Die Rosen von Malfori von Verlest ================================================================================ Kapitel 1: Die Geweihte ----------------------- Dunkelrot glänzte die Flüssigkeit in dem klaren Kristallglas im Licht der Kerzen, die den Raum an verschiedenen Stellen beleuchteten. Eine Öllampe erhellte den Arbeitsbereich auf dem dunklen Schreibtisch aus massivem Holz. Die Schnitzereien wirkten im flackernden Kerzenlicht besonders interessant, aber er hatte jetzt keinen Blick dafür. Er stellte gerade ein zweites Glas auf den Tisch und füllte dieses ebenfalls. Dann platzierte er es auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches, schob seinen Stuhl zurecht und sah noch einige Dokumente durch, während er auf den bestellten Besuch wartete. Er wollte die Wartezeit auf keinen Fall durch Untätigkeit verschwenden“. Und wie er seinen Gast einschätzte, würde er sich auf eine gewisse Wartezeit einstellen müssen. Sie würde sich sicherlich nicht besonders beeilen zu ihm zu kommen. Sie hasste es zu ihm bestellt zu werden. Sie hasste seine Art sie und alle anderen wie Dienstboten zu betrachten, sie hasste seinen Mangel an Respekt und seine Arroganz. Und auch dieses Anwesen allein wollte sie schon in den Wahnsinn treiben. Kaum hatte sie es betreten, verfolgten sie drückende Kopfschmerzen, die ihre ohnehin schon schlechte Laune nur weiter drückten. Und sie war sich sicher, dass er all dies wusste, da sie es nicht unterlassen hatte ihm bei ihrer letzten Begegnung all dies vorzuwerfen. Und trotzdem hatte er die Unverfrorenheit besessen sie herzubestellen, als wäre sie eine weitere seiner Untergebenen. Sie verkrampfte die schlanken Finger um das gesiegelte Papier mit seiner höflich formulierten, aber sehr eindeutigen Anweisung aus der sie nur einen weiteren Beweis seiner Arroganz zog. Ihrer Meinung nach hatte sie ihm bereits deutlich gemacht, was sie von ihm hielt und der Vorstellung jegliche Art der Arbeit für ihn zu verrichten, mochte sie geartet sein wie sie wollte. In ihrer Rolle als Klerikerin der Sehanine fühlte sie sich keinem weltlichem Herrscher verpflichtet, nicht einmal dem Regenten in ihrer eigenen Heimat. Noch weniger also dem Fürsten von Malfori, mochte dieser Hegemon sein so viel er wollte. Die persönliche Abneigung die sie ihm gegenüber aufgebaut hatte, festigte diese Haltung nur. Hätte sie sich nicht durch die Eskorte die eines Tages an ihrem Elternhaus auftauchte genötigt gefühlt mitzugehen, wäre sie gar nicht erst hier. Die livrierten Dienstboten huschten mit ausgesuchter Höflichkeit an ihr vorbei und begrüßten sie freundlich an jeder Türe, die sie zu passieren hatte. Doch hatte sie den Raum erst einmal verlassen, sahen sie sich gegenseitig fragend an. Es kam nicht oft vor, dass eine Klerikerin mit mühsam versteckter Wut an ihnen vorbei zum Fürsten wollte. Und wenn, dann waren diese Kleriker nicht auf Einladung hier. Leise kratzte die Feder auf dem Papier, auf dass er noch schnell eine Unterschrift setzte, bevor er es mit einigen anderen erledigte Papieren zur Seite räumte. Zufrieden bildete er einen akkuraten Stapel und widmete sich dann einigen anderen Akten. Es herrschte eine Ordnung in diesem Raum, die sich auf sein ganzes Fürstentum erstrecken sollte. Und er war guter Dinge, dass dieser bestehenden Ordnung in Zukunft noch geordnetere Verhältnisse in angrenzenden Fürstentümern folgen sollten. Er beabsichtigte heute Nacht ein paar Hindernisse mehr auf diesem Weg beiseite zu räumen und einiges in die Wege zu leiten. Glücklicherweise wurden die Nächte im Herbst wieder länger und er hatte mehr seiner kostbaren Zeit, nicht nur um sie darauf zu verwenden. Er stand auf und schenkte sich selbst nach. Seine grünen Augen fixierten ruhig das gegenüberliegende Glas, dass noch immer unangetastet an seinem Platz stand. Wie gedacht ließ sie auf sich warten. Doch da er das bereits einkalkuliert hatte, war er nicht erbost über diese Verschwendung seiner Zeit. Er folgte seinen Tages-, bzw. Abendgeschäften wie gewohnt. Man würde ihn schon wissen lassen, wann er seinen bestellten Gast dazwischen schieben konnte. Kaum hatte er sich gesetzt um eine Korrespondenz in Augenschein zu nehmen, klopfte es ungewohnt zaghaft an der Tür. Er rief seinen vor der Tür postierten Dienstboten herein um ihn zu fragen was los sei. Ein wenig unsicher trat dieser ein und schloss die Türe hinter sich. „Herr, draußen steht eine Klerikerin die ein wenig...wütend wirkt.“ „Hildegard von Weyersdorf?“ „Ja, das sagte sie.“ bestätigte der Diener, dem die fremde Frau vorhin nur ihren Namen entgegen geworfen hatte. Zu Höflichkeiten sah sie sich vor seiner Türe nicht mehr im Stande. „Na dann schick sie rein.“. Der Hausangestellte nickte und verließ den Raum. Wenn sein Herr diese Frau zu sehen wünschte, würde das schon stimmen. Er hielt der Geweihten die Tür auf, die an ihm vorbei in das Arbeitszimmer rauschte. Das Symbol ihres Glaubens stolz an einer Kette auf ihrer Brust liegend. Statt ihrer üblichen metallenen Rüstung trug sie ein mit Stickereien verziertes, weißes Kleid, dass die Symbolik ihres Glaubens in der Ornamentik weiterführte. Er verstand was sie ihm durch diese Zurschaustellung sagen wollte und lächelte. Er wies ihr mit der Hand den Platz gegenüber zu. „Hildegard, schön, dass du es einrichten konntest. Hattest du eine angenehme Reise?“ erkundigte er sich höflich. „Ja, eine äußerst angenehme Reise in Begleitung einiger Soldaten.“ gab sie sarkastisch zurück und blieb demonstrativ vor seinem Schreibtisch stehen. „Ich habe extra meinen Hauptmann geschickt um dich zu begleiten.“ entgegnete Victor von Malfori, der es als besondere Aufmerksamkeit betrachtete, dass er sogar seinen Hauptmann für eine niedere Aufgabe wie das Eskortieren freigestellt hatte, obwohl er woanders bessere Verwendung für ihn gehabt hätte. „Ja, weil Ihr wusstet, dass ich jeden außer Elaril aus dem Haus gejagt hätte.“ Mit dem Hauptmann verband sie eine besondere Freundschaft, da sie Elaril vom Eiswasser immer hoch anrechnen würde, dass dieser ihr rückhaltlos vertraut und mehr als einmal sein Leben wegen ihr aufs Spiel gesetzt hatte. Weshalb sie ihm jeden Gefallen tun würde, sogar in Begleitung einer Eskorte aus Malfori zu deren Fürsten ziehen, wenn das halbe Dorf es mitbekam. Ihre armen Eltern.. Er hob das Glas an seine Lippen und trank einen Schluck. Weshalb begegnete sie ihm nur immer mit einer solchen Feindseligkeit? Zu den kopflosen Fanatikern die immer mal wieder versuchten ihn zu exorzieren, gehörte sie offensichtlich nicht. „Um auf die in meiner Einladung erwähnte Sache zu sprechen zu kommen...“ doch sie unterbrach ihn barsch mitten im Satz. „Einladung? Bitte? Das war eine Vorladung ohne Angabe von plausiblen Gründen!“ Er setzte sich gerade auf und sagte ruhig zu ihr: „Es handelte sich lediglich um die Bitte zu einem persönlichen Gespräch zu erscheinen. Außerdem erwähnte ich bereits, dass ich dir einen Vorschlag unterbreiten möchte. Und es ist deutlich effizienter so etwas persönlich zu besprechen, als es in seitenlangen Briefen auszuweiten. Das vergeudet nur unnötig Zeit. Wieso also nicht das Ganze bei einem Glas Wein“ und er deutete auf das Glas auf der gegenüberliegenden Seite seines Tisches, an dem sich Hildegard von Weyersdorf nach wie vor weigerte Platz zu nehmen, „in gemütlicher Atmosphäre besprechen.“ „Gemütliche Atmosphäre.“ Sie entrang sich ein trockenes Lachen. „Aber sicher Fürst.“ Mit Sicherheit konnte nur jemand wie er ein Haus, dass solche Kopfschmerzen verursachte als gemütlich empfinden. In Gedanken fügte sie einen weiteren Punkt ihrer Liste an Dingen die sie an ihm hasste hinzu. Sie hasste es, dass er sie ungefragt duzte. Konsequent blieb sie bei einer distanzierten Anrede und perfektionierte sogar die Angewohnheit das Wort Fürst wie eine Beleidigung klingen zu lassen. Mit einem innerlichen Seufzen stand Victor von Malfori auf und sah die junge Frau in seinem Arbeitszimmer an. Manchmal amüsierte ihre permanente Kratzbürstigkeit ihm gegenüber ihn, aber im Moment kamen sie einfach nicht weiter so. Sie sah in seine grünen Augen, hinter denen sie immer auch das Raubtier erkennen konnte, das er war. Sie verstand einfach nicht, ob andere nicht sehen konnten was sie sah, oder ob sie einfach kein Problem damit hatten wie Eigentum eines Wesens behandelt zu werden, dass aufgrund physischer Überlegenheit einen Anspruch geltend machte, dem alle Welt sich einfach fügte. Sie würde sich nicht einfach fügen, auch wenn das in der Welt des Victor von Malfori keinen Unterschied machen würde. Aber für sie machte es etwas aus. Er verstand diese Frau einfach nicht. Sie hatte ihm nicht wirklich etwas entgegen zu setzen und trotzdem verhielt sie sich angriffslustig. Und das seltsamste daran war, dass ihr bewusst zu sein schien wie aussichtslos ihr Drohgebaren eigentlich war. Wie als ob ein einzelnes Schaf in der Herde den Wolf in ihrer Mitte würde angreifen wollen, während alle anderen Schafe ihrem naturgegebenen Fluchtinstinkt folgten. Hildegard schien ein gesundes Maß an Furcht einfach zu fehlen. Und irgendwie faszinierte ihn dieses widernatürliche Verhalten dieses Menschen. Mit geschmeidigen Schritten ging er langsam auf die Geweihte zu, die ihn dabei fixierte ohne zurückzuweichen. Das künstliche Licht ließ seine hellblonden Haare in einem warmen Goldton erscheinen, der dem Ton ihrer Augen ähnelte. „Warum so biestig, Hildegard?“ fragte er sie. „Passend im Umgang mit einem Biest.