Finera - Path of Ice von Kalliope (Milas Geschichte) ================================================================================ Kapitel 8: Der Eichwald und ein Pakt ------------------------------------ „Wieso genau habe ich mich darauf eingelassen“, zischte ich Quinn wütend zu und schob einen dünnen Zweig von mir weg, der sich allerdings erstaunlich hartnäckig zeigte und blitzschnell zurückschnellte. Es tat nicht wirklich weh, aber ich merkte den leichten Schmerz durch meine Winterjacke hindurch. Er war blass und ging zunächst gar nicht auf meine Frage ein, dann blieb er stehen. Ich dachte, er wollte mir antworten, aber dann sah ich, wie blass er war und im nächsten Augenblick überkam mich die Sorge um seinen Gesundheitszustand. Nach wie vor wusste ich nicht genau, woran er eigentlich litt, aber es war offensichtlich, dass ihm die Kunde über das baldige Eintreffen seiner Mutter, das hektische Packen seiner Sachen, ein schnelles Essen im Pokémoncenter und unser überstürztes Aufbrechen in den Eichwald zugesetzt hatten. „Quinn?“ Fee rieb ihren Kopf tröstlich an seinen Beinen, woraufhin er schmal lächelte. „Ist schon gut. Ich muss mich nur ein paar Minuten ausruhen, dann können wir weiter.“ „Du weißt doch gar nicht, wo wir überhaupt lang müssen. Wir hätten uns an die Straße halten sollen, wie ich gesagt habe.“ „Nein“, sagte er bestimmend. „Meine Mutter wird mit dem Bus kommen oder mit dem Auto, auf jeden Fall wird sie die Straße benutzen. Dann kann ich auch gleich im Pokémoncenter auf sie warten.“ „Und deshalb flüchten wir kurz vor Einbruch der Dunkelheit mitten durch den Eichwald, was ein toller Plan.“ Er grunzte, suchte sich einige Schritte weiter einen Baumstumpf und begann an seinem ComDex herumzuspielen, bis auf dem Bildschirm eine Karte erschien. Quinn zoomte den Eichwald heran und wartete darauf, dass das Gerät die GPS-Koordinaten bekam, doch es tat sich nichts. „Seltsam. Eigentlich müsste der ComDex unsere genaue Position finden und uns direkt nach Eichwald City leiten.“ „Toller Plan“, wiederholte ich spöttisch, schaute auf den Bildschirm und seufzte. „Kein Empfang. Wir können uns höchstens grob in die östliche Richtung orientieren.“ Die Wahrheit war, dass weder er noch ich eine Ahnung hatten, wo genau wir uns befanden oder welche Strecke wir bereits zurückgelegt hatten. Schwester Joy hatte uns davon abgeraten heute noch aufzubrechen, immerhin würde es in ein oder zwei Stunden stockfinster sein und ich hatte keine Lust, die Nacht im Eichwald zu verbringen, doch Quinn hatte darauf bestanden. Und ich? Bei Arceus, ja, ich hatte ihn nicht einfach alleine losziehen lassen können. Dieser Junge würde sich noch in Gefahr bringen und war ohne meine Hilfe doch vollkommen aufgeschmissen. Immerhin hatte Schwester Joy mir – wenn auch nur widerstrebend – mein Geld zurückgegeben, auch wenn wir das hier draußen in der Wildnis herzlich wenig half. „Quinn“, begann ich daher leicht genervt. „Lass uns zurückgehen. Bitte. Wir regeln das mit deiner Mutter und dann ist alles gut. Ich habe keinen Rucksack dabei, keine Kleidung zum Wechseln, keinen Schlafsack, gar nichts, weil eine gewisse Person mich ohne Vorwarnung von Eisbergen nach Waldhausen schleppen musste.“ „Du hättest ja nicht mitkommen müssen!“ „Ich kann dich ja wohl schlecht in dein Unglück rennen lassen!