Zugzwang von Idris ([Jesse/Wade One-Shots]) ================================================================================ Kapitel 1: Freundschaftsdienste ------------------------------- I know you care I know it is always been there But there's trouble ahead, I can feel it You are just saving yourself when you hide it Er spürte mehr als dass er sah, wie Wade plötzlich neben ihm auftauchte. Jesse faltete sorgfältig die Zeitung zusammen, die er gelesen hatte und platzierte sie auf den Tisch neben seinen Kaffee, bevor er den Blick hob. „Bist du bewaffnet?" Wade zog eine Zigarette aus der Brusttasche seines Hemdes und schob sie zwischen seine Lippen. Er ließ einen beiläufigen Blick umher schweifen, mit dem er, da war Jesse ganz sicher, die gesamte Straße, das kleine Café und sämtliche Eingänge, Ausgänge und potentielle Fluchtwege erfasste und für spätere Verwendungszwecke abspeicherte. Jesse hob eine Augenbraue. „Wir befinden uns in den Slums von Sewastopol. Was denkst du?" Wades Lippen formten sich um die Zigarette herum zu einem Grinsen. Er senkte den Kopf während er mit einer Hand die kleine Flamme seines Feuerzeuges von dem eisigen Wind abschirmte. Seine Augen flackerten zielsicher zu der Stelle unter Jesses Jackett wo sich der Umriss seiner Beretta abzeichnete. „Ich dachte schon, du freust dich nur, mich zu sehen." „Und ich dachte, du hättest aufgehört zu rauchen." „Niemals. Lasterhaften Angewohnheiten zu frönen ist Teil meines Charmes." Wades Blick wanderte anerkennend an Jesses dreiteiligem Anzug entlang. „Du siehst gut aus." „Du nicht", gab Jesse zurück. Wade lachte. Es klang vor allem müde. Er sah aus, als hätte er sich wenigstens drei Tage nicht mehr rasiert und fast ebenso lange nicht mehr geschlafen. Jesse war nicht ganz sicher, ob er das beruhigend finden sollte, weil es offensichtlich bedeutete, dass Wade der Tatsache dass er bis zum Hals in der Scheiße steckte nicht völlig ahnungslos gegenüberstand, oder ob es ihn beunruhigen sollte, dass es irgendetwas gab, was sogar Wade William Wellington III (oder unter welchem bescheuerten Alias auch immer er hier aufgekreuzt war) den Schlaf raubte. Wade trug einen dicken Mantel und einen karierte Wollmütze, die nahezu das schlimmste war, was Jesse seit zwei Wochen gesehen hatte. Und das schloss eine öffentliche Hinrichtung mit ein, und einen sehr toten Wachhund, dem die Gedärme aus dem Bauch quollen. Wade deutete mit einer Kopfbewegung auf das unangerührte Glas Wodka, dass die mütterlich aussehende Kellnerin vor Jesse abgestellt hatte, als klar geworden war, dass er beabsichtigte eine Weile hier draußen zu sitzen. „Bist du überhaupt schon alt genug, um das zu trinken, babyface?" „Sogar in Amerika." „Schande über mich, ich muss deinen letzten Geburtstag verpasst haben. Hilf mir auf die Sprünge, wann war der doch gleich…?" Jesse spürte wie ein unfreiwilliges Lächeln an seinen Mundwinkeln zerrte. Hastig erstickte er es im Keim, so wie er es mit jeder Art Gefühlsregung tat, wenn es um Wade ging. „Das war richtig schlecht. Sogar für deine Verhältnisse." „Wie soll ich dir nur jemals eine Geburtstagskarte schicken, wenn du mir alles Wissenswerte über dich vorenthältst?" Jesse lehnte sich zurück und schob den gegenüberstehenden Stuhl mit einem gezielten Fußtritt ein Stück in Wades Richtung. Er schabte unangenehm laut auf dem Kopfsteinpflaster. „Setz dich." Widerspruchslos ließ Wade sich auf den Stuhl gleiten und streckte in einer fließenden Bewegung die Beine aus. Seine Augen flackerten erneut hastig in alle Richtungen. Es entging Jesse nicht, dass er den Stuhl so platzierte, dass er mit dem Rücken zur Hauswand saß und die gesamte Straße im Blick behielt. „Wie ist die Soljanka hier?" fragte er, ohne Jesse anzusehen. „Fischig." Wade lachte. Es war ein tiefer, kehliger Laut. „Wie alles andere auch, nicht wahr, mein Engel?" Jesse nippte an seinem Kaffee und schwieg. Ein alter Mann, zwei Tische weiter, hatte angefangen die Tauben mit den Resten seines Brotes zu füttern. Die Luft war kalt und klar und schmeckte nach Schnee. Die Frau mit dem Kinderwagen drehte ihre dritte Runde um den Häuserblock, und Jesse war sich inzwischen relativ sicher, dass sich in ihrem Kinderwagen kein Baby befand. Er war nur nicht sicher, ob sie ihm oder Wade hierher gefolgt waren. „Wie ist dein Polnisch?" fragte er. „Schlechter als mein Russisch. Wieso?" Jesse setzte die Tasse mit einem sachten Klirren auf ihrem Unterteller ab. „Ich glaube, das polnische Klima würde dir derzeit besser bekommen." „Tatsächlich." Jesse hätte nun irgendetwas bezüglich der bleihaltigen Luft sagen können, die eindeutig vorhanden war, aber er verkniff es sich. Smarte Sprüche zu klopfen war keine seiner Stärken, noch