Immer noch da von Kathey ================================================================================ One-Shot -------- "We must see all scars as beauty. Okay? This will be our secret. Because take it from me, a scar does not form on the dying. A scar means, ‘I survived’." - Chris Cleave Manchmal hatte Sam das Gefühl, dass die Zeit schneller als früher verging. Ehe sie sich versah, war der Herbst zu Ende gegangen. Es war fast schon so, als hätte er gar nicht existiert, als wäre der Übergang von Frühling auf Winter fließend gewesen. Dabei war so viel passiert. So viel, dass sie an manchen Tagen nicht einmal mehr wusste, ob es wirklich geschehen war, oder ob ihr ihr Kopf einmal mehr einen bösen Streich gespielt hatte. Und immer, wenn ihr diese Gedanken kamen, wenn sie nicht wusste, was wahr und was falsch war, brauchte sie nur eins zu tun: Sie nahm ihr Handy, entsperrte es und wählte die Nummer, die auf ihrer Anruferliste seit einiger Zeit immer an der ersten Stelle zu stehen schien. Und dann wartete sie. Sie wartete das erste Klingeln ab, das zweite, und hoffte und betete jedes Mal, dass ihre Erinnerungen sie nicht täuschen mochten. Dass sie nicht wieder in einem nicht enden wollenden Albtraum gefangen war. Oder in Tagträumen, die sich am Ende als Unwahrheiten herausstellten und für sie fast noch schlimmer zu ertragen waren. „Sammy?“ Sie hatte gar nicht gemerkt, dass er an Anruf angenommen hatte, so sehr war sie in Gedanken versunken gewesen. Aber als sie seine Stimme vernahm, als sie wieder ins Hier und Jetzt gerissen wurde, da atmete sie erleichtert aus, erlaubte sich ein glückliches Schniefen, das sowohl er als auch sie am Ende dementieren würden. „Ist alles in Ordnung?“, fragte die ruhige Stimme am anderen Ende mit merklicher Besorgnis nach. „Du würdest nicht mitten in der Nacht anrufen, wenn nichts wäre.“ Erst jetzt blickte sie auf den Wecker, der auf dem alten Nachttisch aus Eiche sein Dasein fristete. Die blau leuchtenden Zahlen machten ihr unmissverständlich klar, dass es gerade kurz nach Mitternacht war. Hatte sie wirklich seit dem frühen Abend in ihrem Bett gesessen, die Decke um die Beine geschlungen und einfach vor sich hin gebrütet? Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie geschlafen hatte, es war, als wären die letzten Stunden niemals da gewesen. „Ja“, antwortete sie schließlich leise, obwohl sie es sich selbst nicht wirklich glaubte und strich sich die blonden Strähnen aus der Stirn, während sie sich sammelte. Irgendwann im Laufe der Nacht hatte sich ihr Dutt halb gelöst, die Hälfte ihrer Haare hing ihr jetzt widerspenstig ins Gesicht. „Ja, es ist doch alles okay.“ Sie konnte förmlich hören, wie eine seiner Augenbrauen gefährlich in die Höhe schoss. Sie kannte ihn gut genug, um seine Reaktionen erahnen zu können. Mittlerweile waren sie solche Anrufe voneinander auch gewohnt. Oder sie sollten es sein. Mal geschah es von seiner Seite aus, weniger oft von ihrer, aber es war jedes Mal dieselbe Prozedur: Einer rief an und war mehr als erleichtert, wenn der andere ans Telefon ging. Das Wissen, dass jemand da war, noch immer da war, das war manchmal schon genug. „...Soll ich morgen früh vorbeikommen?“ Seine Stimme klang dünn, etwas unsicher, und doch war es eine Art hoffnungsvolle Frage, die er ihr da stellte. „Das musst du doch nicht fragen.“ „Na gut.“ Dieses Mal klang er bereits etwas selbstsicherer. „Ich komme morgen früh vorbei.“ Sam lächelte sanft. Das hörte sich schon eher nach ihm an. Außerdem war das das Einzige, was sie hatte wissen wollen, sie hatte nur hören wollen, dass er da war, dass er zu ihr kommen konnte, wann auch immer er wollte. „Danke, Josh.