An Regentagen von Kunoichi (Wichtelgeschichte für AlienBlood23) ================================================================================ Kapitel 1: An Regentagen ------------------------ Die Schüsseln waren bis zum Rand mit herrlich duftender Gemüsesuppe gefüllt. Dazu gab es einen kleinen Laib knusprigen Brotes, ein Stück cremige Butter und zum Nachtisch einen saftigen, grünen Apfel – zumindest auf den Tabletts der anderen. Hoffnungsvoll lehnte Sasha sich vor und tat, als wolle sie nach der Teekanne greifen, während ihre Hand unauffällig zu Jeans Portion hinüber wanderte. Sie hatte seinen letzten Bissen Brot schon fast erreicht, als er sich plötzlich von seinem Gespräch mit Armin abwandte und ihr ohne Vorwarnung auf die Finger klopfte. „Pfoten weg!“, fauchte er und Sasha rieb sich erschrocken die Knöchel. „Du hattest bereits mehr als genug.“ „Genug?“, wiederholte Sasha empört. „Das konnte man wohl kaum als genug bezeichnen. Hast du nicht gesehen, dass deine Schüssel viel voller war als meine? Und mein Apfel war winzig im Vergleich zu deinem. Also könntest du mir ruhig etwas abgeben.“ „Kommt ja gar nicht in Frage, du Gierschlund.“ Mit einem süffisanten Grinsen schob Jean sich das restliche Brot in den Mund und Sasha sank verzweifelt mit dem Kopf auf die Tischplatte. „Niemand wird hier bevor- oder benachteiligt“, versuchte Armin die Wogen zu glätten. „Jeder hat exakt den gleichen Anteil vom Abendessen bekommen.“ „Aber ich brauche mehr“, stöhnte Sasha ohne aufzublicken. „Ich brauche Kraft für den Wachdienst heute Nacht.“ „Ha, du hast Wachdienst?“, ließ Jean seiner Schadenfreude freien Lauf und zog seinem Gegenüber neckisch am Zopf. „Viel Spaß, Kartoffelkopf. Und schwimm nicht zu weit raus!“ Dieser Ratschlag war durchaus ernstgemeint, denn seit vier Tagen goss es beinahe ununterbrochen wie aus Eimern. Als Sasha, nachdem die Tafel aufgehoben worden war, aus der hellen Hütte in die stockfinstere Nacht trat, konnte sie im ersten Moment kaum die Hand vor Augen erkennen. Wie ein dichter Vorhang versperrte der Regen die Sicht bis zum nahegelegenen Waldrand. Das Wasser hatte den Pfad, den die Einheit mit ihren Kutschen gekommen war, in einen reißenden Strom verwandelt. Es stürzte vom Reetdach, unterspülte die niedrige Steinmauer vor der Haustür und verwandelte die Rasenflächen in ein Sumpfgebiet – kurz gesagt: Es war einfach überall. Sasha zog sich die Kapuze tief ins Gesicht und wartete unter dem Vordach, bis Moblit, durchnässt von Kopf bis Fuß, von seinem Kontrollgang um die Ecke bog. Die Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er seine Ablöse dort stehen sah. „Dreckswetter“, fluchte er und spuckte aus. „Pass auf, dass du bei den Pferdeställen nicht ausrutschst, da findest du keinen Halt mehr.“ Er übergab Sasha einen Schlüsselbund und sein Gewehr, wünschte ihr eine ruhige Schicht und beeilte sich dann, ins Trockene zu kommen. Ruhige Schicht? Was für ein Hohn! Als ob die Zentralbrigade der Militärpolizei unter diesen Umständen bis zu ihrem Versteck vordringen konnte. Doch was hatte Levi ihnen lang und breit gepredigt? Sicherheit ging eben vor. Miesmutig stapfte Sasha durch die Pfützen am überfluteten Weg vorbei und schlitterte einen schlammigen Abhang hinunter, bis sie den Hochsitz erreichte, auf dem Connie und Keiji vermutlich eine nicht minder ungemütliche Nacht verbringen würden. Der Wind dort oben peitschte ihnen den Regen trotz Überdachung ins Gesicht. „Alles in Ordnung bei euch?