nie gewesen. Stattdessen warf er der Frau mit dem Kinderwagen einen Seitenblick unter gesenkten Wimpern zu und versuchte abzuschätzen, wie gut sie sich auf dem Rückweg zu seinem Hotel abhängen lassen würde. Er war beinah sicher, dass sie nicht zu Danilows Leuten gehörte, aber das machte sie nicht weniger lästig. „Darf man fragen, was du um diese unfreundliche Jahreszeit in Sewastopol machst?" Wades Lippen zuckten, als ob er die Antwort bereits kannte und es kaum abwarten konnte, zu sehen wie Jesse sie abstritt. Jesse warf ihm einen kühlen Blick zu. „Ich war zufällig in der Gegend." „Du hast dir doch nicht etwa Sorgen um meine Wenigkeit gemacht? Ich bin gerührt, wirklich. Ich wusste, das muss Liebe sein." „Ich hätte es als Wahnsinn bezeichnet, aber wie du willst." Es lagen vier Monate und zwei Kontinente zwischen ihrer letzten Begegnung. Aber es war trotzdem jedes Mal so, als ob sie nahtlos ein und dasselbe Gespräch fortsetzten. Mit Wade waren Dinge niemals kompliziert. Aber auch niemals einfach. Manchmal wünschte Jesse sich, das es mehr Gelegenheiten gäbe wo sie zusammen arbeiten könnten. Manchmal dachte er, dass er das nicht aushalten würde. „Vertraust du deinem Team?" fragte er, ohne aufzusehen. Wade schnaubte amüsiert. „Nicht weiter als ich sie werfen kann." „Gut. Euer Hacker hat euch an Danilow verkauft." „Ah." Wade klang nachdenklich. Er griff nach Jesses Kaffeetasse und nahm einen großzügigen Schluck daraus, bevor er angewidert das Gesicht verzog und sie wieder zurückstellte. „Sieh, ich bin bereit dir zu glauben. Vor allem weil diese Information nicht wirklich überraschend kommt. Aber was sagt es über die Gesamtsituation aus, dass du in diesem Szenario die vertrauenswürdigste Person bist?" „Dass du dringend überdenken solltest mit welchen Leuten du zusammenarbeitest?" „Richtig. Das auch." „Ich weiß nicht, wie viel sie dir für den Job bezahlen, aber das ist es vermutlich nicht wert." Wade nannte eine unmöglich hohe Summe, die Jesses Augenbrauen ungläubig nach oben schnellen ließ. Wade lächelte charmant und hob die Schultern. „Ich bin nun mal der Beste in dem, was ich tue." „Ich würde dir nicht mal die Hälfte bezahlen." Wade presste dramatische eine Hand auf seine Brust. „Ich bin zutiefst verwundet, aber nicht überrascht. Du, mein Lieber, weißt mich ja auch nicht zu würdigen." „Dafür würde ich am Ende allerdings auch nicht versuchen dich mit Beton an den Füßen im Schwarzen Meer zu versenken." „Touché." Jesse trank den Kaffee aus und versuchte die Stelle zu vermeiden, auf die Wade seine Lippen gepresst hatte. Er hätte den Wodka vermutlich gut gebrauchen können. Nicht wegen der Kälte, sondern wegen der Gesellschaft. Aber seine Reflexe in dieser Situation bewusst zu verlangsamen wäre reiner Leichtsinn gewesen und Jesse war vieles, aber nicht leichtsinnig. Nur idiotisch. Manchmal. Denn es war nichts als idiotisch gewesen, mit dem erstbesten Flug nach Sewastopol zu fliegen und drei Tage mit einer Zielscheibe auf dem Rücken herumzulaufen, nur um Wade zu treffen und ihm Dinge zu sagen, die er vermutlich längst wusste. Wade lehnte den Kopf zurück an die Backsteinmauer in seinem Rücken, die Zigarette zwischen den Lippen und schloss die Augen. Zwischen dem hochgestellten Kragen seines Mantels blitzte die bloße Haut seiner Kehle auf. Sekundenlang sah er nackt, beinah verletzlich aus und erweckte viele, gleichermaßen ärgerliche Impulse in Jesse, die er alle sofort und ohne Gnade einstampfte. „Erinnerst du dich an Marseille?" fragte Wade, ohne die Augen aufzumachen. Es war eine vollkommen willkürliche Frage und Jesse spürte wie seine Brust sich verärgert zusammen zog. „Nein." „Das sollten wir bei Gelegenheit wiederholen." „Nein, sollten wir nicht." Wade lächelte. Jesse stand auf und knöpfte seinen Mantel zu und warf einen Hundert-Hrywen-Schein auf den Tisch. Er hatte alles gesagt, was er sagen wollte. Es wurde Zeit, dass er wieder verschwand. „Du kannst die Zeitung behalten", stellte er beiläufig fest. „Vielleicht interessieren dich die aktuellen Nachrichten aus London." Das, oder das Flugticket nach Warschau und der gefälschte Reisepass auf den Namen Lester Davenport, die sich zwischen den Seiten befanden. ('Ich sehe in keinster Weise aus wie ein Lester. Vielleicht wie ein George. Oder ein Henry. Vielleicht sogar wie ein Earnest. Aber definitiv nicht wie ein Lester. Ich habe eine viel zu klassische Nase für einen Lester.' 'An dir ist rein gar nichts klassisch.' 'Ich wäre tödlich beleidigt, wenn ich nicht wüsste, dass du mein makelloses Profil bewunderst, wenn du denkst, dass ich nicht hinsehe.' 