“ Alles, was sie wissen musste, war, dass er am Leben und wohlauf war. Trotz allem, was passiert war, all den Gefahren zum Trotz, entgegen aller Erwartungen und Hoffnungen. Josh war noch immer da. ~*~ Bis heute wusste sie nicht, was wirklich geschehen war, nachdem der Suchtrupp Josh in den Minen gefunden hatte. Die Spuren, die der Vorfall überall auf seinem Körper hinterlassen hatte, waren noch immer deutlich zu sehen, aber alles andere schien er vor ihr zu verheimlichen. Er redete nicht sonderlich gerne darüber, sagte wenn überhaupt nur das Nötigste und von Bob und Melinda Washington erfuhr man auch nicht viel mehr. Es war geradezu eine stillschweigende Übereinkunft, die die verbliebenden Mitglieder der Familie Washington getroffen hatten. Dabei erinnerte sie sich noch genau daran, wie Joshuas Mutter sie eines Tages angerufen hatte. Und wie ihr beinahe das Telefon aus der Hand gefallen war, als sie die Neuigkeiten gehört hatte. Es war erst vor gut drei Monaten gewesen, fast ein Jahr nach den Ereignissen oben auf dem Berg und Sam hatte nicht mehr daran geglaubt, jemals wieder etwas von der Familie zu hören, die sie einst wie ihre eigene Tochter behandelt und immer ein Bett für die Nacht für sie bereit gehalten hatte. „Samantha? Hier ist Melinda.“ Es hatte sie schon damals nicht gewundert, dass sie herausgehört hatte, wie nah Melindas Stimme daran gewesen war, bei ihren Worten zu brechen und zu versagen. „Ich weiß, es kommt überraschend, aber ich wollte, dass du und Christopher... dass ihr die ersten seid, die es erfahren...“ Sie war auf alles vorbereitet gewesen. Zumindest war es das, was sie geglaubt und fast gehofft hatte. Darauf, dass sie Joshs Leiche gefunden hatten. Dass sie keine Leiche gefunden hatten und die Washingtons wie für ihre Töchter Hannah und Beth ein Begräbnis abhalten wollten. Tausend Szenarien hatte sie sich ausgemalt, und keines davon hatte die Realität auch nur ansatzweise eingefangen. „Joshua lebt.“ Zwei Worte, bei denen Sams Beine, nein, ihr gesamter Körper mit einem Mal angefangen hatte zu zittern. Zwei Worte, die ihr den Boden unter den Füßen zu nehmen schienen, weil die Wahrscheinlichkeit, Josh lebend wiederzusehen, in ihrer Vorstellung bei weniger als Null gelegen hatte. „Er befindet sich auf dem Weg der Besserung. Wenn... also, falls du ihn sehen möch-“ „Ja!“ Sam hatte sie gar nicht erst ausreden lassen, denn aller Umstände zum Trotz - Es war Josh und er war am Leben. In diesem Augenblick war ihr egal gewesen, was gewesen war, was er getan hatte und was es aus den anderen und ihr vielleicht gemacht hatte. In diesem Moment war nur wichtig gewesen, dass Joshua am Leben war. Dass sie ihn durch irgendein Wunder, irgendeine glückliche Fügung, zurückbekommen hatte. Dass er noch immer da war. Melinda Washington hatte neben Sam, die selbst nicht sehr hoch gewachsen war, noch nie so klein gewirkt. Und müde. Ihr mausbraunes, schulterlanges Haar, das mittlerweile von Silber durchzogen war, hatte so gewirkt wie die Frau selbst: Abgekämpft, schlaff. Von den Locken, die Sam schon früher beneidet hatte, war nichts mehr zu sehen gewesen. Zwar hatte Sam keine Ahnung gehabt, was in diesem Jahr passiert war, aber man hatte Melinda angesehen, dass es sie viel Kraft gekostet hatte. Wer hätte es ihr schon verübeln können? Vor zwei Jahren hatten sie ihre Töchter verloren, und dann, ein Jahr später, war ihr letztes verbliebenes Kind verschwunden. Sam hatte sich schon damals nicht vorstellen wollen, durch welche Hölle sie gegangen sein musste. „Er ist oben.“ Melinda hatte sie umarmt, kaum, dass Sam zur Tür herein gekommen war. „Wir durften ihn mit nach Hause nehmen. Zur Probe, haben die Ärzte gesagt. Ich dachte, er braucht sicher jemanden, mit dem er reden kann.