“ gab sie fast fauchend zurück, da sie sich allein durch seine bloße Nähe bedroht fühlte. „Oder irre ich mich etwa, wenn ich euch als Raubtier beschreibe, Fürst?“ „Keineswegs“, gab Victor zurück, trat aber nicht näher. Einen Moment lang wirkte es sogar, als habe er bei ihren Worten zurück gezuckt, aber das konnte nicht sein, wusste Hildegard, das war sicher nur das Spiel der flackernden Öllampen auf seiner hellen Haut gewesen. Wieso auch sollte der Fürst von Malfori, der mächtigste Dämon der Reiche, vor ihr zurückweichen? Hildegard hatte großes Vertrauen in ihre Göttin, aber das hier war unwahrscheinlich. Aber sie musste es nochmal versuchen, um Gewissheit zu erlangen. „Ihr könnt wohl kaum erwarten, dass ich nett zu einem Monster bin.“ Diesmal gab es kein Vertun, sie hatte zu genau darauf geachtet, wie er ihre Worte aufnahm. Und tatsächlich sah Victor aus, als habe sie ihn geschlagen. Entsetzt. Und getroffen. Für einen Moment schlug er den Blick nieder und zog sich dann auf seine Seite des Schreibtisches zurück. Mit Staunen beobachtete Hildegard diese Reaktion. Sollte es möglich sein, dass sie tatsächlich etwas gegen ihn in der Hand hatte? Victor verfluchte sich innerlich. Hildegard wehrte sich quasi mit Händen und Füßen gegen ihn und er hätte nicht vergessen dürfen, dass das – für sie – kein Spiel war. Nur weil sie keine Angst zeigte oder hatte bedeutete das nicht, dass ihre absolute Abneigung nicht ernst zu nehmen war. Mit erzwungener Ruhe setzte er sich wieder auf seinen Stuhl und legte die Hände auf die dunkle Tischplatte. „Womit genau habe ich dir Grund gegeben, mich als Monster zu sehen?“ „Oh, bitte“, was sollte das denn für eine Frage sein? Als hätte sie ihm das nicht schon tausendmal vorgeworfen, seine Art, Menschen wie Schachfiguren zu benutzen, ihnen seinen Willen aufzuzwingen. „Ihr habt absolut keinen Respekt vor den Menschen oder dem Leben!“ „Ich hatte gehofft, ich wäre noch auf der Seite von arroganter und machtbesessener Tyrann, aber noch nicht bei Monster“, bekannte Victor leise und mit einem schiefen Grinsen. Was wie ein lockerer Scherz klingen sollte, erkannte Hildegard recht eindeutig als wenig gelungene Defensive. Und gerade das nahm ihr den Wind aus den Segeln. „Der machtbesessene Tyrann war euer eigener Vorschlag, nur das arrogant stammte von mir, wenn ich mich recht erinnere...“ Mit einem frustrierten Gesichtsausdruck zog sie den Stuhl zurück und ließ sich hinein fallen. „Und was sollte ein arroganter und machtbesessener Tyrann nun von mir wollen? Wenn er sich nicht gerade mit irgendwelchem Papierkram beschäftigt?“, mürrisch zerrte Hildegard einen Zettel aus dem sorgfältig aufgeschichteten Papierstapel und brachte die darüber liegenden Blätter damit dazu, sich als Papierlawine über den Schreibtisch, und hätte Victor nicht blitzschnell reagiert, auch über den Boden zu ergießen. Während Victor seinen Stapel wieder zusammenschob, überflog Hildegard das Blatt. Anstelle eines Todesurteils oder etwas entsprechend tyrannischem handelte es sich allerdings nur um lange Zahlenreihen, die Gegenrechnung einer Steuerliste. Victor musste ihren Gesichtsausdruck gelesen haben, denn nachdem er sich ein bisschen gesammelt hatte, fragte er mit einer hochgezogenen Braue „Zu langweilig?“ „Puuuh...“ sie starrte noch einmal auf die trockenen Zahlenreihen. Lange Textabhandlungen zu irgendwelchen Themen las sie ja gern, aber Steuerrechnungen? Sie legte das Blatt gelangweilt wieder oben auf den von Victor soeben sorgfältig wieder aufgeschichteten Blätterstapel, keinen Gedanken daran verschwendend, dass sie möglicherweise soeben die gesamte Sortierung durcheinandergebracht haben könnte. „Ich könnte mir tatsächlich spannenderes vorstellen, ja. Zum Beispiel die Frage, warum ich hier bin.“ „Und ich mir die Frage, warum du mich so hasst.“ entgegnete er. Sie sah ihn verbittert an. „Ihr versteht mich wirklich nicht, oder?“ Ruckartig stand sie auf und trat um den Schreibtisch herum. „Versteht ihr denn die Menschen, über die ihr euch erdreistet herrschen zu wollen? Habt ihr wirklich eine Ahnung von ihrem Leben? Oh, ich wünschte ihr könntet das sehen, was ich gesehen habe!“ „Nun, da gäbe es vielleicht einen Weg...“, meinte Victor mit einem Schmunzeln, das deutlich Hintergedanken verriet und setzte dann, sich in seinem Stuhl zurücklehnend, hinzu: „Verstehst du die Menschen? Und selber einer zu sein ist eine erbärmliche Qualifikation. Verstehst du dich selbst? Immer? Ich hatte... ein paar Jahre mehr als du, um Menschen zu studieren und was ich gesehen habe, willst du nicht sehen. Neid, Missgunst, Herrschsucht und nicht gerade wenig mangelnde Weitsicht.“ Tatsächlich hatte er bei manchen Menschen das Gefühl, sie würden, wenn sie mit der Leiter 99 von 100 Äpfeln erreichen könnten, den Baum fällen um den letzten auch zu pflücken. Und sich im nächsten Jahr wundern, wieso es keine Äpfel gibt. Mit einem leisen Seufzen schob er das Blatt, das Hildegard völlig aus der Ordnung gerissen und oben auf den Stapel gelegt hatte, so zur Seite, dass er es später nicht für einen – eingeordneten – Teil des Stapels halten konnte. „Aber um zu deinem emphatischen Ausruf zurück zu kommen“, der Fürst machte eine kleine Kunstpause, um Hildegards kaum verhohlenen Ärger zu studieren, bevor er fortfuhr, „wäre es mir tatsächlich möglich, dir diesen Wunsch zu erfüllen. Mit deiner Erlaubnis, versteht sich.“ Das Gefühl, das diesen Worten folgte, war nicht per se unangenehm, aber durch und durch seltsam. Als würde etwas unsichtbares sich vorsichtig, wie ein Finger, den man jemandem auf die Schulter legt, um dessen Aufmerksamkeit zu gewinnen, sich von außen an Hildegards Geist legen. Die Präsenz berührte sie nur minimal, übte keinerlei Druck aus und, das konnte Hildegard instinktiv sagen, zog weder Informationen aus diesem Kontakt noch gab sie welche Preis. Aber die Möglichkeit, das zu ändern, schwang bereits darin mit. Hildegard atmete tief durch und versuchte sich zu entspannen. Personen in ihren Geist eindringen zu lassen, war ihr neu und sie fühlte sich nicht gerade wohl damit, dass ausgerechnet Victor der erste sein solle, dem sie es erlaubte. Aber da sie es schließlich vorgeschlagen hatte, wollte sie nun auch keinen Rückzieher mehr machen. Sie versetzte sich also zurück zu dem Zeitpunkt, als sie mit Alarik und Dvalinn fast vom durchgegangenen Pferd des verletzten Missus überrannt wurde. Dann sah sie dessen Tod noch einmal mit an, folgte dem Weg und bestattete mit den Jungs die gefallenen Ritter. Darauf folgte der Besuch in Malfori, um den Leichnam von Rodenwalds zu überführen. Dann reisten sie nach Khazad-Mirr. Sie erinnerte sich an die bösen Vorahnungen, als sie die Gebissabdrücke fanden, das Grauen, als die ersten Untoten sie überfielen, an die Nächte die sie sich mit der stinkenden Leiche des toten Zwergenpriesters im entweihten Tempel der Mine verschanzt hatten, die ständigen Geräusche, das drückende Dunkel und der ewige Verwesungsgeruch, der über allem lag. Daran, wie sie dort zweifelten die Mine alle lebend wieder verlassen zu können. Sie sah noch einmal den grausigen Beschwörungskreis hinter dem absoluten Dunkel, die verzerrten Gesichter der Toten und erlebte die Angst um Alarik noch einmal durch, der ohne die Hilfe Rodericks fast zu einem Ghul geworden wäre. Dann sahen sie beide wieder Roderick, als er den fast toten Elaril aufgelesen hatte. Hildegard saß von Selbstvorwürfen gebeutelt an dessen Bett und hielt seine Hand, ohne dass er reagiert hätte. Dann machte sie einen Sprung nach Ragnaron, wo sie sich als Mann verkleidet mit Dvalinn und Alarik von einer Miliz anheuern lassen sollten. Etwas, was sie wiederum Victor vorwarf, der sie alle erpresst hatte um genau dies zu erreichen. Sie sah die ganzen verlassenen Stätten, die verhungernden Dörfer und die Gebeutelten des zu lange währenden Bürgerkrieges wieder. Wieder saßen sie auf ihren Pferden, sahen von dort die Spur der Verwüstung, die sich durch das karge Land zog, vereitelten den Überfall auf ein Dorf und landeten schließlich in der richtigen Miliz. Dort verhalfen sie einem schwächelnden Jungen zur Flucht und verbrachten schließlich als ausgebildete Einheit mit einigen Männern eine schreckliche Nacht im Schutze einer Hütte, als diese abscheulichen Konstrukte die untoten Höllenhunden ähnelten sie anfielen. Dann sah man wie sie Männer um sich scharten und eine Ansprache hielten in der Gewissheit, dass womöglich nicht alle von ihnen sich am Ende wieder sähen und ließen sich im Gewölbe mit den Untoten einmauern. Hildegard hatte nicht nur Sorge um die zivile Bevölkerung, sondern auch um die Männer und Frauen die ihr gefolgt waren um vielleicht hier ihr Ende zu finden. All diese Leute, egal ob Milizionäre, Kleriker oder Zwerge setzen hier ihr Leben für andere ein. Sie selbst hatten schon in Khazad-Mirr mehrmals mit dem eigenen Leben abgeschlossen und erwarteten für sich nichts mehr. Es folgten einige unschöne Kontakte mit ihr meist unbekannten Untoten, die für sie recht glimpflich verliefen, bis sie am Ende in der Höhle des Zehrers standen. Diesen Kampf überlebten sie nur knapp, doch für die früher gekommenen Kameraden war es zu spät, sie konnten nur noch die übrig gebliebenen Leichenteile zusammen räumen. Dann raffte sie fast der nächste Untote dahin, doch sie kamen irgendwie lebend davon und standen am Ende wieder im Lager der Milizen und zählten die Überlebenden. Danach war ihr jedes einzelne Leben so wertvoll erschienen, dass sie selbst dem Anführer der Miliz nicht den Tod wünschen konnte, woraufhin sie mit Strategie und grober Beeinflussung die ganze Miliz übernahmen und alle Männer nach Hause schickten, sie sollten sich um ihre Familien und Dörfer kümmern, oder welche Gründen. Das Land war ausgeblutet genug. Als letztes sah man sie alle noch einmal durch Ragnaron reiten, wo sie immer wieder Bäume sahen, die mit den sterblichen Überresten von Männern behangen waren. „Ich weiß, dass nicht alle meinem Rat gefolgt sein werden. Aber zu diesem Zeitpunkt erschien mir jedes menschliche Leben zu wertvoll, um ein frühes Todesurteil darüber fällen zu können. Ich wollte den besseren unter ihnen eine Chance geben.