Geringe Selbstmordrate von Vollmondsekunde ================================================================================ Kapitel 1: Verletzung seiner Privatsphäre ----------------------------------------- Katzen bringen als Anerkennung manchmal ihren Besitzern einen toten Vogel. Ein Ghoul wird als Zeichen seiner Zuneigung manchmal ähnliche Dinge tun. Er stand vor seine Wohnungstür, den Schlüssel in der Hand und wie erstarrt. Der Geruch von frischem Blut lag in der Luft. Dieser süße Geruch. Süß und schwer stieg er Kaneki in die Nase. Er konnte sich nicht dagegen wehren, konnte nicht denken, dass dies falsch war. Seine Natur als Ghoul flüsterte zu ihm. Es roch gut. Er schüttelte den Kopf. Nein, es war widerlich, es war falsch, es war eine eindeutige Verletzung seiner Privatsphäre. Genau. Alles in ihm schrie nach dem toten Fleisch, aber er wusste, dass da noch mehr in seiner Wohnung war. Jemand lebendes. Jemand, der ihm noch mehr Angst einjagdte als sein eigener Hunger nach Mensch. Vorsichtig schloss er die Wohnungstür auf, bereit zu fressen oder gefressen zu werden. Doch obwohl er die Anwesenheit des anderen spürte, war niemand zu sehen. Nur die Blutspur, die in die Küche führte. Er folgte ihr, darauf bedacht, die rote Flüssigkeit nicht weiter zu beachten. Fressen oder gefressen werden. Wenn er den Ghoul sehen sollte... Er konnte nicht kämpfen. Nicht jetzt, nachdem er den ganzen Tag mit Hide verbracht hatte und nicht die Zeit hatte, das Essen heimlich zu erbrechen, bevor sein Magen es unmöglich machte. Seine Küche war eine kleine Ecke, wie man es für einen Studenten nicht anders erwarten würde. So generisch wie einem Videospiel entsprungen, aufgeräumt und sauber, wenn man vom Blut einmal absah. Bis auf die Kaffeemaschine war nichts davon je in Gebrauch, solange er nur für sich selbst war. Es war der Schein der zählte. Der Schein, ein ganz normales, durchschnittliches Studentenleben zu führen. So Vorbildlich war die Küche erhalten und gepflegt, dass es die Vorgabe für alle anderen Studenten Japans sein musste. Selbst die Leiche passte so gut hierher, dass man annehmen musste, jeder Student würde eine auf Vorrat einlagern. Ihre roten Haare waren in derselbe Farbe wie sein Küchenschrank. Sie gab dem ganzen erst den gewissen Charme. „Yama..?“ Kaneki flüsterte den Namen. Als hätte er je eine Bedeutung gehabt. Es war niemand mehr da. Der Ghoul war aus seiner Wohnung verschwunden. Seltsam, dass Kaneki fast einsam war. Er wollte noch etwas sagen, Worte von Abscheu und Ablehnung. „Du musst wirklich aufhören, Leichen in meine Wohnung zu bringen.“ Er schluckte. „Du bist keine Katze.“ Was konnte die arme Yama dafür, dass Ayato Kirishima nicht flirten konnte? Zwei Wochen zuvor „Wenn mein Bruder etwas vorhat, sollten wir es lieber jetzt wissen als später.“ - „Ich weiß Touka, ich denke nur, dass du auch etwas Schlaf gebrauchen könntest.“ Kaneki warf ihr einen kurzen Seitenblick zu, während sie sprach, aber mehr wagte er nicht. Sie beobachteten Ayato und konnten es sich nicht erlauben, unaufmerksam zu sein. Aber ihre Lippen sahen so weich aus und sie glänzten leicht im Licht der Stadt. Es war kein Lippgloss. Touka hätte nie welchen aufgetragen. Besonders nicht für ihren Bruder. Kaneki wusste, dass über ihre Augenringe Tränen rannen. „Geh bitte schlafen. Ich kann die Wache gut alleine übernehmen.“ „Ich bin ein besserer Ghoul als du, also wenn hier jemand geht dann du.