Ein unerfüllter Wunsch von Rabenkralle ================================================================================ Kapitel 2: Tausend gute Gründe ------------------------------ Ihr dritter Jahrestag begann wie jeder andere Morgen. Temari wachte dank ihrer inneren Uhr ein paar Minuten auf, bevor der Wecker klingelte – und sobald er es tat, konnte sie die Sekunden rückwärts zählen, bis Shikamaru ihn fluchend ausstellte und sich im Anschluss die Decke über den Kopf zog, um noch etwas weiterzuschlafen. In der ersten Zeit hatte sie den Fehler gemacht und mit allen Mitteln versucht, ihn zum Aufstehen zu bewegen und sich so selbst um ihre morgendliche Dusche und ein entspanntes Frühstück gebracht. Irgendwann war sie auf die Idee gekommen, die Uhr eine halbe Stunde vorzustellen. Der Alarm startete den ersten und viel zu frühen Weckversuch, sie ging duschen, machte das Frühstück und wenn sie zurück ins Schlafzimmer kam, war Shikamaru meist sogar ansprechbar, sodass sie das Potenzial ihrer Überredungskunst nicht einmal voll auszuschöpfen brauchte. Und falls doch eins der seltenen Male eintraf, in dem das nichts brachte, hatte sie ein unschlagbares Ass in der Hinterhand. »Aufstehen!« Sie rüttelte ihn ohne große Aussicht auf Erfolg durch. »Wir kommen sonst zu spät.« »Ja, ja«, murrte er verschlafen in sein Kissen. »Nur noch ’ne Stunde …« »Sorry, aber die Stunde wirst du auf heute Mittag verschieben müssen«, sagte sie ohne eine Spur Mitleid in der Stimme. »Warum denn? Heute ist doch unser freier Samstag …« »Gut, bleib halt liegen.« Sie lächelte. »Ist ja nicht meine Mutter.« Shikamaru schrak auf und wirkte auf einmal hellwach. »Wie spät ist es?«, fragte er und klang dabei, als stände er kurz vor einer Panik. Temari lachte innerlich. Yoshino zu erwähnen half immer – und seine Reaktionen darauf waren meist unbezahlbar. Auch wenn sie es etwas fragwürdig fand, dass er sich mit zwanzig noch von seiner Mutter herumkommandieren ließ und versuchte, ihr alles recht zu machen. Sein Seelenfrieden war ihm heilig – verständlicherweise. »Entspann dich«, antwortete sie mit einem Lächeln. »Wir haben noch über eine Stunde Zeit.« Er sank zurück aufs Bett und sagte trocken: »Danke.« »Ich hab die Einladung zum Frühstück nicht angenommen«, bemerkte sie spitz. »Ich auch nicht. Sie hat es einfach festgelegt, ohne mich zu fragen.« »Du hättest trotzdem Nein sagen können«, erinnerte sie ihn und hob die Brauen. »Du weißt doch, was für ein Tag heute ist?« »Sicher«, sagte er monoton. »Der Tag deiner Verzweiflungstat jährt sich heute zum dritten Mal.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und legte den Kopf schief. »So plump kann man es natürlich auch ausdrücken.« Er öffnete ein Auge und sah seine Freundin an. »Genauso plump war es auch«, bemerkte er. »Wenn du dich beschweren willst« – sie hielt eine Hand hinter ihr Ohr – »ich höre dir zu.« »Das war keine Beschwerde, sondern die Wahrheit«, merkte er an. »Der Beziehungskram kam schließlich erst danach.« »Aber sollte an Jahrestagen nicht dieser Kram im Vordergrund stehen?« »Wenn du meinst.« Er gähnte demonstrativ. »Es war derselbe Tag, also wen interessiert’s, was zuerst war?« Sie stieß ein Seufzen aus, beließ es aber dabei. Sie teilte seine Ansicht, also war eine Diskussion darüber unsinnig. »Ich hoffe übrigens«, setzte sie an, »dass du dich auch diesmal an unsere Abmachung hältst. Falls du also wider Erwarten vorhast, mir etwas zu schenken, kannst du es bis zu meinem Geburtstag behalten.« »Der erst in über acht Monaten ist und an dem du eh nicht hier bist?« »Genau.« Er streckte sich, schloss die Augen und murmelte: »Warum sollte ich mich ausgerechnet heute nicht daran halten?