“ Wütend packte Quinn seinen ComDex weg. „Du bist nicht meine Nanny, Mila!“ Fee sah aufgeregt zwischen uns hin und her und legte die Ohren an. Sie mochte es nicht, wenn wir uns stritten, aber sie hielt zu Quinn und schmiegte sich noch enger an seine Beine. „Natürlich bin ich das nicht, aber du kennst dich nicht mit den Anforderungen an das Trainerdasein aus und ich möchte dir helfen!“ „Warum? Was kümmert es dich, was aus mir wird? Du könntest jederzeit umdrehen und auf deinen teuren Luxuskoffer warten. Auf dich wartet wenigstens ein tolles Leben!“ Quinn klang verbittert, kniff die Augen zusammen und sah mich feindselig an. „Weil …“ Ich setzte zu einer möglichst arroganten Antwort an, wie ich es gewohnt war, doch sie bliebt mir im Hals stecken. Dann schluckte ich, schüttelte den Kopf und setzte mich neben ihn auf den Baumstumpf. „Weil mein Leben gar nicht so toll ist, wie du glaubst.“ „Ach?“ Die Feindseligkeit verschwand schlagartig aus seinem Blick. Zurück blieb eine Mischung aus Neugierde und Zweifel. „Kann ich mir nicht vorstellen. Du hast doch alles, was man sich wünschen kann: eine Karriere beim Fernsehen, Geld, Ruhm, gutes Aussehen und die Leute lieben dich. Niemand weiß, wer Quinn Ikarus ist, der kranke Junge, der zu Hause unterrichtet wurde und viele Jahre seines Lebens im Krankenhaus verbracht hat.“ Ich drehte den Kopf, um seinen Blick zu erwidern. „Das ist nicht so, wie du denkst. Meine Karriere ist festgefahren, weil meine Mutter gleichzeitig meine Managerin ist und alles dafür tut, um mich berühmt zu machen. Meine Cousinen sind die Kampf-Châtelaines. Du hättest sehen müssen, wie grün vor Neid sie war, dass die Kinder ihrer Schwester so berühmt und erfolgreich sind. Mit vierzehn Jahren hat sie ihre Kontakte zum Fernsehen endlich nutzen können, damit ich einen Bericht über meine Cousinen moderieren kann. Keine Ahnung, wie viele Jahre sie sich dafür durch das Fernsehstudio hatte schleimen müssen. Ich hatte Glück, dass ich beim Publikum so gut angekommen bin, aber das hat nichts mit mir zu tun, verstehst du? Ich bin ins Fernsehen gekommen, weil meine Cousinen jemand sind, und durch Glück bin ich dort geblieben. Ja, ich habe die letzten drei Jahre jede Woche die Highlights der Arenakämpfe bei Kalos TV moderiert, aber glaubst du, ich weiß nicht, dass meine Cousinen sich für mich eingesetzt haben? Und meine Mutter erst.“ Ich rollte mit den Augen. „Sie ist vollkommen besessen davon, dass ich Karriere mache, weil sie immer hinter ihrer Schwester anstehen musste. Drei Jahre lang waren die Arenakämpfe alles, für das ich mich zu interessieren hatte. Interviews hier, Interviews da. Attacken auswendig lernen, Strategien erörtern, immer gut aussehen, Sport treiben, in die Kamera lächeln. Ich hatte keine freie Minute mehr. Der Urlaub im Tempel war eine Auszeit für mich, in der ich mich beruflich neu orientieren wollte. Ich bin jetzt an einem Punkt, an dem ich selbst entscheiden kann, ob ich zu den wöchentlichen Berichten zurückkehren möchte oder nicht. Aber …“ „Aber du weißt nicht, ob es das ist, was du in deinem Leben machen willst“, beendete Quinn den Satz für mich und ich nickte. „Dann sind wir uns wirklich gar nicht so unähnlich“, schlussfolgerte er mit einem Stirnrunzeln. „Offenbar nicht.