Therapiestunden von KankuroPuppet (( Psychological Affairs )) ================================================================================ Kapitel 9: Springen ------------------- Neunter Teil Sein Geschmack waren fast vergessene Erinnerungen. Er schmeckte nach heißen Sommertagen und erröteter Haut, nach hohen Bäumen mit rauer Rinde und aufgeschürften Knien. Er schmeckte nach Eiscreme, die zu schnell schmilzt und über die Handfläche tropft, bis alles klebt; nach lautem Lachen und den Abenteuern, die man erleben konnte, wenn man nachts die Taschenlampe unter der Bettdecke anstellte. Er schmeckte nach Pfeil und Bogen und Wasserschlachten im See, bis die Lippen blau waren; nach Schatzkarten, Banditen und Drachen. Er schmeckte nach unendlicher Müdigkeit und der warmen Decke, unter der man sich eng umwickelt und geborgen eine letzte Geschichte von mutigen Helden anhörte, bis der Tag sein Ende nahm. Der Geschmack waren die Freiheit und der Mut, die sie alle einst besessen hatten; Träume und das Vertrauen darauf, das sie eines Tages wahr werden würden. Eine fast vergessene Zeit, die das Leben noch liebte und doch immer mehr vom nüchternen Kalkül der Erwachsenenwelt verdrängt wurde. Als Law seine Hände auf Kids Wangen legte und ihn entschlossen zu sich zog, da hätte er niemals geglaubt, dass ein einziges Paar Lippen eine solche Woge der Sensation in ihm auslösen konnte. Lippen, schmal und doch weich, die wie im Kontrast zu der rauen, nachlässig rasierten Haut standen, die sie einrahmte. Law hatte Mädchen geküsst; viele Mädchen. Anfangs war es aufregend gewesen, wenn sie ihm näher kamen, langsam die Augen schlossen und leicht den Mund öffneten, während sie darauf warteten, dass Law einen ersten Kuss einfordern würde. Diese Mädchen schmeckten süß, ihre Zungen warm und weich wie ihre Körper, die ihn geradezu hingebungsvoll aufforderten, mit ihnen zu spielen. Kid schmeckte nach nichts dergleichen. Seine Lippen waren wie der Sprung aus weiter Höhe, bei dem man hoffte, dass das Wasser unter einem tief genug war, um das Schlimmste zu verhindern. Und dennoch sprang man. Es gab dabei keinen Grund, außer dem Sprung selbst. Man sprang, weil man es musste. So wie Kinder Bäume immer höher kletterten, nur um herauszufinden, wie weit sie kamen, bis sie schließlich fielen. Kaum hatten sich ihre beiden Münder getroffen, da war es Kid, der nach kurzem, verwundertem Verharren eine Hand in Laws Haaren unter der Mütze vergrub, seinen Kopf nahezu fixierte und denn Kuss intensivierte. Law bemerkte die heiße, feuchte Zungenspitze auf seinen Lippen. Er kannte die Geste nur zu gut, war doch sonst er derjenige, der sie einsetzte. Beinahe wäre er auch drauf eingegangen, hätte er nicht dieses unbezwingbare Bedürfnis in sich pochen gespürt, die Kontrolle behalten zu wollen. Anstatt also auf die Forderungen seines Gegenübers einzugehen, löste er sich schlagartig und blickte in Kids perplex schimmernde Augen. Er verharrte, genoss den Moment und löste eine Hand, um seine Fingerspitzen flüchtig durch rote Strähnen wandern zu lassen. Kaum hatte er den Hinterkopf erreicht, ballte er die Hand zu einer Faust und zog dabei frech an Kids Haaren, sodass dieser erschrocken den Mund öffnete: Ein Reflex, den Law nutze, um das zu vollenden, was Kid kurz zuvor begonnen hatte. So beugte er sich nach vorn, legte seinen Kopf in den Nacken und stahl sich den zweiten Kuss. Dieses Mal fordernder. Süchtiger. Nachdem schon die Lippen allein so viel versprachen, was würde denn erst die Zunge können? Er spürte Kids festen Atem auf seinem Gesicht, als dieser vor Überraschung alle Luft aus seinen Lungen presste und bald darauf wieder gierig durch die Nase einsog. Law wusste von sich