Unter einem Mond von Kunoichi (Wichtelgeschichte für Erenya) ================================================================================ Kapitel 4: Ein Schritt ---------------------- Am nächsten Morgen ging die Sonne hinter den Bergen an einem strahlend blauen Himmel auf, als wäre das vorangegangene Unwetter niemals gewesen, hätten nicht massenweise umgestürzte Bäume es bezeugt. Auf den Feldern war der Schaden zwar gering geblieben, da der jährliche Reisanbau noch nicht begonnen hatte, doch die Dörfer waren stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Überall sah Harada Menschen, die sich gegenseitig beim Wiederaufbau ihrer unterspülten Häuser halfen, während er neben Ikuras Wagen weiter der Hauptstraße folgte. Zwei Tage lang blieb die Lage so frühlingshaft und stabil, dann tauchten vor ihnen die weißen Mauern und olivfarbenen Zinnen des Schlosses Nagoya auf, auf dem hoch oben die zwei Kinshachi – goldene Fischstatuen – thronten. Darunter erstreckte sich die belebte Hafenstadt kleiner, aber ebenso geschäftig wie Edo. Kentaro wurde immer hibbeliger vor Vorfreude, je näher sie seiner Heimat kamen und lief zum Schluss so weit voraus, dass sein wütender Vater ihn mit ein paar Ohrfeigen wieder einfangen musste. Haradas Eindruck von Ikura war gekippt, seitdem Erenya ihm sein wahres Wesen enthüllt hatte, ohne dass er sich dies groß anmerken ließ oder weniger höflich mit ihm umging. Trotzdem wartete er auf einen passenden Moment, mit dem Kaufmann über dessen Dienerin zu sprechen. Bisher hatte sich das leider einfach nicht ergeben wollen und auch die Situationen, in denen Harada und Erenya ungestört reden konnten, waren rar gesät gewesen, denn Ikura schien ständig präsent zu sein. In Nagoya führte er sie geradewegs ins Händlerviertel, wo sich Geschäft an Geschäft reihte, und schließlich zu seinem Haus, das vorne den Laden und im hinteren Teil den Wohnraum beherbergte. Seine Gattin, eine kleine füllige Frau, bereitete ihrer Familie und den Gästen einen herzlichen Empfang und tischte ein reichhaltiges Mittagessen auf. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass Ikura es mit seinem Handel importierter Produkte zu einigem Wohlstand gebracht hatte, der nicht jedem seines Ranges vergönnt war. Diese Tatsache verlieh ihm einen ausgeprägten Hang zur Prahlerei und als alle aufgegessen hatten, zeigte er Harada und Shinpachi ein Geheimfach im Hinterzimmer, in dem er seine seltensten – und natürlich unverkäuflichen – Stücke aufbewahrte. Da kam auf einmal seine Frau herein. „Hat jemand Kentaro gesehen?“, fragte sie und die Männer schüttelten die Köpfe. „Dieser schreckliche Bengel ist schon wieder verschwunden.“ „Schick Erenya! Sie soll ihn suchen“, schlug Ikura vor. „Er kann sich nicht dauernd herumtreiben und seine Aufgaben vernachlässigen.“ „Ich werde mitgehen“, kam es prompt von Harada. Nicht nur, dass er sich auf diese Weise von den langweiligen Vorträgen des Händlers über seine vermeintlichen Schätze loseisen konnte, hatte er auch noch die Möglichkeit, sich mit Erenya alleine zu unterhalten. Shinpachi warf ihm einen vielsagenden Blick zu und hob schon zum Sprechen an, als Harada warnend hinzufügte: „und mir die Stadt anschauen!“ Das Bild auf den Straßen Nagoyas war friedlich und unauffällig: Frauen, die mit Reisigbesen vor ihren Hütten kehrten und sich über den neusten Klatsch austauschten, Kaufleute in energischer Verhandlung mit ihren Kunden, spielende Kinder und bellende Hunde. Von den Auseinandersetzungen der alten und neuen Regierung, welche weiter nördlich Japans bereits in vollem Gange waren, merkte man hier noch nichts und die einzigen Patrouillen sah Harada lediglich am Schlossgrund streifegehen. Er überlegte, wie lange es wohl noch dauern würde, bis das ganze Land heillos im Krieg versank und hoffte, dass Erenya bis dahin längst weit fort sein mochte. „Machst du dir gar keine Sorgen um Kentaro?“, fragte er sie, nachdem sie schon eine Weile gegangen waren und von dem Jungen noch immer jede Spur fehlte. „Nein, überhaupt nicht“, antwortete Erenya unbekümmert. „Er schleicht sich oft davon, um mit seinen Freunden zu raufen. Spätestens zum Abendessen taucht er wieder auf.“ Sie schlenderten an einem Stand vorbei, an dem Dango verkauft wurden und Erenya blieb neugierig stehen und begutachtete die bunten, aufgespießten Klößchen. „Was ist das?