“ Ein trockenes Lachen kam über meine Lippen. „Du läuft vor deiner Mutter und deinem Leben davon, weil du dich eingeengt fühlst und endlich eigene Entscheidungen treffen möchtest.“ „Und du tust genau dasselbe“, sagte er wissend. „Deshalb bist du mitgekommen und hast dich auf dieses Abenteuer eingelassen.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Tja, ich schätze, das ist richtig so.“ Eine Weile saßen wir einfach nur schweigend auf diesem verdammten Baumstumpf, bis uns die Hintern schmerzten und die Beine kalt wurden. Außerdem begann es zu dämmern und wir mussten uns dringend entscheiden, ob wir umkehren oder die Nacht im Wald verbringen wollten. Schließlich stand Quinn auf, schaute mich prüfend an und begann dann zu sprechen: „Ich möchte dir etwas vorschlagen. Einen Pakt.“ „Einen Pakt?“ Ich erhob mich ebenfalls. Was sollte ausgerechnet er mir zu bieten haben? „Du hast Recht. Ich habe keine Ahnung, wie man ein Pokémon richtig trainiert, wie man seine Stärken ausnutzt und seine Schwächen kaschiert. Aber du hast Ahnung davon.“ Obwohl ich keine Trainerin war, was wir vermutlich beide in Gedanken hinzufügten. „Das stimmt. Und jetzt soll ich dir helfen?“ Er nickte. „Genau. Du reist mit mir durch die Finera-Region und bringst mir bei, wie man ein guter Trainer ist.“ „Das wird Wochen dauern, wenn nicht sogar Monate.“ „Das ist mir bewusst“, gab er zu und setzte ein gewinnbringendes Lächeln hinterher, das eher gruselig aussah als freundlich, wie ich fand. Vielleicht lächelte er aber auch einfach viel zu selten und hatte aus diesem Grund keine Übung darin. „Und warum sollte ich das tun?“ „Du kannst die Zeit nutzen, um neue Erfahrungen zu gewinnen. Und noch etwas …“ Mich beschlich das Gefühl, dass er sich das Beste bis zum Schluss aufgehoben hatte. „Und?“ Quinn straffte die Schultern. „Und du kannst eigenhändig einen Trainer vom Nichts zum Gewinner aufbauen. Das wäre doch eine Erfahrung, die es rechtfertigen würde, dass du dir eine Auszeit von deinem Beruf nimmst. Eine kreative Pause. Mila Mayham, Expertin der Arenakämpfe, nimmt einen Schützling unter ihre Fittiche und verhilft ihm zu Anerkennung.“ Das ließ ich mir auf der Zunge zergehen. „Auf jeden Fall wäre das Grund genug für meine Mutter, um mich vorerst in Ruhe zu lassen. Natürlich nur rein hypothetisch. Falls ich mich also darauf einlasse, dich zu coachen und dir in den nächsten Monaten beizustehen, wirst du mir überlassen müssen, wie ich den großen Bericht über dich aufziehe. Außerdem brauche ich einen Fotoapparat, um alles dokumentieren zu können.“ Er nickte ergeben. „Du wirst mir auch dabei helfen müssen, meine Mutter abzuschütteln.“ „Das kriegen wir hin.“ Ich winkte ab, als wäre das nur eine Kleinigkeit, während ich in Gedanken bereits durchging, was ich mir für eine Reise durch Finera alles besorgen musste. Auch wenn ich es nicht zugeben wollte, gefiel mir der Gedanke, mehrere Monate meinem Leben in Illumina City entkommen zu können. „Zuerst müssen wir nach Eichwald City ins Pokémoncenter, damit ich eine Trainer ID beantragen kann.“ „Jetzt auf einmal doch?“ „Natürlich, du Witzbold. Ich werde mit dir reisen und mit einer Trainer ID übernachte ich ebenfalls kostenlos in den Pokémoncentern.“ „Aber du brauchst ein Pokémon, um die ID zu bekommen, oder du musst das Pokémon schnellstmöglich nachreichen.