« Temari schmunzelte. Sie mochte es, wie es zwischen ihnen lief und bisher gelaufen war. Kitschige Romantik und ständige und peinliche Liebesbekundungen hatten nie eine Rolle gespielt und würden es auch in Zukunft nicht; und das Wichtigste: Sie akzeptierten – in einigen Punkten mehr, in anderen weniger – und respektierten einander und das war der Grund, warum ihre Beziehung von Anfang an so gut funktioniert hatte. »Ich geh dann duschen«, warf sie ein und scherzte: »Nicht, dass deine Mutter noch auf die Idee kommt, wir hätten was miteinander.« »Das wusste sie vermutlich schon, bevor wir es wussten«, gab Shikamaru zurück. »Ganz sicher«, antwortete sie und lachte. --- »Du lässt dich hier auch nur blicken, wenn ich dich dazu auffordere«, schmetterte Yoshino ihrem Sohn missgelaunt entgegen. »Ich tue so viel für dich und so dankst du es mir.« Er wollte gerade zum Sprechen ansetzen, da wetterte sie weiter: »Und was denkst du dir dabei, im Winter mit nassen Haaren nach draußen zu gehen? Willst du unbedingt krank werden?« Obwohl Yoshinos Begrüßung wie immer ausfiel, wenn er tagelang mit Abwesenheit geglänzt hatte, musste sich Temari jedes Mal wieder auf die Unterlippe beißen, um nicht in Gelächter auszubrechen. Sie war zwar voll und ganz auf der Seite ihres Freundes, aber die übertriebenen Moralpredigten seiner Mutter waren immer wieder amüsant. Wobei es andererseits auch ein wenig traurig war, dass es ihr offensichtlich so schwer fiel, sich von ihrem mittlerweile erwachsenen Sohn zu trennen. »Sie sind überhaupt nicht nass«, protestierte Shikamaru kleinlaut und zwängte sich an seiner Mutter vorbei in sein Elternhaus, das er seit zweieinhalb Jahren nur noch zeitweise bewohnte. »Willst du mich veralbern?«, murrte sie und stiefelte ihm nach. »Meinst du, ich kenne den Unterschied zwischen nassem und trockenem Haar nicht?« Er stieß ein genervtes Seufzen aus und sagte nichts weiter. Er hatte keine Lust, ihr lang und breit zu erklären, dass ein Bengel ihn aus Versehen mit einem übergroßen Schneeball abgeworfen hatte und somit die Prozedur des Haareföhnens, der er nur nachging, wenn es sein musste, zunichte gemacht hatte. Yoshino musterte ihn missbilligend und seufzte ebenfalls, bevor sie sich ihrem anderen Gast zuwandte. »Temari, meine Liebe«, sagte sie mit übertriebener Freundlichkeit, »was stehst du noch draußen in der Kälte? Komm doch herein!« Die Angesprochene ließ sich kein zweites Mal darum bitten – es war schließlich verdammt kalt draußen – und betrat das Haus. Zu ihrer Überraschung nahm ihr die Frau die Jacke ab, hängte sie an die Garderobe und umarmte sie im Anschluss so herzlich, als hätte sie ihre lange verloren geglaubte Tochter wiedergefunden. Temari, die völlig perplex von dieser Aktion war, erwiderte die Geste kaum merklich. Und obwohl sie sich über die Jahre eine recht positive Meinung von Yoshino gebildet hatte – von ihrem Hang, Shikamaru immer noch wie ein Kind zu behandeln, abgesehen – war sie froh, als sie sie wieder losließ und in Richtung Küche davon hetzte. »Wenigstens kann sie dich leiden«, bemerkte er. »Überrascht dich das so?«, gab sie zurück. »Ich bin ihr in einigen Belangen ziemlich ähnlich.« »Bist du nicht.« »Doch«, widersprach sie. »Du hast selbst gesagt, dass wir beide manchmal gruselig sind.« »Das habe ich über dich noch nie gesagt«, legte er fest. »Vielleicht nicht direkt«, meinte sie, »aber sinngemäß.