Nur ein Beweis von Flordelis ================================================================================ »Wir waren alle dort!« ---------------------- Sebastian Castellanos, Detective des Krimson City Police Departments, Raucher, als Alkoholiker verschrien, hatte noch nie sonderlich viel für Träume übrig gehabt. Sie nahmen einem den Blick für die Realität, ließen zu, dass man sich in irgendwelche Fantasien flüchtete, die nie wahr werden konnten. In seinem Fall betraf das alles, was mit Myra, seiner Frau, und Lily, seiner Tochter, zu tun hatte. Aber genau aus diesem Grund, seiner Abneigung Träumen gegenüber, hatte er das Gefühl, in einem Albtraum festzusitzen. Nichts fühlte sich mehr echt an, die Zigaretten schmeckten leichter als sie sollten, der Whisky war schal, das Essen fad (egal wie viele Gewürze er verwendete und ob seine Augen bereits wegen der angeblichen Schärfe tränten), noch dazu wirkte die Welt für ihn bunter als sie sein sollte; alles, was Sebastian sah, schien er nur wie durch eine Glasscheibe hindurch zu beobachten – und er war sich nicht sicher, ob er überhaupt versuchen wollte, diese Scheibe zu zerbrechen. Dieser Zustand hielt an, seit diesem einen Tag. Seit er dieser Maschine, dem STEM, entkommen war. Seitdem war nichts mehr so wie es sein sollte und er war überzeugt, dass es niemals wieder so sein könnte. Er wachte jeden Morgen auf, ohne zu wissen, wie er eingeschlafen war, mit einem Geschmack von Asche im Mund, den er nur mit einem ersten Glas Whisky, dem dann noch viele weitere folgten, fortspülen konnte. Aber war das ein Beweis dafür, dass er wach war? »Was wäre denn ein Beweis, Ihrer Meinung nach?« Natürlich hatte das Department ihn nach den Ereignissen dazu gezwungen einen Psychologen aufzusuchen. Eine Person, die einer Profession nachging, wegen der es mitunter überhaupt erst zu diesem Ereignis gekommen war. Entsprechend schlecht gelaunt war er auch bei jeder neuen Sitzung, zu der er aber wenigstens nicht ins Krankenhaus gehen musste. Der Psychologe Isaac Kennard behandelte seine Patienten in der Innenstadt, in einem Raum, der weniger an eine Praxis und mehr an ein gemütliches Wohnzimmer erinnerte. Man saß bei den Sitzungen auf einem Ledersofa oder betrachtete die vielen Bücher in den Regalen, die zwei der Wände säumten oder blickte aus dem Fenster hinaus auf die Stadt hinunter. So wie Sebastian an diesem Tag mal wieder, während er lustlos seine Zigarette rauchte. Kennard saß derweil auf einem zum Sofa passenden Ledersessel, machte sich unablässig Notizen, obwohl gar nichts gesagt wurde. Die Stadt war vollkommen in Ordnung, keine Ruine, wie sie es innerhalb des STEMs gewesen war. Das Leben dort unten florierte, ohne jedes Monster, ohne eine Falle, die einen unvorsichtigen Besucher schlagartig in den Tod riss. Unwillkürlich vollführte seine freie Hand die Bewegung, die er stets durchgeführt hatte, wenn es um das Entschärfen der Fallen gegangen war. Kennards Stift kratzte auf dem Papier. Ein CD-Player spielte sanfte klassische Pianoklänge, die dafür gedacht waren, den Patienten zu beruhigen. Bei Sebastian erreichten sie aber eher das Gegenteil. Seine Nackenhaare standen aufrecht, er wartete auf ganz bestimmte Noten, die bislang noch nicht gespielt worden waren. »Ich weiß es nicht«, antwortete er schließlich auf die Frage. »Vielleicht werde ich es auch erst erfahren, wenn ich sterbe.« Kratzen. »Das will ich nicht hoffen«, sagte Kennard bemüht humorvoll. »Es dürfte Ihnen schwerfallen, mir dann davon zu berichten.« »Wenn Sie ein Teil dieser Illusion sind, nicht.