selbst, dass er gut küssen konnte. Es war ihm oft genug von seinen kleinen Liebeleien bestätigt worden und der Erfolg, den er bei Frauen hatte, sprach für sich. Ein Kuss und er war sich sicher, dass er die Kleine mit nach Hause nehmen konnte. Er ging immer in seine Wohnung, nie zu den Mädchen. Viel zu praktisch war es, seine Sachen direkt um sich zu haben und am nächsten Morgen keine langen, verschlafenen Heimfahrten auf sich nehmen zu müssen. Ein Kuss und er hatte alles in seiner Hand. Selbstsicher suchte er mit der eigenen nach der gegnerischen Zungenspitze; doch hatte er die Rechnung ohne den Konkurrenten seines kleinen Spiels gemacht. Kids Küsse waren das Ebenbild seines Geschmacks. Es gab keinen Rhythmus; kein Pendel, das seine Mitte fand; keinen wiederkehrenden Fleck, auf dem man sich in Sicherheit wiegen konnte. Ein zärtliches Streifen der Münder, ein Biss in die Unterlippe und dann doch eine Zunge, die verspielt mit ihrem Gegner rangelte. Zwei Hände, die sich abermals besitzergreifend auf Laws Wangen legten. Anfangs versuchte Law ein letztes Mal die Oberhand zu gewinnen, doch scheiterte an der süßen Lust, die sich aus dem schelmischen Spiel der beiden entwickelte. Vorhersagen, einlassen, kontern, ergeben… Es gab nicht genug Verben auf dieser Welt, um zu beschreiben, was gerade passierte. Waren sie noch in der Bar? Spielte die Band noch? Oder hatten sie endlich den Weg ins Wunderland gefunden? Es wäre nur zu logisch, fühlte sich Law doch gerade, als würde er springen. Ohne Ziel und ohne jeden Boden, der Rettung oder Vernichtung brachte. Ein langer Sprung ins Ungewisse, umrahmt von allen interessanten Dingen. Der Sprung in den Kaninchenbau. Das Aufflackern dieses Gedankens ließ Law grinsen. Kid nutzte die Geste gleichsam, um seinem Spielpartner ein weiteres Mal frech in die Lippe zu beißen, nur um sich anschließend mit einer angenehm heißen Zungenspitze zu entschuldigen. Was wäre so falsch am Wunderland? Uhren blieben stehen; zwangen Menschen an unendlich langen Tischen für den Rest ihres Lebens mit anderen die Zeit des Tages zu zelebrieren, an der die Arbeit vergessen wurde und der Tag und die eigene Existenz ihre Mitte fanden. Alles nur, weil ein Hutmacher die Zeit gestohlen hatte… Vielleicht konnte sich Law an Tee gewöhnen? Dieses Mal war es Kid, der den Kuss unterbrach. Geradezu enttäuscht öffnete Law seine Augen, die er – ohne es selbst zu merken – in der Intensität ihrer Begegnung geschlossen haben musste. Mit noch zur Hälfte geöffnetem Mund starrte er auf den Rotschopf und versuchte dabei, die quälend schnellen Wechsel des Lichts in der Bar zu ignorieren. Sein Gegenüber musterte ihn eindringlich, hatte ein Grinsen auf den Backen, das bis über beide Ohren reichte. Irgendwie aufgeregt fuhr er sich durch die abstehenden Haare, sah zur Decke und schüttelte den Kopf, bevor er sich wieder auf den Studenten konzentrierte. Perplex schob Law die Augenbrauen zusammen und versuchte die tänzelnden Bewegungen vor sich zu verstehen, da beobachtete er, wie Kid einen Arm hob: Langsam, geradezu andächtig, während die Lichtanlage zu einem Stroboskop wechselte, sodass nur einzelne, abgehackte Bilder vor Laws Augen aufblitzten. Dennoch war die Geste eindeutig und schnitt Law kurz die Luft ab, als er sie verstand. Kid hatte seinen Körper seitlich zu Law gedreht und streckte seinen Arm immer weiter aus einem Winkel heraus in eine Gerade, bis er schließlich zwei Finger seiner geformten Hand gegen Laws Stirn drückte. Der Mediziner kannte das Gefühl nur zu gut, besonders die Spitzen des Mittel- und Zeigefingers, die sich schmerzhaft gegen seinen Kopf pressten. Dieses Mal ging es schneller. In rastlosen, separaten Bildern schob Kid