« Eine Yoshino, die mit aufforderndem Blick zu ihnen herüber schaute, gab ihm nicht mehr die Gelegenheit, darauf zu antworten. --- Es erwartete sie das üppigste Frühstück, das sie jemals privat bei jemandem Zuhause gesehen hatte und als sie fertig mit dem Essen war, fühlte sie sich so satt wie lange nicht mehr. Wenn Temari es genau nahm, war ihr sogar ein wenig übel, aber sie hatte aus Höflichkeit geschwiegen, als die Frau ihr immer wieder etwas auf den Teller gelegt hatte. Es sah schließlich nicht danach aus, als sähe sie sie heute zum allerletzten Mal und die ungeschriebene Regel, dass man sich mit der Mutter des Freundes möglichst gut stellte, schien ihr bei dieser Person sehr angebracht zu sein. Sie war wirklich nicht darauf aus, dass sie Yoshinos Groll – und den projizierte sie laut Shikamaru ständig auf irgendetwas – auf sich zog. »Noch einen kleinen Nachtisch?«, fragte sie und Temari fühlte sich durch ihren Vorsatz fast schon genötigt, mit Ja zu antworten, doch zum Glück kam Shikamaru ihr mit seiner Antwort zuvor. »Danke«, sagte er monoton, »aber ich glaube, wir haben genug.« Ein breites Lächeln erschien auf dem Gesicht seiner Mutter, was vermutlich seiner Wortwahl – dem wir – zuzuschreiben war, und sie begann, den Tisch abzuräumen. Temari überlegte, ob sie ihr helfen sollte und sie wäre auch sofort aufgesprungen, um das zu tun, wenn ihr Magen nicht so voll gewesen wäre und sie mit der Aktion nicht eher dafür gesorgt hätte, dass er sich auf umgekehrtem Wege wieder leerte. In der Hoffnung, dass ein Wunder geschah, blieb sie noch ein paar Sekunden sitzen und – Shikamaru stand plötzlich auf und half Yoshino an ihrer Stelle. Sie blinzelte irritiert. Seit wann deckte er freiwillig den Tisch ab, ohne dass er dazu aufgefordert werden musste? Sie lachte innerlich. Wahrscheinlich machte er es nur, weil heute ihr Jahrestag war und er ihr einen kleinen Gefallen tun wollte. Ja, eine andere Erklärung war ausgeschlossen. So kleine Gesten, die von ihm so rar wie ein Grasbüschel in der Wüste waren, waren ihr ohnehin lieber, als wenn er später doch mit einem überteuerten Geschenk ankam. Nicht, dass er ihr jemals so etwas geschenkt hatte, aber trotzdem. Als das Geschirr säuberlich in der Spule gestapelt, der Rest des Essens im Kühlschrank untergebracht und der Tisch abgewischt worden war, verabschiedete sich Yoshino. »Ich geh dann ein paar Besorgungen machen«, sagte sie und setzte hoffnungsvoll nach: »Shikamaru, kann ich damit rechnen, dass du in den nächsten Tagen nach Hause kommst?« »Nein«, antwortete er sofort. »Nicht mal zum Abendessen?« »Nein.« »Und wenn du Temari mitbringst?« »Dann vielleicht«, lenkte er ein. »Aber mach dir nicht zu große Hoffnungen. Diese ständigen Meetings vorzubereiten, ist ziemlich zeitintensiv.« »So zeitintensiv, dass du nicht mal deiner alten Mutter einen Besuch abstatten kannst, ist es sicher nicht«, argumentierte sie. »Aber wenn du nicht herkommen möchtest, komme ich eben zu euch.« Den letzten Satz sprach sie völlig normal aus, doch in Shikamarus Ohren klang sie nach einer fast schon bösartigen Drohung. »Wie wäre es mit Mittwochabend?«, fragte er rasch. Seine Mutter setzte ein Lächeln auf. »Das passt mir gut«, sagte sie. »Ich überlege mir etwas Leckeres, das ich koche. Bis dann!« Gut gelaunt stakste sie aus der Küche und verschwand pfeifend auf dem Flur. --- Temari hielt die Augen geschlossen und genoss im warmen Wohnzimmer den angenehmen Lufthauch, den Shikamaru ihr mit einer Zeitung zufächelte. »Du stopfst dich mit ihrem Essen voll, um nicht unhöflich zu sein …«, begann er. »Also mal ehrlich, wie kommt man auf so eine bescheuerte Idee?« Sie lugte unter einem Lid hervor und sagte: »Ich möchte es mir halt nicht mit ihr verscherzen.« »Den Aufwand hättest du dir schenken können«, gab er zurück. »Irgendwann findet sie an jedem etwas, das ihr nicht passt. Davon mal abgesehen, dass es nicht unhöflich ist, zu sagen, dass man satt ist.