'Was immer dir hilft, um nachts besser zu schlafen.') Wade warf ihm einen Blick zu und schob die Zeitung kommentarlos in seine Manteltasche. Seine Mundwinkel zuckten. Jesse steckte die Hände in die Manteltaschen und wandte sich ruckartig ab. Aus den Augenwinkeln sah er die Dame mit ihrem Kinderwagen erneut um die Ecke biegen. Wenn er nur genug Umwege bis zu seinem Hotel einbaute, konnte er sie vielleicht so lange ablenken, bis Wade den Flughafen erreicht hatte. Ein reiner Freundschaftsdienst, dachte er spöttisch. Für jemanden der nicht einmal sein Freund war. Yeah, I know you care I see it in the way you stare As if there was trouble ahead and you knew it I'll be saving myself from the ruin Ellie Goulding: I know you care Kapitel 2: Lichtermeer ---------------------- Vorwort: Es gab tatsächlich mal eine Weihnachtsgeschichte mit den beiden ... was soll ich sagen, auch Kriminelle feiern Weihnachten. Random Info: Jom Kippur und Chanukka sind beides jüdische Feiertage. Jesse verrät damit indirekt, dass er vermutlich Jude ist, was ich bis dato auch noch nicht wusste (er ist sehr verschwiegen, auch mir gegenüber). Es gibt übrigens wirklich einen Eisring vor Somerset House (http://static.guim.co.uk/sys-images/Guardian/Pix/pictures/2008/11/20/1227203574884/SomersetHouse.jpg) und das ist mitten in London. Sein Handy vibrierte. Es hallte unangenehm auf dem kalten Beton und Jesse bedeckte es behutsam mit der freien Hand, während er mit der anderen das Fernglas an die Augen setzte. „Wade?" sagte er, ohne auf das Display zu sehen. Es gab weniger als eine Handvoll Menschen, die diese Nummer besaßen, was die mögliche Identität des Anrufers erheblich eingrenzte. „Frohe Weihnachten“, verkündete Wade. Seine Stimme klang leise und blechern, verzerrt durch mehrere Kontinente und vermutlich umgeleitet über mehrere Satelliten. Im Hintergrund war leises Stimmengewirr und Autos hupten und irgendwo schien eine Leierkastenmusik zu spielen. „Was?“ „Frohe Weihnachten?“ wiederholte Wade. „Okay“, sagte Jesse langsam. „…danke?“ „Heute ist der 24te“, stellte Wade fest. „Wenigstens in meiner Zeitzone. In welcher Zeitzone bist du?“ „Nicht in deiner“, erwiderte Jesse. „Wundervoll, lass uns ‚Wo bin ich‘ spielen. Was siehst du gerade? Känguruhs? Die Pyramiden? Ist bei dir etwa schon der 25te?“ „Nein. Und ich hasse dieses Spiel.“ „Also der 23te. Es wird wärmer… Südamerika?“ „Nein.“ „Nordamerika?“ Jesse schwieg. „Kanada? Fuck you. Doch nicht Kanada. Was machst du in Kanada?“ Jesse machte sich nicht die Mühe, es zu bejahen oder zu verneinen. Wade hatte die unangenehme Angewohnheit mit so lächerlich wenigen Informationen herauszubekommen, wo Jesse sich gerade befand, als ob er sein Schweigen in verschiedene Antworten übersetzen konnte. Es war ein gruseliger Gedanke. Jesse hielt sein Schweigen gerne für rätselhaft und unlesbar, und an guten Tagen sogar für sinister und bedrohlich. Es durfte einfach nicht sein, dass Wade das lesen und verstehen konnte wie ein offenes Buch. Das ging nicht. Behutsam verlagert Jesse seine Position und machte den Infrarotsensor an. In dem dunklen Fenster im gegenüberliegenden Haus bewegte sich eine, einzelne rot gelbe Wärmesignatur. Er warf einen Blick auf die Uhr und kaute ärgerlich auf der Unterlippe. Zielperson war noch wach. „Arbeitest du etwa? Ohne mich? An Heiligabend?“ Jesse seufzte und ließ das Fernglas sinken. „Wade… Weihnachten ist für mich ungefähr so interessant wie Jom Kippur für dich.“ Er wusste nicht einmal, warum es ihm herausrutschte, nachdem er es drei Jahre lang erfolgreich verschwiegen hatte. „Ah.“ Wade klang nicht überrascht, sondern eher befriedigt, als hätte das nur etwas bestätigt, was er längst gewusst hatte. Aus unerfindlichen Gründen ärgerte es Jesse maßlos, wenn er das machte. Es war sein persönlicher Ehrgeiz Wade so wenig wie möglich über sich zu verraten, wie er nur konnte. Vielleicht auch nur deswegen weil es Wades persönlicher Ehrgeiz zu sein schien, alles über ihn herauszufinden, was es zu wissen gab. Dabei gab es nicht einmal viel zu wissen. Nichts relevantes jedenfalls. „Was ist mit Chanukka? Feierst du kein Chanukka?“ fragte Wade nonchalant. „Schon vorbei“, gab Jesse verärgert zurück. Verärgert vor allem über sich selbst. „Check deinen Kalender.“ „Du bist sauer", stellte Wade fest. „Grandiose Schlussfolgerung, 007", sagte Jesse. „Und ich dachte, sie hätten dich nur wegen deines Aussehens ins MI6 gelassen." „Darf ich mir aussuchen die implizierte Beleidigung zu ignorieren und darauf zurückkommen, dass du mich gut aussehend findest?" „Nein." „Bist du sauer, weil ich dir keine Chanukka-Karte geschickt habe?“ „Nein!“ „Ich hätte dir eine geschickt.“ „Das ist überhaupt nicht…“ „Du hältst mir wichtige Informationen vor. Wie soll ich jemals meine Würdigung gegenüber deines kulturellen Erbes und deiner Religion zum Ausdruck bringen, wenn…“ „Wade.