Kapitel 11. Erlösung von ougonbeatrice (Eine Stunde bis zum Morgen) ================================================================================ Kapitel 2: 2A Rede mit Hannah ----------------------------- Im selben Moment, in dem das Geräusch von aneinander schabenden Kiesel in seine Ohren drang, hat er seinen Rücken gegen die Wand hinter sich gepresst. Er starrt nun in die Dunkelheit vor ihm, die Hände in den Boden neben sich gegraben. Mit einer derart plötzlichen Reaktion, zu schnell um ihr mit den Augen folgen zu können, hatte er nicht gerechnet, weshalb sein Körper erstarrt. Kalter Wind bläst ihm entgegen, der ihm einen Schauer über den Rücken laufen lässt, als ihm auch schon die Worte ungewollt über den Mund kommen.   "Han, ich bin's. Josh." In seinen Ohren klingt seine Stimmer höher als sonst, aber er trägt ein Grinsen im Gesicht, ohne zu wissen, wieso. Ihre Hände kratzen über den Boden und kommen schließlich neben ihm zum Stehen. Obwohl er nichts sehen kann, so kann er dennoch ihre Bewegungen spüren, als ob ihr Körper die Luft um sie herum zusammenpresst.   Langsam dreht er seinen Kopf in die Richtung, in der er seine Schwester vermutet – oder besser das, was einmal Teil seiner Familie gewesen ist. Sofort starrt er in die weißen, strahlenden Perlen, die er nur Sekunden zuvor aus seiner Sicht verloren hatte. Es ist um einiges einfacher gewesen ihren Blick zu halten, als sie noch in einigem Abstand gestanden hatte. Doch nun trennen sie nur wenige Zentimeter. Sie steht ihm so nahe, dass Josh die einst so schönen, braunen Augen seiner Schwester erkennen kann. Wie ein Schatten ihrer früheren Person sind dort sogar noch die dunklen Sprenkel um ihre Pupille verteilt, die nun jedoch von einem weißen Schleier überzogen sind. Wie in Trance beobachtet er, wie diese fleischgewordene Ironie seiner Albträume näher kommt.   Seit Monaten wird er schon von ihren toten, weißen Augen angestarrt. Sie beurteilen ihn, unterstellen ihm ein Versager zu sein und quälen ihn jede Minute seines Lebens. Er hatte geglaubt, sie würden endlich verschwinden, sobald er alle zusammengebracht hätte, aber nun muss er erfahren, dass seine Albträume eigenständig atmen und hier unten in den Minen leben. "Wo bist du, Josh?" Selbst jetzt ist er nur deren Gespött.   Ihr fauliger Atem streicht ihm als warme Brise über die Wange, wenn sie endlich aufhört sich ihm zu nähern. Allerdings nimmt sie einen tiefen Atemzug, als ob sie Witterung aufnehmen wolle, und bringt damit die Luft zum Vibrieren. Er wagt es nicht zu blinzeln, doch das Stechen seiner trockenen Augen zwingt ihn schließlich dazu. Es dauert nur einen Bruchteil einer Sekunde, doch wenn er seine Augen wieder öffnet, sind ihre verschwunden. Überall regnet es kleine Steine und Kiesel, die dumpf auf den Boden oder auf ihm selbst aufschlagen. Doch dann ist es still. Für ein paar Herzschläge bewegt er keinen Muskel, sondern hört nur auf seine Umgebung. Irgendwo muss Wasser von der Decke tropfen; etwas, das er vorher noch nicht bemerkt hatte. Je länger er da sitzt, desto lauter scheint das Tropfen zu werden. Nervös knabbert er an der Wunde auf seiner Lippe und macht damit den Riss nur umso größer. Er erträgt es nicht dem sich wiederholenden Takt des Wassers zuzuhören, weshalb er seine Hände über den Boden gleiten lässt, um mit dem Kratzen den nervigen Rhythmus zu übertönen.   "Guten Tag! Guten Tag! Hallo! Wie geht's? Hallo, wie geht's?" Während er nach Bewegungen Ausschau hält, beginnt er mit leiser Stimme eine einfache Melodie zu singen. Er murmelt denselben Vers wieder und wieder, bis er sich etwas beruhigt hat und er zuversichtlich ist, alleine zu sein. Zuversichtlich alleine zu sein. Er würde über diesen Gedanken spotten, wenn er nicht gerade seine tot geglaubte Schwester als Monster gesehen hätte.   