“, rief sie hinauf und Connies Stimme drang nur schwach durchs stetige Prasseln und Tropfen. „Ja, nichts zu sehen“, antwortete er und Sasha fragte sich insgeheim, ob er bloß keinen Feind oder dank des Unwetters tatsächlich überhaupt nichts sah. Selbst dieser kurze Marsch hatte ausgereicht, um ihren Mantel so stark zu durchtränken, dass er schwer an ihren Schultern zog und die Feuchtigkeit sich einen Weg bis auf ihre nackte Haut bahnte. Eilig kämpfte sich Sasha über die Steigung zurück bis zur Hütte und rannte dann mit großen Schritten zu einem offenen Unterstand an der rechten Hausseite, wo sie sich, von oben bis unten triefend, auf ein niedriges Fass sinken ließ. Ein paar Mal atmete sie tief durch, wischte sich das nasse Haar aus den Augen und wrang überflüssigerweise den Saum ihres Mantels aus. Putzen, kochen, den Abwasch, die Wäsche – absolut jeden Dienst hätte sie gerade lieber gemacht als diesen, mit Ausnahme der Wache auf dem Hochsitz vielleicht. Ab jetzt würde sie jede Stunde, bis sechs Uhr morgens, einmal ums Haus patrouillieren und sich mit Connie und Keiji über Vorkommnisse austauschen müssen. Sollte der Regen nicht bald nachlassen, versprach das eine sehr, sehr lange Nacht zu werden. Doch es dauerte nicht mal eine volle Stunde, bis Sashas ausgeprägter Instinkt sie alarmiert auffahren ließ. Zwischen dem Donnern des Regens, dem Pfeifen des Windes und dem Rauschen der Tannen gab es plötzlich neue Geräusche: Die Pferde wieherten und stampfen unruhig in ihren Boxen. Leise, wie ein Jäger auf der Pirsch, erhob sich Sasha und schlich mit gezücktem Gewehr zu den Ställen hinüber. Moblit hatte nicht übertrieben mit seiner Warnung, aufzupassen wo sie hintrat. Der Boden war so aufgeweicht, dass Sasha an einigen Stellen bis zu den Knöcheln im Matsch versank. Mit pochendem Herzen näherte sie sich der Stalltür und obwohl sie sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt hatte, konnte sie auf die Schnelle nicht identifizieren, was da halsüberkopf vor ihr Reißaus nahm. Es hätte ein Wolf, ein Fuchs oder etwas Katzenartiges sein können, doch in jedem Fall verschwand unter hastigem Rascheln zwischen den Bäumen. Sasha wartete ein paar Minuten – das Auge am Lauf und den Finger am Abzug – ob sich noch etwas regte, aber die Pferde verhielten sich nun wieder ruhiger und auch ansonsten konnte sie nichts Auffälliges mehr entdecken. Vorsichtig watete sie durch den Morast zur Stalltür und kontrollierte das Schloss, welches sich zum Glück als unversehrt herausstellte. Mit zittrigen Knien machte sie kehrt und da sie jetzt ohnehin schon unterwegs war, entschied sie sich, ihre Runde ums Haus ein wenig vorzuverlegen. Die unveränderte Witterung trieb sie zur Schnelligkeit an und sie sehnte sich danach, rasch wieder in ihren Unterschlupf zurückzukehren, bis sie schließlich die Vorratskammer passierte und dort wie angewurzelt stehen blieb. Der Gedanke an all die köstlichen Speisen, die sich hinter dieser Tür befanden, machte Sasha den Mund ganz wässrig und ein lautes Knurren ließ ihren Magen vor Hunger zusammenkrampfen. Unbewusst tastete sie in ihrer Manteltasche nach dem Schlüsselbund. Wenn sie sich nun ein ganz kleines Bisschen nahm – ein oder zwei Würste vielleicht, ein Stückchen Käse oder ein paar Möhren – wem würde