“ Niemals würde Sam den Moment vergessen, als sie Josh wiedergesehen hatte. Es hatte sie einige Überwindung gekostet, sein Zimmer zu betreten, das aussah, als hätte er es nicht einmal eben für ein ganzes Jahr verlassen. Noch immer war sein Bett unordentlich gewesen, noch immer hatte er Kleidungsstücke überall verteilt liegen gelassen, noch immer hatte sein Zimmer überdeutlich und wie mit grellen Neonlichtern ausgestattet gesagt: Josh ist hier. Und er war dort gewesen. Das erste, was ihr in just jenem Augenblick aufgefallen war, war der Umstand, dass er so unglaublich dünn ausgesehen hatte. Sein graues Shirt schien zu diesem Zeitpunkt zwei Nummern zu groß gewesen zu sein, die weite Hose hatte sich kaum Halt an seinen Hüften gefunden. Josh hatte blass ausgesehen, und so unendlich müde. Die Schatten unter seinen Augen waren noch auffälliger geworden, und sie erzählten noch jetzt Geschichten von dem, was er gesehen hatte und doch lieber vergessen würde. Den unteren Teil seines Gesichts hatte damals noch die OP-Maske verdeckt, aber schon da war an deren Rand die aufgerissene Haut seiner Wange zu sehen gewesen, Narbengewebe, ein Zeichen dessen, was Josh in den Minen zugestoßen sein musste. Er hatte sich nicht einmal komplett zu Sam umdrehen müssen, tatsächlich hatte er es nicht einmal geschafft, eine Begrüßung heraus zu bringen, als diese ihm bereits in die Arme gefallen war. Mit einer für sie selbst überraschenden Kraft hatte sie ihren Freund, der nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien, an sich gedrückt, und genau gespürt, wie fest (und wie für seine Verhältnisse doch überraschend schwach) er die Umarmung erwidert hatte. „Es ist wahr“, waren die einzigen Worte, die sie nach einer Weile hatte herausbringen können. „Du bist am Leben.“ „Bin halt ein unverwüstliches Unkraut.“ Die Stimme unter der dünnen Maske hatte so schwach geklungen und dennoch war das unverkennbar Josh gewesen. Josh, der immer noch da war. Und der Sam an diesem Tag das erste Mal wirklich weinen gesehen hatte. ~*~ Seither waren drei Monate vergangen. Wieder einmal hatte sich Sams Leben um 180 Grad gedreht und am Ende doch keinen perfekten Kreis beschrieben. Josh war wieder da, verändert, definitiv, aber auf einem guten Weg, alles in den Griff zu bekommen. Viel hatte er nicht mehr gesagt, da seine Erinnerungen an die letzten paar Monate wohl mehr als verschwommen waren. Für eine lange Zeit war er in einem geschlossenen Bereich einer Psychiatrie untergebracht gewesen, so viel wusste er noch. Und was auch immer sie dort mit ihm angestellt hatten, es hatte ihm augenscheinlich das Leben gerettet. Sie hatte auch nicht mehr nachfragen müssen, was in den Minen geschehen war, denn als sie ihn das erste Mal ohne Maske gesehen hatte, hatte sie sich lebhaft vorstellen können, wie es ihm dort unten ergangen sein, was er dort erlebt haben musste. Das Bild der Wendigos hatte sich wie ein Negativ auf ihre Netzhaut gebrannt, und für einen erschreckend langen Moment betrachtete sie das, was jetzt Joshs Gesicht war, als Überbleibsel jener furchtbaren Nacht. Trotz diverser kosmetischer Operationen war seine Wange noch immer bis fast zum Ohr hinauf aufgerissen, die Haut vom Mundwinkel ab war rot und schien ein grausames, immerwährendes Lächeln darstellen zu wollen. Einige von Joshuas Zähnen waren unnatürlich spitz und auch zu sehen, wenn der Mund eigentlich geschlossen war. Ein weiterer, blutroter Striemen verlief knapp unter dem Ansatz seiner dunkelbraunen Haare, aber er schien besser zu verheilen als alle anderen Wunden. Dennoch, wenn Josh das Haus verließ (und das war ein ziemlich großes Wenn), dann eigentlich nie ohne die OP-Maske. Selbst vor ihr hatte er sie die erste Zeit nicht abgelegt, bis Sam die Initiative ergriffen und sie unter immer leiser werdendem Protest selbst abgenommen hatte. Denn selbst mit all den Narben war er immer noch Josh, ein ziemlich verlorener junger Mann, mit denselben ernsthaften psychischen Problemen, die er schon vor dem Vorfall in der Lodge gehabt hatte. Und das beteuerte