Slice Of Life von Umi (eine Kurzgeschichten- und Drabble-Sammlung) ================================================================================ Kapitel 2: Third Eye -------------------- I stick my hand into his shadow To pull the pieces from the sand. Which I attempt to reassemble To see just who I might have been.   - Third Eye (Tool)     ~ 🐝 ~     Der Pharao, der er einmal gewesen war, hatte eigentlich schwarzes Haar gehabt.   Nur eine von vielen plötzlichen Erkenntnissen, die Atemu im Laufe seines neuen Lebens noch ereilen sollten.   Es dauerte seine Zeit bis er sich traute, die Packung schwarze Farbe, die zuvor Wochen lang in einer Ecke seines Badezimmers Staub angesetzt hatte, zu öffnen und den Inhalt in sein störrisches Haar einzumassieren. Die Person, die ihm eine gute Stunde später aus dem Spiegel entgegenblickte, war jemand ihm bis dato völlig Fremdes – er selbst. Und zwar nur er selbst.   Ein paar Tage später ließ er sich spontan die Ohrläppchen durchstechen.     ~ 🐝 ~     "So seltsam ist das gar nicht. Das menschliche Gehirn ist, was Erinnerungen angeht, nicht wirklich verlässlich, weißt du?" Shizuka lächelte und tippte sich kurz an die Schläfe, bevor sie ihre Hände wieder an die Tasse Cappuccino, die vor ihr stand, legte.   Sie saßen recht nah an der Tür des belebten Cafés und jeder neue Gast brachte einen Schwall eisiger Winterluft mit sich herein.   "Ich halte es für ganz normal, dass die Menschen, die dir früher einmal sehr nah waren, in deiner Erinnerung Menschen, die dir heute sehr nah sind, so wahnsinnig ähnlich sehen. Dich selbst mit eingeschlossen. Alles eine Frage der Assoziationen." Sie trank einen Schluck und machte sich dann daran, den kleinen Karamellkeks, der mit ihrem Getränk mitgeliefert wurde, auszupacken.   Atemu bewunderte die Selbstverständlichkeit, mit der sie seine Fragen beantwortete. Es fiel ihm schwer, ihr nicht zu glauben, dass es wirklich keinen Grund zur Beunruhigung gab. Denn Shizuka – die eigentlich hatte Ärztin werden wollen, aber nun doch auf dem Weg zu einer Psychiater-Karriere war – wusste schließlich, wovon sie redete.   Ihr Blick fiel auf seine Ohrringe. Wanderte von dort zu seinen Augen. Ihr Lächeln wurde zu einem Schmunzeln. "Das mit dem Kajal musst du noch ein bisschen üben."     ~ 🐝 ~     Seths Augen waren tatsächlich blau gewesen; seine Haut jedoch in Wahrheit von einem so kalten, dunklen Braun, dass sie auf den ersten Blick beinahe nachtschwarz wirkte, und sein Haar unter den majestätischen Kopfbedeckungen und Perücken kurz und kraus.   Atemu überlegte erst, Kaiba von seinem neuen Wissen zu berichten. Bestimmt freute der sich über jedes noch so kleine Detail, das ihn und seine frühere Inkarnation voneinander unterschied. Am Ende behielt er es aber doch für sich und notierte es bloß in dem bis zu jenem Moment noch leeren Tagebuch, das Anzu ihm damals zur Einweihung seiner ersten eigenen Wohnung geschenkt hatte.     ~ 🐝 ~     Es brauchte in der Regel kein leuchtendes drittes Auge auf seiner Stirn, keine schwarz-violetten Nebel voll verstörender Illusionen und keinen drohenden Verlust des Verstandes, um Gäste, die die Zeche zu prellen versuchten, zu einem kleinen Spielchen zu überreden. Alles was vonnöten war, war die Aussicht auf Schuldenerlass. Die Strafe die doppelte Rechnung. Je angetrunkener, desto siegessicherer waren sie meist.   Es überraschte Atemu nicht, wie viel Spaß ihm die Arbeit als Barkeeper machte, die ursprünglich nur eine Notlösung dargestellt hatte.   Zudem war er es durch seinen Freundes- und Bekanntenkreis gewohnt, tragische Lebensgeschichten zu hören und mit kurzen, motivierenden Statements zu reagieren.     ~ 🐝 ~     Als Pharao hatte er einen Harem besessen, bestehend aus seiner Halbschwester als Hauptfrau und einer Hand voll Witwen und Töchter besiegter Feinde und diplomatischer Verbündeter. Mit manchen war er eng befreundet gewesen. Sex hatten sie jedoch nur selten. Er bevorzugte Männer.   Daran hatte sich nichts geändert.   Yugi machte dagegen keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern, war momentan jedoch mit Anzu zusammen. Er hatte immer schon für sie geschwärmt. Aber das hatte er einst auch für sein anderes Ich, allerdings hatte sich daraus nie etwas Ernstes entwickelt. Das mit Anzu schien jedoch sehr ernst zu sein; momentan waren beide gemeinsam auf Wohnungssuche.   Manchmal beneidete Atemu seinen früheren Partner um dessen Beziehung.   Aber viel häufiger genoss er es, sich spontan und ohne jede Verantwortung amüsieren zu können. Es erinnerte ihn an die schönen Seiten seiner Zeit als aktiver Duellant. Erst wurde aussondiert, ob bei der anderen Seite Interesse bestand. Dann ging alles sehr schnell: Leidenschaft. Intimität. Es wurde sich beieinander für die gute Zeit bedankt, mal mit Worten, mal nur mit einem Lächeln. Und jeder ging wieder seiner Wege.   Atemu war nicht wählerisch, was die Art des Spiels anging, dem er sich hingab.   Wenn alle Beteiligten fair spielten, gab es ohnehin nur Gewinner.     ~ 🐝 ~     Je länger Atemu allein lebte, desto mehr lernte er die Ruhe und den Abstand von allem und jedem, die seine eigenen vier Wände ihm boten, zu schätzen. Mit der Zeit war es ihm auch nicht mehr unangenehm, wenn er Dinge an seinen Freunden entdeckte, die ihn störten oder bei denen ihre Meinungen auseinander gingen.   Inzwischen konnte er Yugi offen ins Gesicht sagen, dass er kein großer Fan seiner hausgemachten Pizza war. Auch die Tomatensoße gehörte seiner Meinung nach ordentlich gewürzt, und nein, "scharf" war nicht dasselbe wie "gut gewürzt" und daher wurde es weder durch den Belag aus Jalapeños, noch durch das reichliche Chili-Pulver irgendwie besser. Außerdem war der Teig immer entweder zu hart oder noch nicht ganz durchgebacken. "Das ist nichts gegen dich, Aibou, und das weißt du auch, nur... sag bitte das nächste Mal vorher bescheid, wenn es beim Spieleabend Pizza geben wird. Dann bring ich mir selbst was zu essen mit." Erst wirkte Yugi etwas vor den Kopf gestoßen, dann lachte er aber. Und hielt sich an die Abmachung. Jounouchi freute sich über die Extra-Portion, die es von nun an immer für ihn gab.   Den Klamottengeschmack des jeweils anderen fanden Yugi und Atemu im Übrigen gleichermaßen fragwürdig.     ~ 🐝 ~     Der Pharao, der Atemu vor 3000 Jahren gewesen war, war ein zwar herzensguter aber dennoch verwöhnter Bengel gewesen. Das, was ihn interessierte, fiel ihm viel zu leicht, und für alles andere hatte er genug treue Berater an seiner Seite, um sich nicht sorgen zu müssen.   Er wusste, dass es draußen vor den Palastmauern Armut und Gewalt gab, aber das hatte vor dem Auftauchen eines rachsüchtigen Grabräubers nie etwas mit ihm zu tun gehabt.   Jedes Spiel, zu dem man ihn herausforderte, gewann er. Bis auf eines. Und selbst da bedeutete seine Niederlage eigentlich eher einen Sieg. Seth kam nie darüber hinweg.     ~ 🐝 ~     Der Atemu von heute wusste, wie sich Niederlagen anfühlten. Verlust. Und Angst, verdammt, was hatte er anfangs, als er auf sich allein gestellt war, für Angst gehabt: Angst vor offenen Plätzen, Angst vor ihm unbekannten Situationen, Angst vor der Stille in seinem Kopf und seinem Herzen, dort, wo früher Yugi stets an seiner Seite gewesen war...   Aber er wusste auch, wie Vertrauen und aufrichtige Zuneigung sich anfühlten. Er vertraute seinen Freunden und seine Freunde vertrauten ihm, selbst wenn sie einmal geteilter Meinung waren.   Und Atemu mochte vielleicht nur ein Mensch unter vielen sein, aber dafür er selbst und niemand anderes.       - ENDE - Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)