“ Er hob die Schultern und zog dann sein Handy raus. „Renji Yomo kann für dich übernehmen. Oder ist er nicht gut genug für diese Mission?“ Touka sagte nichts. Hastig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Aber sie wandte sich ab und sah ihn jetzt das erste Mal diese Nacht an. Es war ein seltsamer Blick. Dankbar und wütend zugleich. Und traurig. Unfassbar traurig. Sein Blick war noch immer geradeaus gerichtet. Wenn er Ayato aus den Augen verlor, bekämen sie echte Schwierigkeiten. „Wenn Hinami noch wach ist, tust du mir den Gefallen und gibst ihr das Buch?“ Er streckte ihr die Plastiktüte hin, die er schon seit 26 Stunden fest umklammert hielt. „Sie kann mich später nach den Vokabeln fragen.“ Für einen kurzen Moment spürte er, wie Toukas Hand seine berührte. Warm und weich. Er drehte den Kopf nur ganz leicht zur Seite. Sie stand nah bei ihm, sher nah. Er konnte ihren Atem an seinem Ohr spüren. „Stell nichts Dummes an.“ ------ Ayato sah aus wie immer - in Leder gekleidet, trainiert und gefährlich. Ein Hauch von Blut klebte an ihm, aber nicht genug, dass die Menschen um ihn herum es wahrgenommen hätten. Kaneki war ihm in eine Bar gefolgt, stets darauf bedacht, sich nicht zu offensichtlich zu zeigen. Schließlich wollte Anteiku, dass Ayato wusste, dass er unter Beobachtung stand, aber er wollte sich auch nicht unnötig in Gefahr begeben. Er redete mit einer jungen Frau, sein nächstes Opfer wahrscheinlich. Kaneki betrachtete sie kurz. Viel Eyeliner, gehässige Sprüche und ein niedliches Lachen. Und lange rote Haare. Sie sah sehr gut aus, etwas eingebildet vielleicht. Es wäre besser für sie, wenn sie Ayato abblitzen ließ. „...aber bei dir liefe das sicher anders. Süße...“ Ayato beugte sich vor. Sollte er eingreifen? Kaneki war sich nicht sicher. Sie beobachteten Ayato seit einigen Tagen, es konnte durchaus sein, dass er erst vor kurzem gefressen hatte. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht hatte Ayato einfach Hunger. Warum sonst sollte er sich so unter Menschen begeben? „Der Name ist Yama. Und das erste was bei mir liefe, wärst du aus meiner Tür.“ Sie funkelte ihn böse an, drehte sich um und verschwand dann in eine andere Ecke der Bar. Glück für sie. Ayato sah ihr ärgerlich nach. Sein nächster wütender Blick galt Kaneki, der sich seltsam ertappt vorkam. Kaneki blieb an seinem Platz und beobachtete nervös, wie Ayato auf ihn zukam und sich neben ihn stellte. Sollte er was sagen? Seine Zunge war wie ausgetrocknet. „Sie weiß nicht, was ihr entgeht.“ - „Der Tod.“ Ayato lächelte. „Nein, sie hat ihn gerade eingeladen.“ Er warf ihm einen Blick zu. „Ich bin eigentlich satt. Aber wenn du Hunger hast, kann ich ihren Termin vorverlegen. Du darfst mich begleiten.“ „Nein... Ich werd erst in zwei Wochen etwas brauchen... Ich meine...“ Er wurde leicht panisch. Warum lud Ayato ihn zu einer Jagd ein? Was sollte das alles, wenn er gar nicht vor hatte, sie selbst zu essen? Womöglich genoss er einfach die Jagd. „Ich wollte sie nicht. Nicht auf diese Art.“ Seine blauen Haare fielen ihm ins Gesicht, als er leicht den Kopf schüttelte. „Natürlich nicht als was ernstes. Menschen kann man niemals vertrauen. Niemals, Kaneki.“ Kaneki war etwas verwirrt. Wie seltsam war der Gedanke, dass Ayato bloss einsam war. „Schade eigentlich. Dass du keinen Hunger hast meine ich. Du und meine Schwester folgt mir schon eine ganze Weile.“ Schweigen. Seltsames, angespanntes Schweigen. „Wenn du dich langweilst, ich steh gerade zur Verfügung.