sie ihm immer und immer wieder, wenn er sich selbst im Spiegel betrachtete und leise fragte, ob das alles aus ihm nun einen Überlebenden gemacht hatte – oder doch ein Monster. Sam hatte sich vorgenommen, vor Joshs heutigem Besuch noch ein wenig joggen zu gehen. Ein einziges Mal hatte sie den Fehler gemacht und versucht, es am frühesten Morgen zu tun, kurz vor Sonnenaufgang. Im Halbdunkel zu rennen hatte so unfassbar viele schreckliche Erinnerungen wachgerufen, an deformierte Klauen, die einst Hände gewesen waren, an verlassene und doch heimgesuchte Minen, an verschneite Wälder und an Hannah. An das, was Hannah geworden war. Sie war damals kaum einen Kilometer weit gekommen, ehe sie einen Nervenzusammenbruch erlitten und daraufhin ihre Eltern angerufen hatte, weil sie sich sicher gewesen war, keinen Zentimeter mehr laufen zu können. Seitdem beschränkte sie sich darauf, im Hellen joggen zu gehen. In Sicherheit. Gerade hatte sie das Tor zum städtischen Friedhof passiert, als sie langsamer wurde und schlussendlich inne hielt. Sie atmete tief durch und die Kälte schmerzte in ihren Lungen, wie unzählige kleine Eiszapfen, die sich in ihre Atemwege bohrten. Wahrscheinlich hätte sie nicht einmal angehalten, hätte sie nicht das Fahrrad mit dem roten Rahmen und den Band-Aufklebern am Tor stehen sehen. Natürlich konnte es Zufall sein, denn Fahrräder gab es wie Sand am Meer, aber sie erkannte das Rad eines Freundes, wenn sie es sah. Ein wenig fröstelnd betrat sie das Gelände, jetzt, wo sie nicht mehr rannte, bemerkte sie erst einmal wirklich, wie kalt es geworden war. Ihre Schritte trugen sie wie von selbst zum Ziel, zwischen den zum Teil verwaisten Gräbern von Leuten hindurch, deren Namen sie nicht kannte, vorbei am vereisten Brunnen mit der Engelsstatue darauf und dem kleinen Schuppen, in dem oft der Friedhofsgärtner anzutreffen war. Wenn er tatsächlich hier war, dann gab es nur einen Ort, an dem er sich aufhalten konnte. „Josh?“ Der Angesprochene drehte sich nur halb zu ihr um, weg von den Gräbern, vor denen er stand und die er eben noch betrachtet hatte. Sam kannte sie zu gut, sie war selbst oft hier gewesen, sehr oft sogar. Die sauber eingravierten Namen von Hannah und Beth mit der dazugehörigen, viel zu kurzen Lebensspanne versetzten ihr jedes Mal wieder einen Stich ins Herz. Es hatte schon wehgetan, bevor sie die Wahrheit gewusst hatte, bevor sie herausgefunden hatten, was auf dem Berg und in den Minen mit den beiden wirklich passiert war, aber jetzt... jetzt schmerzte es um ein Vielfaches mehr. „Ich war gerade auf dem Weg zu dir“, erklärte Josh ruhig, während Sam erst jetzt die frischen Blumen bemerkte, die er auf die Gräber seiner Schwestern gelegt haben musste. „Ich wollte nur noch mal kurz hier vorbeischauen.“ Sein Gesicht verschwand fast im Fellkragen seiner dicken, gesteppten Winterjacke. Zwar hatte er auf die Maske verzichtet, aber verstecken wollte er sich offensichtlich noch immer. Sam trat zu ihm, und mit ihrer roten Trainingsjacke und den Thermoleggins kam sie sich auf einmal so unglaublich fehl am Platz vor. Viel zu lebendig für diesen Ort. Es war beinahe surreal, wie friedlich dieser Ort wirkte, gerade jetzt, mit dem Eis, das sich auf den Grabsteinen absetzte und seine ganz eigenen Verzierungen erschuf. Mit dem Schnee, der auf den nackten Ästen der Bäume lag und den Friedhof in ein unschuldiges Weiß tauchte. „Die beiden hätten mir ja so was von in den Arsch getreten.“ Josh hatte die Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben, und seine Stimme war durch den heulenden Wind kaum zu verstehen. „Beth hätte das wortwörtlich gemacht. Hannah nicht. Sie hätte mir allein schon mit Blicken zu verstehen gegeben, wie enttäuscht sie von mir ist. Das konnte sie echt gut.