“ „Was?“ Jesse atmete tief durch und rieb sich mit der freien Hand über die Augen. „Erinnerst du dich daran, dass ich dir diese Nummer für Notfälle gegeben habe? Und auch nur weil ich dir noch was schuldig bin wegen Dubai.“ Dubai. Fucking Dubai. „Tatsächlich?“ Wade klang als könne er sich weder an Dubai erinnern, noch an die Tatsache, dass er wie in letzter Sekunde aufgetaucht war (wie James Bond), um Jesses Hintern zu retten, der zugegebenermaßen in diesem Augenblick dringend Rettung nötig gehabt hatte. Aber zu diesem Spiel gehörten immer noch zwei. „Verblutest du grade?“ fragte Jesse kühl. „Nein?“ „Wurdest du angeschossen? Erstochen? Vergiftet? Gefoltert? Hast du Gliedmaßen verloren? Innere Blutungen? Bist du einer Gehirnwäsche unterzogen worden?“ „Nicht, dass ich wüsste. Ich glaube allerdings nicht, dass ich Letzteres überhaupt…“ Jesse biss die Zähne zusammen. „Lass es mich kurz fassen: Bist du in akuter Gefahr für Leib und Leben?“ „Abgesehen davon, dass einige Weihnachtselfen mich eben mit beunruhigend hungrigen Augen ausgezogen haben …nein. Es waren aber sexy Weihnachtselfen.“ „Bist du im Gefängnis und ich bin dein einziger Anruf? Bitte sag, du bist im Gefängnis und ich bin dein einziger Anruf, den du nur machst, damit ich alle belastende Dinge rechtzeitig aus deiner Wohnung verschwinden lassen kann und alle Dokumente löschen, in denen dein Name auftaucht.“ „Es ist so rührend, dass du das für mich tun würdest.“ Es gab überhaupt keinen Grund für Wade deswegen so angetan zu klingen. Das war nur weil Jesses eigener Name sonst unwiderruflich auch mit reingezogen werden würde. Reiner Selbstschutz. Lösche deinen Namen und alle Verbindungen und renn um dein Leben. Deswegen machte es auch keinerlei Sinn, dass sie fortwährend zusammen arbeiteten. Das würde nur unnötige Aufmerksamkeit von den falschen Leuten auf sie lenken. Kapierte Wade das denn nicht? „Du hast mich angerufen weil Heiligabend ist?“ fragte Jesse dumpf. „Vielleicht wollte ich nur deine Stimme hören.“ „Oh. Mein. Gott.“ Jesse verdrehte die Augen. „Wirklich, Wellington? Wirklich?“ Danach war Wade eine Weile still, was entweder bedeutete, dass er das gerade ernstgemeint hatte (Gott bewahre), oder dass er gerade überlegte, welche wichtigen Dokumente existierten, die ihn belasten konnten oder möglicherweise war er einfach abgelenkt von einem weiteren ‚sexy‘ Weihnachtself, der ihn mit Blicken auszog. Jesse wusste es nicht. Und er wollte es auch gar nicht wissen. Und im Gegensatz zu Wade fand er Schweigen niemals vielsagend, sondern tatsächlich meistens schwer interpretierbar. Jesse wurde schlagartig klar, dass er jetzt problemlos auflegen könnte, nachdem geklärt war, dass es keinen dringenden Grund für diesen Anruf gab und keine Gliedmaßen von Wade irgendwo verstreut an der Côte D‘Azur lagen. Nicht, dass das in irgendeiner Weise sein Problem gewesen wäre. Außerdem war er in Kanada. Er hätte dagegen sowieso nichts tun können. „Haben wir uns gestritten?" fragte Wade vollkommen zusammenhangslos und mitten in die Stille hinein. Jesse, der grade dabei war, den Infrarotsensor erneut anzuschalten, hielt mitten in der Bewegung inne. Nein, wäre die korrekte Antwort gewesen, nein, haben wir nicht, aber er brachte sie nicht über die Lippen. Er zuckte mit den Schultern, wohlwissend, dass Wade das nicht sehen konnte. „Zuckst du grade mit den Schultern?“ „Nein.“ „Können wir uns wieder versöhnen?“ „Sei doch nicht albern“, fuhr Jesse ihn an. Sie mussten sich nicht streiten. Das war gar nicht nötig um Wade zu hassen. Wobei ‚Hass‘ vermutlich ein zu starkes Wort war. Jesse hatte schon Leute gehasst. Schwindeligmachender, übelkeitserregender Hass, der alles verklebt und mit einem dunklen, schwelenden Pochen überzogen hatte, bis jeder rationale Gedanke ausgeschaltet worden war. Es war kein schönes Gefühl gewesen. Das was er für Wade empfand war kompliziert und ätzend und unpassend. Und er hatte nicht die geringste Lust es in Worte zu kleiden. „Was siehst du gerade?“ fragte er aus einem Impuls heraus. Es war kalt und zugig in dem abbruchreifen Haus, in dem er lag. Er war müde, der Sternenhimmel über ihm war endlos und abweisend in seiner kalten glitzernden Einsamkeit, und das einzig Warme war Wades Stimme in seinem Ohr. „Lichter“, sagte Wade. Er sagte nicht ‚ich dachte, du hasst dieses Spiel‘ und beinah war Jesse dankbar dafür. „Ein Lichtermeer.“ „Ist es hell oder dunkel?“ „Abenddämmerung.“ Jesse rechnete die Zeitzonen durch, wo jetzt gerade früher Abend oder später Nachmittag war. „Was siehst du noch?“ Wades Lachen klang amüsiert und warm und Jesse konnte beinah sehen wie sein weißer Atem das Telefon berührte. „Erleuchtete Fenster. Und Leute, die Schlittschuh laufen.