« Sie sagte nichts. »Du hast sonst so ein loses Mundwerk, also warum –« Er unterbrach sich selbst und verbesserte sich: »Obwohl, bei ihr kann ich’s voll und ganz verstehen. Also vergiss, was ich gesagt habe.« Temari lächelte flüchtig und ihr Auge fiel wieder zu. Sie vernahm das Knistern der Zeitung und lauschte dem Geräusch eine Weile, bis ihr Bewusstsein davon driftete und sie einschlief. --- Als sie wieder aufwachte, war der ekelhafte Druck auf ihren Magen verschwunden. Sie schlug die Wolldecke zurück, mit der sie auf wenig ominöse Weise zugedeckt worden war und blickte sich um. Sie vermutete fast, dass Shikamaru ebenfalls einen vorgezogenen Mittagsschlaf hielt, doch er saß neben der Couch auf dem Boden und spielte sein Lieblingsspiel gegen sich selbst. Er hatte das alte, schon arg in die Jahre gekommene Shōgibrett hervorgekramt, dass ihm sein verstorbener Lehrmeister vor einer Ewigkeit geschenkt hatte. Sie kannte es nur vom Sehen, denn wenn sie gegen ihn spielte – was nicht selten vorkam –, benutzte er immer ein anderes Set. Um das Andenken zu bewahren, wie er ihr sagte. Und weil er nicht ständig an Asuma erinnert werden wollte, wie sie vermutete. »Ausgeschlafen?«, fragte er beiläufig, während sein Blick weiter auf einem Stein haftete. »Ja.« Sie sparte sich jede weitere Frage, da die Wahrscheinlichkeit, dass sie von ihm eine Antwort bekam, nicht hoch war, wenn er seiner Lieblingsbeschäftigung nachging und nahm sich die Zeitung. Temari überflog den internationalen Teil, in der Hoffnung, die eine oder andere Nachricht aus ihrer Heimat zu entdecken, doch da es hauptsächlich um das kommende Treffen der Botschafter ging, gab es nichts, das sie nicht schon wusste. Sie faltete das Blatt zusammen, warf es neben sich auf das Sofa und beschloss, die Decke anzustarren, bis sich Shikamaru in etwa einer Stunde – was für sie gefühlte drei Stunden waren – in eine Pattsituation manövriert hatte und das Spiel unentschieden ausging. Die Faszination, die dieses Brettspiel auf ihn ausübte, konnte sie immer noch nicht nachvollziehen und er verstand umgekehrt nicht, warum sie sich lieber mit Kartenspielen beschäftigte, bei denen es zu einem Großteil auf das Glück ankam. Und warum sie lieber Pflanzen beobachtete, die sich durch eine Brise sanft hin und her wogen, wenn am schönen blauen Himmel langsam ein paar Wolken vorbeizogen, was für sie die pure Langeweile war. Sie liebte nervenaufreibende Romane, er mochte eher Sachliteratur, weil er Dingen, die nicht wissenschaftlich erwiesen waren, nichts abgewinnen konnte. Er hinterfragte alles, was ihm unlogisch erschien und davon gab es in den Büchern, die sie las, seiner Ansicht nach eine ganze Menge. Besonders, wenn es um Untote und andere übernatürliche Wesen ging, hatte er viele Argumente, wie unsinnig das Ganze war – was für Temari in Anbetracht des viel benutzen Edo Tensei, das nun mal mehr oder minder Zombies erschuf, im letzten Krieg ein Widerspruch war, aber selbst darauf hatte er eine passende Erklärung gehabt, die sie ihm nicht widerlegen konnte. Auch wenn sie sich manchmal wünschte, dass er in rhetorischer Sicht etwas weniger talentiert wäre, so machten ihr die oftmals hitzigen Diskussionen Spaß – bis er zu gut argumentierte und sie sich geschlagen geben musste. Meinungsverschiedenheiten gingen meist zu ihren Gunsten aus – was sie in erster Linie seinem konfliktscheuem Wesen zu verdanken hatte – und für jemanden, der sich nicht auf sein Glück verließ, gewann er überdurchschnittlich oft beim Kartenspielen. Nur in einem Punkt hatte sie bis jetzt immer das Nachsehen gehabt. »Spielen wir eine Runde?