins Licht geschoben hatten... Er musste zurück. Bald.   "Wie fühlen Sie sich inzwischen?"   Seto zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung, wie er sich fühlte. Schlimm genug, dass er sich überhaupt fühlte... Er hob den Blick von seinem Glas und musterte Isono, der sich - oder ihm? - ein Sandwich schmierte. Seine Schläfen waren etwas grauer und die Falten um Mund- und Augenwinkel herum etwas tiefer, aber sonst hatte er sich kaum verändert. Seto entspannte sich ein wenig. Isono war der Inbegriff von Loyalität. Daran würde sich nie etwas ändern. Er würde ihm helfen, wenn er ihn dazu anwies, so wie er es immer getan hatte. Viel verlangte er ja gar nicht. Nur Zugang zu seinem Labor. Zum Prototyp des DimensionsDomänenEmulator-Systems. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Mokuba das System nach seinem Verschwinden abbauen lassen hatte. Bestimmt hatte ihn irgend so ein kleiner, alberner Funken Hoffnung, dass es helfen könnte, ihn zurück zu holen, davon abgehalten. Zumindest ging Seto nicht davon aus, dass sein Bruder sich, was so was anging, groß verändert hatte.   Ein kurzes Auflachen aus Richtung der Tür ließ ihn sich unwillkürlich wieder versteifen.   Mokuba wies grinsend mit dem Hals der Whiskey-Flasche in seiner Hand auf Setos Gesicht. "Da hat sich ein kleiner Traum von Jounouchi erfüllt, würde ich sagen. Das wird ein ordentliches Veilchen." Er ging an einen der Schränke und holte zwei Gläser heraus. "Du auch?" Seto wollte gerade den Mund öffnen, um zu antworten, als Isono, dem die Frage scheinbar eigentlich gegolten hatte, ihm zuvorkam. "Gern. Aber nur eins." Mokuba nahm ein weiteres Glas aus dem Schrank und schloss diesen. "Seto? Eis? Oder straight? ... Ich würde sagen mit Eis. Dann hast du was zum kühlen." Er grinste wieder, stellte sein eigenes Glas auf den Tisch und füllte die anderen beiden mit Eis, ehe er sie ebenfalls abstellte und sich an den Küchentisch setzte. Isono drückte Seto im Vorbeigehen den Teller mit seinem Sandwich in die Hand und machte sich daran, jedem einzuschenken, bevor auch er sich setzte.   Seto kam sich vor wie im falschen Film. Ein Gefühl, an das er sich zu seinem Leidwesen so langsam zu gewöhnen begann...   Er zog kurz in Betracht, sich einfach umzudrehen und zurück auf sein Zimmer zu gehen. Doch beim bloßen Gedanken daran kroch ihm wieder dieser kalte, raue Zigarrenrauch in die Nase... Die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf. Er knirschte leise mit den Zähnen. Das letzte Mal, das er gute Miene zum bösen Spiel machen musste, um das zu kriegen, was er wollte, lag schon einige Zeit zurück. Aber momentan war Mokuba derjenige von ihnen, der alle Fäden in seiner Hand hielt, und Isono war vermutlich auch eher gewillt, ihm zu helfen, wenn er den Eindruck erweckte, einer "Familien-Zusammenführung" gegenüber offen zu sein...   Gott, er war wirklich aus der Übung, wenn es darum ging, zu erahnen, was sein Gegenüber gerne sehen und hören wollte, und die Überwindung, die es ihn kostete, sich überhaupt darum zu scheren, brachte er nur mit Müh und Not auf.   Er atmete tief durch. Und setzte sich ebenfalls an den Küchentisch.   Mokuba grinste noch immer und hob sein Glas. "Cheers!"       Keine zwei Stunden später hing Seto schwer atmend über dem Klo, während Isono und Mokuba zum Rauchen auf die Terrasse gegangen waren. Sein Magen krampfte sich zusammen, als der beiläufige Ton von Mokubas Stimme, die ihm mitteilte, dass die Raumstation nicht mehr existierte, sich wieder in sein Bewusstsein schob. Ein neuer Schwall ätzend bitterer Magensäure landete auf den unverdauten Resten des Sandwichs, das er sich in erster Linie hineingezwungen hatte, um den Geschmack des Whiskeys von seiner Zunge zu kriegen. Der Geruch ließ ihn gleich ein weiteres Mal würgen. Und noch mal, bis nichts mehr kam. Mit zitternder Hand tastete er nach der Spülung.   Und nun?   Selbst wenn er Zugang zum Prototyp des DDE-Systems bekam, selbst wenn er es aus dem Labor zu holen schaffte... wohin damit, wenn er es nicht an den richtigen Ort bringen konnte? Was, wenn er nie mehr...   Wenn er ihn nie mehr...   Seine Augen brannten. Er ließ es für einen kurzen Moment zu und vergrub das Gesicht in den Händen, die Ellenbogen immer noch auf die Klobrille gestützt. Gleich würde er sich wieder zusammenreißen und fest daran glauben können, dass sie sich wiedersehen würden, und dass ihm nach wie vor egal war, ob Yugi - Atemu - diesem Augenblick ebenso entgegenfieberte wie er oder nicht. Er brauchte nur... nur ein paar Sekunden... dann würde er diesen Druck auf seiner Brust und diese kreischende Leere in ihr wieder beiseite wischen und sich etwas einfallen lassen.     Oh Gott, er war so müde...     Die Badezimmertür. Er hatte vergessen hinter sich abzuschließen.   Fahrig wischte Seto sich über die Augen und kämpfte sich auf die Beine, was seine Umgebung unwillkürlich zum Schwanken brachte. Oder ihn. So genau wusste er es nicht. Isonos Hände lagen plötzlich an seinen Armen und hielten ihn davon ab, endgültig das Gleichgewicht zu verlieren. Die falschen Hände. Seto biss die Zähne zusammen und unterdrückte das Bedürfnis, sich erneut über die Augen zu wischen. "Ich bring Sie ins Bett, Seto-sama. Ist das okay für Sie?" Er nickte. Wurde aus dem Bad geführt.   Die Luft, die durch die offene Terrassentür hereinzog, war kühl und ein unangenehm süßlich dumpfer Geruch haftete ihr an. Ein kleiner Lichtpunkt glimmte in der Dunkelheit auf. Verschwand wieder. Kurzes leises Schniefen. Seto verkrampfte sich kurz, entspannte sich aber wieder, als er sich sicher war, dass dieses Geräusch nicht von ihm, sondern von draußen gekommen war.   Die Treppe kam ihm endlos und uneben vor. Isonos Hand lag zwischen seinen Schulterblättern, damit er, falls er das Gleichgewicht verlor, nicht rücklings die Stufen hinunter stürzte. Seto spielte kurz mit dem Gedanken, sich von ihr zu befreien, um sich alle Chancen offen zu halten, aber da hatten sie die Treppe auch schon hinter sich gelassen.   Das kalte Mondlicht war inzwischen vom Boden an die Wand gewandert.   Sie erreichten sein Zimmer. Sein Bett. Die Zimmerdecke darüber drehte sich leicht nach jedem Blinzeln.   "Wie fühlen Sie sich?"   Noch immer wusste Seto auf diese Frage keine Antwort.   Allein. Weg. Nicht weit weg genug. Müde. Leer. Nicht leer genug. Er zuckte mit den Schultern.   "Schlafen Sie gut."     Leer. Vor allem leer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)