Nach einer Weile, in der er nur seinen eigenen Gesang im Ohr hatte, begutachtet er seine eiskalten Füße und zieht sie langsam zu sich heran. Seine nassen und schweren Kleider spannen sich um seine Beine und Knie, was ihn zum Erschauern bringt. Aus Angst erneut mental abzurutschen er hört jedoch nicht auf zu singen.   Dank des beruhigenden Effekts seiner Hände, die im gleichen Rhythmus über den Boden rutschen, ist er momentan bei klarem Verstand. Er ist sich sicher, dass die Höhle echt ist. Der Dreck ist echt, genauso wie der Schmerz, der sich über all die kleinen Kratzer auf seinem Körper verteilt oder das Brennen, das sich durch seine kalten Gliedmaßen zieht, sobald er sie bewegt. "Ich vertraue dir. Ich vertraue dir." Als er sich an das Tattoo auf dem Arm des Monsters erinnert, ersetzten neue Worte die kindischen Fragen in seinem Gesang. Bevor er gefangen wurde konnte er nur einen kurzen Blick auf die Kreatur werfen. Er sah nicht zum ersten Mal seltsame Dinge, daher hat er beim Anblick des sich bewegenden Skelettes mit dünnen, jedoch messerscharfen Zähnen sofort an seinem Verstand gezweifelt. Wenn er nicht das Tattoo am Arm entdeckt hätte, würde er es noch immer für ein Gespinst seines schwachen Geistes halten. Er glaub an seine Freunde, dass sie nicht so weit gehen würden, nur um ihm einen Streich zu spielen. Wenn er zusätzlich diesem Vertrauen seinem eigenen Gedankengang Glauben schenken kann, dann bleibt nur eine Möglichkeit übrig: Dieses Ding ist real und es ist irgendwann einmal Hannah gewesen.   Obwohl er mit jeder Bewegung neue Wellen des Schmerzes durch seinen Körper schickt, ist er dennoch plötzlich glücklich. Er hat seine Schwester gefunden und sie ist noch am Leben.   "Ich bin hier!", brüllt er in die Dunkelheit hinein. "Dein Bruder! Ich bin hier, Hannah!" Seine Glieder beginnen zu zittern, sodass er seine Hände nicht mehr kontrollieren kann. Mit aller Kraft versucht er sich wieder aufzurichten, aber jedes Mal geben seine Beine nach, unfähig sein Gewicht zu tragen. Nach mehreren Anläufen kniet er nun schwer atmend auf allen vieren.       "Ich komme." Etwas wackelig, aber dennoch ohne um zufallen, schafft er es sein rechtes Bein nach vorne zu ziehen. Er nutzt den Schwung um sich schließlich völlig aufzurichten. Schwindlig von der schnellen Bewegung in die Höhe schließt er seine Augen und wartet, bis das unangenehme Kribbeln in seinem Magen ein wenig abebbt.   Aufzustehen war um einiges anstrengender als noch wenige Minuten zuvor. Ihm wird klar, dass langsam aber sicher sein Adrenalinspiegel fällt. Ohne den chemischen Mix in seinem Körper wird das Laufen um einiges schwieriger werden. Nicht, dass er allzu erpicht darauf ist, ein Potpourri an chemischen Substanzen durch seine Venen fließen zu lassen. Nicht mehr. Dennoch bevorzugt er nun die natürliche Droge gegenüber dem "Nichts".   Er erlaubt sich selbst ein paar Minuten um Kraft zu sammeln, ohne sich vom Fleck zu bewegen. Noch immer erwartet er, dass etwas – oder jemand – plötzlich aus den Schatten auftaucht und sich auf ihn stürzt, aber das einzige Geräusch ist sein eigener Atem; und diese verdammten Wassertropfen irgendwo dort draußen im Dunkeln. Um das Zittern loszuwerden, schüttelt er seine Hände und als er sicher genug ist, nicht umzufallen, wiederholt er dasselbe mit den Beinen.   "Ich vertraue dir. Ich vertraue dir", sagt er sich immer wieder, damit er die Realität nicht vergisst. Außerdem hört er lieber seiner eigenen Stimme zu als etwas anderes, Fremdes. Als ob dieser Gedanke etwas in Erinnerung gerufen hätte, wird die Stille plötzlich durchbrochen.   "Jooosh. Hallo! Hallo! Wie geht's?" Die Stimmen singen ein und denselben Vers, den er noch vor Kurzem auf den Lippen hatte. Sie singen sogar in derselben Melodie. Josh hat nicht die Absicht zu antworten, sondern schüttelt weiterhin seine Glieder. Er kann es sich nicht leisten den Bezug zur Realität erneut zu verlieren. Anstatt auf die Stimmen zu reagieren, rezitiert er ein und dieselben drei magischen Worte unermüdlich wie eine gebrochene Schallplatte, als zusätzlich zum Gesang helles Lachen erschallt, es ist das Lachen von Kindern.   "Komm' mit uns, Josh. Steh da nicht so rum." Trotz seines Vorsatzes nicht auf die Stimmen in seinem Kopf zu reagieren sucht er seine Umgebung nach dem Ursprung der Geräusche ab. Das Gelächter scheint von überall zu kommen. Sogar von irgendwo hinter ihm. Ein lächerlicher Gedanke, schließlich hat er soliden Fels im Rücken. In dem Versuch seine Halluzinationen zu verleugnen schließt er die Augen und lässt mit einem tiefen Atemzug den Kopf hängen.   "Bist du traurig? Wieso schaust du nicht einfach etwas mit uns an?" Was für eine seltsame Frage, wundert sich Josh, obwohl sie ein nostalgisches Gefühl in seiner Brust hervorruft. Hannah hat es geliebt TV zu schauen, als sie noch jünger war. Er erinnert sich daran, wie er sie ständig davon abhalten musste, sich die Filme ihres Vaters anzuschauen. Stattdessen hat er wohl oder übel diese entsetzlichen Cartoons laufen lassen, wie den einen über das Innenleben eines Computers. Er hat immer nachgegeben und sich zu ihr gesetzt, um mit ihr zusammen Fern zu schauen, weil es sie glücklich gemacht hat.   Ohne es wirklich wahrzunehmen entweicht seinem Mund ein zartes Flüstern. "W-wir haben k-kein Fernseher hier." Kaum ist die letzte Silbe gesprochen, durchbricht ein gleißendes Licht die Dunkelheit, was mit einem Schlag die Höhle erhellt und Josh beinahe erblinden lässt. Nach all der Zeit im Dunkeln haben sich seine Augen bereits sensibilisiert, weshalb das plötzliche Licht nun seine Augen quält und ihn laut stöhnen lässt.     "Du musst dich mehr anstrengen!" Die Kinder haben aufgehört zu lachen und beginnen nun stattdessen zu schreien. Obwohl die Stimmen nun lauter sind, kann er sie nicht so deutlich hören wie zuvor, als ob sie etwas dämpfen würde.   Noch immer geblendet streckt er eine Hand aus, während er mit der anderen versucht seine Augen zu schützen. Seine mit Schmutz und Erde verschmierten Finger stoßen gegen eine unnatürlich glatte Oberfläche, die im Gegensatz zum harten Felsen Wärme abzugeben scheint. Neugierig öffnet er vorsichtig seine Lider, muss aber noch immer seine Augen gegen das Licht zusammenkneifen. Langsam erkennt er seine Hand nicht weit von ihm, die scheinbar in der Luft schwebt, ohne etwas zu berühren, doch er ist sich sicher etwas unter seiner Handfläche zu spüren.   Um das Material zu testen, legt er seine zweite Hand neben die erste. Kurz fällt sein Blick auf seine fahle Haut, die über und über mit von Blut und Dreck verklebten Schnitten übersät ist, jedoch richtet er seine Aufmerksamkeit schnell wieder auf das mysteriöse Material vor ihm. In dem Moment, in dem er sich gegen die unsichtbare Mauer stützt, schmettert etwas hart dagegen direkt auf Höhe seiner Augen und lässt ihn vor Schreck nach hinten taumeln. Der Atem setzt ihm für eine Sekunde aus als er erkennt, was sich auf der anderen Seite an die Glaswand klammert. Es ist Hannah, wie er seine Schwester kennt. Ihre Brille ist gesprungen und ihr Gesicht ist zerkratz, doch abgesehen davon sieht sie gut aus – gesund. Sie spiegelt seine eigene mit beiden Händen dagegen gepresste Pose an der Glaswand wider und den Blick starr auf ihn gerichtet. Er geht ein paar Schritte nach vorne, um ihre Hände mit seinen zu bedecken.   "I-ich versuche es ja. Ich h-habe es versucht. Hab mein bestes getan, Sis'", antwortet er der Forderung, die nun schon eine Weile in der Luft hängt. Sie sieht so zerbrechlich aus, stellt er fest. Er hätte sie beschützen sollen. Als er gerade Luft holt um etwas zu sagen, beginnt Hannah, die bisher dagestanden ist wie eine Statue, sich zu bewegen. Sie rollt ihren Kopf herum, bis ihr die Brille von der Nase rutscht und sie schließlich ihren Rücken krümmt. Josh beobachtet sie verwundert und fragt sich, was los ist als er erkennt, dass sie sich nicht einfach bewegt, sondern dass sie sich verändert.   