“ Victor verfolgte die Bilder, die Hildegard ihm zu sehen gab, sehr aufmerksam.Obwohl er versuchte, möglichst wenig von seinen Empfindungen in ihren Geist fließen zu lassen, spürte sie zunächst eine gewisse Ungeduld, dann, als die Bilder der untoten Gegner eindringlicher wurden, vor allem, dass Victor diese Kreaturen abstoßend fand. Die sentimentalen Passagen schienen völlig an ihm vorbei zu gehen, anders dagegen die Schilderung der Not in Ragnaron. Während dieser Bilder spürte sie, dass der Fürst, in ihrem Kopf zumindest, deutlich aufmerksamer war. Aber auch besser darauf achtete, seine Gefühle dazu nicht bis zu ihr hinüberschwappen zu lassen. Victor saß ihr noch immer entspannt gegenüber und musterte sie aufmerksam. Er war es gewohnt, einen Teil seiner Gedanken auf diesen mentalen Bahnen zu bewegen und gleichzeitig seinen physischen Körper zu steuern. „Die Idee, dass jedes dieser Leben kostbar, unendlich kostbar ist, ist sicher...“, Victor legte den Kopf schief und suchte nach einem Wort, das 'richtig, aber nicht ausreichend' zusammenfasste. Schließlich behalf er sich mit „Gut gemeint. Aber du wirst sicher verstehen, dass ich als Fürst gezwungen bin, andere Wertungen mit in die Gleichung zu nehmen.“ Über die noch immer bestehende Verbindung, aber auch an Hildegards Gesichtsausdruck konnte Victor deutlich erkennen, dass diese Wortwahl wenig geeignet war, die Klerikerin zu besänftigen. Nicht nur, dass er sie und ihre Freunde wie Schachfiguren hin und her schickte, offenbar waren Menschenleben für ihn auch noch Zahlen auf einer Liste, in einer Rechnung um den größtmöglichen Gewinn. Victor schüttelte andeutungsweise den Kopf und im nächsten Moment formten sich vor Hildegards geistigem Auge neue Bilder, Bilder wie Träume oder Erinnerungen, aber nicht ihre eigenen, sondern Bilder die der blasse Fürst ihr zu sehen gab. Männer, die dem Rosenbanner in die Berge von Ragnaron folgen. Männer, für die er verantwortlich ist, die „sein“ sind. Er kennt die Namen der höheren Offiziere und weiß bei den meisten auch, ob sie Familie haben. Mattheus von Rodenwald, Witwer, zwei unverheiratete Töchter. Dörfer voller ängstlicher Frauen, ein paar hungernde Kinder, Greise. Sein. Er ist hier, um durchzusetzen, dass die Grenze dessen, was unter seinem Schutz steht, fortan Ragnaron miteinschließt. Roderick, der ihn an der Schwelle abweist, als er sich für die Heilung Elaril's bedanken will. Versorgungswagen, die in stetem Zug aus der fruchtbaren Ebene ins Felsengebirge rollen. Was sein ist, soll in diesem Winter nicht verhungern. Das, was sein ist zu schützen, erfordert aber auch eine deutliche Trennung. Die letzten verstreuten Milizen, Heckenschützen, Partisanen erfahren keine Gnade. Er ist kein Gott, vor dem alle Menschen gleich sind, als Fürst hat er die klar umrissene Aufgabe sein Land und seine Leute zu schützen. Das Leben der versprengten Milizen muss ihm weniger wert sein als das seiner Leute, als dass der Menschen in den Dörfern,denen diese Männer mit Waffengewalt die Lebensmittel fortnehmen könnten, die sie durch den Winter bringen sollen. Ihr Geist folgte diesen Bildern aufmerksam, doch ihr Körper reagierte weniger kontrolliert. Sie kannte das Gefühl Verantwortung für andere zu tragen, wenn auch in deutlich kleinerem Maßstab. Als sie sah wie Roderick Victor brüsk abwies, konnte sie ein Grinsen nicht unterdrücken. So war Roderick eben. Sie dachte an all die kleinen Konfrontationen zwischen ihnen beiden. Vermutlich war Roderick Victor gegenüber fast netter als zu Frauen. Doch zu fast allem anderen nickte ihr Kopf unbeabsichtigt, nur ganz leicht. Es waren Bilder die sie verstand. Sie glaubte zumindest ihn jetzt ein wenig besser verstehen zu können, wenn wohl auch nicht umgekehrt. Dass der Fürst, dessen Möglichkeiten nicht so limitiert waren wie die ihren zumindest eine Verantwortung für das Gros der Menschen spürte, diejenigen die er „sein“ nannte, beruhigte sie schon. Sie wollte Leben nur nicht als abstrakte Zahlen sehen. „Vielleicht habt ihr ja kein Verständnis für mich als Person. Aber ansonsten sind wir gar nicht so unterschiedlich, Fürst.“ flüsterte sie. „Und ihr seid vielleicht stärker, älter und erfahrener. Aber im Grunde genau so sterblich wie wir Menschen und auch nicht von Fehlern frei. Ist das nicht irgendwie beruhigend?“ Sie lachte leise. Dann sah sie ihn direkt an. „Mich zumindest beruhigt es.“ Ein leichtes Lächeln lag jetzt auf ihren Lippen, anstelle des unverhohlenen Zornes der vorher ihr Gesicht ungemein schlechter zierte. Sie wollte sich zum Gehen wenden. „Ich danke für das aufschlussreiche...Gespräch. Ich bin froh zu wissen was ich jetzt weiß. Und keine Sorge wegen Roderick, das war nichts persönliches. Der ist immer so. Er ist nicht wie die anderen, die nur Angst vor euch haben. Aber das muss ich euch ja nicht erzählen, das wisst ihr auch so.“ Hildegard machte eine wegwischende Handbewegung. „Immer wieder erlebe ich, wie ablehnend Menschen sich verhalten, wenn sie sich Fürchten. Die Fürchten sich schon von mir! Als ob ich ihnen was tun würde, ist das nicht lächerlich? Da kann man schon froh sein, wenn sich einer ablehnend verhält, weil er wirklich ein persönliches Problem hat. So wie ich mit euch.“ Sie lachte. „Oh, das hätte ich fast vergessen..“ ihr Blick wanderte zum unangetasteten Wein auf der anderen Seite des Tisches, ihres Glases mit Wein. Jetzt hätte sie wohl doch gerne einen Schluck gehabt. Sie sah Victor von Malfori wieder an, während sie noch vor ihm stand. „Ich denke ihr wollt mir nicht gerade die Hand zum Abschied geben, aber ich hoffe, dass wir uns nicht so bald wiedersehen, damit wir auch nicht so bald wieder aneinander geraten.“ Dabei legte sie ihm die Hand locker auf die Schulter. „Oh und eins noch. Ich würde es vorziehen, wenn ihr mich nicht einfach ungefragt Duzen würdet. Gehabt euch wohl, Victor.“ Dann schritt sie um den Tisch herum, griff nach dem Glas Wein und trank aus. Victor hatte sich ihren etwas sprunghaften und, wie er fand, teilweise von durchaus nicht zulässigen Annahmen durchsetzen Monolog schweigend angehört und immer, wenn er hatte einhaken wollen, den Mund wieder geschlossen, weil Hildegard, offenbar unter dem Einfluss der neuen Eindrücke ein bisschen aufgekratzt, gleich weitergeplappert hatte. Und er hätte sie, an so einen Redeschwall nicht wirklich gewöhnt, beinahe auch wortlos gehen lassen, hätte sie ihm nicht die Hand auf die Schulter gelegt. Diese einfache, unbedachte Berührung jagte einen Schauder über Victors Haut. „Darf ich euch noch eine Frage stellen, bevor ihr geht, Fräulein?“, wandte er dann mit ausgesuchter Höflichkeit ein, als sie das leere Weinglas wieder auf den Tisch stellte. Ein Teil von ihm zuckte zusammen. Der Wein war älter als sie und sie stürzte ihn herunter wie Wasser. Es lohnte wirklich nicht, für Menschen etwas besonderes aufzufahren. „Ich sehe, ihr macht euch eine ganze Reihe von Gedanken, aber ich bin mir nicht sicher: Hört ihr die auch, wenn ihr sie nicht aussprecht?“ „Wie bitte?“ Sie sah den plötzlich so ungewohnt höflichen Fürsten aus großen Augen an. Jetzt war sie doch schon so gut wie aus dem Zimmer verschwunden, womit wollte er sie denn nun schon wieder ärgern? Wollte er sie aufziehen? „Wie meint ihr das?“ „Ich meine“, Victor deutete ein Lächeln an und offensichtlich wollte er sie aufziehen, auch wenn sein Blick ganz offen und ehrlich wirkte, ein intensives Edelsteingrün, das sie keinen Moment aus den Augen ließ, als er ihr Weinglas aus der Karaffe nachfüllte, „dass ihr ohne Punkt und Komma redet. Bei einem anderen Kleriker hätte ich das ja auf den Beruf geschoben, deren Predigten hört außer ihnen selbst ja selten jemand zu, aber ich habe mir sagen lassen, die Kirche Sehanines sei nicht so sehr von der predigenden Fraktion. Mehr Wein?“ Mit Mühe versuchte sie ein Schmollen zu unterdrücken. „Danke. Ihr hättet auch direkt sagen können, dass ich zu viel rede. Aber wenigstens seid ihr ehrlich. Ich wüsste wie ihr wunderbar Gespräche mit mir vermeiden könntet: Ladet mich nicht vor.“ Sie überkreuzte die Arme. „Was wollt ihr eigentlich, außer mich aufziehen, meinen Stand beleidigen, meine Rasse kritisieren....?“ Doch sie konnte sich nicht verkneifen einen kurzen, leidenden Seitenblick auf das aufgefüllte Weinglas zu werfen. Immerhin hatte sie sich soeben bemüht den guten Wein so schnell sie konnte zu leeren, damit sie endlich gehen konnte. Natürlich könnte sie ihn auch stehen lassen... aber das wäre doch auch eine Form von Verschwendung. Wenigstens den Wein hätte sie sich als Belohnung dafür verdient extra den ganzen Weg aus Verlest hergekommen zu sein. „Setzt euch, Hildegard. Eure Rasse, die ich keineswegs beleidigen wollte, ist nicht so kurzlebig, dass ihr den Wein nicht auch im Sitzen trinken könntet.