seine Hand einen letzten Zentimeter nach vorn und machte dabei ein Geräusch, das in dem Dröhnen der Bar zu stummen Lippenbewegungen wurde. Ein Schuss. Eine stille Metapher der Gewalt im Resonanzraum dieser surrealen Welt. Eine Geste, so weitreichend, dass sie nicht mehr verstehen ließ, als das schon jeher beliebte Kinderspiel: Peng. Du bist tot! …dein Gegner fällt in den Staub und wartet darauf, dass das Spiel von vorn beginnt. Ein Kinderspiel. Law hatte die Augen reflexartig geschlossen und öffnete sie nun, nur um zu verfolgen, wie Kid seinen Arm mit der symbolische Schusswaffe anwinkelte und über das Ende des Pistolenlaufs pustete, bevor er alle Gliedmaßen fallen ließ und sich einem hingebungsvollen, leidenschaftlichen Lachen ergab. Für einen Augenblick verfolgte Law das Bild, versuchte zu verstehen und kam doch zu der Einsicht, dass dieser Abend weit hinter den Grenzen aller Rationalitäten stand. Es gab keinen Grund, zu verstehen. Man sprang, wegen des Sprungs. Die Erkenntnis rauschte wie ein Aufputschmittel durch Laws Adern, ließ nun auch ihn lachen, als er einen Schritt nach vorn trat, Kids Arm packte und ihn zu sich zog. Der Rotschopf kicherte immer noch, als Law ein weiteres Mal fordernd nach seinen Lippen verlangte, wobei eine überraschende Kälte an der Wange verriet, dass Kid vor Lachen geweint haben musste. Die bedrohliche Geste war in dem Moment vergessen, als ihre Münder aufeinandertrafen. Sinnlichkeit und Verlangen besiegen Vernunft. In unserem tiefsten Innern waren wir wohl immer noch nicht mehr als unsere Vorfahren aus der Steinzeit. Law konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so ausgelassen gefeiert hatte; ob er überhaupt jemals zuvor so gefeiert hatte. Neben der Flasche Whiskey versorgte er sie in regelmäßigen Abständen mit dem billigen Bier, das an der einzigen Theke im Raum verkauft wurde. Der Student konnte nicht abstreiten, dass die Musik tatsächlich ihren Reiz hatte und mit jedem Schluck klang sie noch ein wenig besser, wilder, rebellischer. Law tanzte nicht. Da war es auch egal, wie viel er getrunken hatte. Kid war nicht anders. Doch verlockte der berauschend rasante Wechsel der Lichtshow und die eingängige Baseline zum Kopfnicken, zu taumelnden Schultern und Fingerspitzen, die den Rhythmus in schnellen Schlägen auf dem Oberschenkel begleiteten. In anderen Momenten ergab sich zwischen den beiden Männern eine kindliche Rangelei um den Besitz des Whiskeys, die zumeist in einem weiteren Kuss endete, bei dem berauscht wacklige Beine unkontrolliert durch den bedrängten Innenraum wankten. Zeit war bedeutungslos in dieser kleinen Welt. Alles was zählte war der Moment und das alles umhüllende Gefühl das Leben in all seinen Facetten aufzunehmen. Bilder blitzten vor den Augen; Worte wurden gewechselt und gleich darauf wieder vergessen; Berührungen ausgetauscht, die Sehnsucht weckten. Irgendwann stand Killer neben Kid, aufgetaucht wie ein Tiefseetaucher aus dem Nichts der dunklen, unberechenbaren See. Die zwei wechselten flüchtig einige Worte. Kid fing an zu gestikulieren, während Killer vollkommen ruhig blieb, verharrte und mit seinem Schal jede Chance darauf verbarg, zu erahnen, welche Gedanken er gerade mit Kid teilte. Law blieb auf sicherem Abstand, entschied sich erneut zur Bar zu gehen, ohne jedoch seine zwei Begleiter aus den Augen zu lassen. Die Unterhaltung endete damit, dass sich Killer hart mit der Schulter gegen Kid warf, als er an ihm vorbeirauschte, um die Bar zu verlassen. Kid hob deutlich genervt die Arme in die Luft und schaute seinem Kumpel hinterher. Anschließend drehte er sich zu Law, wobei er seine Augen in einer eindeutigen Geste verdrehte. Law lachte. Irgendwie