“, fragte sie Harada, der sich zu ihr gesellt hatte. „Dango. Sag bloß, die hast du noch nie gegessen? Sie schmecken süß, fast jede Frau mag sie.“ Er bestellte jeweils einen Spieß für sie beide und Erenya verbeugte sich abermals so tief, dass es lächerlich wirkte für diesen simplen Gefallen. „Wenn du nicht zu viel Aufmerksamkeit willst, reicht es, wenn du nur den Oberkörper neigst“, riet Harada diskret und drückte ihr die Leckerei in die Hand. „So macht es eher den Eindruck, als gehöre mir dein Leben.“ „Oh.“ Erenya blickte recht verlegen drein. „Das wusste ich nicht. Bei uns zuhause bedankt man sich nicht auf diese Weise.“ „Nein? Was macht man stattdessen?“, wollte Harada wissen und sie setzten sich zum Essen auf eine nahegelegene Holzbank. Ausschweifend erzählte Erenya von den Gepflogenheiten aus ihrer Heimat, dann von den Tieren und Pflanzen, den Speisen und den Festen und auch von der Sprache, die in Haradas Ohren nicht nur ungewohnt, sondern auch furchtbar kompliziert klang. Die Zeit raste wie ein Blitz an ihnen vorbei und sie hatten beinahe den Grund vergessen, weshalb sie eigentlich losgezogen waren, als eine Straße weiter ein kleiner Tumult ausbrach. Angelockt von den hysterischen Schreien bogen Harada und Erenya in den Hafen ein und entdeckten eine Menschentraube, die sich um einen der Stege tummelte. Zuerst vermutete Harada einen Streit unter Fischern, bis ein Junge mit aschfahlem Gesicht sich zu ihnen umdrehte, Erenya erkannte und hilfesuchend auf sie zustürmte. „Kentaro ist ins Wasser gefallen!“, rief er verzweifelt und sie fasste ihn grob bei den Schultern. „Was sagst du da? Er ist reingefallen?“, wiederholte sie mit Bestürzung. „Ihr wisst doch, dass er nicht schwimmen kann!“ Harada hörte keine Sekunde länger zu. Er lief zum Hafenbecken, drängte die Leute beiseite, die schaulustig um den Steg herumstanden, aber nichts unternahmen – vielleicht, weil sie den Mut nicht aufbrachten oder, was sehr viel wahrscheinlicher war, auch nicht schwimmen konnten – und spähte ins dunkle Wasser. Kentaros Umrisse trieben nur eine Handbreit unter der Oberfläche und die aufsteigenden Luftblasen zeigten an, dass er noch immer wild um sich schlug. Ohne Umschweife sprang Harada ihm hinterher, tauchte ab und schlang die Arme um Kentaros Bauch. In seiner Panik klammerte der Junge sich an ihm fest und drückte ihn unter, sodass Harada Mühe hatte, ihn Richtung Ufer zu ziehen und dabei selbst genug Luft zu bekommen. Doch als er den Steg endlich erreichte, erwarteten ihn dutzende Hände, die die beiden wieder an Land hievten. Hustend und spuckend krümmten sie sich auf dem Boden und wurden von einer unbekannten Frau in wärmende Decken gehüllt. Dann lag Kentaro, der am ganzen Leib schlotterte, in Erenyas Armen. „Was hast du dir dabei nur gedacht?“, schalt sie ihn mit dünner Stimme und vergewisserte sich gleichzeitig über seine Schulter, ob auch Harada wohlauf war. „So einen Blödsinn darfst du nie, nie wieder machen!“ „Es tut mir so leid“, wimmerte Kentaro, durch seine Schluchzer kaum zu verstehen. „Wir haben gespielt. Es war ein Unfall.“ Die gaffende Menge bildete eine Gasse, nachdem sie wieder einigermaßen zu Atem gekommen waren und sich für den Heimweg erhoben und bis Ikuras Haus in Sicht kam, liefen unaufhörlich Tränen über Kentaros blasse Wangen. Natürlich hatte die Nachricht seine Eltern längst erreicht und als der Kaufmann den Ausreißer erblickte, schlug er ihm hart ins Gesicht, nur um ihn kurz darauf fest an seine Brust zu pressen und minutenlang zu halten. „Harada-san, ich stehe tief in Eurer Schuld“, sagte er demütig und übergab Kentaro an seine weinende Mutter. „Ich weiß nicht, was ohne Euch gewesen wäre. Ihr habt meinen Sohn nun schon zum zweiten Mal gerettet.“ Er ließ Erenya trockene Kleidung bringen und nachdem Harada sich umgezogen hatte und in den Hauptraum zurückgekehrt war, warf sich das Händlerpaar ihm ergeben zu Füßen. „Worte reichen nicht für das, was Ihr für uns getan habt“, brachte Ikura seine Dankbarkeit vornehm zu Ausdruck. „Nehmt Euch, was immer Ihr begehrt! Ich gebe Euch alles!“ „Ich will deinen Besitz nicht“, entgegnete Harada aufrichtig, denn tatsächlich bot dieser Haushalt nichts, was er gerne gehabt hätte. Und doch war da etwas… „Das Einzige, worum ich dich bitte“, sagte er, „ist Erenya aus deinen Diensten zu entlassen.