“ Samantha wusste darauf nichts zu antworten. Die Zwillinge hatten Josh geliebt und andersherum war es genauso gewesen. Die drei waren so wichtig füreinander und so unzertrennlich gewesen, dass man sich einen ohne die anderen nicht vorstellen konnte. Als sie wegen diesem dummen Streich auseinander gerissen worden waren, da hatte Josh nicht nur seine Schwestern verloren, sondern nach einer Weile auch sich selbst, das wusste sie. Und auch, wenn sie versucht hatte, für ihn da zu sein, niemand würde die beiden jemals ersetzen können. Dass Josh in seiner Einsamkeit und seinem durchaus verständlichen Gram allerdings so unverzeihliche Dinge getan hatte, das würde Sam niemals verstehen können. Gott wusste, dass sie am Anfang enttäuscht und wütend auf ihn gewesen war. Dass sie sich verraten gefühlt hatte, gerade, weil sie gehofft hatte, dass er ihr immer alles erzählen würde, was ihn belastete. Ein Teil von ihr warf ihm das vielleicht sogar noch immer vor. „Ist irgendwie ungerecht... Mir ist dasselbe zugestoßen ist wie ihnen, aber ich bin immer noch da.“ Er ist noch immer derselbe, dachte Sam bedrückt bei sich und der Teil von ihr, der ihn für seine dummen Worte hätte schimpfen müssen, der verstummte wenig hilfreich, weil vor ihr der Josh stand, der sich noch immer Vorwürfe machte, der sich genauso viel Schuld am Tod seiner Schwestern gab wie all den anderen. Derselbe Josh, der sein Leben jederzeit für das von Hannah und Beth getauscht hätte. „Vielleicht hat das Alles ja einen tieferen Sinn?“, fragte Sam leise, die Arme vor der Brust verschränkt, um sich das letzte bisschen Körperwärme zu sichern, das sie jetzt noch hatte. Vorsichtig lehnte sie sich gegen Josh, halb in Sorge, sie könnte zu aufdringlich wirken und halb besorgt darüber, dass der Junge einfach umfallen würde, weil er noch immer so drahtig und kraftlos war. Wortlos legte er den Arm um ihre bebenden Schultern. Sie standen eine Weile schweigend vor den Gräbern, während um sie herum die Schneeflocken tanzten, als würde sie das Leid der Erde nicht kümmern. Josh blieb ihr die Antwort auf ihre ohnehin recht rhetorisch gestellte Frage schuldig. Manchmal fand man Antworten eben erst dann, wenn man schon lange nicht mehr danach suchte. ~*~ „Mike hat mich vor ein paar Tagen angerufen.“ Sie hatten sich auf den Rückweg zu Sam gemacht, vor allem deswegen, weil Josh darauf bestanden hatte, dass sie schnell wieder ins Warme kam. Trotz einiger Proteste seitens Sam hatte er ihr sogar seine Jacke gegeben und lief nun selbst nur im Pullover durch die eisige Kälte. „Mike?“, fragte Sam überrascht nach. Das Fell von Joshs Jacke kitzelte ihre Nase, als sie den Kopf zu ihrem Freund drehte. „Woher wusste er, dass du... na ja, wieder da bist?“ „Er hat mit Chris gesprochen und gefragt, was es Neues gibt. Und du kennst Chris. Der beste Freund, den man sich wünschen kann, aber man, lügen? Lügen kann der nicht.“ Mit einem leisen, recht gequälten Lächeln schüttelte Josh den Kopf. „Ich hätte eine Strichliste darüber führen können, wie oft sich Mike entschuldigt hat. Und wie oft ich es getan habe. Ich hab' erst nicht gewusst, was ich von dem Anruf halten sollte, ich hatte eine Scheißangst davor, mit ihm zu sprechen. Scheint aber so, als wäre zwischen uns alles gut. Also so gut, wie es jetzt eben noch sein kann.“ Es war schwer, das zuzugeben, aber auch Sam hatte mit den anderen aus der Gruppe nur noch sporadischen Kontakt. Viel weniger als früher, und auch, wenn sie alle versuchten, so unbeschwert wie möglich miteinander umzugehen, so kam es ihr doch oft vor, als würde man versuchen, eine zerbrochene Vase zu kitten. Man konnte sie reparieren, ja, aber die Risse blieben trotzdem bestehen. Dieser Umstand beschrieb ihre Gruppe mitunter am besten. Chris war so oft bei Josh, wie es die Umstände zuließen – und Sam wusste, dass das Ashley noch immer störte. Sie hatte es nie offen