erleichtert. Die meisten Leute waren gegangen, als die Band ihr Programm und zwei Zugaben beendet und die Bühne verlassen hatte. Kid und Law waren jedoch geblieben, bis die erschöpfte Frau hinter der Bar kein einziges Bier mehr verkaufen wollte – trotz aller Betteleien. Der Türsteher gähnte ansteckend, als die zwei Jungs an ihm vorbeischlenderten und hob eine Hand, um sich bei Kid zu verabschieden. Der Rotschopf nickte, vergrub seine Hände in den Hosentaschen und erschauderte unter der herbstlichen Kälte. Es war eine dieser klaren Nächte, die noch tiefere Temperaturen ankündigte, wie man sie nur im letzten Drittel des Jahres erleben konnte. Die Sterne sprenkelten den dunklen Nachthimmel, während sich der Mond in geklautes Licht hüllte und Silhouetten über die Mauern der Stadt tanzen ließ. Auch Law musste gähnen und zog nun die Schultern fröstelnd nach oben. Eine Weile gingen sie schweigend die Hauptstraße hinunter. Der Wind blies kühl über Laws Gesicht, auf dem die von der warmen Bar verbliebenen Schweißtropfen unter angenehmer Kälte zu trocknen begannen. „Die Band war gut“, meinte der Student schließlich, als er die Stille zwischen ihnen nicht mehr ertragen konnte. Ohne das Schritttempo zu verlangsamen, ließ Kid seine von der Dunkelheit vergrößerten Pupillen zu Law wandern, musterte ihn kurz, nur um sich daraufhin wieder auf die Straße zu konzentrieren. Offensichtlich sah er keinen Anlass, auf den Satz zu reagieren. Es entlockte Law ein erheitertes Grinsen, denn nie hätte er gedacht, dass es auf dieser Welt einen Menschen gab, der noch weniger an Small Talk interessiert war als er selbst. Sie erreichten eine Seitenstraße, verfolgten sie bis zum Ende und bogen links ab. „Wo geht’s jetzt hin?“, fragte Law schließlich aus reiner Neugier heraus. Er war auf alles vorbereitet: Eine weitere Bar, ein Park, ein Club, der Kanal, eine Bäckerei, ein Stripclub, der Flughafen und auf nach Rio… Egal was, nichts würde ihn heute noch überraschen. Er war schon viel zu sehr drin, als dass er etwas abschlagen würde. Außerdem wusste er endlich mit Kid umzugehen, nicht wahr? Sein Begleiter zog eine Hand aus der Hosentasche, wischte sich selbst durchs Gesicht und fuhr anschließend durch seine Haare, bevor er abrupt stehen blieb. Nachdenklich durchsuchte er mit zusammengekniffenen Augen eine Häuserecke, bis er etwas fand und grinste: „Nach Hause“, erklärte er knapp, schob mit dem Fuß Müll zur Seite und tapste in die Dunkelheit. Law riss überrascht die Augen auf, konnte nicht verhindern, dass sich sein Mund in einer Mischung aus Entsetzen und Mitleid öffnete, während er mit einer Hand auf das Durcheinander vor sich zeigte: „Bitte sag mir nicht, dass du hier schläfst.“ Er schluckte schwer. Kid hielt perplex inne, drehte sich nachdenklich zu Law und gackerte plötzlich unter seinem Anblick. Kurz schüttelte er den Kopf, dann griff er nach einem Gegenstand und zog daran. „Du bist echt nicht der Hellste, was?“, feixte Kid und war so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er gar nicht mitbekam, wie Law beleidigt den Mund verzog. Ein Ruck hallte durch die Gasse, während eine Ratte, von den nächtlichen Machenschaften gestört, an Law vorbeihuschte. Wenige Sekunden später hatte Kid einen alten Einkaufswagen auf die Straße gezogen, hopste elegant hinein und machte es sich bequem, indem er seinen Kopf gegen das Ende mit dem Griff lehnte und seine Beine über das andere baumeln ließ: „Schieb mich“, forderte er Law wie selbstverständlich auf und schloss müde die Augen. „Wieso sollte ich?“, murrte der Student; war offensichtlich immer noch getroffen. Kid schnaubte entnervt aus: „Sei keine Zicke. Ich bin heute schon das Rad gefahren.