«, fragte Shikamaru. Temaris verschleierter Blick lichtete sich. »Wozu denn?«, gab sie zurück. »Das Ergebnis steht schon fest, bevor wir überhaupt angefangen haben. Ich verliere immer, also kürzen wir das Ganze ab, indem ich gar nicht erst antrete.« »Du verlierst gar nicht immer«, argumentierte er. »Du hast immerhin zweimal gewonnen.« »Du hast mich beide Male gewinnen lassen, weil ich dir vor dem Spiel gedroht habe, dass ich nie wieder mit dir Shōgi spiele, wenn ich wieder verlieren sollte«, erinnerte sie ihn. »Und selbst wenn ich es mit meinem Können geschafft hätte, ist eine Gewinnquote von etwa einem Prozent nicht gerade eine Motivationsbombe.« »Hab dich nicht so«, sagte er. »Dir fehlt nur etwas –« »Übung hilft bei mir gar nichts«, unterbrach sie ihn, stand allerdings auf, nahm sich ein Kissen von der Couch und ließ sich auf der anderen Seite des Brettes darauf nieder. »Ich könnte dir allerdings mit meinem Fächer eins drüber geben und hoffen, dass du dadurch etwas dümmer wirst. Das steigert meine Siegchancen enorm, oder was meinst du?« Er belächelt ihren Vorschlag, von dem er wusste, dass sie ihn nicht in die Tat umsetzen würde, und deutete auf die Steine. Sie zögerte einen Moment, ob sie sein Heiligtum ohne zu fragen anfassen sollte, dann sammelte sie ihre Spielsteine zusammen und stellte sie auf. --- Eine halbe Stunde später hatte er ihren König in die Ecke gedrängt. Temari betrachtete die Spielsituation ausgiebig, doch an der Tatsache, dass sie in spätestens drei Zügen verloren hatte, änderte sich nichts. Halbherzig setzte sie einen Stein vor, den sie an der Stelle ihres Königs opferte und musterte ernüchtert die zwei Steine, die sie ihm abgenommen hatte. Nur zwei Stück … So eine klägliche Vorstellung hatte sie ihm seit Jahren nicht mehr geliefert. Sie machte den vorletzten Zug, der ihr möglich war, sah, wie Shikamaru ihren Springer und somit den letzten nützlichen Stein an sich nahm und ihr König einsam und verlassen von seinen Mitstreitern am Rand des Brettes zurückblieb. In dem Wissen, dass er seinem goldenen General nun schutzlos ausgeliefert war, zog sie ihn ein Feld zurück und wartete darauf, dass er ihrer grauenvoll schlechten Darbietung ein Ende bereitete. Er musterte die Situation kurz, dann griff er seinen Stein, setzte ihn und – »Lass uns heiraten!« Sie vergaß ihren Ärger über ihre Niederlage und warf einen prüfenden Blick über ihre Schulter. Da dort niemand stand, den er gemeint haben könnte, wandte sie sich wieder zu ihm um. »Meinst du mich?«, fragte sie und kam sich ziemlich dumm vor, weil sie auf seinen offensichtlichen Heiratsantrag mit so einer blöden Frage antwortete. »Da hier außer dir sonst niemand ist, ja«, entgegnete er ruhig. Er machte dabei nicht den Eindruck auf sie, als ließ er sich durch ihre Antwort in irgendeiner Weise beirren. »Also was sagst du?« Ja, was zur Hölle sollte sie dazu sagen? Sollte sie ihn fragen, ob er etwas genommen hatte, da er vor wenigen Monaten betont hatte, dass das Modell der Ehe überholt, ziemlich schwachsinnig und unnötig war? Und was für eine Reaktion erhoffte er sich überhaupt von ihr, einer Person, die sich niemals in der Nähe eines Traualtars gesehen hatte, da sie ihre Unabhängigkeit so schätzte? Obwohl, einen Aspekt gab es, der ihn zu dieser Entscheidung gebracht haben könnte. »Du musst mich nicht heiraten, damit ich ganz hier bleibe«, sagte Temari bedacht und schenkte ihm ein Lächeln. »Das würde ich auch, wenn du mich nur nett darum bitten würdest.« Shikamaru musterte sie mit diesem undefinierbaren Gesichtsausdruck, der es ihr unmöglich machte, ihn zu deuten, und erwiderte: »Es geht mir nicht nur darum.