“ Victor machte eine halb gelangweilte, halb einladende Handbewegung in Richtung des gepolsterten Stuhles, der auf der anderen Seite des Schreibtisches stand. „Ich habe euch gebeten herzukommen. Vorladungen sehen anders aus. Falls der Unterschied trotzdem nicht klar geworden ist, bitte ich das vielmals zu entschuldigen. Immerhin sprecht ihr aus, was ihr denkt, ihr glaubt nicht, wie dankbar ich euch dafür bin. Die Zahl der Menschen, die das in diesem Zimmer und in meiner Anwesenheit tun, ist bedauerlicherweise äußerst gering. Also...“ Victor hob seinen eigenen Pokal, in dem auf den ersten Blick die gleiche dunkelrote Flüssigkeit schwappte und prostete der Klerikerin zu, „ich danke dir.“ Hildegard seufzte, aber griff nach dem Weinglas und setzte sich hin. Immerhin kam sie so in den Genuss von noch etwas mehr von diesem Wein. Sollte Victor sich doch jetzt einmal aussprechen, sie war vorerst fertig. Vielleicht würde sie einfach dort sitzen, trinken und abwarten. Und...hatte er sich etwa gerade bei ihr entschuldigt? „Passt lieber auf was ihr sagt, Victor. Der Ältere bietet das Du an. Und wenn ihr so weiter macht, bin ich mir sicher dieses Angebot von euch gehört zu haben.“ Sie überschlug die Beine und lehnte sich mit einem Lächeln entspannt zurück. „Ich hätte nie gedacht eine Entschuldigung aus eurem Munde zu hören. Aber immerhin wart ihr schon bereit mir zuzuhören und sogar zu antworten und selbst Stellung zu beziehen. Also sollte ich euch wohl ebenfalls eine Chance geben euch auszusprechen, oder?“ „Wieso sollte ich mich aussprechen wollen? Das sieht am Ende noch so aus, als müsste ich mich vor Dir rechtfertigen“, Victor betonte die vertrauliche Anrede mit einem Zwinkern. „Aber du willst vermutlich wissen, wieso ich dich hergebeten habe. Ich hatte gehofft, nachdem du, und deine Freunde natürlich auch, dich als so... findig erwiesen hast in Ragnaron, dass du eventuell bereit wärst, noch eine kleine Aufgabe für mich zu übernehmen.“ Sie seufzte theatralisch und nahm erst in Ruhe einen Schluck Wein, bevor sie antwortete. „Victor, ich bin weder ein Söldner, noch ein Laufbursche. Ich dachte so weit hätte ich mich mittlerweile deutlich gemacht.“ Dann stützte sie sich auf den Schreibtisch auf und lehnte sich vor. „Und rechtfertigen...ist es nicht etwa das, was du vorhin getan hast? Also was für eine Aufgabe ist es, wegen der ich hergebeten wurde?“ „Das? Nein, das war mehr eine Erklärung, keine Rechtfertigung“, Victor machte eine wegwischende Handbewegung und nippte an seinem Glas, lehnte sich sogar entspannt in seinem Stuhl zurück, während er die über seinem Schreibtisch aufgebaute Hildegard musterte. „Und du wirst mir doch sicher zustimmen, dass Söldner und Laufbursche sehr engstirnige Kategorien sind, oder? Jeder Ritter ist ein Söldner und jeder Missus Dominici ein Laufbursche. Was sich ändert ist nur die Bezahlung und die Bedeutung der Botschaften.“ Hildegard von Weyersdorf lachte. Und ob das eine Rechtfertigung von Victor war! Dann sah sie Victor von Malfori mit einem selbstbewussten Grinsen ins Gesicht. „Oh, entschuldige bitte. Ich hätte das doch deutlicher machen sollen. Du hast tatsächlich Recht was das angeht. Also noch einmal genauer.“ Und jetzt ließ sie sich Zeit jedes Wort zu betonen. „Ich bin kein Laufbursche für dich. Ich bin Klerikerin, ich habe bereits einen anderen Auftraggeber.“ Dann lehnte sie sich wieder zurück. „Und außerdem bin ich nicht käuflich. Nicht von dir oder irgendjemand anderem.“ Dabei vergaß sie natürlich, dass sie auch als Klerikerin auf Geld angewiesen war und durchaus schon welches von verschiedenen Leuten angenommen hatte. Oft genug als Dank für Dinge die sie getan hatte. Doch es schien einen Unterschied für sie zu machen dazu Geld zu nehmen um sich in den Dienst einer Person zu stellen. Und sie könnte sich niemals gegen Geld in den Dienst Victors stellen. Das würde ihre Position ihm gegenüber schwächen. Es würde alles zwischen ihnen verändern, sagte ihr ein Gefühl. Victor warf Hildegard noch einen nachdenklichen Blick zu. So sehr er ihre offene Art schätze, fragte er sich gerade doch, wieso er auf die Idee gekommen war, ausgerechnet diese Frau rufen zu lassen. Im Moment fielen ihm drei Dutzend Dinge an ihr ein, die ihn wahnsinnig machten und die Tatsache, dass sie offenbar eine Mischung aus Vorurteilen, voreiligen Schlüssen und persönlicher Antipathie gegen ihn kultivierte, war noch das kleinere Übel. „Ich sehe, es gibt nichts, was ich dir in irgendeiner Weise anbieten könnte und was du haben wollen würdest. Danke für deine Zeit“, mit diesen Worten machte sich der Fürst daran, das vorher sorgfältig schräg positionierte Blatt wieder in den vor Hildegard geretteten Stapel einzuräumen. Sie seufzte. „Ich glaube du hast mich missverstanden Victor. Entweder ich drücke mich wirklich dauernd falsch aus, was ich nicht von der Hand weisen würde, oder wir beide verstehen uns einfach nicht.“ Sie streckte ihren Arm aus und versuchte vorsichtig nach Victors Hand zu greifen. „Bitte schau mich an, Victor. Lege einmal alles beiseite was in der letzten halben Stunde passiert ist und sag mir doch einfach was du willst. Um was für eine Aufgabe geht es denn nun?“ Missverstanden? Wann, das erste oder das zweite Mal, als sie betont hatte, dass sie nicht bereit war, irgendeine Aufgabe für ihn zu erledigen, egal was, weil sie bereits einen göttlichen Auftrag hatte und damit offenbar außerhalb der Gesetzgebung und des Verständnisses sterblicher Menschen und Dämonen stand? Der Gedanke zuckte nur eine Sekunde lang auf und wurde dann völlig verdrängt von der Überraschung, dass sie seine Hand griff. Victors Blick als er aufschaute, sprach dann auch nur offen von dieser Überraschung, eine Geste, die den sonst schnell unnahbar wirkenden Fürsten menschlich und offen aussehen ließ. „Ich... in Ordnung. Aber nur, wenn du dich setzt, noch ein Glas Wein nimmst und mir zu Ende zuhörst.“ Hildegard nickte. „Gut, versprochen. Ich sage kein Wort bis du fertig bist, in Ordnung?“ Dann zog sie ihre Hand zurück, lehnte sich entspannt zurück und wartete darauf, dass er ihr Wein nachschenken würde. Dankbar nickte sie ihm zu und vermied es ihr Versprechen zu brechen, noch bevor er angesetzt hätte zu reden. Sein verwirrter Gesichtsausdruck und sein ungewöhnliches Verhalten, nachdem er sie beinahe schmollend weggeschickt hätte, ließ sie Lächeln. 'Schön, dass er nicht sofort die Segel streicht', dachte sie. Offensichtlich war es doch möglich wie zwei normale Menschen zu kommunizieren. Zumindest, so lange sie vorerst nichts sagte... was zwar nicht exakt die Definition von Kommunikation war, aber hinreichend genau für den Moment. Victor nahm sich die Zeit, Hildegards Glas vollzuschenken und sich selbst dann auch einen Schluck nachzufüllen, bevor er in einem weiteren Papierstapel nach ein paar Blättern fischte. „Also gut. Du weißt sicher, dass ich vor kurzem ein paar neue Steuerreglungen eingeführt habe, die besonders religiöse Institutionen betreffen“, und das war exakt der Punkt, an dem er nicht wollte, das Hildegard einhakte, weshalb er sich beeilte, weiterzusprechen „Der Sinn des ganzen ist folgender, und verzeih, wenn ich ein bisschen weiter aushole: Die meisten Leute auf dem Land schicken, wenn sie sich überhaupt leisten können einen der Wanderlehrer zu bezahlen, ihren Ältesten zum Unterricht – vielleicht auch noch den zweiten Jungen, aber so gut wie nie ein Mädchen. Und das sollte man ändern, Mädchen sollten auch Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Oft übernehmen Tempel und Klöster die Funktion einer Schule, in anderen Dörfern ist man auf die Lehrer angewiesen. Die Idee ist, dass wenn die Staatskasse eine Zeit lang das Schulgeld für Mädchen übernimmt, das ein Selbstläufer wird. Keine Frau, die gesehen hat, wie weit eine gewisse Bildung sie bringen kann, wird sich damit abfinden, wenn ihre Töchter nicht Lesen und Schreiben lernen, oder?“ Auf halbem Weg durch seine Erklärung blickte er auf, um zu schauen, ob sein Gegenüber vielleicht schon einen fatalen Fehler in der Argumentation gefunden hatte. Hildegard hörte gespannt zu, verkniff sich auch nur ein einziges Wort zu sagen und nickte immerhin, als sie merkte, dass sie fragend angesehen wurde. Zumindest dies sollte als einziges Mittel der nonverbalen Kommunikation wohl erlaubt sein, oder? Wenn sie schon sonst nichts zu diesem Plan sagen durfte. Immerhin wollte sie, dass er zu Ende sprechen konnte. Sie würde ihm gern zu dieser Idee gratulieren, ihn aber auch darauf aufmerksam machen, dass eine Weile wohl eine längere Weile sein müsse und dass man den Erfolg nicht garantieren könnte. Aber den Versuch wäre es ihr wert. Und sie hoffte ihm ebenso. Da sie durch ihr Versprechen gehindert wurde 'sprich weiter!' zu sagen, versuchte Hildegard ihn aufmunternd anzusehen und Victor schmunzelte kurz, als er bemerkte, dass sie ihr Versprechen buchstabengetreu auslegte und fuhr fort: „Da das die Staatskasse über einige Jahre hinweg deutlich belasten wird, muss dieser Plan zumindest teilweise gegenfinanziert werden. Und da kommt die Tempelabgabe ins Spiel. Die religiösen Einrichtungen werden von Beamten besucht, ihre Ländereien und Betriebe geschätzt und entsprechende Steuern darauf erhoben. Da die Tempel gleichzeitig oft auch Schulen beherbergen, werden sie dazu ermutigt, auch Mädchen zu unterrichten – und vom Staat dafür entlohnt. Die Steuern sind so bemessen, dass einem Tempel, der mittels seiner Ländereien eine angemessen große Schule unterhält und der dafür sorgt, dass von den Kindern etwa die Hälfte Mädchen sind, durch das Schulgeld alle Steuern egalisiert werden. Ein Tempel, der eine überdurchschnittlich große Schule für seine Ressourcen unterhält, würde so Geld aus der Staatskasse erhalten statt Abgaben zu zahlen, ein Tempel dagegen, der entweder trotz reicher Ländereien keine Schule hat oder aus anderen Gründen keine Mädchen ausbilden will – nun, der muss draufzahlen. Die Schätzungen sind soweit abgeschlossen, die Zahlen sehen nicht schlecht aus, aber gelegentlich wird es von Nöten sein die Einhaltung der Vereinbarung zu überprüfen – und eine reisende Klerikerin könnte ja durchaus ein Auge darauf haben, ob in den Klassenzimmern auch die Zahl an Mädchen sitzt, von denen der Tempel behauptet hat, sie zu unterrichten...