“ Law hielt inne, ignorierte das Wort ‚Zicke‘, gab schließlich nach und begann den Wagen zu schieben, wofür er sich erschöpft auf die Plastikhalterung lehnte. Er war zu müde, um unnötige Diskussionen vom Zaun zu brechen. „Ich gehe aber zurück zur Bahn“, konstatierte Law, lehnte sich mit Kraft nach vorn und brachte die Räder ins Rollen. Kid gluckste. „Viel Spaß. Die nächste kommt in zwei oder drei Stunden.“ Daraufhin war es der Student, der einen genervten Laut hören ließ: „Ich wusste gleich, dass ich mit dem Auto hätte fahren sollen. Welcher Idiot fährt denn auch bitte kein Auto?“, platzte es auf ihm heraus, während er ungläubig zu dem jungen Mann im Einkaufswagen sah. Dieser kicherte, ließ die Augen aber geschlossen. „Ist es nicht komisch?“, fragte Kid vollkommen ruhig in die Stille der Nacht hinein, wobei der Atem vor seinem Mund sichtbar wurde. „Was?“, hakte Law nach, als keine Erklärung folgte. „Als die Eisenbahn erfunden wurde, da wollte zunächst keiner mit ihr fahren, denn die Menschen glaubten, dass jede Geschwindigkeit über 50 km/h das Gehirn gegen den Hinterkopf quetschen und die Passagiere dadurch töten würde“, erzählte der Rotschopf und begann seine Beine über dem Ende des Wagens abwechselnd schaukeln zu lassen. Law musterte ihn, ohne aber den Sinn der kleinen Geschichte zu erfassen. „Ich meine ja nur“, fuhr Kid bald darauf fort und rieb sich mit dem Zeigefinger unter der Nase, „die Menschen von heute haben Angst vor Spinnen und Mäusen, aber Fahrzeuge, die ohne Probleme 240 Sachen drauf kriegen, die finden sie vollkommen normal.“ Er lachte und tatsächlich hatte er es geschafft, Law für einen Augenblick nachdenklich zu stimmen. Kurz sah der Student in den Sternenhimmel über ihnen, bevor er lächelnd den Kopf schüttelte. „Ich finde dich eher seltsam“, sagte er schließlich, spürte bald darauf ein Zwicken am Bein und verfolgte die Kid mit einem verspielten Grinsen die Augen öffnete, einen Arm von außen zurück in den Wagen nahm und anschließend etwas in den Händen hielt. „Und trotzdem bist du hier und degradierst dich selbstständig zu meinem Chauffeur“, setzte ihm Kid entgegen, rieb sich durch die Augen und gähnte herzhaft. Einige der Straßenlaternen waren kaputt und zeugten davon, wie wenig Interesse die Stadt in diesem verdreckten Stadtviertel haben musste. Allein der Mond und wenige Fenster, aus denen zu dieser späten Stunde noch Licht schien, erhellten ihnen den Weg. Law konnte daher erst erkennen, womit genau Kid gerade spielte, als der Display des Smartphones in seinen Händen zu leuchten begann und mit seinem künstlichen Licht wunderliche Schatten auf das Gesicht seines neuen Besitzers zeichnete. Der Anblick war so unerwartet, dass der Student seinen Konter auf Kids vorangegangene Anmaßung vergaß und stattdessen zur Sicherheit an seine nun leere Hosentasche packte. „Gib das wieder her!“, murrte er, blieb stehen und streckte eine Hand nach seinem Telefon aus. Kid hatte das Gerät allerdings weggezogen, bevor Law es hatte erwischen können. Chancenlos musste er verfolgen, wie der Junge im Wagen mit dem Finger über den Bildschirm strich und daraufhin einige Icons studierte. Law seufzte innerlich und fragte sich, warum er sich gegen die übliche Zahlkombination entschieden hatte, die genau solche Momente hätte verhindern können. Da Kid ihm das Telefon wohl nicht so schnell wiedergeben würde, entschloss er sich daher, einfach weiterzulaufen. „Macht es Spaß meine Nachrichten zu lesen?