“ „Somerset House“, sagte Jesse. „Das war zu leicht.“ Und dann, überrascht: „London. Du bist in London.“ Wade neigte dazu, seine Heimatstadt großzügig zu umrunden, wenn es um kriminelle Aktivitäten ging. Das hatte etwas damit zu tun, dass man sich gerne einen Ort auf der Welt ließ, wo man noch nicht steckbrieflich gesucht wurde. Jesse hatte dafür Verständnis. Wenn Wade sich wirklich in London aufhielt, musste es tatsächlich privat sein. Wie um das zu bestätigen, fügte Wade ein wenig zögernd hinzu: „Ich dachte, ich müsste mal wieder bei meiner Familie vorbeischauen.“ Jesse hob eine Augenbraue. „Weiß deine Familie, davon, dass du bei ihnen vorbeischaust?“ Wade schnaubte. Es war kurz und klang ertappt. „Nein.“ „Okay?“ „Ich bin möglicherweise in ihr Haus eingebrochen“, gab er zu. „Möglicherweise?“ „Es zählt nicht wirklich, ja? Es ist mein Elternhaus und außerdem habe ich nichts gestohlen. Ich wollte nur… kurz den Baum sehen. Sentimentale Gründe.“ Jesse schnaubte. Es war beinah tragikomisch sich zu vorstellen wie Wade, weltbester Einbrecher (zumindest laut eigener Aussage. Andererseits hatte bisher auch noch nie jemand das Gegenteil bewiesen), bei seinen eigenen Eltern einbrach, nicht um etwas zu stehlen, sondern nur um sich einreden zu können, er sei an Weihnachten zu Hause gewesen. Je länger man darüber nachdachte, desto eher wurde es tragisch und weniger komisch. „Okay“, sagte Jesse, sanfter als beabsichtigt. Wade schwieg und das war vielleicht das, was den Ausschlag gab. „Ich hätte da vielleicht einen Job“, sagte Jesse und presste gleichzeitig eine Hand auf die Augen, verärgert über sich selbst. Er hatte nicht einmal vorgehabt schon wieder mit Wade zu arbeiten. „Nächste Woche. In Kopenhagen.“ „Silvester in Kopenhagen. Letztes Jahr war es noch Paris.“ Wade seufzte tragisch. „Wo ist all die Leidenschaft geblieben? Wo ist die Romantik?“ „Du warst bewusstlos in Paris. Ich hab dir eine Kugel aus dem Oberschenkel geholt.“ „Was willst du mir damit sagen?“ „Ich werde jetzt auflegen.“ „Findest du das etwa nicht bodenlos romantisch? Blutsbrüder vereint in der Gefahr, Seite an Seite, nein Rücken an Rücken…“ „Ich lege jetzt auf, Wade!“ „Uns bleibt für immer Paris.“ „Auf Wiedersehen!“ „Frohe Weihnachten. Lass dich nicht erschießen.“ „Ich werde jetzt definitiv auflegen …“ Kapitel 3: Marrakesch I ----------------------- Vorwort: Ups, ein Mehrteiler... ;) Das werde vermutlich so 5-6 kurze Kapitel und alle werden recht ... lösgelöst und stakkatomäßig sein, weil mein Erzähler gerade unter massivem Schlafentzug leidet und diese Erzählweise irgendwie passte. Inhalt: Jesse ist auf der Flucht und ruft den einzigen Menschen an, der ihm helfen kann... Getrocknetes Blut klebte unter seinen Fingernägeln, wie dünne, rostbraune Halbmonde. Jesse bemerkte es mit der Art schwerelosen Gleichgültigkeit, die sich in einem ausbreitete, wenn man seit mehr als fünfzig Stunden nicht mehr geschlafen hatte und Koffein durch den Blutstrom pumpte wie ein Presslufthammer. Eine Gruppe verschleierter Frauen lief wenige von ihm entfernt vorbei und er wandte sich ab, um sein Gesicht verbergen. Die Luft war geschwängert von dem Geruch nach Eselkot, Weihrauch und Gewürzen, bleischwer wie eine Decke, die ihn zu ersticken drohte. Seine Hände waren schweißnass und seine Finger rutschten von den Tasten, während er wählte. Die Scheibe der Telefonzelle auf der einen Seite waren eingeschlagen und die Glassplitter auf dem Boden bohrten sich durch den dünnen Stoff seiner Turnschuhe. Wade anzurufen hatte immer etwas von Versagen an sich, eine Art der Kapitulation, gepaart mit dem scharfen Nachgeschmack von Verzweiflung. Aber vielleicht war das auch nur der metallische Geschmack von Blut in seinem Mund. Wade anzurufen, war immer sowas wie die letzte Möglichkeit. Der letzte Versuch. Er presste seine Stirn auf den Unterarm und wartete, den Hörer an sein Ohr gepresst. „Ja?“ ertönte eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Sie war blechern und verzerrt, aber unverkennbar britisch. Vor Erleichterung wurden ihm beinah die Knie weich. „Ich bin‘s.“ Keine Namen. Vielleicht kannte Wade ihn gut genug, um zu wissen, dass er niemals einfach nur so anrufen würde. Aber vielleicht musste er auch nur Jesses Stimme hören, um zu wissen, dass es ernst war. „Was ist passiert?“ fragte er sofort. Jesse hörte das leise Klirren von Gläsern und gedämpftes Stimmgewirr im Hintergrund. Es klang wie eine Abendgesellschaft, dekadent und elegant, und ein ungebetenes Bild von Wade in einem schwarzen Smoking erschien vor seinem inneren Auge. „Ich brauche…“ Sein Kopf schwamm und er biss die Zähne zusammen. „Ich brauche dich.“ „Butler, Bodyguard oder Sündenbock?