Slice Of Life von Umi (eine Kurzgeschichten- und Drabble-Sammlung) ================================================================================ Kapitel 4: Introspection ------------------------   Seto Kaiba mochte in vielen Dingen gut sein.   Introspektion gehörte allerdings nicht dazu.     Hin und wieder zerrte und ziepte in ihm zum Beispiel das Gefühl, Mokuba kein guter Bruder zu sein - obwohl ihm klar war, dass Mokuba, sollte er ihn danach fragen, dem garantiert nicht zustimmen würde.   Wahrscheinlich.   Vermutlich.   ...   (... Würde er doch nicht, oder?)     Seto war sich unsicher, woher dieses Gefühl kam. Oder zumindest redete er sich ein, sich dessen unsicher zu sein. Er wusste, dass er gut darin war, dafür zu sorgen, dass Mokuba ausreichend zu essen und zu trinken und ein Dach über dem Kopf und eine gute Ausbildung und, im Fall der Fälle, Zugriff auf die bestmögliche medizinische Versorgung hatte. Und er war gut darin, Mokuba seinen Freiraum zu lassen...   ...sofern "jemandem seinen Freiraum lassen" sich auf das Zugeständnis einer gewissen Privatsphäre sowie Eigenverantwortung in der anteiligen Leitung eines milliardenschweren globalen Spielzeugkonzerns beschränkte.   Seto hoffte einfach mal, dass es das tat.   Und ignorierte den manchmal fast schon sehnsüchtigen Blick, den Mokuba Yugi und seinen Freunden zuwarf, während er seinem großen Bruder artig hinterher eilte und nur deshalb nicht zurück blieb, um ihm nicht in den Rücken zu fallen. Seto hatte keine Ahnung, dass Mokubas größter Trost in solchen Momenten sein Selbstvertrauen war – er wusste, dass es ihm leicht fallen würde, einen ebensolchen Freundeskreis um sich aufzubauen, sollte er sich das einmal zum Ziel setzen. Seto hatte außerdem keine Ahnung, dass es seine Unfähigkeit Freundschaften zu schließen war, die Mokuba davon abhielt. Dass sein kleiner Bruder lieber gemeinsam mit ihm unterging als ihn, zur Einsamkeit verdammt, zurückzulassen.   Zu seinem fragwürdigem Glück und Mokubas definitivem Unglück ging all das an ihm vorbei.     Und selbst wenn er doch einmal etwas davon mitbekam, dann war er schnell dabei sich einzureden, dass Mokuba sowieso niemanden außer ihn brauchte. Zumal er ja auch recht gut darin war, für seinen kleinen Bruder da zu sein...   ... sofern "für jemanden da sein" sich auf körperliche Anwesenheit beschränkte. Oder, wenn das nicht möglich war, eine stabile Funkverbindung. WLAN erfüllte den Zweck ebenso gut. So lange Mokuba wusste, dass es ihn gab und ihm nichts schlimmes passieren konnte, weil er ja auf ihn aufpasste, war alles ok.   Dass es Mokuba auch sehr gut sehr lange ohne Kontakt zu ihm aushalten würde, wäre er nicht latent selbstzerstörerisch veranlagt, hatte Seto allerdings bisher noch nicht begriffen. Mokuba hatte keine Angst um sich, wenn er längere Zeit nichts von seinem großen Bruder hörte. Mokuba hatte Angst um Seto. Dumm nur, dass Seto sich nicht bewusst war, dass irgendetwas an seiner Lebenseinstellung eventuell Besorgnis erregend auf Menschen, denen etwas an ihm lag, wirken könnte.     Und mindestens genauso dumm, beziehungsweise eher schon tragisch war es, dass er außerdem recht gern verdrängte, dass das Kind, für das er verantwortlich war, eventuell auch hin und wieder seelischen Beistand brauchte. Emotionalen Beistand. Eine beruhigende Hand auf der Schulter – außerhalb von Situationen in denen es um Leben und Tod ging – und die ernst gemeinte Versicherung, dass es okay war, dass ein 12jähriger kleiner Junge auch mal anderen Leuten als seinem Bruder gegenüber Schwäche zeigte, Hilfe von anderen Leuten als seinem Bruder brauchte, anderen Leuten als seinem Bruder vertraute und allgemein nicht alles unter Kontrolle hatte.   Seto dachte, er würde Mokuba auf die harte Wirklichkeit vorbereiten. Ihn stärken.   Mokuba wusste, dass sein Bruder ihn nur auf seine Wirklichkeit vorbereitete. Früher hatte er ihm einmal geglaubt, dass die ganze Welt gegen sie beide war. Heute wusste er es besser.   Und es machte ihn einfach nur noch traurig.   Er spielte trotzdem weiter mit, Seto zuliebe, damit der sich nicht so allein vorkam.     Seto maß seinen Erfolg in Mokubas Erziehung gern daran, dass ihm sein kleiner Bruder noch nicht in seiner Obhut weggestorben war.   Mokubas größter Kampf bestand darin, nicht innerlich abzustumpfen und sich Setos Weltbild zu ergeben, was irgendwie dasselbe wie sterben zu sein schien. Auf die eine oder andere Art zumindest.     Seto wusste, dass er eine bessere Vaterfigur als Gozaburo für Mokuba war. Dass dasselbe aber auch für den von Schmeißfliegen besiedelten Haufen Hundekot vor dem großen Eingangstor zum Kaiba'schen Anwesen galt, was diesen Haufen Scheiße aber deshalb noch lange nicht zu gesunder Gesellschaft für ein traumatisiertes Kind machte, darüber... dachte er dann doch eher seltener nach.   Und so blieb es bei einem unbestimmten Gefühl, das ihn gelegentlich einholte, und dem gegenüber er sich relativ machtlos fühlte.      Seto Kaiba war in vielen Dingen gut.   Ehrliche Introspektion gehörte leider nicht dazu.     Zum Glück war Mokuba Kaiba in dieser Hinsicht begabter.   Auch wenn es wohl noch ein paar Jahre dauern würde, bis er verstand, dass die Tatsache, dass es einem auch schlechter gehen konnte, noch lange nicht bedeutete, dass es einem gut ging. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)