“, fragte er genervt, als der Einkaufswagen wieder in Bewegung war. Kid drehte seinen Kopf über die Schulter, um Law verwundert anzusehen. „Wieso sollte ich die lesen wollen? Die sind bestimmt genauso langweilig, wie der Rest deines Lebens…“, erklärte er nüchtern und war sich wohl mehr als bewusst, wie sehr die Aussage den jungen Mann hinter ihm traf. Law schluckte trocken, fühlte sich beleidigt und gleichzeitig ertappt, während er im Kopf die letzten Nachrichten durchging, die er geschrieben oder empfangen hatte. Wirklich interessant war wohl keine davon. „Au!“, schrie Kid plötzlich auf und hielt sich sein rechtes Ohr, nachdem Law entschlossen dagegen geschnipst hatte. „Halt deinen dummen Mund“, erklärte sich der Täter, lächelte zufrieden und begann, den Wagen noch ein wenig schneller zu schieben. „Du bist ja gemeingefährlich“, beschwerte sich der Rotschopf vor ihm, ließ die Aussage einen Augenblick zwischen ihnen schweben, bis die unmissverständliche Ironie beide Männer laut lachen ließ. Kurze Zeit später schien Kid gefunden zu haben, wonach er suchte, zog seine Beine in den Wagen und hockte sich hin, sodass er seinen Oberkörper nach hinten gegen Laws Brust pressen konnte. „Was hast du vor?“ Der Mediziner konnte nicht abstreiten, dass die Nähe des anderen für ihn inzwischen alles andere als unangenehm war; besonders in der herbstlichen Kälte. Anstatt etwas zu antworten, hob Kid das Smartphone nach oben, streckte seine Arme aus und lehnte seinen Kopf gegen Laws Hals, als mit einem Mal ein Blitz die schwarze Dunkelheit durchschnitt. „Fuck!“ Kaum war es passiert, kniff Law die Augen zusammen und versuchte das unangenehme Brennen loszuwerden. Selbst nach mehrmaligem Blinzeln huschten immer noch dunkle Punkte vor seinen Augen umher. Kid kicherte: „Du siehst furchtbar aus… Das müssen wir noch mal machen“, forderte er, nachdem er sich das gerade gemachte Foto angeguckt hatte. Anschließend griff er mit einer Hand nach dem Kragen von Laws Mantel und zog den Studenten zu sich hinunter: „Bereit?“ Law blinzelte zwar immer noch unkontrolliert, doch versuchte er trotzdem in die Kamera zu gucken. Ein zweiter Blitz. Ebenso unangenehm, aber dieses Mal war Law wenigsten darauf vorbereitet. „Glücklich?“, murrte er, schnappte sich sein Handy zurück, als Kid gerade das Bild begutachtete und verstaute es umgehend in seiner Hosentasche. „Du schaust zwar, als hättest du gerade einen Welpen überfahren, aber ja, dafür sehe ich umso besser aus“, erwiderte Kid frech und setzte sich nun - so gut es mit seinen langen Beinen ging – im Schneidersitz in den Wagen. Die Straße endete in einer Linkskurve, nach welcher der Weg zu einem kleinen Abhang wurde. „Es war auch nicht gerade mein Traum, in eisiger Kälte einen verdreckten Einkaufswagen durch ein heruntergekommenes Viertel zu schieben“, warf Law dem Ganzen entgegen und konnte nicht leugnen, dass es hier an jeder Ecke nach Müll und schlimmeren Überresten roch. Kaum hatte er es ausgesprochen, da warf Kid seinen Kopf in den Nacken, grinste breit und schüttelte den Kopf: „Was ein Sonnenschein…“, feixte er sarkastisch. Law hatte die Anspielungen auf seine Laune satt - mehr als das - und so folgte er einem ersten Instinkt, umklammerte den Griff des Einkaufwagens fester, lehnte sich mit aller Kraft nach vorn und begann zu laufen. Der Abendwind strich kühl gegen sein Gesicht, ließ vor Kälte Augenflüssigkeit über seine Wangen laufen. Dennoch tat die zunehmend beschleunigte Herzfrequenz unglaublich gut. Kid kommentierte den plötzlichen Geschwindigkeitswechsel mit einem lauten: „Geile Scheiße!