« Aufgeregtes Kratzen. Sebastian atmete den Rauch aus. Graue Schwaden schwebten vor ihm, er glaubte, Bilder darin zu erkennen. Er verschwand, ehe er sie deuten konnte. »Ich weiß, Sie reden nicht gern darüber«, begann Kennard, »aber lassen Sie uns noch einmal über diese Komafantasie sprechen.« Energisch drückte er die Zigarette in einem Aschenbecher aus. Kristall. Schwer. Sicher teuer. »Es war nicht nur eine Komafantasie. Ich habe es Ihnen schon gesagt, ich war dort. Wir waren alle dort!« »Im Geist.« Es war erstaunlich, wie stur sich jemand stellte, der von so etwas wie dem STEM eigentlich fasziniert sein dürfte. Möglich war aber auch, dass er sich das nur nicht anmerken lassen wollte. »Es war mehr als nur das!« Sebastian ballte die Hand zur Faust, stellte sich vor, wie eines dieser verrückten Wesen, schon lange kein Mensch mehr, vor ihm stand. »Aber Sie wurden doch in der Beacon Nervenklinik gefunden.« Die Stimme der Vernunft, ein schneidendes Feuer in der Antarktis. »Nicht von meinen Leuten!« Noch immer erinnerte er sich an jene Männer mit den Gasmasken, die zu Kidman – falls das ihr richtiger Name war – gehört haben mussten. Auf ihre Aussage hin hatten sie den totgeglaubten Sebastian liegengelassen, genau wie die beiden wirklich verstorbenen Connelly und Jimenez. Aber Joseph … Sebastian fuhr herum. »Sie haben meinen Partner entführt!« Kratzen. Der Stift flog über das Blatt, das schon fast vollständig mit einer engen Schrift und hastig hingekritzelten Diagrammen gefüllt war. »Sebastian, wir haben doch bereits darüber gesprochen. Sie hatten einen Unfall, während Sie dem Fall einer vermissten Person nachgegangen sind. Und Ihr Partner, Joseph Oda, ist auf dem Heimweg verschwunden.« Kennard blickte auf seine Notizen hinab. »Weil Sie mit all diesen Tragödien nicht zurechtkommen, hat Ihr Gehirn-« Die letzten Klänge des Klavierstücks waren verstummt, das nächste setzte ein – und im selben Moment wurden Kennards Worte in seinem Inneren vollkommen ausgeblendet. Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde war Sebastian am CD-Player, wütend hämmerte er auf die Tasten, bis die Musik gänzlich verstummte. Gerade rechtzeitig, bevor noch ein Spiegel zerbrach. Er wirbelte herum. »Ich habe doch gesagt, nie mehr Clair de Lune!« Kennard hob die Hände, ergab sich, nein, wollte ihn beruhigen. »Es tut mir leid. Ich habe vollkommen vergessen, dass dieses Lied auf der CD ist.« Sebastian glaubte ihm nicht. Er konnte das hintergründige Glitzern in den hellen Augen des Mannes sehen. Dann spürte er einen eiskalten Hauch, gefolgt von einer Stimme: »Ist etwas nicht in Ordnung?« Er wandte nicht den Kopf, obwohl er es wollte, um dem Ursprung von Tatianas Stimme nachzugehen. Aber noch rechtzeitig bemerkte er, dass es Kennard gewesen war, der die Worte geäußert hatte. Es fehlte gerade noch, dass der Psychologe ihn für verrückt hielt. So käme er nie in den aktiven Dienst zurück. Und was war sein Leben denn sonst noch wert? Als er sich endlich auf dem Sofa niederließ, redete er sich ein, er tat dies, um Kennard Kooperation vorzugaukeln. Aber in Wahrheit fühlte er sich plötzlich erschöpft, ausgelaugt. Seit jenem Tag geschah auch das immer häufiger. Der Aufenthalt im STEM hatte auch körperliche Spuren hinterlassen. Kratzen. Kennard notierte. Dann die nächste Frage: »Sie sagten vorhin, es seien nicht Ihre Leute gewesen. Wer war es denn dann, der sie fand? Und der, Ihrer Meinung nach, Ihren Partner entführt hat?« »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.« Eigentlich wollte er mehr aufbrausen, aber diese Frage hatte er schon viel zu oft beantwortet. »Aber meine Frau, Myra-« »Die Sie verlassen hat?« »Sie hat mich nicht verlassen!« Bei einer solchen Aussage konnte er nicht an sich halten. »Myra war ein Detective, genau wie ich, und sie war einer großen Sache auf der Spur. Einer Sache, die mit Mobius zu tun hat.