Ihre Finger werden länger bis ihre Hand die seine um das doppelte überragt. Er hört, wie Kleidung zerreißt und etwas bricht, als ob jemand ganze Holzstücke mit purer Gewalt spaltet. "Nein. Nein. Nein. Nein. VERSCHWINDE!"   Ihre Glieder wachsen in die Länge und ihr Haar sinkt in Strähnen zu Boden. Einige verheddern sich in ihren nadelartigen Zähnen, die aus ihrem ausgerenkten Kiefer entwachsen, sodass es aussieht, als hätte sie ein Tier mit Haut und Haaren verschlungen. Wie ein Reißverschluss dehnt ihr immer größer werdendes Gebiss ihren Mund auseinander, bis ihre blutigen Lippen zu einer Kluft in ihrem völlig deformierten Gesicht verschwinden. Ihre gerade noch strahlenden Augen trüben sich zu den milchigen, toten Kugeln aus seinen Albträumen.   "Dein bestes ist nicht genug", spricht sie mit ihrem unmenschlichen Äußeren und einer verzerrten Stimme, die Josh wie ein Tinnitus im Ohr bleibt. Sie drückt ihren Körper an das Glas, das sofort unter ihren Klauen Risse bildet.   "Es war nie genug. Du bist ein Versager, Josh. Eine Störung."   Gnadenlos kommt sie mit ihrem nun skelettartigen Körper immer näher und weitet dadurch die Brüche im Glas, bis sie ihre Nägel hindurchschieben kann.   Der Tinnitus hallt ihn in seinem Kopf und wird lauter, bis er schließlich zu dem Schrei einer Frau wird. Er kann nicht entkommen. Das Glas, das einzige, was zwischen ihm und Hannah steht, umschließt ihn wie eine Box. Hilflos und in Panik muss er zuschauen, wie Hannah nach und nach seinen einzigen Schutz niederreißt.   "Du verdienst es nicht. Du verdienst gar nichts."   "Halt die Klappe!" In dem Versuch alles auszublenden bedeckt er seine Ohren, aber es hat keinen Zweck. Er kann noch immer jedes Wort hören; und jeden neuen Bruch.   "Ich habe dich gebraucht und du warst nicht da. Wo bist du? Wo warst du, als ich dich gebraucht hätte? Du bist ein Versager." Einmal am Reden wollte die verzerrte Stimme nicht mehr aufhören ihn zu peinigen.   "Ich war allein, Josh. Für Wochen war ich alleine und du warst nicht da." Er weiß, wie es ist, alleine zu sein. Der Gedanke seine Schwester müsse dieselben Qualen durchleben, wie er es seit Jahren tut, ist beinahe zu viel für ihn.   "Es tut mir leid. Es tut mir so leid." Speichel sammelt sich in seinem Mund, als er erneut das Gefühl hat sich übergeben zu müssen. Die Worte kommen nur undeutlich über seine Lippen, verzerrt durch eine wässrige Zunge, da er nicht schnell genug schlucken kann. Der Tinnitus kehrt zurück, lauter denn je, bis er alles und jeden übertönt.   Als das Glas beinahe nachgibt, reißt sie triumphal ihren Mund auf, doch anstatt ihren schutzlosen Bruder anzufallen, zieht sie sich zurück in die Schatten und verschwindet. Das grelle Licht scheint mit ihr zu gehen, als plötzlich wieder dunkel um ihn herum ist.   "Was wirst du tun, Josh?" Einzig ihre Stimme sickert bis zu ihm durch. "Wirst du ein Versager sein?"   "Ich habe es versucht, Hannah!" Wieder hat er das Gefühl sich entschuldigen zu müssen, doch bevor er weiter sprechen kann, unterbricht ihn ein Kreischen laut genug, um die Barriere endgültig zum Einsturz zu bringen.   "Hannah?" Er ist sich sicher, dass sie es war, die geschrien hat. "Was soll ich tun? Was soll ich tun?" Nervös läuft er umher und seine Augen zittern panisch ohne etwas in der Dunkelheit fixieren zu können. Immer wieder stößt er gegen etwas, doch er läuft weiter, bis er in der Ferne endlich etwas Helles entdeckt. Dorthin muss Hannah gegangen sein.   "Was soll ich tun? Hannah!"   1. "Bleib hier."   2. "Geh Hannah hinterher."   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)