Der nächste Schritt von Veku ================================================================================ Kapitel 1: ... nur ein Schritt ------------------------------ Hier fühlte er sich wohl. Seine eigenen vier Wände gaben ihm Sicherheit. Ein Gefühl, das nicht kostbarer sein konnte als Gold. Es konnte mit keinem Geld der Welt bezahlt, gar ersetzt werden. Wie sollte man auch ein Gefühl verkaufen können? Eigentlich konnte er lediglich eine Einzimmerwohnung sein Eigen nennen. Für sein Wohlbefinden brauchte er jedoch nicht mehr. Auf wenigen Quadratmetern hatte er sein gesamtes Leben verteilt. Bunte Bilder hingen an den Wänden, einerseits gekauft Gemälde und dann noch vereinzelte gerahmte Familienfotos. Seinen Schlafbereich hatte er gekonnt mit einem Bücherregal von dem übrigen Raum getrennt. Auch wenn er nicht viele Möbel besaß, gab es noch ein Sofa, ein Fernseher und ein Schreibtisch mit einem Computer. Alles nicht neu, aber zweckmäßig. Neben seinem persönlichen Reich gab es noch ein kleines Badezimmer und einen ebenso kleine Küche. Jeden Tag aufs Neue wurde ihm bewusst, wie sehr er seine Umgebung brauchte. Er konnte lediglich hier funktionieren. Manchmal wunderte er sich selbst darüber, dass ihn eine Wohnung dermaßen zufrieden stellte. Wenn er es jedoch recht bedachte, war es nicht die Wohnung an sich, sondern deren Größe. Er hatte gerade genug Platz für sich allein. Für eine weitere Person würde es nicht ausreichen, aber wozu brauchte er noch jemand anderes? Es gefiel ihm so. Er war gern allein. Familie und Freunde hatte er nur wenige, doch zum Besuch kamen sie nicht. Und er besuchte sie ebenso wenig. Zu groß waren die Bedenken, wie er sich fühlen könnte, wenn seine kleine Wohnung nur so von Leuten überfüllt war. Nicht einmal zu seinem Geburtstag durften sie kommen. Manchmal machte es ihn traurig, dass eine körperliche Nähe nicht möglich war. Und dennoch... der Wunsch nach Nähe konnte sein Bedürfnis nach Sicherheit nicht verdrängen. Zu übermächtig war die Angst. Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen, es wiederholte sich. Es klingelte. Für einen kurzen Moment war er wie gelähmt. Wieso klingelte es? Wer rief ihn an? Normalerweise bekam er genauso viele Anrufe wie Besuch. Aber manchmal gab es solche Tage... Letztendlich war es seine Neugierde, die siegte. Zielstrebig steuerte er seinen Computer an, griff nach seinen Bluetooth Headset und setzte ihn sich ans Ohr. Bis zuletzt hatte er gehofft, dass es schnell wieder aufhören würde zu klingeln. Bei dieser sturen Hartnäckigkeit wusste er allerdings gleich, wer da anrief. "Warst du etwa noch am Schlafen?" Die Schroffheit der Worte zauberten ein kleines Lächeln auf sein Gesicht. Er war es. "Nein, ich..." "Lass mich raten. Du wolltest mich abblitzen lassen, oder?" "Als abblitzen würde ich es nicht bezeichnen." Stille herrschte am anderen Ende der Leitung, wodurch er beinahe ein schlechtes Gewissen bekam. Sein bester Freund wusste um seine Angst bestens Bescheid und zeitgleich war er der Einzige, der ihn nicht wie ein rohes Ei behandelte. Jeder andere hätte nach dem fünften Klingeln aufgelegt und ihn in Ruhe gelassen, mit dem Gedanken das richtige zutun. Nicht so er. Manchmal wusste er jedoch nicht, ob er dem Anderen ein ebenso guter Freund war. "Sondern?", kam schließlich die herausfordernde Frage. Nun blieb er dem Anderen eine Antwort schuldig. Wie sollte er darauf