“ Ayato lächelte wieder. Das war eine ziemlich eigenartige Art zu flirten. Verständlich, dass Yama die Flucht ergriffen hatte. Kaneki seufzte. „Du bist nicht wirklich so verzweifelt. Du versuchst nur, es unangenehm zu machen, damit ich nicht genau aufpasse.“ „Du bist nicht so dumm, wie du aussiehst. Aber das Angebot steht.“ ----------------- Es ist eine Zahl die erschreckend ist. Zu hoch, zu offensichtlich und zu deprimierend. Niemand spricht gerne über eine Zahl, die jedes Jahr steigt. Weder Namen noch Schicksale teilt diese Zahl mit, nur einen stillen Vorwurf. Niemand spricht gerne über die Selbstmordrate in Tokyo. Renji Yomo brachte keine Leiche mit. Er stand mit einer offenen und leeren Tasche im Cafe vor Kaneki. Er sagte nichts, aber seine finstere Miene sagte alles. Kaneki schaute ihm nach, als er sich in den hinteren Teil des Ladens begab und erneut die Vorräte zählte. Eigentlich war es gut, dass im zwanzigsten Block etwas Ruhe einkehrte. Dass die Zahl runter ging. Vielleicht musste Anteiku auf Opfer von Verkehrsunfällen wechseln. Manchmal war das notwendig, hatte Touka erzählt. Aber es war schwer mit der Polizei, vielen Zeugen und den Ghouljägern. Als Kanekis Schicht zuende war, ging er geradewegs in Toukas Zimmer. Sie setzte gerade ihre Maske auf. Zögernd stand sie da, erwiederte Kanekis Blick. Er wurde leicht rot. „Du musst das nicht tun, Touka. Wir finden ne Lösung.“ Aber das war nicht wahr. Es reichte nicht mal mehr für eine Woche. Ihre Stimme klang dumpf hinter der Maske. „Es ist für Hinami. Wenn du einmal angefangen hast zu töten, gibt es kein zurück. Ich kann das. Aber Hinami ist unschuldig, und sie sollte es bleiben.“ Er konnte sie nicht aufhalten. Vielleicht wollte er das auch gar nicht. Er nahm sie nur kurz in den Arm. Sie löste sich nicht sofort von ihm, aber sie tat es, und sie ging auf die Jagd. --------- Er fand es seltsam, dass er sich an ihren Namen erinnerte. Yama. So bedeutungslos und doch schön. Ihr Eyeliner saß noch perfekt. Kaneki hob vorsichtig ihren Arm, noch unsicher, was er eigentlich tun wollte. Eine Nachricht war ihr an die Brust getackert worden. Vorsichtig zupfte Kaneki den Zettel ab. ‚Technisch gesehen kannst du den Rest deines Lebens erleben ohne zu essen. Du würdest besonders qualvoll verhungern, aber technisch gesehen wars der Rest deines Lebens.‘ Seine Hand zitterte. Was für ein seltsamer Humor. Seine Hand umklammerte die Nachricht. Nur langsam konnte er den Blick von Yama abwenden und sein Handy herausziehen. Erst musste er überlegen, wen er anrufen sollte, aber es zu wichtig. Touka würde die Handschrift ihres Bruders erkennen, und sie war gerade auf der Jagd. -------- Als Yomo die Küche betrat, fehlte bereits eine Hand. Kaneki wischte sich Blut aus dem Mundwinkel. Er musste sich sehr zusammen reißen, um nicht auch den Rest von Yama zu verschlingen. Yomo sagte nichts dazu. Er betrachtete Kaneki aus den Augenwinkeln, und dann wieder die Leiche vor ihm. „Du hast sie nicht selbst erledigt?“ „Nein.“ „Brauchst du mehr?“ Yomo hob die Frau vom Tresen und legte sie vorsichtig in die Tasche, die er mitgebracht hatte. „Nein, schon okay.“ -------- In der Bücherei war es still, aber davon bekamen sie nicht viel mit. Sie hörten Hides neue Lieblingsband über seine Kopfhörer. Hide lehnte sich entspannt zurück und spielte mit seinem Bleistift, trommelte den Beat mit. Es war gute Musik, aber das war nicht der Grund, warum Kaneki es mit Hide hörte. Wenn ein guter Freund einem die Lieblingsmusik oder -band nennt, sollte man sich das anhören, zehnmal auf repeat, wenns sein muss. Danach versteht man diesen Freund so viel besser. Kanekis Handy fiepte, und er nahm den Kopfhörer aus seinem linken Ohr, und reichte ihn zurück an Hide. Es war Enji Kouma. „Kaneki, wir beobachten Ayato. Er befindet sich gerade in deiner Wohnung. Sollen wir ihn rausjagen?