« Eine Organisation, von der kaum etwas bekannt war. Außer dass Myra in Bezug auf die Vermisstenfälle über sie recherchiert hatte und- »Die Organisation, die laut Ihnen auch verantwortlich ist für das, was sie durchmachen mussten?« »Es war alles geplant. Lilys Tod war eine Warnung, Myras Verschwinden ein Exempel – und meine Verwicklung in die Geschichte mit Ruvik das letzte Mittel zur Beseitigung aller Beweise.« Diese lagerten immerhin noch bei ihm zu Hause, in dem kleinen Päckchen, in das Myra sie damals gelegt hatte, um sie ihm zu schicken, sollte ihr etwas zustoßen. Er hatte sie seinem Vorgesetzten noch nicht übergeben. Es war eine irrationale Angst, die ihn davon abhielt. Angst, dass die Beweise damit verschwanden und doch nichts getan wurde, aus Furcht vor Mobius. »Meinen Sie das ernst?«, fragte Kennard, ein wenig belustigt. »Ich bitte um Verzeihung, aber denken Sie nicht auch, dass das zu konstruiert ist? Die ersten beiden Punkte könnte ich noch durchgehen lassen, Sie sagen ja, Sie besitzen Beweise dafür.« Kennard lehnte sich zurück, nahm den Kugelschreiber zwischen beide Hände und begann dann damit, ihn langsam zu drehen. »Aber nehmen wir nur einmal an, die Ereignisse im … STEM sind nicht das Resultat einer Komafantasie, sondern Teil der Realität. Warum sollte man dann gerade Sie auf eine derartig komplexe Art und Weise loswerden wollen, aber dann nicht einmal sichergehen, dass Sie wirklich tot sind?« Das passte wirklich nicht zusammen. Sebastian bemerkte das sofort, als Kennard es ansprach. Da er nichts mehr sagte, lächelte der Psychologe zufrieden. »Sehen Sie, Sebastian? Dass Mobius für STEM und alles andere letztendlich verantwortlich war, ist nur ein weiteres Zeichen dafür, dass das alles nur in Ihrem Kopf geschehen ist.« »Was ist mit dem, was direkt nach meinem Aufwachen passiert ist?« Er erinnerte sich deutlich an Kidman. An den Behälter, die Wanne, in der er gelegen hatte. An den Weg aus der Klinik hinaus. An das Abbild von Leslie, das er hatte weggehen sehen. »Ein Traum.« Für Kennard war alles so einfach. »Das sind alles Ereignisse, die Sie ebenfalls geträumt haben. Ihre Erinnerungen gaukeln Ihnen nur vor, das wäre geschehen, nachdem Sie aufgewacht waren.« Es klang logisch, das musste Sebastian sich eingestehen. Aber er wollte es nicht akzeptieren. Kennard hatte nicht erlebt, durch welche Hölle er gegangen war. Ansonsten wäre das bestimmt nicht seine Antwort auf alles. »Wer sagt dann, dass auch das hier nicht nur ein Traum ist? Vielleicht bin ich ja nie aufgewacht.« »Sie suchen immer noch einen Beweis.« Kratzen. »Der besorgte Typ also.« Wieder Tatianas Stimme. Sebastian ignorierte sie. Selbst in einem Traum konnte sie nicht hier sein. Sie war immer nur an dem sicheren Zufluchtsort erschienen, nie irgendwo anders, im Gegensatz zu allen anderen Beteiligten, denen er an den verschiedensten Orten begegnet war. »Was soll ich Ihrer Meinung nach denn machen?« Das brachte Kennard wirklich zum Nachdenken. Er blickte zur Decke hinauf. »Wir müssen auf jeden Fall daran arbeiten, Sebastian. Akzeptieren lernen, dass diese Ereignisse nur Ihre eigene Art sind, mit Wahrheiten umzugehen, die schwer zu verarbeiten sind. Sobald Sie das geschafft haben, werden Sie auch wieder erkennen, dass Sie wirklich in der Realität sind.« Genau das war es ja, was Sebastian eigentlich wollte. Er wäre froh, wenn das endlich funktionierte. »Das ist ein schwerer Weg, den Sie vor sich haben«, fuhr Kennard fort. »Aber gemeinsam schaffen wir das.