reagieren, wie sollte er sich erklären? Welche Worte sollte er nutzen, dass es nicht wie eine Ausrede klang? Egal, was er nun sagen würde, der Andere kannte seine Ausflüchte nur zu gut. Alles würde sich wie auswendig gelernt anhören. Aber genau so war es. Seine Angst hatte aus ihm eine Art Roboter gemacht. Er sagte Dinge, von denen er glaubte, dass sie von den anderen gehört werden wollten. Nicht so bei ihm. Sein bester Freund verlangte Ehrlichkeit. In all ihren Facetten. "Hör zu, lassen wir diese Spielchen", durchbrach der Andere die Stille, "wir wissen schließlich beide, dass das zu nichts führt. Deswegen habe ich auch gar nicht angerufen." Es bildete sich ein Kloß in seinem Hals. Er konnte jedoch nicht anders, als die Frage einfach zu stellen: "Weshalb rufst du dann an?" "Ich stehe hier unten vor deiner Tür." "Nein...", platzte es unüberlegt aus ihm heraus, schneller als das er es hätte verhindern können. Sofort schlug er sich die Hand vor dem Mund. Und ohne die Reaktion seines Körpers beeinflussen zu können, spürte er wie sich sein Herzschlag rasant beschleunigte. Es begann in seinen Ohren zu rauschen und seine Hände fingen an zu zittern. Das Zittern übertrug sich innerhalb von Sekunden auch auf den Rest seines Körpers. Oh Gott, schoss es ihm durch den Kopf. Das ein einzelner Satz dieses Panik in ihm hervorrief, war nicht das erste Mal. Eigentlich hätte er darauf gefasst sein müssen. Doch wie jedes Mal fragte er sich, wie man sich auf eine Panikattacke vorbereiten sollte. Wenn er das Gefühl bekam, mit seiner größten Angst konfrontiert zu werden, überrollte es ihn wie eine riesige Welle. "Wir haben zwei Möglichkeiten", drang langsam die Stimme seines Freunde zu ihm durch, "erstens machen wir es wie die anderen Male auch. Ich lege auf und lasse dich wieder zur Ruhe kommen. Oder aber du wagst endlich den Schritt und kommst zu mir runter." Es klang so verdammt einfach und war doch die schwerste Aufgabe, die er sich je gegenüber sah. Wie konnte der Andere nur immer wieder das von ihm verlangen? Das war ungerecht. Er hatte Angst, verdammt noch mal. Angst! "Da gäbe es noch eine dritte Möglichkeit", keuchte er. "Aha?" Nur schwer kam er wieder zu Atem, rang mit sich selbst, kämpfte nahezu um seine Selbstkontrolle. Schweiß war ihm auf die Stirn getreten und rollte in dicken Tropfen über sein Gesicht. Und dennoch konnte er einen Gedanken fassen. Nur diesen einen. So oft war ihm dieser schon durch den Sinn gegangen, eigentlich ab dem Moment, als sein bester Freund das erste Mal von ihm verlangt hatte, seine Wohnung zu verlassen. Verzweifelt hatte er nach einer Möglichkeit gesucht, sich nicht selbst auf die Probe stellen zu müssen. Sondern den Anderen. "Du kommst zu mir rauf." Er konnte nun das Luftschnappen des Anderen wahrnehmen. So wusste er doch auch um die größte Angst seines besten Freundes Bescheid. Im Grunde waren sie beide sich am ähnlichsten und dann konnten sie wiederrum nicht unterschiedlicher sein. Er war schüchtern und zurückhaltend, machte nur dann auf sich aufmerksam, wenn es sich nicht vermeiden ließ und hatte unvorstellbare Panik vor großen Plätzen; vor zu vielen Menschen. Wie konnten es andere nur tagtäglich aushalten mit einer unbestimmte Anzahl an Fremden zusammen zur Arbeit zu gehen, in überfüllte Zügen und Straßenbahnen zu fahren oder gar in Kantinen gemeinsam zu Mittag zu essen. Allein die Vorstellung ließ sein