“ Sie saß wie auf glühenden Kohlen während sie auf eine Art Signal wartete, mit dem der Monolog Victors beendet wäre. Sie sollte sich etwas mehr entspannen, dachte sie. Einmal tief durchatmen, wie beim Gebet. Das würde sicher helfen gegen die Unruhe. War er denn noch immer nicht fertig? Sollte sie einfach noch mal nicken? Nicken wäre sicher eine gute Antwort. Victor schaute das Nicken verständnislos an und machte dann eine ungehaltene kleine Handbewegung, die offenbar bedeuten sollte, dass sie jetzt etwas dazu sagen darf – und soll, sonst platzt der Fürst. Victor hatte seine Pläne zügig referiert, aber auch wenn er versucht hatte, das neutral darzustellen, konnte er nicht verhindern, dass seine Augen dabei stets ein bisschen mehr geleuchtet haben. Sie blinzelte, unsicher, ob sie nun reden dürfe, oder nicht. War dieses Wedeln ein Signal? Wenn er jetzt eine längere Pause machte, hieß das sicher, dass er fertig sei, oder? Noch immer starrte er sie erwartungsvoll an. Hildegard räusperte sich vorsichtig. „Darf ich jetzt wieder reden?“ Aber selbst nach der Bestätigung brauchte sie einen Moment um ihre Gedanken zu ordnen. Sie wollte nicht schon wieder einen Streit heraufbeschwören, nur weil sie unglücklich formulierte. Der kurze Waffenstillstand war ganz entspannend. Warum hatte er nicht gleich zu Beginn erklärt worum es ging? Sie hätte doch sofort zugestimmt. Aber wann hätte er es eigentlich tun sollen? „Was soll ich sagen Victor? Du scheinst das ja bereits gründlich durchdacht zu haben und meine Einwände schon geklärt, bevor ich sie aussprechen konnte. Und ich möchte nicht schon wieder etwas...missverständliches sagen. Deshalb lass mich bitte auch erst ausreden. Ich bleibe dabei, dass ich mich nicht gegen Geld in den Dienst einer Person stelle. Ich halte nicht viel von Hörigkeit und gekaufter Loyalität. Ich möchte dir weder diese Absicht unterstellen, noch möchte ich einen Verdacht auf mich laden, in dem ich mich auf irgendeine Gehaltsliste setzen lasse. Ich stehe ja genau so wenig auf der von Verlest. Verstehst du was ich sagen will? Ich meine, dass du mich einfach darum hättest bitten können, weil es Dinge gibt für die man keine Gegenleistung braucht. Obwohl...eine Gegenleistung hätte ich schon erwartet und ja, auch von dir gewünscht. Und zwar eine respektvolle Behandlung.“ Das dritte Glas Wein veranlasste sie erst Recht ihm alles ins Gesicht sagen zu wollen. Und sicher war es auch der Grund für ihre ungewohnte Nervosität. Außerdem war ihr zum ersten male aufgefallen, dass er irgendwie verändert aussah, wenn sie ihn nicht gerade mit lange gehegtem Groll ansah. Aber sie konnte es nicht genau fassen, es war einfach irgendwie...anders. Sie stellte das Weinglas zur Vorsicht lieber wieder ab. „Und ich rede sicher schon wieder zu viel, oder?“ Victor schüttelte nach kurzem Nachdenken den Kopf. „Diesmal nicht, glaube ich.“ Einen Moment erwog er, dem ganzen doch noch eine Rechtfertigung folgen zu lassen, namentlich, dass er bei ihrer ersten Begegnung keine Zeit gehabt habe, sich auf Nettigkeiten zu verlegen – wenn man weiß, dass jeder Tag Verzögerung Menschenleben kostet und man weiß, dass man eine vielleicht nicht freundliche, aber wirkungsvolle Methode zur Hand hat, dann benutzt man eben die. Aber da Hildegard für den Moment zufrieden damit schien, die Vergangenheit ruhen zu lassen, brauchte er ihr auch nicht erklären, dass er weder vorgehabt hatte, sie dauerhaft auf eine Gehaltsliste zu setzen, noch, dass das Geleit, dass er ihr geschickt hatte, durchaus auch als Ehrengarde hätte aufgefasst werden können, wenn man sich nicht weigerte, diese Möglichkeit überhaupt in Betracht zu ziehen. Stattdessen sagte er: „Wäre es dir eventuell möglich, auf deinen Reisen ein Auge darauf zu haben, ob die Tempelschulen ihre Unterrichtsvereinbarungen einhalten? Du würdest damit nicht nur mir, sondern vor allem den Mädchen einen großen Gefallen tun.“ „Aber ja doch, Victor“ gab sie lächelnd zurück. „Ich dachte genau das hätte ich gerade gesagt.“ Hildegard griff noch einmal nach ihren Weinglas um Victor zustimmend zu zu prosten. Bei sich dachte sie 'auf einen zweiten Versuch.' Einen Moment überlegte er, ob er das Spiel gleich wieder lassen sollte, aber dann hob er sein Weinglas und ließ es mit hellklingendem Ton gegen Hildegards stoßen. „Das ist wirklich wunderbar. Ich ersetze dir selbstverständlich die Spesen.“ Für einen kurzen Moment sah sie ihn ungläubig an, dann brach sie in Gelächter aus. Aber schnell riss sie sich wieder zusammen und entgegnete mit einem Grinsen. „Selbstverständlich, Victor.“ Noch immer grinsend schüttelte sie sacht den Kopf. „Ich lehne Bezahlung ab, du bietest mir Spesen an.“ Sie nahm noch einen Schluck Wein. „Gut. Machen wir es so.“ „Du hast natürlich Recht, verzeih mir. Ich hätte sagen sollen: ich übernehme einen Teil der Spesen. Du bist ja ohnehin unterwegs und die Staatskasse ist belastet genug. Was sagst du zu vierzig Prozent? Sicher gewähren dir Tempel auch freie Kost und Unterkunft, oder? Offizielle Papiere kann ich dir leider nicht ausstellen, das würde der Idee einer verdeckten Kontrolle zuwiderlaufen.“ Mit einem Schmunzeln hob Victor sein Weinglas an die Lippen und beobachtete Hildegard über den Rand des Kelches hinweg. Jetzt, wo das ganze nach erfolgter Einigung nur noch ein belangloses Geplänkel war, blitzte so etwas wie Schalk in den smaragdgrünen Augen. „Ach, eine verdeckte Kontrolle also? Ich muss mir also fadenscheinige Begründungen ausdenken, warum ich bei jeder noch so kleinen oder abgelegenen religiösen Einrichtung vorbeischaue und du willst mir nur 40 Prozent der Spesen ersetzen? Und ich bekomme nicht einmal so hübsches Briefpapier mit offiziellem Wappen drauf als Entschädigung?“ Hildegard kicherte. „Das klingt für mich nicht nach einem guten Angebot. Ich würde vorschlagen, dass Kost und Logis meine Sorgen sind, aber ich dir in Rechnung stelle, wenn ich mich dank des Sune-Tempels neu einkleiden muss.“ Sie lehnte sich vor über seinen Schreibtisch. „Und glaube mir, das käme dich sicher noch billiger als einen deiner Ritter dort wieder auszulösen. Dafür biete ich an dich freundlicherweise vorher zu benachrichtigen, falls ich mitbekommen sollte, dass mal wieder jemand vorbeikommen will zum Exorzieren. Was meinst du?“ Mit Sicherheit würde sie zumindest niemand verdächtigen für Victor von Malfori in Tempeln zu spionieren. „Ich dachte, eine Sehanineklerikerin bräuchte gerade keine Begründung, um unterwegs zu sein und dabei ab und zu in einer abgelegenen Gegend in einem Tempel einzukehren. Einverstanden, sollten dich übereifrige Anhänger der Sune deiner Kleidung berauben, werde ich sie dir selbstverständlich ersetzen. Und die Warnung nehme ich gerne an – das vorher zu wissen macht es sehr viel einfacher, die Fanatiker in die Pause zu legen. Es ist immer so ärgerlich, wenn man die Arbeit von Stunden neu machen muss, nur weil ein Gift und Galle spuckender Eiferer meint, er müsste eine große Schau abziehen und einen Stapel Abrechnungen als 'dämonische-Schrägstrich-teuflische-Schrägstrich-gotteslästerliche Klammer auf,unzutreffendes streichen, Mehrfachnennungen möglich, Klammer zu, Schriften' vom Schreibtisch in den Kamin fegen.“ „Was, meiner Kleidung berauben??“ Eine leichte Röte zog sich unterhalb ihrer Sommersprossen entlang. „Nein, so war das natürlich nicht gemeint! Ich meine nur, dass Sune-Geweihte grundsätzlich an meinen Gewändern etwas auszusetzen haben! Sie haben einfach keinen Sinn für praktische Kleidung und mäkeln so lange herum, bis man sich lieber freiwillig umkleidet.“ „Es sind Suneanhänger. Sofern ich diesen Kult richtig verstanden habe, dürfte das, was sie an deinen Gewändern auszusetzen haben, die Tatsache sein, dass sie mehr als schätzungsweise 5-8% deines Körpers verhüllen. Außerdem, wenn sie sie dir nicht wegnehmen würden, müsste ich dir deine Sachen ja nicht ersetzen, oder?“ Victor beugte sich etwas vor, zum einen um Hildegards Glas aufzufüllen, zum anderen aber auch, um dieses zarte Erröten und die folgende Reaktion von Nahem betrachten zu können. „Bitte? Nein, ich meine doch natürlich, sofern ich mich neu einkleiden muss, meine ich...“ Sie biss sich leicht auf die Lippen, weil sie merkte, dass sie unsicher wurde. Es irritierte sie immer zu merken, dass sie rot wurde. Und Victor von Malfori brachte sie tatsächlich in Verlegenheit. „Ihr bringt mich durcheinander Victor. Ich meine, du bringst mich durcheinander...“ 'Ach, verdammt! Glas nehmen und runter schauen bis der Moment vorüber ist, Hildegard!' „Oh, und danke für den Wein...“ Dabei studierte sie für einen kurzen Augenblick äußerst interessiert den Bodenbelag des Fürsten. 