das schon groß auffallen? Sasha schluckte schwer und mit aller Willenskraft, die sie aufzubringen vermochte, wandte sie sich ab und huschte vorbei an den mittlerweile geschlossenen Fensterläden und der Haustür, hinüber zu ihrem Unterstand. Es war nicht nur die Furcht vor Levi, der sie bei Diebstahl ohne zu Zögern in mundgerechte Häppchen zerteilen würde, die sie von ihrer Versuchung abbrachte, sondern auch die Tatsache, dass die Lebensmittelpreise ins uferlose gestiegen und die Vorräte recht überschaubar waren. Zumindest hatte Armin ihr das bei ihrer Ankunft im Versteck so erklärt und selbst Sasha leuchtete ein, dass es auf lange Sicht sinnvoller war, ihren Appetit zu zügeln, als irgendwann elendig zu verhungern. Immerhin würden die Lebensmittel für alle noch eine ganze Weile halten müssen. Resigniert plumpste Sasha auf ihr Fass, zog die Beine eng an ihren Körper und umfasste sie mit beiden Armen. In nur zwölf Stunden gab’s Frühstück… Je weiter die Nacht voranschritt, umso schwächer wurde der Regen, bis in der Dämmerung nur noch ein leichter Niesel vom Himmel fiel. Ganz gewissenhaft hatte Sasha ihre stündlichen Kontrollgänge absolviert, doch weder sie, noch Connie und Keiji hatten irgendwelche Vorfälle zu vermelden. Etwa seit Mitternacht hatte die Müdigkeit Sasha so fest mit ihren Klauen umschlossen, dass sie eingenickt wäre, hätte ihr Gegenspieler – die Kälte, die durch ihre klamme Kleidung in sie eindrang – ihren Körper nicht ununterbrochen schlottern lassen. Als im Morgengrauen die Tannen vom Waldrand sichtbar wurden und Mikasa Sasha auf ihrem Fass hockend vorfand, hatte diese bereits jegliches Zeitgefühl verloren und geglaubt, niemals aus diesem Albtraum erlöst zu werden. Verdreckt, verfroren und klatschnass vom Haaransatz bis zur Fußsohle übergab Sasha die Schlüssel und das Gewehr und schlurfte dann völlig erschöpft in die behagliche Wärme des Hauses. Drinnen war es so still, dass bis auf das Knarren der Dielen, das Sashas Schritte erzeugten, kein einziger Laut zu hören war. Der Speiseraum lag in gespenstischem Halbdunkel und erschien riesig, wenn niemand an seinen Tischen saß. So leise wie möglich erklomm Sasha die Treppe ins Obergeschoss, drückte behutsam die Tür zum Mädchenzimmer auf und versuchte sich ihrer nassen Kleidung zu entledigen, ohne Nifa und Historia aufzuwecken. Nur in Unterwäsche sank sie bäuchlings ins Bett und schaffte es gerade noch, die Decke bis zum Nacken hochzuziehen, bevor der Schlaf über sie herfiel, wie ein Raubtier über seine Beute. Es konnte erst wenige Sekunden her sein, dass sie die Augen geschlossen hatte, als jemand unsanft an ihrer Schulter rüttelte und laut ihren Namen rief. Zerstreut blickte Sasha auf und blinzelte in das angespannte Gesicht Mikasas. „Steh auf!“, sagte sie ernst. „Es gibt ein Problem.“ Wie in Trance richtete Sasha sich auf und kam gähnend und fröstelnd auf der Bettkante zum Sitzen. Das Licht, das durch Vorhänge schimmerte, war wesentlich heller als zuvor und von Nifa und Historia fehlte auch jede Spur. Es mussten wenigstens ein paar Stunden vergangen sein, doch viele waren es gewiss nicht. Mikasa gewährte Sasha einen Moment, um sich zu orientieren, bevor sie ihr frische, saubere Kleider in den Schoß drückte. „Zieh dich an!“, forderte sie sie auf. „Hauptgefreiter Levi will dich sprechen.“ „Jetzt?