“ Kaneki erstarrte fast zu Eis. Vor Hide musste er allerdings vorsichtig sein. „Nein - er wird gehen. Lasst ihn gehen und ruft Yomo an. Er kann... sich darum kümmern.“ Hide warf ihm einen Blick zu. „Alles okay?“ Nein, nichts war okay. ----------- Als Kaneki in seiner Wohnung ankam, hatte Yomo bereits beide Leichen verstaut. „Drei innerhalb einer Woche.“ Kaneki nickte. Das war viel. Was sollte das? „Da steht jemand auf dich.“ Aus Yomos Mund klang selbst dieser Satz, den jeder andere neckend oder gemein gesagt hätte, nüchtern und wie eine Feststellung. Ihm drehte sich fast der Magen um. --------- Eine riesige Reklametafel thronte auf dem Dach. Abgebildet war ein Mann in einem hellen Anzug, der sich zum Betrachter hinlehnte und ein riesiges Lächeln perfekt weißer Zähne entblösste. Daneben Stand nur in roten riesigen Buchstaben ‚VERLETZUNGEN?‘ Keine Telefon Nummer, keine Internetseite, kein Firmenname. Nur eine vage Drohung wie aus Nightvile. Sie saßen vor dieser Reklametafel und tranken Kaffee aus der Thermoskanne. Kaneki versuchte angestrengt nicht zur Seite zu sehen, die blauen Haare zu betrachten, oder die Lippen, die sich öffneten um den Kaffee zu trinken. Er versuchte nichts über den schönen Sternenhimmel zu sagen, oder wie seltsam es war, dass er sich so angezogen fühlte. „Du siehst gestresst aus“, sagte er stattdessen. „Ich mache mir auch selten so viel Mühe, jemanden für mich zu gewinnen.“ Ayato lächelte uns strich mit seiner Hand über Kanekis. „Nicht, dass es schwer für mich wäre. Aber ich muss auch achtgeben, dass meine lästigen Bewacher mich nicht erwischen, wenn ich jage, habe ich Recht?“ Kaneki lächelte und wurde leicht rot. „Bin ich lästig?“ „Ein wenig. Es ist nur schwer ertragbar...“ Ayato lehnte sich vor. „...wie du meine Schwester manchmal anstarrst.“ Er war jetzt so nahe, dass er ihn ohne Mühe beißen konnte. Aber es war immer gefährlich, Ayato nahe zu sein, nicht nur jetzt. Nur mit Mühe konnte er sich zusammenreißen, nicht zurück zu weichen. Das wäre schwach. „Du liebst deine Schwester noch immer. Auch wenn du es abstreitest.“ „Du denkst zu gut von mir.“ Ayato lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Das wird dir noch zu Schaden kommen.“ Natürlich. Irgendwann würde das sicher so sein. Aber gerade kümmerte das Kaneki nicht sonderlich. Er lehnte sich an Ayato. Beobachtungsposten war einfach, wenn betreffende Person beobachtet werden wollte. „Wann ist Schichtwechsel?“ „In etwa vier Stunden.“ Ayato legte einen Arm um ihn und zog ihn näher zu sich. „Das ist ziemlich viel Zeit. Übernimmst du von jemanden die Schicht oder was verschafft mir die Ehre?“ „Die anderen sind beschäftigt. Das Cafe hat... Probleme genug Fleisch für die friedlichen Ghoule heranzuschaffen. Wir mussten auf Verkehrsopfer ausweichen.“ „Friedliche Ghoule? Du meinst schwach.“ Er strich leicht durch Kanekis Haar. Seine Stimme klang weniger fies als es wohl beabsichtigt war. Fast friedlich. „So hast du mehr Zeit für mich, Kaneki.“ „Ja.“ Seltsam, wie leicht er das zugab. „Wollen wir dann nicht etwas interessanteres tun als hier rumsitzen?“ „Ich finds ganz angenehm.“ Ayato lächelte. „Stimmt. Ich auch.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)