“ „Dann fängst du dir eben ein Pokémon im Eichwald und wir registrieren es auf meinen Namen.“ „Na schön.“ Also, wo war ich? „Wir reisen nach Eichwald City, beantragen eine Trainer ID für mich, besorgen mir einen Reiserucksack, eine Grundausstattung für uns beide und eine Kamera.“ „Also haben wir einen Deal?“ Quinn hielt mir die Hand hin. Ich zögerte noch einmal kurz, schlug dann aber ein. „Ja, wir haben einen Deal.“ Wir schauten uns feierlich an, bis ein Windstoß durch den Wald fegte und uns daran erinnerte, dass wir mitten im Eichwald standen und es bereits dämmerte. „Was sollen wir jetzt tun?“ Ich schaute mich um und orientierte mich in Richtung Osten. „Wir tun genau das, was ich vorhin schon gesagt habe, und gehen nach Eichwald City.“ „Aber es wird gleich dunkel und wir haben noch wer weiß wie viele Kilometer vor uns.“ „Dann, mein lieber Quinn“, und dabei schenkte ich ihm einen strafenden Seitenblick, immerhin hatte er uns in diese Situation gebracht, „sollten wir uns wohl besser beeilen und keine Zeit mehr verlieren, denn ich habe keinesfalls vor, die Nacht unter wilden Pokémon in der eisigen Kälte zu verbringen.“ Er rollte mit den Augen, um auszudrücken, wie genervt er bereits jetzt von mir war, doch zu meinem Erstaunen kamen keine weiteren Widerworte und wir setzten uns gemeinsam in Bewegung. Ich fand meinen Plan super, wusste allerdings noch nicht, wie ich meine Mutter davon überzeugen sollte, mich auf unbestimmte Zeit in Ruhe zu lassen. Aber Kind, die Zuschauer, deine Sendung, alles! Das kannst du nicht machen! Doch, konnte ich und würde ich. Sie war meine Mutter und wir hatten nicht immer das beste Verhältnis zueinander gehabt, aber ich war ihr zumindest eine Erklärung dafür schuldig, weshalb ich von der Bildfläche verschwinden wollte. Und dann war da ja auch noch Quinns Mutter, die sich garantiert nicht damit zufrieden geben würde, dass ihr Sohn einfach nur seinen Trainerwunsch durchsetzen wollte. Dafür würde ich mir auch noch etwas einfallen lassen müssen … Und ehe wir uns versahen, war es dunkel geworden, Quinns ComDex hatte noch immer keinen Empfang. Nachdem wir einigen Dornenhecken hatten ausweichen müssen, begann ich die Orientierung zu verlieren, denn trotz der kalten Jahreszeit standen die Bäume auf einmal so dicht, dass man kaum noch einen Blick auf den ohnehin wolkenverhangenen Himmel werfen konnte. Sagte man nicht, dass die Sterne eine Orientierung waren? Aber was, wenn man sie ohnehin nicht sehen konnte? Ich musste auf’s Klo. Mein Magen knurrte. Irgendwo in der Finsternis raschelte es und plötzlich wirkten alle Geräusche doppelt so laut und dreimal so bedrohlich. Fees Schwanz zuckte unruhig hin und her, sie schaute mal nach links, mal nach rechts, denn ihre Kampferfahrung hielt sich in Grenzen und da sie nie in der richtigen Wildnis gelebt hatte, sondern von den Straßen Saffronia Citys stammte, konnte sie vermutlich nicht einordnen, welche Geräusche von friedlichen Hoothoot und welche von blutrünstigen Rattikarl stammten. Schweigend stapften wir weiter, verlangsamten unser Tempo immer weiter, bis wir stehen blieben und uns ängstlich anschauten. Nur langsam gestand ich mir ein, was sich schon längst in Quinns blassem Gesicht abgezeichnet hatte: Wir hatten uns verlaufen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)