“, murmelte Sasha schlaftrunken. „Jetzt“, entgegnete Mikasa mit Nachdruck. Noch ein wenig benommen streifte Sasha sich die neuen Sachen über und versuchte Ordnung in ihre Frisur zu bringen, während sie Mikasa torkelnd aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und in den Speiseraum folgte. Levi lehnte gegen die Kopfseite des großen hölzernen Tisches und hob den Blick, als er die beiden Mädchen eintreten sah. Außer ihm hielten sich im Hintergrund nur noch Hanji, Moblit, Nifa und Armin auf. Sasha hatte zwar keine Ahnung, was hier vor sich ging, konnte die aufwallende Nervosität aber dennoch nicht unterdrücken. „Sasha Braus“, begann Levi langsam und der Angesprochenen versteiften sich alle Glieder, als sie seinen anklagenden Tonfall vernahm. „Du hast vergangene Nacht den Wachdienst am Haus gehalten. Ist das richtig?“ „J-Ja, Sir“, stammelte Sasha, noch immer verwirrt, wohin diese ganze Unterredung führen sollte. „Hast du während deiner Schicht die Vorratskammer kontrolliert?“ „Ja, Sir. Mehrmals.“ „War sie verschlossen?“ „Ja, war sie.“ „Bist du hineingegangen?“ „Nein, Sir.“ „Sie lügt!“ Nifa hatte sich von ihrem Stuhl erhoben und funkelte Sasha wutentbrannt ein. „Ich habe gestern zusammen mit Armin das Abendessen vorbereitet und da waren noch alle Lebensmittel da. Sie versucht doch ständig irgendwie an Essen zu ko-!“ Levi hob die Hand und Nifa verstummte. In Sashas Verstand rastete allmählich ein, welch schweren Vorwurf man gegen sie erheben wollte. „Ich- Ich hab nichts genommen“, sagte sie überhastet und schaute dann hilfesuchend in die Runde. „Gut, ich hab vielleicht mal ganz kurz drüber nachgedacht, aber genommen hab ich nichts.“ „Du hast drüber nachgedacht?“ Levis Augen verengten sich zu Schlitzen. „Da hören Sie’s!“, gab Nifa zum Besten und schlug mit der Handfläche auf den Tisch, dass die Teetassen klirrten. „Gib endlich zu, dass du es warst!“ „Die Beweise sprechen leider gegen dich, Sasha“, fuhr Levi unbeirrt fort. „Mikasa hat das Fehlen der Lebensmittel gemeldet, kurz nachdem sie dich abgelöst hat. Moblit hatte gestern zwischen dem Abendessen und dem Schichtwechsel keine Zeit, um etwas zu entwenden und außer dir hatte sonst niemand den Schlüssel.“ „Aber ich war’s nicht“, beteuerte Sasha leise und spürte, wie die Verzweiflung Tränen in ihr aufsteigen ließ. „Wenn ich etwas dazu sagen darf“, mischte sich nun auch Armin ins Gespräch ein, „aber ich kann nicht recht glauben, dass Sasha die Schuldige sein soll. Hätte sie etwas stehlen wollen, hätte sie doch niemals so viel genommen, dass es jemandem auffällt.“ „Klingt logisch, entlastet sie aber nicht“, gab Nifa zu bedenken. „Vielleicht waren es wilde Tiere?“, sagte Moblit, doch Armin schüttelte nur den Kopf. „Tiere hätten ihre Beute nicht so gezielt ausgesucht. Außerdem war die Tür nicht beschädigt und das Lager zu sauber. Selbst wenn Ratten oder Mäuse hineingekommen wären, hätten sie die Sachen nur angeknabbert, aber nicht komplett mitgenommen. Schon gar nicht in dieser Menge.“ „Dann ist der Fall wohl klar.“ Levi richtete sich auf und Sasha sprang einen halben Meter zurück. „Du wirst dich der Vorratskammer ab sofort nicht mehr nähern, hast du verstanden? Und damit wir uns dessen auch sicher sein können, machst heute zusätzlich Tagwache auf dem Hochsitz.