'Was für hübsche Holzdielen, gut aufbereitet für so ein altes Gebäude. Wobei, wie alt ist dieses Gebäude eigentlich?...' ihre Gedanken kreisten nun etwas ziellos um Belanglosigkeiten, bis sie sich erinnerte, dass es wohl höflich wäre von den Dielen wieder Abstand zu nehmen und zumindest grob in Richtung des Hausherren zu schauen. Victors Gesichtsausdruck schwankte zwischen leicht irritierter Faszination über Hildegards Reaktion und kaum verhohlener Belustigung. „Das heißt dann – und korrigiere mich, wenn ich dich jetzt wieder falsch verstanden haben sollte – ich soll nicht deine verlorene Kleidung ersetzen, sondern dir ein Sune-Tempel taugliches Gewand finanzieren, ja? Einen Hauch von Nichts mit ein paar dekorativen Applikationen oder etwas in der Art?“ 'Bei allen guten Göttern, das wird ja immer schlimmer!' Hildegard musste sich beherrschen um ihren Gesichtsausdruck nicht völlig entgleiten zu lassen. Machte er das mit Absicht? Zog er sie nur auf? „Bitte Victor, bei allem was dir lieb ist... lass uns bitte das Thema wechseln, du bringst mich wirklich in Verlegenheit! Ich möchte jetzt weder über Sune-taugliche, noch untaugliche Kleidung sprechen.“ Der Wein half ihr auch nicht gerade dabei ein Erröten zu unterdrücken. So langsam wurde ihr wirklich warm, aber der Tatsache konnte sie nun nicht entgegenwirken. Wenn sie wenigstens wieder auf ein neutrales Thema zurück kämen. Irgendetwas, dass sie nicht zwang mit Victor von Malfori über Sitten des Sune-Tempels oder deren präferierte Art sich zu kleiden zu sprechen. Immerhin war er auch nur ein Mann und dazu ein ziemlich fremder. Nicht, dass sie gerne mit ihrem Bruder oder ihren besten Freunden über dieses Thema debattiert hätte... was hatte sie sich auch dabei gedacht diesen Tempel überhaupt zu erwähnen? Um ehrlich zu sein überhaupt nichts... Eindringlich, fast flehend sah sie Victor aus großen Augen an und hoffte er würde das Gesprächsthema kurzerhand wieder auf ein anderes Parkett verlegen, bevor sie aus Scham im gut gepflegten Dielenboden versinken müsste, oder der blasse Fürst den Schalk in sich wiederfand. War das etwa ein unterdrücktes Lachen auf seinen Lippen, oder bildete sie sich jetzt unter Einfluss des Weines schon Dinge ein? Für einen Moment genoss Victor einfach noch das Schauspiel der errötenden Klerikerin vor sich. Warum war ihm eigentlich vorher nie aufgefallen, wie reizvoll die blonde Kratzbürste sein konnte? Aber vielleicht war das nur der Wein und das unstete Kerzenlicht, dass ihre Augen so weich schimmern ließ? Einen Moment später besann er sich darauf, dass ihr die ganze Situation ganz offensichtlich mehr als unangenehm war und dass es alles andere als höflich – und damit unverzeihlich – wäre, nicht das Thema zu wechseln. Ein anderes musste also entsprechend schnell gefunden werden. „Wann gedenkst du denn aufzubrechen, Hildegard?“ Es war vollkommen überflüssig, sie mit Namen anzusprechen, wenn sie die einzige Person im Raum war, aber er hatte ausprobieren wollen, wie ihr Name klang wenn man ihn weicher aussprach, passend zu ihren Augen. 'War dies der Rauswurf?', fragte sie sich und überlegte kurz, ob sie eigentlich zu viel getrunken hatte, oder noch elegant den Rückweg antreten könne. Aber mit Sicherheit wäre es besser jetzt bald zu gehen. „Ich, aufbrechen? Also eigentlich sollte ich ja so langsam... ich erwarte noch Nachricht von Elaril. Nach Dienstschluss, versteht sich.“ Aber sie wirkte deutlich erleichtert über den Themenwechsel. Victor von Malfori musste doch so etwas wie ein Herz besitzen. Sie war versucht ihm aus Dankbarkeit spontan die Hände zu drücken, aber der Moment währte nur kurz. Wäre es nicht eher...unpassend, wenn sie schon wieder über den Schreibtisch langte? Es kam ihr so vor, als hätte sie dies heute schon häufiger getan. Und warum dachte sie darüber nach, ob seine Haut immer kühl war? Das ging sie ja wohl auch gar nichts an. Starrte sie ihn jetzt etwa die ganze Zeit dümmlich an? Gerade fiel ihr auf, dass seine grünen Augen sie im flackernden Kerzenlicht wirklich an Edelsteine erinnerten. Er lachte leicht. „Nicht jetzt. Ich wollte nur wissen, wann du generell gedenkst, wieder auf Reisen zu gehen. Und ich glaube nicht, dass Elaril so kühn ist, dir deine Nachricht in mein Arbeitszimmer schicken zu lassen“, setzte er mit einem kleinen Grinsen hinzu. Tyrann, schon vergessen, sagte das Schulbubengrinsen. Victors rechte Hand spielte abwesend mit dem Fuß seines Weinglases, schlanke blasse Finger, die aber nicht wirkten, als wären sie zwingend eiskalt. Da der Raum gut beheizt war, gab es überhaupt keine kalten Oberflächen, weder die gepflegten Dielen noch die aus dunklem Holz gefertigte und über die Jahre – vielleicht eher Jahrzehnte – weich geschliffene Tischplatte. Wie die meisten Gegenstände im Raum war der Tisch und das darauf liegende Schreibgerät von bester Qualität, aber schlicht. Das einzige, was Aufmerksamkeit und Licht fing und ab und an verschwenderische Funken sprühte, waren das Feuer und Victors Augen. „Achso.“ Hildegard erwiderte das Lachen. „Das hängt von deinem Hauptmann ab, würde ich sagen. Ich wollte mich gerne ein paar Tage von der Reise erholen, bevor ich den Rückweg nach Verlest antrete. Und Elaril sollte mir eigentlich eine Nachricht in meine Pension senden, an welchem Tag er Zeit für seine weit gereiste Freundin hat, so lange diese doch einmal im Lande ist.“ Sie überschlug die Beine und fixierte Victor mit einem schelmischen Lächeln. „Weshalb fragst du? Kann deine fast kostenfreie Arbeitskraft dir etwa gar nicht früh genug mit der Arbeit anfangen?“ Ob sie ihn mal nach der Herkunft dieses Weines fragen sollte? Er würde ihre Eltern sicherlich interessieren, aber vermutlich käme man sowieso nirgends an ihn heran. Sie schwang den Rest ihres Weines ein paar mal im Glas und beobachtete die Bewegung. Manchmal zog die Reflexion rote Kreise über ihre Haut. Diesmal war es Victor, der über den Tisch reichte, die Finger auf Hildegards Handgelenk legte und ihre Hand mit dem Weinglas mit sanften Druck wieder auf den Tisch brachte. Ein Druck, hinter dem die Option stand, trotz der schmalen und nur kühlen, nicht kalten Finger eine deutlich größere Kraft aufzubringen, falls nötig. Eine, der Knochen nur wenig entgegen zu setzen hatten. „Lass das.“ Irgendetwas an der Bewegung oder den Reflexionen hatte ihn offenbar in kürzester Zeit massiv gestört. „Oh, tut mir leid.“ Völlig verwirrt und ohne Gegenwehr ließ sie Victor gewähren und setzte ihre Hand mit dem Weinglas wieder auf dem Schreibtisch ab. Zwei honigfarbene Augen blickten ihn plötzlich sehr fragend an. „Aber...was habe ich eigentlich getan?“ Hatte sie irgendetwas falsch gemacht? Und wenn ja, was? Vorsichtshalber ließ sie das Weinglas vorerst ganz los und legte die Hände in den Schoß. Victor zog seine Hand langsam wieder zurück und schüttelte sich leicht. „Das Licht sah aus wie Blut“, erklärte er einfach und fügte, auf ihren weiterhin irritierten Blick, wieso ihn das stören würde, hinzu: „Und in meinem Glas ist den ganzen Abend über schon nur Wein.“ „Oh...“ es dauerte einen Moment bis der Inhalt über seine Worte in ihren Geist gewandert waren. „Oh! Tut mir wirklich leid Victor! Ich wollte dich nicht.....“ Sie rang vergeblich nach einer Formulierung und strich sich verlegen eine Strähne, die sich aus den langen Zöpfen gelöst hatte hinter das linke Ohr. Schließlich gab sie auf und seufzte schlicht. Sie sah ihn an und sagte sanft „Sag mir, wenn ich gehen soll Victor.“ „Das werde ich“, versprach er, verschwieg aber, dass das durchaus erst im Morgengrauen sein könnte. „Und du brauchst dir keine Sorgen machen, ich wollte das nur unterbinden, bevor... ich mich auf eine Art und Weise benehme, die für dich unangenehm ist.“ Pawlowsche Reflexe, wenn jemand quasi mit einem Dessert vor seiner Nase herumfuchtelte, konnte es eben vorkommen, dass er versehentlich seine Worte mit leisem Fauchen unterstrich, versuchte, den Geist der vermeintlichen Beute zu beeinflussen oder nicht darauf achtete, keine für menschliche Augen zu schnellen Bewegungen zu machen – das dämonische Äquivalent von Sabbern. Hildegard nickte. „Ich mache mir aber keine Sorgen um mich, Victor. Ich dachte nur, dass du vielleicht lieber so langsam deine Ruhe haben möchtest, deinen Gast loswerden, dich um dich selbst kümmern und so weiter. Du hast sicher noch anderes zu tun diesen Abend, oder? Hast du nicht noch mehr 'Gäste' wie mich einbestellt?“ Zum ersten mal an diesem Abend zeigte sie sich ehrlich ein wenig besorgt um ihn. Sie hatte nicht auf die Zeit geachtet und würde sich im Moment auch nicht auf ihr eigenes Zeitgefühl verlassen wollen. Aber es kam ihr so vor, als wäre sie schon verhältnismäßig lange hier. Aber es war ihr nicht unrecht, seit sie im Grunde nur noch locker plauderten. Was war eigentlich passiert, dass sie es mittlerweile so empfand? Zögerlich suchte ihre Hand wieder nach dem Weinglas, aber nicht ohne sich mit fragenden Blicken rückzuversichern, ob es in Ordnung sei, wenn sie den Rest jetzt austränke. Ihre schlanken Finger legten sich langsam um den Hals des Kelches, während die rechte Hand ruhig auf der Tischplatte lag. Sollte es für Victor unangenehm sein, würde sie den Wein einfach stehen lassen. Victor ermutigte Hildegard mit einer kleinen Handbewegung, in Ruhe ihren Wein zu trinken. „Was keinen Aufschub duldet ist bereits erledigt.