Herz wieder höher schlagen und sein Atem wurde unregelmäßig. Sein Freund dagegen war extrovertiert, liebte es im Mittelpunkt zu stehen und war bei allen beliebt, mit denen er zutun hatte. Und dennoch hielt er es keine Sekunde zu lang in einem zu kleinem Raum aus. Alle Türen und Fenster mussten offen stehen, er durfte auf keinen Fall das Gefühl bekommen, eingesperrt zu sein. Und während er sich dem bewusst wurde, hörte er durch den Schleier seiner eigenen Angst, dass es dem Anderen nicht besser erging. Sie waren miteinander verbunden. Und waren dennoch nicht in der Lage, sich gegenseitig zu helfen. Jeder lebte für sich mit seiner Angst, ging anders damit um. Ihre einzige Art miteinander zu kommunizieren, bestand durch ein Telefon. Während der Andere all das erlebte, was man in jungen Jahre tun sollte, vergrub er sich in seiner Wohnung und ließ das Leben an sich vorbei ziehen. Aber er war glücklich damit. Wieso sollte er etwas verändern? "Wie wäre es mit einem Kompromiss?" "Was?" "Keiner von uns muss den ganzen Weg allein gehen. Wir... wir treffen uns in der Mitte und sehen was passiert. Einverstanden?" "Ich weiß nicht, ob ich das kann." Es herrschte erneut Stille. Verdammt, er musste etwas tun. Wenn sein bester Freund ihm schon mit einem anderen Vorschlag entgegen kam, konnte er ihm nicht erneut vor den Kopf stoßen, das wäre nicht richtig. Und gewiss nicht fair. Fieberhaft überlegte er, wie sie ihre beinahe ausweglose Situation, wenigstens für dieses Mal, retten konnten. Mit einem Erfolg für beide Seiten. "Okay. Ich weiß, was wir machen." "Ich bin ganz Ohr." "Nur einen Schritt." "Bitte?! Sprich im ganzen Satz mit mir, ich kann dich sonst nicht verstehen!" Beinahe hätte er gelächelt. Die Ungeduld war nicht aus der Stimme des Anderen zu überhören gewesen. Trotz der Panikattacke, die sie beide durchgemacht und gewiss noch nicht ganz überwunden hatten, konnte sein bester Freund es nicht verhindern, dass sein Gemüt mal wieder mit ihm durchging. "Für heute macht jeder von uns nur einen Schritt auf den anderen zu. Wir brauchen bloß die Türen öffnen. Wir könnten uns dann sogar winken." Schweigen. Wieder einmal. "Du weißt, was du da von mir verlangst?" Nun hätte er beinahe wirklich aufgelacht. Solch eine Frage hätte er selbst ebenfalls stellen können. Wieso war er nicht auf diese Idee gekommen, dann wäre der Andere in der Pflicht sich zu erklären und nicht er selbst. Verdammt, er war einfach nicht schlagfertig genug. "Ja, weiß ich", antwortete er schließlich, "denn ich verlange schließlich dasselbe von mir selbst." "Okay", seufzte der Andere, "nur ein Schritt." Er nickte. Und schüttelte im nächsten Moment den Kopf über sich selbst. Der Andere konnte ihn doch überhaupt nicht nicken sehen. Und dennoch... es war eine Art Selbstbestätigung für ihn. Nun würde es kein Zurück mehr geben. Keine entschuldigenden Worte, keine Absage, keine Zweifel. Langsam ging er auf seine Wohnungseingangstür zu. Jeder Schritt fühlte sich tonnenschwer an. Es begann von Neuem in seinen Ohren zu rauschen. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Das Zimmer drehte sich zunächst langsam um ihn bis es immer mehr Fahrt aufnahm und er beinahe erleichtert war, die Türklinke in der Hand zu haben. Eine Konstante. Er klammerte sich an seinen Halt, schnaufte, schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, der Angst davor hatte, zu ersticken. Worauf hatte er sich bloß eingelassen? Er schluckte, spürte erneut den Kloß in seinem Hals. Die Türklinke verdoppelte sich vor seinen Augen und er hatte das Gefühl die falsche in der Hand zu haben. Hilfe, dachte er und war kurz davor, es laut auszusprechen. Aber der Andere konnte ihm nicht helfen, selbst in solch einer Situation wäre keiner von ihnen in der Lage, den Retter zu spielen, sollte einer in Ohnmacht fallen. Weder er konnte nach unten, noch der Andere nach oben. Es war beinahe zum Verrückt werden. Und dann drückte er einfach die Klinke nach unten. Der letzte Rest an Vernunft und Mut hatten seinen Körper wie automatisch handeln lassen. Während die Gedanken in seinem Kopf rasten und nicht eine sinnvolle Idee hervorrufen konnten, funktionierte der Rest von ihm, als wäre es das natürlichste auf der Welt. Im Grunde war es das, wenn da nicht diese alles lähmende Angst wäre. Und nun ziehen, überlegte er und konnte sich erneut nicht rühren. Er verließ sich ganz und gar auf die Reaktion seines Körpers. Der Ablauf war doch immer derselbe. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und atmete tief durch. Er konnte sein wildschlagendes Herz hören und fühlte den kalten Schweiß auf seinem Gesicht. Und los. Ohne noch einmal darüber nachzudenken, was es für ihn zu bedeuten hatte, zog er an der Tür und war kurzzeitig erstaunt darüber, wie leicht sich diese öffnen ließ. So schwer war allein die Vorstellung gewesen, welche Anstrengung es bedeuten würde, die Außenwelt zu ihm herein zu lassen. Und damit er nicht erneut zu einem Stein erstarren würde, befahl er seinen Füßen nach vorne zu gehen. Steif machte er einen Schritt nach vorne und blickte die Treppen hinunter. Und konnte niemanden sehen. Erneut erfasst ihn Panik, aber nicht wegen dem was er sah, sondern viel mehr wegen dem was er nicht sah. Wo war der Andere? Ein Räuspern in seinem Ohr ließ ihn zusammenzucken. "Hast du nicht etwas vergessen?" Die Stimme seines besten Freundes klang wie immer. Ungeduldig und laut. "Ich...", fing er unsicher an und konnte sich keinen Reim darauf machen. "Ohne elektrischen Türöffner komme ich nicht ins Haus." "Oh! Warte." Er ging den Schritt wieder zurück und drückte rechts an der Wand auf einen Knopf. Ein Summen ertönte aus dem Treppenhaus. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, in der es bis auf das Geräusch nichts anderes zu hören gab. Beinahe glaubte er schon, dass sein bester Freund ebenfalls mit dem Gedanken spielte, aufzugeben, sich umzudrehen und einfach wieder zu gehen. Er würde es ihm auf jeden Fall nicht verübeln. Er hatte ebenfalls ans Aufgeben gedacht. Und dann öffnete sich die Tür. Er nahm noch einmal allen Mut zusammen und trat über die Türschwelle. Und blickte nach unten. Der Andere stand schwer keuchend am Ende der Treppe und klammerte sich wie ein Nichtschwimmer ans Geländer, der Angst vor dem Ertrinken hatte. Ein leichtes Lächeln erschien auf dessen Gesicht. "Wir haben es geschafft!" Ja, und wie sie das hatten, dachte er. Und dafür war nur ein Schritt nötig gewesen, ein Schritt, der schwerer als jeder andere in ihrer beider Leben gewesen war. Ein Schritt, der vieles verändert hatte und wahrscheinlich noch vieles ändern würde. Tränen traten in seine Augen. Der Erfolg war unbeschreiblich. "Und wann wagen wir den nächsten Schritt?" "Du bist so ein Idiot!", lachte er. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)