“ Es war eine Ungerechtigkeit ohnegleichen. Todmüde und ausgehungert erklomm Sasha die Leiter zum Hochsitz, während der zunehmende Regen sie gnadenlos überschüttete und sie immer wieder von den Sprossen abzurutschen drohte. Zu allem Überfluss war es ausgerechnet Jean, der sie dort oben in Empfang nahm. „Na, ausgeschlafen?“, fragte er amüsiert und Sasha ließ sich wortlos in eine Ecke des Korbes fallen und versuchte die Übelkeit zu bezwingen, die der beißende Hunger in ihr auslöste. Grinsend kehrte Jean ihr den Rücken zu und warf einen prüfenden Blick über Wälder und Täler. „Die Sicht heute ist echt beschissen“, merkte er an, doch als auch das keine Reaktion hervorrief, wandte er sich wieder zu seiner Kameradin um und zu ihrer Überraschung lag auf einmal so etwas wie Mitleid in seiner Stimme. „Levi hat dich ganz schön auseinander genommen, was?“ Mehr als ein zustimmendes Brummen war Sasha noch immer nicht zu entlocken. „Kann ich mir vorstellen. Er und Hanji sind ziemlich gereizt, weil durch den Regen die Experimente mit Erens Titanenkörper brach liegen. So langsam läuft ihnen die Zeit davon. Deshalb bin ich ganz froh, wenn ich ab und an hier auf den Hochsitz rauf muss. Das Haus ist bei diesem Wetter einfach heillos überfüllt.“ Eine Weile schwiegen beide und lauschten dem gleichmäßigen Trommeln der Tropfen auf dem Holzdach, bis ein lautes Röhren von Sashas Magen die Stille jäh zerschnitt. „Was denn? Hast du etwa schon wieder Hunger?“, stichelte Jean und Sasha merkte, wie es das Fass zum Überlaufen brachte. „Ich habe immer noch Hunger“, schleuderte sie ihm zornig entgegen, „weil ich nämlich noch gar nichts gegessen habe. Und geklaut habe ich auch nichts.“ Jean zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Ist das wahr?“ „Ist es. Aber mir glaubt ja ohnehin keiner.“ „Ich glaube dir.“ Sasha war sich nicht ganz sicher, ob sie ihn wirklich richtig verstanden hatte. „Du glaubst mir?“, hakte sie nach und beobachtete dann, wie er auf sie zukam und sich neben ihr auf den Boden setzte. „Ja“, entgegnete er schlicht. „Du magst ein Vielfraß sein, aber eine Lügnerin bist du nicht.“ Worte existierten nicht, um die Dankbarkeit auszudrücken, die Sasha darüber empfand, dass es neben Armin noch jemanden gab, der sich für sie aussprach, selbst wenn es an ihrer Situation rein gar nichts änderte. „Wer, denkst du, könnte es gewesen sein?“, fragte Jean und Sasha zuckte bloß mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, sagte sie unglücklich. „Das macht alles überhaupt keinen Sinn. Ich hab den Schlüssel nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen.“ „Vielleicht hat Moblit die Vorräte schon vor dir geplündert.“ „Dazu blieb keine Zeit. Außerdem traue ich es ihm nicht zu. Wenn ich jemanden verdächtigen würde, dann wäre es Nifa. Sie hat mit allen Mitteln versucht, Levi von meiner Schuld zu überzeugen.“ „Das kann nicht sein. Nifa war mit Armin zusammen.“ „Und was ist mit Mikasa?“ „Unmöglich“, entrüstete sich Jean. „Sowas würde sie niemals tun. Zumal sie den Vorfall selbst gemeldet hat.“ Sasha konnte sich ein schales Lachen nicht verkneifen. „War ja klar, dass du sie verteidigst“, sagte sie, „so verknallt, wie du bist.“ „Ver- was? So ein Blödsinn!“ Jeans Wangen nahmen schlagartig einen dunklen Rotton an. „Ich- Ich mag jemand ganz anderen.“ „Ach so? Und wen?“ „Das geht dich überhaupt nichts an!“ „Komm schon! Ich sag’s auch keinem.