« Wenn ihr Umzug nicht der einzige Grund war, warum er ihr eine Heirat vorgeschlagen hatte, von der er laut seiner eigenen Aussage gar nichts hielt, was hatte ihn zu dem Schluss kommen lassen, dass sie in irgendeiner Weise einen Mehrwert hatte? »Und worum geht es dir noch?«, fragte sie. »Ich meine, irgendwie musst du darauf gekommen sein, dass es eine gute Idee ist, wenn du dich so früh fest bindest.« Er antwortete mit einem Schulterzucken und sagte: »Sind dir meine Gründe so wichtig, dass sie deine Antwort beeinflussen würden?« »Nein«, entgegnete sie ehrlich. »Ich versteh es zwar nicht so ganz, aber du weißt selbst am besten, warum eine Heirat für dich Sinn machen würde.« Er nahm ihren König, den er geschlagen hatte, vom Brett und fing an, ihn in der rechten Hand unaufhörlich zu drehen. »Also?«, fragte er im Anschluss und da sie nicht sofort antwortete, setzte er nach: »Du kannst auch ruhig Nein sagen, wenn nur ein kleines Argument für dich dagegen sprechen sollte.« Eines fiel ihr sofort ein, doch da sie ihm bereits gesagt hatte, dass sie außerhalb dieser angestaubten Tradition zu ihm nach Konoha ziehen würde, konnte sie es nicht mehr als Grund anführen, ohne dass sie sich selbst widersprach und letzten Endes vielleicht einen Streit darüber anzettelte. Ja, unter diesem Aspekt konnte und wollte sie es ihm nicht sagen – und ihr war bewusst, dass sie diesen Punkt so oder so nicht gebracht hätte, da er in ihrer Entscheidung von vornherein keine Rolle gespielt hatte. Und welche Gründe gab es noch, wenn sie von ihrer Vorstellung aus ihrer frühen Jugend, dass sie eines Tages als einsame Wölfin endete, abgesehen? »Bist du dir sicher«, begann sie, »dass du den Rest deines Lebens mit deiner ersten und einzigen Freundin verbringen möchtest?« Sie bemerkte, dass er mit dieser für ihn untypische Spielerei mit dem Stein innehielt, dann sagte er: »Absolut.« Seine Antwort überraschte sie nicht, die Entschlossenheit in seiner Stimme aber umso mehr. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, also warum sollte sie ihn haben? »In Ordnung.« Sie gab dem Lächeln nach, das sich ihr schon aufdrängte, seitdem er diesen Vorschlag gemacht hatte und sagte: »Heiraten wir!« Bevor Shikamaru etwas erwidern konnte – wenn er denn etwas erwidern wollte –, hörten sie, wie die Haustür aufging, wieder ins Schloss fiel und ein paar hektische Schritte folgten. »Wie schön, ihr seid noch da!«, trällerte Yoshino, die in jeder Hand eine Einkaufstüte hielt, mit außerordentlich guter Laune. »Dann könnt ihr doch zum Mittag bleiben!« Sie lächelte und eilte in Richtung Küche davon. Temari starrte auf den Platz, an dem ihre Schwiegermutter in spe bis eben gestanden hatte. Allein bei dem Gedanken, in den nächsten eins, zwei Stunden etwas zu essen, wurde ihr wieder schlecht. Schlimmer war nur die Vorstellung, mit ihr auf Dauer unter einem Dach zu wohnen. »Aber damit eins klar ist«, meinte sie bestimmt. »Wenn du so naiv bist und denkst, dass ich freiwillig in diesem Haus wohne, nehme ich mein Ja augenblicklich zurück. Hier ziehe ich bestimmt nicht ein!« »Schade, dann war die ganze Aufregung wohl umsonst«, entgegnete er im Scherz und brachte sie so zum Lachen. »Dann kommt zu dem ganzen Stress, den wir als Botschafter haben, also noch die Wohnungssuche und die Vorbereitung für einen veralteten und eigentlich überflüssigen Brauch«, sagte sie dann und seufzte. »Wäre es nicht besser, wenn wir uns gleich den nächsten Strick nehmen?« Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen, dann ließ er den Spielstein los und nahm ihre Hand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)