zugegeben, jedenfalls nicht vor ihr, aber sie trug Josh seine Taten noch immer nach. Sam verstand das. Josh ebenfalls, als er das letzte Mal mit Ash gesprochen hatte, hatte er sich mehr als aufrichtig für alles entschuldigt, hatte Besserung gelobt, aber es gab eben Dinge, für die selbst eine ernst gemeinte Entschuldigung und eine psychische Erkrankung nicht genug waren. Jess war noch immer dabei, alles, was geschehen war, zu verarbeiten. Sie war wohl diejenige, die am längsten gebraucht hatte, um wieder ansatzweise Fuß zu fassen. Emily hingegen war meisterlich darin, sich von ihnen allen am Allerwertesten lecken zu lassen und ihr eigenes Ding durchzuziehen. Oder zumindest so zu tun, denn Sam wusste, dass Ems Verhalten oftmals nur Fassade war. Und Matt... nun, er war viel zu freundlich und zu friedliebend, um lange nachtragend sein zu können, ein Charakterzug, den Sam an ihm beneidete. Zwar hatte sie auch mit ihm kaum Kontakt, aber er war derjenige, der alles, was geschehen war, unglaublich rational betrachtete. Vielleicht war er sogar der Reifeste von ihnen allen. Sie alle versuchten auf ihre Art und Weise mit dem zurechtzukommen, was ihnen geschehen war. Und über die Steine zu klettern, die das Leben ihnen in den Weg gelegt hatte .Gerade anfangs war es schwer gewesen, sich dabei auch noch der Aufmerksamkeit der Medien zu entziehen, die von der ganzen Geschichte Wind bekommen und dementsprechend versucht hatten, alles über die damals noch sieben Überlebenden herauszufinden. „Sieh dir das an, Sammy.“ Josh stellte sein Fahrrad an einem nahe gelegenen Baum ab und erst wusste sie nicht, wovon er überhaupt sprach, bis sie schließlich den Ort erkannte, an dem sie sich hier gerade befanden. In dem Park, den sie gerade durchquerten, lag noch immer der alte Spielplatz, den es schon gegeben hatte, als sie noch klein gewesen waren. Genau genommen war das sogar der Ort, an dem Sam Joshua und Chris das erste Mal begegnet war. Es kam ihr wie eine halbe Ewigkeit vor und als sie neben der Schaukel stand, die jetzt so klein und alt und verlassen wirkte, da kam sie sich urplötzlich so viel älter vor. Die meisten der Spielgeräte waren verrostet (und Sams letzte Tetanusimpfung schon eine ganze Weile her, weswegen sie vorsichtig mit den Fingern über die Rahmen strich), die Bänke und Wände der alten Rutsche waren bemalt, besprüht oder beklebt worden. In einige waren mit Messern oder anderen spitzen Gegenständen sogar Namen und Herzchen eingeritzt worden. Irgendwie stimmte sie dieser Ort melancholisch. Um diese Zeit und bei diesen Temperaturen war noch niemand hier, und es schien fast so, als hätte sich der Spielplatz ihrer momentanen Stimmung angepasst. „Gott, wie lange ist das her, dass wir uns hier getroffen haben?“, fragte sie mit einem verträumten Lächeln und drehte sich einmal um die eigene Achse, um wirklich jedes noch so kleine Detail in sich aufnehmen zu können, von der verwitterten Wippe bis hin zu dem kleinen Klettergerüst, das einst noch viel zu hoch für die kleine Vergangenheits-Sam gewesen war. „Keine Ahnung“, gab Josh zu, der sich auf einer der Bänke niedergelassen hatte und ihrer Meinung nach dadurch eine schöne Erkältung riskierte. „Ich weiß nur noch, dass dich meine Schwestern mitgebracht haben. Und dass Chris und ich uns geschworen haben, dass wir dich beide nicht leiden können.“ Ehrlich getroffen wandte sie sich zu ihrem Freund um und sah ihn mit einer Mischung aus Verwirrung und Fassungslosigkeit an. „Wieso das denn?“ „Weil du ein Mädchen bist? Du warst automatisch doof und der Feind, Sam.“ Tatsächlich erinnerte sie sich an eine wilde Verfolgungsjagd, bei der Chris und Josh die Mädchen hatten fangen müssen. Als sie die beiden damals gesehen hatte, hatte sie sie wohl auch lediglich für zwei dumme Jungs gehalten. Wie Kinder das eben so machten. „Na, gut, dass sich das geändert hat“, sagte sie schließlich und sah zu ihrem ehemaligen Erzfeind hinüber. „Sagt wer?