“ Sie piekte ihm herausfordernd in die Seite, aber er stand genervt auf und stellte sich wieder in Aussichtsposition. „Wenn es einen zweiten Schlüssel gäbe, hätte es jeder sein können“, sagte er und Sasha tat ihm den Gefallen und nahm seinen kleinen Themenwechsel kommentarlos hin. „Davon würde Levi wissen“, erwiderte sie. „Dann vielleicht ein zweiter Eingang?“ „Die Kammer wurde bei unserer Ankunft untersucht.“ „Aber irgendwas muss es doch sein.“ Wieder verfielen sie einige Zeit in ratloses Schweigen. Ein kühler Windstoß brauste durch die umliegenden Baumkronen, zerzauste ihnen das Haar und schlug kleinere Zweige gegen Dach und Korb. Sasha zog sich die Kapuze auf und rollte sich in ihrer Ecke wie ein Igel zusammen. Sie rechnete damit, dass Jean sie auffordern würde, aufzustehen und ihm bei der Arbeit zu helfen, doch stattdessen fragte er: „Hast du gestern Nacht jemanden herumschleichen sehen?“ „Eigentlich nicht“, antwortete sie nach kurzer Überlegung. „Da war bloß irgendein Tier, das ich verscheucht hab. Also, ich glaube jedenfalls, dass es ein Tier war. So ganz genau konnte ich das nicht erkennen.“ Jean horchte auf und drehte sich zu ihr um. „Wo war das?“ „In der Nähe der Pferdeställe. Aber-“ Entsetzt schlug sich Sasha die Hand vor den Mund. „Du meinst doch nicht etwa, das war jemand von der Militärpolizei?“ Sie schoss so unvermittelt hoch, dass Jean vor Schreck zusammenfuhr. „Dann müssen wir sofort den Hauptgefreiten informieren!“ „Jetzt mal halblang“, versuchte er sie zu beruhigen, packte ihre Schultern und drückte sie mit sanfter Gewalt wieder nach unten. „Denk doch mal nach! Warum sollte die Militärpolizei denn unser Essen klauen? Die hätten uns eher kaltgemacht. Wir sollten uns diese Stelle nach dem Dienst aber trotzdem genauer ansehen.“ Wie intensiv Sasha und Jean auch weiter spekulierten, drehten sie sich schlussendlich doch immer wieder im Kreis. So zog sich der Nachmittag schleppend dahin und Episoden leichter Schauer wechselten sich ab mit Wolkenbrüchen und Platzregen. Ablenkung brachte nur der stündliche, knappe Austausch mit Mikasa über besondere Vorkommnisse und irgendwann machte die Eintönigkeit Sasha schläfrig. Sie kauerte sich in ihre Ecke, raffte den Mantel um ihren Körper und war innerhalb weniger Minuten eingedöst. Jean ließ sie in Ruhe und weckte sie erst, als der Himmel bereits in tiefes Schwarz getaucht war und die Wachablösung kurz bevor stand. Frierend und hungrig machten die beiden sich an den Abstieg und Sasha wünschte sich nichts sehnlicher, als ein heißes Bad, eine warme Mahlzeit und ein kuschliges Bett. Doch bis zum Abendessen dauerte es noch gut eine Stunde und Jean drängte darauf, das Gebiet um die Pferdeställe unbedingt vorher zu inspizieren. Sie passten den Moment ab, als Mikasa ihren Rundgang beendet und sich wieder in den Unterschlupf zurückgezogen hatte und stahlen sich dann unbemerkt an den Ort, an dem Sasha in der letzten Nacht dem vermeintlichen Tier begegnet war. Es war eine wenig erfolgversprechende Spur, aber der einzige Strohhalm, an den sie sich klammern konnte. Laternen zu entzünden war während der Dunkelheit nicht erlaubt, um die Aufmerksamkeit der Feinde nicht schon aus der Ferne auf sich zu ziehen, und so mussten sich Sasha und Jean bei ihrer Suche allein auf ihre Augen verlassen. Strömender Regen und glitschiger Schlick versprachen ihre Bemühungen in ein schier aussichtsloses Unterfangen zu verwandeln und gerade, als Sasha zum bestimmt vierten Mal den kompletten Stall umrundet hatte – kurz davor aufzugeben und am Ende ihrer Kraft – rief Jean sie plötzlich zu sich herüber. Sie musste zweimal hinschauen, um ihn zwischen den Bäumen im kniehohen Gestrüpp ausfindig zu machen. „Ich dachte, ich hätte eine Stimme gehört“, sagte er und deutete auf eine schmale, mit Moos überwachsene Falltür, die in den Waldboden eingelassen war, „und bin dann auf die hier gestoßen.