“, setzte sich in den Wangen auf und streckte seine Arme seitlich nach außen, wie die Träger eines Flugzeuges. Von Kids lauten Rufen angespornt, beschleunigte Law ein weiteres Mal seine Schritte, klammerte sich immer fester an den Wagen und zog in immer schnelleren Abstände die brennend kalte Luft in seine Lungen, bis seine Wangen rötlich leuchteten. Die Art und Weise wie Kid seinen Spaß mit lautem Schreien Ausdruck verlieh, entlockte Law sogar ein Lachen: Laut genug, dass sich ein Fenster hinter ihnen öffnete, aus welchem ihnen ein älterer Mann im Unterhemd diverse Beleidigungen hinterherrief. Law genoss jedes einzelne Wort, jeden kalten Windstoß und jeden schnellen Schlag seines Herzens. Es war dumm und eigentlich war er schon viel zu alt für solchen Kinderkram… Aber warum machte es ihm so viel Spaß? Sein Kopf schob es auf den Alkohol, doch eine leise Stimme in ihm wollte es einfach nur genießen. Unvermittelt wandte sich Kid plötzlich um, griff abermals Laws Mantel und zog ihn nach unten, um dem Mediziner einen Kuss auf den Mund zu drücken. Für Law kam die plötzliche Berührung ihrer Lippen so unerwartet, dass er den Griff des Wagens losließ, wodurch das Gewicht auf den Rollen nur noch von Kids Hand an seiner Jacke gehalten wurde. Er wankte nach vorn, Kid geriet erschrocken ins Taumeln und ließ zu allem Unglück auch noch seinen letzten Anker los. Eine Sekunde später rollte der Einkaufswagen die immer steiler werdende Straße hinunter und nahm zunehmend an Tempo auf. „Was soll denn der Scheiß?!“, hörte Law eine wütende Stimme aus immer größer werdender Entfernung rufen, wobei er verfolgte, wie Kid mit gekränktem Gesichtsausdruck immer kleiner wurde. Nachdem sich Law wieder gefangen hatte, versuchte er mit einem Sprint, den Wagen wieder einzufangen. „Lass dich hinfallen!“, rief er Kid hinterher, als er merkte, dass die Geschwindigkeit ein gefährliches Ausmaß annahm, sodass er wohl kaum fähig sein würde, den Einkaufswagen einzuholen. Dennoch lief er. Lief noch schneller, als er sah, worin die Straße endete. „Kid! Das ist eine verfluchte Sackgasse! Lass dich hinfallen!“ Law verfolgte entsetzt, wie der Wagen mitsamt Insassen seinem unvermeidlichen Schicksal entgegenrollte. Kid warf missbilligend die Arme in die Luft. „Arsch!“, hallte es von weitem über die Straße, dann konnte Law aus der Ferne erkennen, die sich der feuerrote Haarschopf langsam und wacklig auf dem Wagen erhob, wobei ausgetreckte Arme versuchten das Gleichgewicht zu halten. Kurz bevor die Häuserwand am Ende des Abhangs erreicht wurde, sprang Kid nach oben, der Wange kippte zur Seite, neigte sich auf den harten Asphalt und schlitterte die letzten Meter, bevor er weitestgehend gebremst gegen Beton schlug. Kid landete mit den Füßen auf dem Boden, schien durch den Schwung jedoch den Halt zu verlieren und fiel unter einem dumpfen Knall nach vorn. Als Law ihn erreichte, drehte er sich gerade wieder auf den Rücken. „Du dreckige Ratte!“, beschwerte er sich, als er erkannte, wer über ihm stand und ihm eine Hand zum Aufstehen anbot. Law lachte. Zwar wirkte es wie Schadenfreue, doch innerlich wusste er, dass es pure Erleichterung darüber war, dass dieser kleine Unfall nicht schlimmer geendet hatte. „Du hast mich überrascht“, verteidigte er sich, wartete, bis Kid seine Handflächen von kleinen Steinen befreit hatte und zog ihn nach oben. Der Geschädigte klopfte sich die Hose ab. „Ja ja…“, murmelte er dabei in aller Ironie, zuckte plötzlich zusammen, winkelte seinen rechten Arm an und begutachtete seinen Ellenbogen. Selbst in der Dunkelheit konnte man erkennen, dass der Stoff der Jacke gerissen war und sich mit einigen Spritzern Blut tränkte. Kaum hatte er die rote Flüssigkeit erkannt, stürzte sich der Mediziner in Law wie ein Vampir auf die Beute und begann den fremden Arm vorsichtig zu drehen: „Tut das weh? Kannst du das Gelenk ganz durchdrücken?“, fragte er geradezu hypnotisiert von der Verletzung. Allerdings wurde er zu seiner Enttäuschung unsanft weggeschupst. „Gemeingefährlich. Ich bleib dabei!