“ Das breite Grinsen, das sich bei diesen Worten auf Joshs lädiertem Gesicht ausbreitete, war das ehrlichste, das sie seit Jahren bei ihm gesehen hatte. Es hatte bei ihm schon immer gute und schlechte Tage gegeben und sie wusste, welche davon sie lieber mochte. Und dass sie dennoch immer da gewesen waren, wenn die schlechten Tage wirklich unfassbar schlecht gewesen waren. Wenn er sich verschlossen und abgeschottet hatte, wenn er sich so hilflos gefühlt hatte, dass schreien und weinen seine einzig verbliebenen Möglichkeiten gewesen waren. Das war schon immer ihre stillschweigende Übereinkunft gewesen. Was auch immer geschah, sie hielten zusammen und Josh hatte sich oft genug so gut um sie gekümmert, wie sie sich um ihn. Sam hatte fast ein ganzes Jahr Zeit gehabt, Josh zu verzeihen, oder ihn zumindest zu verstehen und wenn sie sah, was er hatte erleiden und durchmachen müssen, vor dem schicksalhaften Tag und danach, dann wusste sie zwar, dass es schwer war, manche Dinge zu vergeben und zu vergessen, aber sie wusste auch, dass sie ihn nicht für das hassen konnte, was er nun einmal war. Im Grunde war seit Jahren das absolute Gegenteil der Fall. Und selbst, wenn Em und Ash ihn vielleicht nie wieder sehen wollten, was absolut verständlich wäre, so hatten sie sich doch alle dazu entschieden, Stillschweigen zu bewahren über das, was Josh getan hatte. Durch die abgebrannte Lodge gab es ohnehin kaum Beweise und auch, wenn seine Taten schrecklich gewesen waren, niemand war durch ihn dauerhaft zu Schaden gekommen. Außerdem hätte ihnen die Geschichte mit den Wendigos ohnehin niemand geglaubt, und so waren sie dazu übergegangen, von einem Verrückten zu erzählen, der sie hatte umbringen wollen und dann spurlos verschwunden war. Das klassische Horror-Klischee. Und da es weder Beweise noch Widersprüche gab... blieb niemandem etwas anderes übrig, als ihnen zu Glauben zu schenken. „Was meinst du?“, hörte sie Josh dann fragen und erwachte unsanft aus ihren düsteren Gedanken, während das letzte verbliebene Kind der Washingtos mit schief gelegtem Kopf etwas auf der Bank betrachtete, das sie beim näherkommen als kleines Herzchen mit den Buchstaben G + H entziffern konnte. „Ob es ein paar von den Pärchen hier immer noch gibt?“ Sam lachte leise auf, als sie auf eine der weniger schönen Gravuren deutete. „Das da hat Mike vor ein paar Jahren gemacht, mit seiner damaligen Freundin. Ich denke also... nicht alle.“ Josh folgte ihrem Fingerzeig und saß eine Weile schweigend da, ehe er seinen Hausschlüssel aus der Tasche zog und zwischen die eiskalt gewordenen Finger klemmte, ehe die Spitze im gequält ächzenden Holz verschwand. „Was denn?“, fragte er auf Sams verwirrten Blick hin und drehte dann wie zur Erläuterung den Zeigefinger im Kreis um seine Schläfe. Sie hasste diese Geste, und sie hasste es, wenn er so von sich dachte und sprach. „Denkst du, meine Eltern lassen jemanden wie mich mit einem Messer rumrennen?“ Sam zuckte lediglich die Schultern, und sah Josh dabei zu, wie er mit mehr als geschickten Fingern den Schlüssel durch das Holz fahren ließ. Schon früher war er derjenige mit dem meisten handwerklichen Geschick gewesen, was er nicht zuletzt auf schaurige Weise in der Lodge unter Beweis gestellt hatte. „Du Vandale“, meinte sie dann in einem gespielt vorwurfsvollen Ton, während er hochkonzentriert mit seiner improvisierten Schnitzarbeit fortfuhr, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. „Zeig mich später mich an, wenn du willst. Ich bin sicher unzurechnungsfähig.