“ Sie tauschten einen unsicheren Blick, als hofften beide, dass der jeweils andere vorschlug, was zu tun sei, bis schließlich Sasha all ihren Mut zusammen nahm. „Gut, ich geh vor“, verkündete sie, entfachte die Laterne, die sie vorsorglich mitgenommen hatten, mit einem Streichholz, öffnete dann die Luke und stieg vorsichtig die ersten Stufen hinab. Sie musste sich ducken, um nicht mit dem Kopf gegen die niedrige Decke zu stoßen und fand am Fuß der Treppe einen langen, dunklen Tunnel vor, dessen feuchte Wände einen modrigen Geruch absonderten und der – wenn sie sich nicht vollkommen verschätzte – in Richtung des Hauses führte. Schritt für Schritt tastete Sasha sich vor und obwohl sie Jeans Anwesenheit direkt in ihrem Rücken spürte und wusste, dass er sein Gewehr im Anschlag hielt, konnte sie nicht verhindern, dass die Hand, die die Laterne vor ihr hertrug, unkontrolliert zitterte. Nach einigen Metern machte der Gang einen Bogen und mündete in einen unterirdischen Bunker, der zwar menschenleer schien, aber eindeutig bewohnt war. Laken und Decken waren zu Schlafstätten hergerichtet und in der Mitte des Raumes befand sich ein kleiner Tisch, auf dem ein paar Kerzen standen, dessen Dochte noch qualmten, als habe sie eben erst jemand ausgeblasen. In der gespannten Stille dröhnte Sasha ihr eigener Herzschlag unerträglich laut in den Ohren. „Ist da jemand?“, flüsterte Jean und wie auf Kommando knallte etwas Langes, Schweres von der Seite her gegen Sashas Schienbeine und ließ sie keuchend in die Knie gehen. Ihre Laterne fiel flackernd zur Erde und aus den Augenwinkeln nahm sie mehrere Schatten wahr, die aus den Ecken an ihr vorbei huschten. „STEHEN BLEIBEN!“, hörte sie Jean brüllen und dann wurde das Fußgetrappel hinter ihr immer leiser und leiser und erstarb schließlich ganz. Mühsam rappelte Sasha sich wieder hoch, klaubte die Laterne vom Boden auf und machte sich trotz tränender Augen ebenfalls an die Verfolgung. Die eigene Angst ihr dicht auf den Fersen rannte sie den Tunnel zurück, so schnell ihre schmerzenden Beine sie trugen. Sie wusste nicht, wie viele es waren, denen sich Jean gerade alleine gegenüber sah, aber dass noch keine Schüsse gefallen waren, hielt sie für ein gutes Zeichen. Die Falltür war noch speerangelweit offen und ließ den Regen über die obersten Treppenstufen schwappen, als Sasha die Oberfläche endlich erreichte. Hektisch blickte sie sich um und entdeckte Jean auf der freien Fläche zwischen Haus und Pferdeställen. Er wirkte unverletzt und hielt einen Jungen im Schwitzkasten, dessen kleiner, ausgemergelter Körper sich kratzend und beißend gegen die Kräfte des Älteren zur Wehr zu setzen versuchte. Zwei weitere, noch jüngere Kinder standen mit schreckensbleichen Gesichtern daneben und rangen offensichtlich mit der Entscheidung, ob sie helfen oder lieber weglaufen sollten. Als sie Sasha durchs Gebüsch auf sich zukommen sahen, schien die blanke Panik sie zu erfassen und sie wirbelten herum, setzten zum Spurt an – und prallten geradewegs gegen Levi. Der Hauptgefreite reagierte innerhalb von Sekunden und drehte ihnen die Arme auf den Rücken, sodass ein Entkommen unmöglich wurde. Hinter ihm tauchten nun auch die Schemen der anderen Mitglieder der Einheit auf, die, wie Sasha vermutete, das Gelände abgesucht hatten, nachdem sie und Jean nicht zum Abendessen erschienen waren. „Was geht hier vor?