“, wiederholte Kid, musterte Law und sorgte für angespanntes Schweigen, das sich einen Moment hielt, nur um sich in einem abermaligen Lachen der beiden jungen Männer zu lösen. Entspannung folgte auf Anspannung, Freude auf Angst, Neugier auf Misstrauen. Nachdem Kid unmissverständlich erklärt hatte, dass er Laws Finger nicht in der Nähe seines Ellenbogens haben wollte, gingen die beiden zu Fuß weiter. Aus der Sackgasse führte ein kleiner Pfad in einen Hinterhof, der mit immer noch laubehangenen Bäumen bestückt war. In der Windstille der schützenden Häuser wurde es geradezu warm. Zwar roch es immer noch verdächtig nach vergessenem Sperrmüll, doch hatte der innenliegende Garten etwas Mystisches in dieser Mondscheinnacht und Law fragte sich, ob Kid hier wohnte. Gerade als sie einen Hauseingang erreichten, drängte sich eine Frage in seine Gedanken, die der angehende Mediziner beinahe vergessen hatte. So platzte sie nur allzu unvermittelt aus ihm heraus: „Aber dann heißt das, dass du nicht mit Autos fährst, weil du Angst hast? Angst zu sterben, mein ich.“ Kid drehte sich perplex zu ihm um, dachte kurz über die Frage nach, schmunzelte und legte schließlich einen Arm um Laws Schultern. „Angst vor dem Tod zu haben, wäre genauso dumm wie Angst vor der Geburt“, erklärte er und überflog die Klingelschilder. „Ich habe keine Angst zu sterben. Ich will’s einfach noch nicht, weißt du? Ich hab noch was vor.“ Law hob verwundert die Augenbrauen, sah in Kids ausdrucksloses Gesicht und versuchte dessen Gedanken nachzuvollziehen. Kid drückte auf eine Klingel. Schweigend warteten sie einige Sekunden, doch nichts geschah. „Ich dachte, du wolltest zu dir nach Hause. Warum musst du klingeln?“, fragte Law nachdenklich und verfolgte, wie Kid ein weiteres Mal auf den weißen Kopf der Anlage drückte. Die Tür vor ihnen war alt und aus Holz, ihre grüne Lackierung blätterte an vielen Stellen ab. Eines der vier Fenster in der Rahmung war bereits zerbrochen. „Ich meinte auch ‚nach Hause‘. Habe ich behauptet, dass es meine eigene Wohnung ist?“, entgegnete ihm Kid schließlich, wurde ungeduldig und klingelte mehrere Male hintereinander. Law war zunächst wenig überrascht, schließlich hatte er sich ohnehin gefragt, wie sich der Rotschopf eine eigene Wohnung leisten wollte, doch überkam ihm beim zweiten Gedanken ein ungutes Gefühl. Das hier war ganz sicher keine Einrichtung für ehemalige Straftäter… Wer also würde diesen Irren bei sich wohnen lassen? Erschrocken wollte er mit einem Schritt nach hinten weichen, doch wurde er von Kids Arm in einer geradezu liebevollen Geste aufgehalten. Nach einem ewig andauernden Klingelsturm rauschte es mit einem Mal aus der Gegensprechanlage. „Verpiss dich“, nörgelte eine verschlafene Stimme, verzerrt von uralter, zerfallener Technik. Kid gluckste vergnügt: „Ich hab dich auch lieb.“ Das Rauschen verstummte und wurde gefolgt von Stille. Nichts geschah, also drückte Kid weitere Male den weißen Kopf, bis die Anlage wieder aktiviert wurde. „Alter! Es ist kalt!“, drängte er. Law blickte während des Geschehens entsetzt auf die kleinen, dunkeln Rillen der weißen Plastikabdeckung über den Klingelschildern. „Fick dich“, schloss die mechanische Stimme und beendete die Unterhaltung. Die Eingangstür wurde unter einem leisen Summen geöffnet. Laws Herz setzte mit eben diesem Ton aus. Panisch blickte er auf die Tür, die Kid mit leichtem Gegendruck öffnete. Trotz der Verzerrung hatte er direkt erkannt, wer gerade mit ihnen gesprochen hatte; wer in dieser Wohnung auf ihn wartete. Er schluckte trocken. Warum hatte er nicht gleich damit gerechnet, dass Kids „zu Hause“ bei niemand anderem sein konnte, als bei diesem psychopathischen Killer…? ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)