“ Der Fürst hatte bereits vor Hildegard Gäste empfangen und zog es auch sonst vor, die wichtigsten Besprechungen früh nach Einbruch der Dunkelheit zu legen – es war schlichtweg unhöflich, Menschen, die auch etwas vom Sonnentag haben wollten, für solche Sachen bis weit nach Mitternacht oder gar die frühen Morgenstunden warten zu lassen. „Und diese Steuerlisten laufen mir nicht weg.“ Er legte die Hand leicht auf den Papierstapel auf seinem Schreibtisch, offenbar das Arbeitspensum, dass er gerade stattdessen mit Hildegard verplauderte. Und er wunderte sich selbst darüber, wie wenig ihm die Zeit als verloren vorkam. „Eigentlich schade, nicht?“ sie nickte kurz in Richtung des Papierstapels und lachte leicht.Victor war alt genug, er würde schon wissen was er tat. „Es wäre doch schön, wenn die Arbeit sich auch mal von selbst erledigen könnte.“ Sie war ieigentlich ganz froh ihre Zeit nicht immer mit den Rechnungsbüchern der Familie verbringen zu müssen. Wobei diese ihr noch angenehmer waren als die häuslichen Arbeiten, zu denen ihre Mutter sie immer wieder bewegen wollte. Sie hatte einfach kein Talent dafür, versuchte sie sich dann einzureden. Am liebsten würde sie ihm helfen dieses bedrohlich aussehende Pensum abzuarbeiten, aber das war nun wirklich nicht ihre Aufgabe. Stattdessen setzte sie mit einem letzten Blick auf das Papier wieder ihr Weinglas an die Lippen und genoss die letzten Schlucke Rotwein. Dann überlegte sie kurz, stellte das leere Glas ab und fragte. „Das ist wirklich dein..Tagespensum?“ Er blätterte mit dem Daumen über die Ecke des Papierstapels und wiegte den Kopf einen Moment hin und her. „Mehr oder weniger. Hier sind noch ein paar Berichte darüber, wie viele Lämmer in diesem Frühjahr geboren wurden und die Schätzungen für notwendige Straßenreparaturen durch das Schmelzwasser und den starken Regen Ende April und Anfang des Monats. Das ist kein Tagesgeschäft, so gesehen“ Hildegard nickte und Victor fischte eine Reihe von mit schmalen Seidenkordeln zusammengehaltenen Berichten aus dem Stapel und verringerte diesen damit um etwas mehr als ein Drittel. „Das ist Tagespensum, Pi mal Daumen.“ Hildegard lehnte sich vor, stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und staunte den Papierstapel an. Sie konnte gar nicht anders als jemanden mit dieser Disziplin zu bewundern. Spielerisch fuhr sie die unebenen Ränder der Blätter mit dem Zeigefinger nach. Ihre Augen glänzten. Allerdings nicht nur vor Bewunderung. Der Wein dürfte bald auch seine Rolle dabei spielen. Sie wägte ab. Würde man all diese Energie in ihre Studien stecken...Allerdings bestand das Leben aus so viel mehr Dingen als nur Studien und sie wäre wohl auch ein schlechter Kleriker, wenn sie sich ausschließlich hinter ihren Büchern vergraben würde. Sie versuchte einen Blick auf das oberste Blatt zu werfen, doch der auf dem Kopf stehende Text stellte mittlerweile eine kleine Schwierigkeit für sie dar. Also stand sie auf und ging um den Schreibtisch herum, bis sie die Seite lesen konnte. Der Inhalt sagte ihr nicht viel. „Und damit verbringst du alle deine Abende?“ fragte sie den nun neben ihr sitzenden Fürsten. Die Stickereien auf ihrem weißen Kleid sollten mit Sicherheit silberne Halbmonde sein, doch das Kerzenlicht ließ sie eher golden glänzen. Der Ton passte deutlich besser zu ihrem Haar - dass ihr in dichten Zöpfen über den Rücken fiel während sie las - als Silber es könnte. Als sie den Kopf zu ihm drehte, hätte ihn beinahe einer der über die Schulter gefallenen Flechten am Arm berührt. Hildegard streckte ihre rechte Hand aus um sie Victor fast freundschaftlich auf die Schulter zu legen, doch nur ihre Fingerspitzen setzten ganz leicht überhaupt auf dem glatten Oberstoff des Wamses auf. Sie sah in seine schimmernden grünen Augen. „Ist das so, Victor?“ Victor schien ein bisschen erstaunt, dass Hildegard auf einmal so reges Interesse an seiner Arbeit zeigte und dafür sogar um den Tisch herum kam. Mit einem kritischen Blick auf die Geweihte versuchte er abzuschätzen, ob der jungen Frau der Rotwein vielleicht ein bisschen zu schnell zu Kopf gestiegen war, aber bis auf ein bisschen Farbe auf ihren Wangen und einen leichten Glanz in den Augen konnte er nichts erkennen, das darauf schließen lassen würde. Und es war ja auch nicht so, das sie sich auf seiner Schulter abstützen müsste, sondern ihre Finger lagen nur gerade so leicht auf dem Stoff auf, dass er sich einbilden konnte, sie müssten warm sein. „Die meisten“, räumte er ein, als ihm klar wurde, dass er irgendetwas auf ihre Frage antworten sollte, während ein Teil seiner Gedanken weiterhin damit beschäftigt war, den warmen, vollen Farbton ihrer Augen zu bewundern. „So...“ die junge Klerikerin wirkte etwas nachdenklich. „Und was tust du, wenn du nicht am Schreibtisch sitzt und Papierkram erledigst? Ich meine, arbeitest du tatsächlich auch mal nicht? Hast du auch irgendwelche Freizeitbeschäftigungen?“ Sie stockte. „Oh, entschuldige. Das wirkt als würde ich dich ausfragen wollen. Aber mir ist nur gerade klar geworden, dass ich ja quasi gar nichts über dich weiß. Außer, dass du ein arroganter Tyrann bist, natürlich.“ Sie lächelte und ließ den Blick durch den Raum schweifen. War das sein Einrichtungsgeschmack, oder der seiner Vorgänger? Es dauerte eine ganze Weile bis sie sich mit leichtem Schrecken darauf besann, dass der Fürst zu ihrer Seite trotz seines Aussehens noch immer ein Dämon war und rein rechnerisch schon so einige hundert Jahre alt sein dürfte, eine Zeitspanne die sie sich mit ihren knapp über zwanzig Jahren nicht einmal wirklich vorstellen konnte. Victor ahnte von Hildegards Überlegungen über seine Einrichtung natürlich nichts, denn er hatte sich höflich wieder vollständig aus ihren Gedanken zurückgezogen. Stattdessen fragte er sich, wie sie auf die Idee kam, dass er neben der Verwaltung von mittlerweile drei von vier Fürstentümern in den Reichen noch Freizeit haben könnte. Gut, in manchen langen Winternächten mochte das so sein, aber im Moment beanspruchten die chaotischen Verhältnisse in Ragnaron dauernd seine Aufmerksamkeit. „Nun, ich habe eine kleine Folterkammer im Keller und ab und zu lasse ich eine Jungfrau liefern...“ „Ach, doch nur so selten?“ sie kicherte. „Aber das könnte so einiges erklären...“ Hildegard ging langsam hinter Victors Stuhl vorbei und sah sich weiter im Raum um. Wie alt mochte er sein? Fünf oder sechshundert Jahre? Und sie schäkerten hier, eigentlich völlig lächerlich... „Und, sind es wenigstens hübsche Jungfrauen die von ihren Familien als Tribut geopfert werden?“ „Als würde ich mich mit weniger zufrieden geben!“ Der Fürst warf sich spielerisch in seinem Armstuhl in Pose, schüttelte dann aber mit leisem Lachen den Kopf. „Im Moment ist leider wirklich so viel zu tun, dass ich Nasszur vernachlässige, den Garten kaum sehe und so gut wie nie dazu komme, ein gutes Buch zur Hand zu nehmen. Und ich bin mir nicht mal mehr sicher, wo ich die Geige das letzte Mal hingelegt habe.“ Hildegard nickte in den Raum hinein. Das Problem nicht wirklich so etwas wie Freizeit zu haben, kannte sie. Wann hatte sie denn zuletzt etwas gelesen, was nichts mit irgendwelchen Studien zu tun hatte, einfach nur aus Freude am Lesen heraus? Die junge Frau wandte sich mit einem warmen Lächeln wieder zum Fürsten. „Vielleicht könnte ich jetzt ein gutes Buch genießen, wenn ich nicht zu dir nach Malfori gekommen wäre. Die zwei Wochen Reisezeit pro Strecke wären zumindest mal ein Buch gewesen, schätze ich. Und einen Folterkeller werden mir meine Eltern wohl kaum einrichten wollen. Oh, und falls es dich beruhigt, ich habe deinen Garten auf dem Weg gesehen, er scheint noch da zu sein.“ „Wenigstens das! Hast du vielleicht auch die Katze gesehen? Etwa so groß? Neigt dazu, sich auf Gäste zu legen?“ Victor zeigte mit der Hand die Rückenhöhe des Panthers, stand dann auf und streckte sich, bevor er an Hildegard vorbei zum Kamin ging und aus dem Korb daneben zwei trockene Holzscheite nachlegte. Knackend erwachten die Flammen zu neuem Leben. „Was das Buch angeht, kannst du dich gerne hier in der Bibliothek umsehen, vielleicht findest du etwas interessantes für die Rückreise.“ Die Klerikerin lachte. „Und soll ich das Buch dann auf dem Rücken des Pferdes lesen, während ich reite? Aber vielen Dank für das Angebot. Eventuell komme ich doch darauf zurück...Ich bin zugegeben neugierig auf die Bibliothek.“ Sie versuchte Victors Rückenansicht zu ignorieren, trat an das Feuer heran und hielt ihre Hände davor. Sie mochte das Flammenspiel von offenem Feuer und genoss die ausstrahlende Wärme. „Deine Katze fiel diesmal wohl nicht über mich drüber, tut mir leid. Vielleicht hatte sie gerade jemand interessanteren zum Umwerfen gefunden, als ich vorbeikam.“ Ein mindestens fünfhundert Jahre alter Dämon. Und sie sah es ihm nicht im geringsten an. Aber es schüchterte sie doch ein wenig ein. Mit Elfen und deren langen Lebensspannen war man als Verlester vertraut und ebenso hatte sie sich an den Gedanken gewöhnt, dass auch ihr Freund Dvalinn sie um ein deutliches überleben würde. Zumindest, wenn er sich nicht besonders dumm anstellte. Es galten eben andere Regeln für andere Rassen. Trotzdem hatten auch Dvalinn und Elaril wohl nur einen Bruchteil der Jahre von Victor erreicht. Die junge Frau beobachtete ihre Hände im Gegenlicht des Feuers. Sie waren lang und schmal und zeugten vom wochenlangen Ritt und dem Umgang mit Waffen. Sie seufzte. Victor sah Hildegard von der Seite her an und schwieg. Sicher, er hätte ausführen können, dass niemand sie zwang bis spätabends und zur totalen Erschöpfung zu reiten und sicher konnte man dann abends ein Buch lesen auf dem Rückweg. Aber das wusste die Klerikerin sicher auch selbst und sie wollte bestimmt nicht dauernd belehrt werden. Der Dämon hätte sich schmunzelnd bedankt dafür, dass Hildegard ihn so jung schätzte. Auch, wenn er nach den Maßstäben seiner Rasse noch keineswegs alt war. Wenn man einmal raus hatte, wie man den Mob mit den Fackeln und den Mistgabeln vermied, konnten Dämonen noch sehr viel älter werden. Und der einzige Feind, den sie dann noch zu fürchten hatten waren neben ihrer eigenen Arroganz ihresgleichen. „Victor? Umfasst deine Bibliothek eigentlich auch Gedichtbände?