« Er lächelte aufmunternd, was Sebastians Laune nur weiter ins Bodenlose sinken ließ. Aber wenn er so tat als nähme er an der Therapie teil, könnte er schneller wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehren und damit seine eigenen Recherchen fortsetzen. Für ihn war diese Sache (warum war er darin verwickelt worden? Wer war Kidman? Und wohin waren Myra und Joseph verschwunden?) noch nicht erledigt, kein bloßer Traum gewesen, also nickte er. Genau dasselbe was er am Ende jeder Sitzung machte, in der Hoffnung auf eine positive Bewertung. Kratzen. Selbst das klang plötzlich zufrieden. Sebastian verließ das Behandlungszimmer schließlich, ohne den Wunsch, bald wiederzukommen. Ginge es nach ihm, würde er gar nicht erst seine Zeit hier verschwenden, sondern nach Myra und Joseph suchen. Antworten finden. Wie ein Detective es eben tat. Er fuhr nicht selbst nach Hause. Mit einem Whisky schon am frühen Morgen und einem am Mittag – nur um sicherzugehen – war fahren eine schlechte Idee, wenn er seine Marke zurückhaben wollte. Also nahm er ein Taxi. Ein schweigsamer Fahrer, der vermutlich nicht einmal seine Sprache beherrschte. Er wusste es nicht. Aber es kümmerte ihn auch nicht weiter. Zu Hause angekommen kontrollierte er seinen Briefkasten, wenn auch hauptsächlich aus Gewohnheit. Er erwartete nichts – und war deswegen umso überraschter, als er tatsächlich einen Briefumschlag vorfand. Seine Adresse stand nicht darauf, nur sein Name, in Druckbuchstaben, mit Kugelschreiber geschrieben. Kein Absender. Keine Briefmarke. Jemand hatte ihn persönlich eingeworfen. Er drehte ihn hin und her, überlegte, ihn dem Präsidium zu übergeben. Vielleicht war es eine Falle. Vielleicht auch etwas anderes. Aber vielleicht war er nur paranoid. Deswegen öffnete er den Umschlag, noch bevor er das Haus betrat. Darin war ein Brief und zwei Bilder, die sofort seine Aufmerksamkeit erregten und ihn scharf einatmen ließen. Das eine zeigte Joseph, er schien bewusstlos zu sein, aber er war an Geräte angeschlossen, die bezeugten, dass er noch lebte. Im Hintergrund, kaum sichtbar, konnte Sebastian das rote Symbol erkennen, das zu Mobius gehörte. Es war auf verschiedenen Dokumenten abgebildet, die Myra ihm überlassen hatte, daher erkannte er es sofort wieder. Motivation kehrte wie eine Flamme in Sebastians Körper zurück. Mit diesem Beweis könnte er vielleicht jemanden davon überzeugen, dass er nicht verrückt war und dass nicht alles nur in seinem Gehirn stattgefunden hatte. Das zweite Bild war es aber, das direkt in seine Brust zu greifen und dort mit scharfen Krallen alles zu zerstören schien. Es war eindeutig Myra. Sie wirkte ein wenig älter, als sei sie gestresst, ihre Kleidung und ihre Frisur waren anders. Sie sah nun nicht mehr so aus wie ein Detective, sie sah aus wie eine Geschäftsfrau, kühl und distanziert, professionell. Ganz anders als früher. Auch in ihrem Bild war im Hintergrund das Mobius-Symbol zu erkennen. Aber sie sah nicht wie eine Gefangene aus. Was hat das alles zu bedeuten? Als letztes warf er einen Blick auf den beiliegenden Brief. Er war natürlich nicht handgeschrieben, sondern getippt, kein Name, nur ein Satz: Sie sind am Leben. Das war alles, aber es genügte vollkommen, um Sebastian mit einem neuen Ziel zu erfüllen. Es war greifbar, er hatte Beweise, er könnte es schaffen, sie zu finden. Er könnte die Wahrheit hinter allem herausfinden – und dann wäre er endlich wieder in der Realität. Aber wer hat den Brief hergebracht? Ohne große Hoffnung ließ er den Blick die Straße hinunterschweifen. Sie war leer, genau wie er erwartet hatte, nicht einmal die Nachbarn waren unterwegs. Aber von irgendwoher, wie vom Wind getragen, glaubte er, die ersten Töne von Clair de Lune hören zu können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)