“ Als er den Schlüssel wieder in seine Hosentasche gleiten ließ, blickte sie an ihm vorbei auf das Holz. Keine Herzchen, keine Liebesschwüre, aber was da stand, war genug, um dafür zu sorgen, dass sich Sam, noch immer gekleidet in Joshs übergroße Jacke, lächelnd an ihn lehnte. Sam + Josh sind noch immer da. ~*~ Immer, wenn ihr diese Gedanken kamen, wenn sie nicht wusste, was wahr und was falsch war, brauchte sie nur eins zu tun: Sie drehte sich auf die Seite und schlug die Augen auf. Wenn er nicht neben ihr im Bett lag oder saß – sie wusste zu gut, dass ihn die Albträume und Schuldgefühle wach hielten, dass er sich ans Fenster setzte, wenn er nicht schlafen konnte oder auf die Couch zog, wenn er im Schlaf panisch um sich schlug – dann gab es trotzdem andere Beweise für seine Präsenz. Sein Handy auf dem Nachtschrank, seine zerwühlte Seite vom Bett, Kleidung, die wahllos auf dem Boden verteilt herumlag. Sie musste ihn nicht sehen, um zu wissen, dass er da war. Dass er immer da sein würde. Was ihnen passiert war, das würden sie nicht vergessen können, vielleicht für den Rest ihres Lebens nicht. Aber sie konnten weiter vorwärts gehen, sie konnten füreinander da sein, wie sie es nach Hannahs und Beth' vermeintlichem Tod gewesen waren. Es gab immer wieder Tage, an denen Josh die Zweifel plagten, an denen ihn die Gewissensbisse förmlich auffraßen. An denen er Sam fragte, warum er hier war und nicht seine Schwestern, obwohl er glaubte, dass sie das Leben, ihr Leben viel mehr verdient hatten als er das seine. Tage, an denen er fragte, warum Sam bei ihm war, obwohl sie seiner Meinung nach etwas Besseres verdient hatte als ihn. Dir müsste man die Welt zu Füßen legen, Sam. Jeden Tag wieder. Seine eigenen Worte. Und dann gab es die guten Tage, die, in denen er sich traute, ohne Maske das Haus zu verlassen und sich der Welt zu stellen, in denen sie alltägliche Dinge taten und versuchten, zurück in ein Leben zu finden, das wenigstens ansatzweise normal war. Das funktionierte bei weitem nicht immer, aber es war der Versuch, der zählte. Und Josh tat wirklich alles dafür, wieder auf die Beine zu kommen, er besuchte Dr. Hill wieder regelmäßig, er nahm die ihm verschriebenen Tabletten. Widerwillig, aber er tat es. Es ging langsam voran, und manchmal frustrierte ihn das selbst am allermeisten, aber jeder Schritt nach vorne war ein Schritt in die richtige Richtung. „Ich würde die anderen gerne wiedersehen“, gestand er eines Nachts, als sie beide wach lagen und an die Decke starrten. Josh hatte die Hände hinter den Kopf gelegt und sah zu Sam hinüber. Das Licht der kleinen Nachtleuchte, die sie noch immer aus Angst vor der Dunkelheit hatte, spiegelte sich in seinen grünen Augen. „Entschuldigungen bringen es nicht, weiß ich. Aber ich will auch nicht sagen müssen, dass ich es nicht versucht hätte.“ „Wenn wir das machen, dann aber ohne irgendwelche Streiche“, antworte Sam und zog die Decke etwas höher über ihrer beider Körper. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, einen Schatten über Joshs Gesicht huschen zu sehen, und in diesem Augenblick fühlte sie sich schrecklich wegen ihren Worten. Aber er fing sich so schnell wieder, dass sie kaum Zeit hatte, eine Entschuldigung über ihre Lippen zu bringen. „Schade, ich hatte so was Gutes in petto.“ „Joshua Washington...“ Sie kam sich vor wie eine übermäßig besorgte Mutter, wenn sie das tat, aber es zeigte jedes Mal Wirkung, und auch, wenn er erst einmal das vernarbte Gesicht verzog, danach zuckte er doch nur wieder mit den Schultern und ließ es dabei bewenden. „Okay, keine Streiche. Ich schwöre es.“ Sie wussten noch nicht, wie und ob sie es schaffen würden, alle auf einem Haufen zu versammeln, ohne, dass sie sich die Köpfe einschlugen, sie wussten auch nicht, ob die Gruppe nicht vielleicht schon hoffnungslos auseinander gebrochen war. Im Grunde wussten sie nichts. Nur, dass sie noch immer da waren. Und das war immerhin ein guter Anfang. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)