“ Für den Hauch eines Wimpernschlags schien ein Schatten Ikuras Gesicht zu verdüstern, aber es verflog ebenso schnell, wie es gekommen war und er antwortete mit schmalen Lippen: „Selbstverständlich. Wie Ihr wünscht.“ Im Hintergrund hatte Erenya die Augen vor Erstaunen weit aufgerissen, versuchte vor ihren Herren jedoch zu verbergen, dass sie wusste, was vor sich ging – vermutlich um Kentaro weiteren Ärger zu ersparen – und hielt unterwürfig den Kopf gesenkt. Harada nickte zufrieden, stand auf und ließ Ikura und seine Frau allein, damit sie sich mit der Lage arrangieren konnten. Draußen lehnte Shinpachi an der Hauswand neben dem Eingang und hatte allem Anschein nach auf ihn gewartet. „Reife Leistung, du bist ja ein richtiger Held“, sagte er grinsend. „Hast du vielleicht Lust, mit mir was trinken zu gehen? Nur wir zwei?“ Er deutete an, ihm die Straße hinunter zu folgen und Harada war das nur mehr als recht. Der fortgeschrittene Abend hatte die Lichter Nagoyas gelöscht und einen Mantel der Ruhe über die schlafende Stadt gelegt, doch im Vergnügungsviertel war es so laut und hell wie sonst am Tage. Harada und Shinpachi nahmen in einem mehrstöckigen Wirtshaus Platz und Shinpachi orderte bei einer Geiko den Sake. „Keinen Branntwein heute?“, stellte Harada mit vorgetäuschter Entrüstung fest und beide mussten lachen. „Ich glaube, ich bleibe besser bei den einheimischen Getränken“, sagte Shinpachi in schlechter Erinnerung an seine jüngsten Experimente. „Da weiß ich wenigstens, worauf ich mich einlasse.“ Sie ließen sich ihre Schalen füllen, tranken aus und lauschten dem Flöten- und Lautenspiel der Künstlerinnen, bis Harada plötzlich eine ernste Miene aufsetzte. „Ich muss etwas mit dir bereden“, sagte er. „Ja, ich mit dir auch“, erwiderte Shinpachi keineswegs überrascht. „Es hat ein bisschen gedauert, aber ich habe mich entschieden, zu den Shinsengumi zurückzukehren.“ „Ich bin froh, dass du das sagst.“ „Du kommst nicht mit, nehme ich an.“ „Nein, ich fürchte nicht.“ „Und was hast du vor?“ Harada betrachtete die klare Flüssigkeit, die ihm nachgeschenkt worden war und die durch die Bewegungen seiner Hand leichte Wellen warf. „Ich muss ihr helfen, wieder nach Hause zu kommen“, gestand er und Shinpachi wusste sofort, von wem er sprach. „Dafür fühle ich mich irgendwie verantwortlich.“ „Dann trennen sich unsere Wege?“ „Sieht so aus.“ Sie leerten die Trinkschalen erneut und Harada wurde mit einem Schlag bewusst, wie merkwürdig es werden würde, Shinpachi ab jetzt nicht mehr um sich zu haben. Immerhin war er in den letzten Jahren sein engster Vertrauter geworden und sie waren fast ständig am selben Ort gewesen. Und auch der Gedanke an die anderen – an Kondou, Hijikata, Chizuru, vor allem Heisuke – versetzte ihm auf einmal einen schmerzhaften Stich, der so viel deutlicher war, als an jenem Tag, an dem er der Shinsengumi den Rücken gekehrt hatte. Dennoch, sein Entschluss blieb unwiderruflich, damals wie heute, und zudem gab es da nun auch die Sache mit Erenya, die er sich zur Aufgabe gemacht hatte. „Ich werde mir ein paar Männer suchen und mit der Gruppe nach Norden ziehen. Gerüchten zufolge soll die Shinsengumi Edo verlassen haben und auf kurz oder lang wird es wohl auf einen Kampf in Aizu hinauslaufen. Also gehe ich dorthin“, erklärte Shinpachi. „Was ist dein Ziel?“ „Ich will ein Schiff finden, das so bald wie möglich ablegt“, antwortete Harada. „Hier in Nagoya geht das nicht, weil der Hafen zurzeit für den Außenhandel nicht zugelassen ist, aber in Edo liegen einige große Schiffe vor Anker.“ „Ich verstehe.“ Seufzend nahm Shinpachi die Flasche Sake vom Tisch und goss Harada ein. Dann sagte er so leise, dass es durch den Lärm des Wirtshauses um sie herum kaum zu vernehmen war: „Du wirst mir fehlen, Sano.“ „Nun mach mal halblang!“, empörte sich Harada, verblüfft über einen solch ungewohnten Satz aus dem Mund seines besten Freundes. „Du tust ja gerade so, als würden wir uns nie wiedersehen, dabei treffen wir uns doch später in Aizu.“ „Ja, richtig“, murmelte Shinpachi in dem Versuch, ein wenig überzeugter zu klingen. „Trinken wir! Darauf, dass das alles hier noch ein gutes Ende nimmt!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)