“ kam ohne Umschweife zurück und irgendetwas an Wades ruhiger Professionalität macht das Ganze etwas erträglicher. „Bodyguard.“ „Wo bist du?“ „Marokko. Aber nicht mehr lange. Ich muss nach…“, er unterbrach sich gerade noch rechtzeitig. Keine Namen. Keine Zielorte. Keine Details. Schweiß brannte salzig in seinen Augen. „Ich muss so schnell wie möglich das Land verlassen.“ Er dachte an die zwei Leichen, die er in seinem Hotelzimmer im Wandschrank zurückgelassen hatte und er versuchte sich nicht auszurechnen wie lange es dauern würde, bis das Zimmermädchen sie gefunden und die Militärpolizei benachrichtigt hatte. Vielleicht hatte er Glück. Die Hygienestandards waren nicht sonderlich hoch gewesen, wenn die Handtellergroßen Kakerlaken im Badezimmer ein Hinweis darauf waren wie oft dort geputzt wurde. Am anderen Ende der Leitung schwoll der Lärmpegel an und senkte sich dann wieder, als Wade sich durch die Menge bewegte. Straßenlärm und das Hupen von Autos ertönte und Jesse hörte wie Wade jemandem auf Französisch etwas zurief und dann einen italienischen Fluch hinterher schob. Ein Taxi. Er rief nach einem Taxi. Es hatte etwas vage Beruhigendes an sich, so wie dem Rauschen einer Meeresbrandung zu zuhören. Jesse schloss die Augen. Nur zwei Sekunden, dachte er. Nur zwei Sekunden. Er war so müde. „…schaffst du das?“ Benommen schreckte er hoch. „Was?“ „Hey!“ Wades Stimme klang scharf. „Schaffst du es bis Lissabon? Oder brauchst du einen anderen Weg?“ Im Kopf überschlug Jesse den Weg zum Flughafen, Transportmöglichkeiten, und das Risiko dabei erschossen oder verhaftet zu werden. „Ja“, sagte er schließlich. „Das schaffe ich.“ Sollten sie ihn am Flughafen erwischen, hatte er wenigstens nichts was ihn belasten könnte mehr bei sich. Er hatte Waffe und Handy auf dem Weg entsorgt, und sämtliche falsche Ausweise bis auf den einen, der ihn außer Landes bringen würde. „Wir treffen uns dort.“ Am Flughafen. Das sagte Wade nicht, aber das war Standard. Jesse hatte beinah vergessen wie angenehm es war mit jemandem zusammen zu arbeiten, dem man nie etwas erklären musste. Das war eigentlich der Zeitpunkt, wo er hätte auflegen müssen, weil alles Wesentliche gesagt war. Notfall, Lissabon, Flughafen. Auf Wiedersehen. Irgendwo in der Menschenmenge schrie ein Kind, ein schriller, hoher Laut, ein Vogelschwarm erhob sich mit einem heftigen Brausen und der rote Sand um ihn herum sah aus wie in Blut getaucht. „Wo bist du?“ Es war eine vollkommen redundante und absolut überflüssige Frage und trotzdem konnte Jesse nicht verhindern, dass sie aus ihm herausplatzte. Er fühlte sich wie ein Zombie, surreal und losgelöst von der Realität und das Einzige, was wirklich war, war Wades Stimme in seinem Ohr. „Was siehst du?“ korrigierte er wie von selbst. „Spielcasinos und Brillanten.“ Er konnte beinah hören wie Wade lächelte. „Monaco“, sagte Jesse ohne nachzudenken. „Du bist in Monaco.“ „Ich kann in vier Stunden in Lissabon sein“, bestätigte Wade. „Wenn ich jemanden besteche, vielleicht in drei.“ Jesse lachte. Ausgerechnet Monaco. Die Heimat der Spielcasinos. Auf einmal machte das Bild von Wade in einem schwarzen Smoking sogar Sinn. „Wie viel hast du diesmal verloren?“ „Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, mein Engel.“ „Irgendwann werden sie dir die Kniescheiben zertrümmern.“ Manchmal lag Jesse nachts wach und machte sich Gedanken über Wades Kniescheiben. Und andere Körperteile. Vor allem in Situationen wie jetzt, wenn er viel zu wach und zu müde zugleich war, durchspült von nachlassendem Adrenalin und getränkt in Angstschweiß. Er rieb sich über die Augen. Wade schnaubte. „Ich werde dich informieren, wenn es soweit ist.“ „Sie werden mich umbringen“, sagte Jesse der Fairness halber, und weil er bisher vergessen hatte das zu erwähnen. „Und jeden der bei mir ist. Ich bin eine tickende Zeitbombe.“ „Tatsache.“ Wade klang unbeeindruckt. „Das bist du doch immer. Bis gleich.“ „Bis gleich“, sagte Jesse und legte auf, bevor Wade noch etwas erwidern konnte. Es war ein schöner Gedanke. So optimistisch. Bis gleich. Als ob er in vier Stunden noch am Leben sein könnte. Fortsetzung folgt Über Kommentare freu ich mich wie üblich sehr - ich schreibe das alles neben der Arbeit und kriege kein Geld. Kommentare sind des Schreiber's Lohn. ;D Kapitel 4: Lissabon II ---------------------- Vorwort: Uuuund Teil 2. Danke für die lieben Kommentare, ihr seid die Besten. 