“, fragte Levi und verlangte noch an Ort und Stelle von Sasha einen Bericht über die Lage. Dann wies er alle an, sich drinnen im Speiseraum zu versammeln. Die Kinder wurden in dicke, warme Decken gehüllt und bebten dennoch am ganzen Leib. Eingeschüchtert schauten sie von einem Fremden zum anderen, als man sie ins Haus führte, weshalb es Hanji vorzog, sie nicht im Beisein aller zu verhören und ins obere Stockwerk begleitete. Es dauerte nicht lange, bis sie die ganze Geschichte gebeichtet hatten und Hanji wieder ins Speisezimmer zurückkehrte. „Die drei stammen aus einem Dorf südlich von hier. Es wurde vor etwa zwei Wochen überfallen und bei ihrer Flucht sind sie tagelang durch die Wälder geirrt, bis sie unsere Hütte gefunden haben. Da haben sie hier gelebt, aber als wir eingezogen sind, bekamen sie Angst und haben sich im Bunker verschanzt.“ „Was ist mit den Lebensmitteln?“, fragte Levi. „Hinter dem rechten Regal in der Vorratskammer ist ein versteckter Durchgang, der direkt zu ihnen hinunter führt“, entgegnete Hanji. „Wir müssen das noch überprüfen, aber ich kann mir nicht vorstellen, warum die Kinder lügen sollten. Nach vier Tagen haben sie es einfach nicht mehr ohne Nahrung ausgehalten.“ Sasha fühlte, wie bei diesen Worten eine ungeheure Last von ihren Schultern fiel. „Da haben wir dir wohl Unrecht getan“, gestand Levi an sie gewandt und widmete sich mit finsterer Miene seinen übrigen Soldaten. „Ich frage mich nur, wer von euch dafür zuständig war, die Speisekammer bei unserer Ankunft zu untersuchen?“ Erst war keine Regung im Raum zu verzeichnen, bis schließlich Nifa, fast so kreideweiß wie zuvor die Kinder, ganz langsam ihre Hand erhob. Selbst Sasha, so wütend sie auch über Nifas vorherige Anschuldigungen gewesen war, kam nicht umhin, sie ein wenig zu bemitleiden. Was dann folgte, war das beste – nein, allerbeste – Abendessen, dass Sasha jemals in ihrem Leben genossen hatte und die erste Mahlzeit seit über 24 Stunden. Wie eine Halbverhungerte schlang sie beinahe alles auf einmal in sich hinein und blickte erst von ihrem Teller auf, als Jean ihr über den Tisch plötzlich sein Brot hinüberreichte. „Bist du dir sicher?“, fragte sie, so deutlich, wie es mit einem Mund voll Kartoffeln gerade noch möglich war. „Ja, du kannst es haben“, bestätigte Jean ihr und musste nicht lange warten, bis ihm der warme Laib aus den Händen gerissen wurde. In purer Glückseligkeit stopfte Sasha sich die Wangen voll und erweckte dabei den Eindruck eines überdimensionalen Hamsters. „Übrigens“, sagte sie, nachdem sie zuende gekaut hatte, „hast du mir immer noch nicht verraten, in wen du nun eigentlich verknallt bist.“ Jean seufzte unwillig auf. „Womöglich liegt das daran, dass es dich immer noch nichts angeht.“ „Ach komm schon! Gib mir wenigstens einen Hinweis!“, bettelte sie. „Du willst einen Hinweis?“, wiederholte er mit schiefem Lächeln. „Na schön. Sie isst gerne Kartoffeln.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)