3 Es gibt jede Menge Andeutungen über Marseille (verdammtes Marseille), über den Plot (ich hatte erwähnt, dass die beiden aus einem großen ganzen ... Dings stammen, oder?) - es nicht schlimm, wenn alles noch rätselhaft und unklar ist, Erklärungen kommen Stück für Stück. Denke ich. ;) Jesse saß hinter einer Säule, halb verdeckt von einer hässlichen, grünen Dekopflanze. Es waren dreiundzwanzig Schritte zum Hauptausgang, siebzehn zum Notausgang und elf zur Toilette. Man konnte in der Toilette das kleine Fenster zu einem Innenhof aushebeln, er hatte es ausprobiert. Trotzdem fühlte er sich eingekesselt. Zwischen den Fingern zerdrückte er einen Burger, auf den er nicht den geringsten Appetit hatte. Unter seinen Fingernägeln klebte immer noch Blut. Der Treffpunkt bei Flughäfen war immer McDonalds. ‘Jeder Flughafen auf der ganzen Welt hat irgendwo ein McDonalds. Und wenn einer klein genug ist, dass keins da ist, dürfte es nicht allzu schwer sein, dich zu finden.‘ ‚Du denkst so schrecklich praktisch, Herz.‘ Das mochte theoretisch wahr sein, aber machte praktisch den Geruch nach altem Fett und verschmierten Kinderhänden nicht weniger ansprechend. Ein kleiner Junge starrte ihn an. Die Muster auf seinem Pullover verursachten Jesse Kopfschmerzen. Er wartete seit einer Stunde und neununddreißig Minuten. Und er hörte das Ticken der großen Wanduhr quer durch den ganzen Raum wie ein großes mechanisches Herz. Sein eigenes Herz schlug 178 mal die Minute. Und er spürte jedes einzelne Mal davon. Wenn Bertanis Leute ihn nicht zuerst umbrachten, dachte er beiläufig, dann würde es die Koffeinüberdosis tun, die er intus hatte. Butler, Bodyguard und Sündenbock… das war natürlich Wades Idee gewesen. Damals. In Marseille. (‚Es gibt sowieso nur drei Gründe wieso du mich anrufst. Und nie sind es angenehme.‘ ‚Welche?‘ fragte Jesse schläfrig, sein Gesicht halb vergraben in dem Kissen. ‚Du brauchst entweder jemanden, der belastendes Material entsorgt und dein Wohnung in New York abfackelt‘, zählte Wade auf. ‚Oder du brauchst jemand der der dir sicheres Geleit von A nach B besorgt und Leute davon abhält auf dich zu schießen. Oder du brauchst jemand der die Aufmerksamkeit auf sich lenkt und Interpol oder Drogenkartelle quer über den Globus lockt, damit du in Ruhe entkommen kannst.‘ Jesse dachte darüber nach, während Wade mit den Fingerspitzen sanft über seinen bloßen Rücken wanderte. ‚Stimmt‘, gab er schließlich zu. ‚Damit hätten wir den Sekretär, das Schutzschild und das Ablenkungsmanöver – nein warte. Butler, Bodyguard oder Sündenbock. Das klingt schick. Das gefällt mir.‘ ‚Du meinst es ernst. Großer Gott.‘ Er lachte. Wade drückte einen Kuss auf Jesses Schulterblatt. ‚Lass uns das als Codewörter einführen‘ flüsterte er. ‚Du wirst es nicht bereuen, ich verspreche es dir. Dann können wir uns langatmige Erklärungen ersparen, während auf uns geschossen wird.‘ Jesse verdrehte die Augen. ‚Eines Tages wirst du aufwachen und feststellen, dass wir uns nicht in einem James Bond-film befinden und du wirst so enttäuscht sein.‘) Marseille. Jesse dachte nicht allzu oft an Marseille. Er versuchte es wenigstens. Wade glitt neben ihm auf die Bank. Jesse fuhr zusammen und seine rechte Hand zuckte unwillkürlich an die Stelle, wo er normalerweise seine Beretta trug. „Fuck“, fauchte er atemlos und ließ den Kopf nach hinten sinken. Sein Herz hämmerte. Er hatte Wade nicht einmal kommen gehört. Wade runzelte die Stirn. Sein Blick flog einmal quer durch den Raum, bevor er an Jesse entlang wanderte und alles zu katalogisieren schien. Das zerknitterte olivgrüne T-Shirt, die Armeehose. Die Ringe unter seinen Augen. Das Blut unter seinen Nägeln. „Du bist unbewaffnet.“ Er sagte es in einem Tonfall als meinte er ‚du bist nackt‘. Genauso fühlte es sich auch an. „Ich muss nach Oslo“, stieß Jesse hervor und senkte die Stimme. „Okay.“ „Ich habe zwei von Bertanis Leuten getötet. In Marrakesch.“ Wade nahm es ungerührt zur Kenntnis. Er trug einen schwarzen Anzug, genau wie Jesse es sich am Telefon vorgestellt hatte. Er hatte die obersten Knöpfe seines weißen gestärkten Kragens geöffnet und seine schwarze Fliege hing offen um seinen Hals. Im Gegensatz zu Jesse war er bewaffnet. Ein Laie hätte es vermutlich nicht bemerkt, aber Jesse erkannte den Abdruck eines verdeckten Schulterholsters unter dem Jackett wenn er einen sah. Wade war tatsächlich direkt aus einem Casino gekommen und in das nächstbeste Flugzeug gestiegen, wurde Jesse schlagartig klar. „Transportierst du?“ fragte Wade. Es klang ruhig und professionell, und es half zu vergessen, dass er einen halben Kontinent in weniger als vier Stunden überquert hatte, nur um hier zu sitzen. Jesse nickte. „Für wen?“ „Kann ich dir nicht sagen.“ „Und was?“ „Das kann ich dir auch nicht sagen.“ „Verdienst du wenigstens ordentlich daran?“ Jesse lachte humorlos. „Nicht, wenn ich tot bin.“ Wades Finger schlossen sich um sein Handgelenk und Jesse hielt inne, überrascht und sekundenlang aus dem Konzept gebracht. „Bist du verletzt?“ fragte Wade, als ob das irgendwie relevant für die aktuelle Situation sei. Die Frage erwischte ihn unvorbereitet. Wades Finger lagen auf seinem Puls, sanft und nachdrücklich zugleich, als ob er nur drauf wartete, ihn bei einer Lüge zu ertappen. Jesse starrte auf seine eigenen Finger hinab. Sie zitterten. „Ich kann nicht schlafen“, sagte er schließlich. Wade hob die Augenbrauen. „Ein Glas heiße Milch soll da manchmal Wunder wirken, hab ich gehört.“ „Nein.“ Jesse rutschte näher und senkte die Stimme noch weiter. „Ich darf nicht schlafen. Sonst finden sie mich. Deswegen…“ Er brach ab und fuhr sich mit der freien Hand über die Augen. „Du musst mich wach halten. Bis Oslo. Wenn nötig mit Gewalt. Aber lass mich nicht schlafen.“ Wade starrte ihn an. „Wie lange bist du schon wach?“ „Ich weiß nicht.“ „Doch, du weißt es.“ Jesse fuhr sich mit der Zungenspitze über die trocken gewordenen Lippen. „Siebenundsechzig Stunden. Vielleicht ein paar Minuten mehr oder weniger. In Marrakesch… ich bin nur kurz weggenickt.“ „Und dann haben sie dich gefunden.“ Es war eine Feststellung, keine Frage. „Ich bin keine wandelnde Zeitbombe. Es ist noch schlimmer. Ich bin ein wandelndes GPS-Signal und sobald ich einschlafe wissen sie wo ich bin. Es ist… es ist in meinem Kopf“, sagte er tonlos. „Scheiße“, sagte Wade inbrünstig. „In Oslo sitzt jemand, der es rausholen kann“, flüsterte Jesse dicht an seinem Ohr. „Die Daten und hoffentlich den Tracker. Aber ich darf Bertanis Leute nicht zu ihr führen.“ Wade nickte und Jesse konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. „Wir brauchen mindestens einen Tag bis Oslo.“ „Ich weiß.“ „Du kannst nicht so lange wach bleiben! Schlafentzug ist eine anerkannte Foltermethode!“ „Ich weiß.“ Wades Griff um sein Handgelenk wurde fester. Jesse sah ihm direkt in die Augen. „Deswegen habe ich dich angerufen.“ Weil du der einzige Mensch bist, dem ich vertrauen würde, mir nicht in den Rücken zu fallen, wenn ich unbewaffnet und am Halluzinieren bin. Das war nicht das, was er sagte. „Weil ich jemanden brauche, der mich wach hält. Und niemand ist so anstrengend wie du.“ Sekundenlang sah Wade ihn an. Dann fluchte er leise. „Bleib wo du bist“, befahl er und ließ seine Hand los, bevor er aufstand. „Ich besorge Tickets.“ Jesse fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Alles fühlte sich unwirklich und weit weg an. Er spürte Wades Finger wie einen Phantomabdruck auf seinem Handgelenk. Es war beruhigend und beängstigend zugleich. „Warte“, sagte er. „Warte. Ich… ich weiß nicht, ob ich meinen Pass noch benutzen kann. Ich bin nicht mehr sicher, unter welchem Namen ich eingecheckt habe in Marrakesch“, gestand er. Wade stand neben dem Tisch und sah auf ihn herab. Etwas in seinem Gesicht wurde weich. Oder vielleicht begann Jesse auch nur schon zu halluzinieren. „Hey, du hast das Bodyguard-Programm initiiert. Das bedeutet, du kannst dich jetzt entspannt zurücklehnen und alles mir überlassen. Ich mach das schon.“ Er machte eine elegante Bewegung mit der linken Hand, wie ein Zauberer, bevor er einen Kartentrick begann. „Und ich hab es mir anders überlegt. Bleib nicht wo du bist. Aufstehen“, befahl er und griff nach Jesses Arm. „Du kommst mit. Dich kann man unbewaffnet ja nirgendwo alleine lassen.“ „Ich bereue es bereits, dass ich angerufen habe“, sagte Jesse. Etwas Warmes breitete sich in seiner Brust aus. Das musste der beginnende Herzinfarkt sein. Fakten und Fiktion: Ich bin bestimmt nicht der einzige Schreiberling, der so akribisch nach Details googlet oder? XD Also, der Lissaboner Flughafen hat tatsächlich ein McDonalds. (Danke Internet.) Und von Monaco bis Lissabon schafft man es auch in drei bis vier Stunden wenn man sich extrem beeilt und (in Wades Fall) vermutlich einen Haufen Leute besticht. Aber es ist möglich. (Ich habe so viele Landkarten und Flugrouten nachgeschlagen für diese Geschichte, das kann sich keiner vorstellen...) Weitere Fakten: Es ist nicht erlaubt eine Waffe an Bord eines Flugzeugs zu nehmen. Aber a.) sind die Kontrollen nicht so doll innerhalb von Europa und b.) habe ich die Vorstellung dass Wade sowieso einen gefälschten Air Marshall Ausweis hat. Die dürfen nämlich bewaffnet fliegen. ;) Dann hab ich auch noch Halfter für verdecktes Waffentragen recherchiert, was tatsächlich sehr interessant und aufschlussreich war. Das mit dem GPS, das Jesse so unfreiwillig im Kopf hat... omg, ihr glaubt nicht wieviele Artikel ich in den letzten Tagen über GPS-Technik gelesen habt... wer was wissen will, kann mich nach Links fragen. XD Davon hab ich jetzt einige. Auch dazu - genaueres folgt ... Kommentare sind wie üblich toll und ich freu mich über jeden einzelnen! 3 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)