“ "Dürfte man Bibliothek dazu sagen, wenn dem nicht so wäre?" Sie lächelte. „Auch in meiner Sprache, oder meinetwegen Zwergisch? Mein Elfisch ist...nicht so besonders. Und ich fürchte mit deiner Sprache tue ich mich noch schwerer.“ Hildegard war Verlesterin und sollte Schwierigkeiten mit Elfisch haben? Das war zugegeben ungewöhnlich. „Wie kommt das?“ „Was?“ fragte sie mit einem Lachen in der Stimme zurück. „Meinst du es gibt viele Sprachlehrer für Dämonisch?“ Sie drehte sich zu ihm um. „Nein, ich weiß schon was du meinst. Aber ich weiß nicht, was in meiner Akte stand, mit der du bei unserem ersten Zusammentreffen gewunken hast und in der angeblich irgendetwas belastendes über mich steht. Ich nehme eher an es ist belangloses. Aber falls diese Akte tatsächlich existieren sollte und auch nur einigermaßen vollständig ist, dann sollte man ihr entnehmen können, dass ich ein ehemaliger Ausreißer bin. Und das noch bevor meine heimische Ausbildung beendet war. Und zu meinen damaligen Versäumnissen gehören wohl auch einige Lektionen in Elfisch.“ Sie rieb sich ein letztes mal die Hände, die noch immer angenehm warm vom Feuer waren. Dann griff sie nach Victors Hand. „Nun gut, wirst du mir die Ehre erweisen und mir persönlich den Weg zur Bibliothek zeigen, oder soll ich draußen nach dem Weg fragen und behaupten du hättest es mir erlaubt? Was mir sicherlich jeder sofort glauben wird.“ Das Zwinkern in ihren Augen verriet, dass sie auf ihr selbst bei den Hausangestellten bekanntes, gespanntes Verhältnis anspielte. Im ersten Moment wusste Victor gar nicht, was er tun oder sagen sollte. Hildegards Hände waren jetzt deutlich wärmer als seine, ihre Haut glühte förmlich auf seiner. Am meisten aber verwirrte – und entzückte, auch wenn er sich dieser Empfindung erst im Nachsatz klar wurde – die unbedachte Art, mit der sie seine Hand ergriff. Die meisten Menschen hatten vor seinem Amt oder seiner Person – oder beiden – soviel Angst und Respekt, dass sie jeden Körperkontakt mieden. Vielleicht war es auch teilweise der Wein, sinnierte er und achtete dabei nicht darauf, was er tat, bis er merkte, wie Hildegards Handrücken seine Lippen berührte und er sich selbst sagen hörte „Es wäre mir ein Vergnügen, dir persönlich die Bibliothek zu zeigen. Hier entlang.“ Sie spürte ein bekanntes Kribbeln und wusste, dass ihr die Röte nun definitiv zu Kopf gestiegen war. Ihr Herz klopfte viel zu schnell und sie hoffte, dass er zumindest das nicht bemerken würde als sie nach seinem Arm griff, den er ihr anbot. Selbst durch den festen Stoff der Jacke hindurch konnte sie die Kraft spüren, die sich darunter versteckte. Hildegard hielt den Kopf leicht gesenkt im Versuch sich nichts anmerken zu lassen. Victor nahm das heftige Schlagen ihres Herzens eher am Rande wahr. Selbstverständlich war eine solche Veränderung nichts, was einem Wesen entging, dass sich vom Blut seiner Mitmenschen nährte, aber im Moment war er zu sehr darauf bedacht, Hildegard möglichst ohne einen weiteren Ausrutscher in die Bibliothek zu bringen. Was hatte er sich überhaupt dabei gedacht? Gar nichts, das war es. Gar nichts und jetzt hatte er noch immer den Duft ihrer Haut in der Nase, als er ihr die Tür zur Bibliothek offen hielt: Seife und Leder und Sommernacht und noch etwas anderes, wie frische Kräuter, gut, aber nicht zu süß. Die wenigen Angestellten denen sie auf dem Weg in die Bibliothek begegneten, hielten sich höflich zurück und versuchten sich ihre Verwunderung nicht anmerken zu lassen. War dies die Geweihte die vor einer ganzen Weile wütend im Arbeitszimmer des Fürsten verschwunden war? Die Bibliothek selbst beeindruckte Hildegard schon beim Eintreten. Sie ließ seinen Arm los und machte einige Schritte in den Raum hinein. Die Bibliothek mit ihren dunklen Holzregalen fasste mehr Bücher in ihren hohen Räumen, als Hildegard erwartet hatte. Sie staunte über die Auswahl an ledergebundenem und versuchte sich zuerst einen Überblick über die Sortierung zu verschaffen. In diesem Moment vergaß sie sogar auf die Kopfschmerzen zu achten, die zu einem stetigen Begleiter für sie zwischen diesen Mauern geworden waren. Sie drängte es beiseite. Doch wäre dieser ständige Druck nicht, sie würde freiwillig eine Woche oder mehr allein in dieser Bibliothek verbringen. Mit fast kindlicher Freude und leuchtenden Augen begann sie die Titel im nächstgelegenen Regal zu entziffern. Es gab wohl doch noch etwas, was ihr Freude bereitete. Die entzückte Geweihte drehte sich wieder zu ihrem Gastgeber um. „Großartig, Victor. Und wo genau finde ich jetzt was?“ Hinter Hildegard betrat Victor selbst den Raum und schloss die Tür hinter sich. Er lächelte über das Staunen der Klerikerin, auch wenn er das Gefühl gut nachvollziehen konnte. Selbst auf ihn hatten die hohen Regale und die langen, im Halbschatten liegenden Gänge immer wieder eine erhabene und beruhigende Wirkung. Mit einer Handbewegung forderte er Hildegard auf, ihm zu folgen. Gegenüber des Einganges war ein Kamin in einem Pfeiler eingelassen, davor standen zwei Sessel. Auf dem Sims des Kamins standen zu beiden Seiten Sturmlaternen, von denen Victor jetzt eine mit einem Holzspan am Feuer entzündete und das Glas vorsichtig über die Flamme herabließ. Normalerweise brauchte er diese Lichtquelle nicht, aber die Regale, die sich im hinteren Teil des Raumes befanden und die der Feuerschein des Kamins nicht mal mehr streifte, lagen um diese Zeit in tiefem Dunkel und Hildegard würde sonst nichts sehen. „Die drei Regale auf der rechten Seite und die Rückwand sind vor allem Akten und Geschichtswerke, Chroniken, Annalen und dergleichen. Aber an allen Regalen findest du vor Kopf eine Tafel, auf der zumindest grob die Themenbereiche verzeichnet sind, die das Regal enthält. Lyrik müsste...“ Victor hielt auf zwei Regale eher in der linken Hälfte, unmittelbar neben der Kante des Pfeilers zu, die sich nach hinten in die Dunkelheit fortsetzen. „... hier sein. Ja.“ Konzentriert ging sie durch die Titel. Einiges kannte sie bereits, doch der Großteil war ihr nicht mal ein Begriff. Die obersten Titel konnte sie so ohne weiteres von ihrem Standpunkt aus nicht mehr lesen, aber vielleicht hätte sie auch auf ihrer Höhe noch Glück. Es dauerte einige Minuten, dann verkündete ein Ausruf der Freude davon, dass sie vermutlich etwas gefunden hatte. „Ah, ich habe Glück!“ triumphierend nahm sie einen recht unauffälligen Band aus dem Regal. „Das ist tatsächlich der zweite Band, den ich bisher nicht finden konnte.“ sie hielt Victor das Buch entgegen. „Wäre es in Ordnung, wenn ich mir den hier leihe?“ Victor hatte ihr, während sie gesucht hatte, schweigend die Lampe gehalten, damit sie die Titel auf den Buchrücken entziffern konnte. „Nur zu“, gestatte er bereits, bevor er einen Blick auf den Einband warf um zu erfahren, was sein Gast denn wohl gerade las. Die junge Frau drückte das Buch mit einer Hand an sich und legte den freien Arm spontan um des Fürsten Hals um sich zu bedanken. Eine kurze Umarmung und sie löste sich schnell wieder von ihm. „Oh, tut mir leid, die Laterne! Ich vergaß für einen Moment, dass du mit echtem Feuer beleuchtest.“ Manchmal war sie wohl wirklich etwas zu impulsiv, ärgerte sie sich. In einer Bibliothek nahezu unverzeihlich, wenn es um Feuer ging. „Es ist nur...ich suche das Buch schon seit Jahren, weißt du. Ein glücklicher Zufall, dass du es in deiner Bibliothek hast. Ich habe den ersten Band noch als junges Mädchen gelesen und später als ich in Ausbildung war fiel es mir wieder ein, aber ich bekam die Bände unterwegs nicht zusammen.“ Sie blinzelte kurz. „Aber ich rede schon wieder zu viel und dazu auch nichts interessantes, tut mir leid. Sollen wir vielleicht lieber für den Rückweg auf eine nicht-brennende Lichtquelle zurückgreifen?“ Er hatte die Sturmlaterne trotz seiner Überraschung blitzschnell hoch und in Sicherheit gehalten, und senkte sie jetzt langsam wieder auf Schulterhöhe. „Ich wollte immer mal auf diese Leuchtwürmer umstellen, die die Zwerge verwenden, aber ich brauche normalerweise kein Licht und wenn andere Leute hier drin sind, dann eher tagsüber.“ Auch wenn der Rückweg bis in den Lichtschein des Kamins nicht wirklich lang war, folgte er ihrem Vorschlag und löschte die Laterne. Er nahm an, dass sie auf magischem Wege ein für die Bücher ungefährliches Licht erzeugen wollte und hatte, sofern sie dafür nicht irgendeine Sonnenlicht gleichende Komponente verwendete, nichts dagegen. Vor allem aber wollte er die wenigen Herzschläge – ihr Herz schlug schon wieder so laut – nutzen, bevor sie dieses Licht entzündete, um sie im Dunkeln zu betrachten. Im Gegensatz zu den meisten Rassen mit Dunkelsicht, die sich auf Schwarz-Weiß beschränkte, war die Nacht für ihn bunt, auch wenn sich die Farben von denen unterschieden, die er mit Licht wahrnahm. Das Dunkle Spektrum offenbarte ihm einen Anblick, der selbst Victor kurz hörbar nach Luft schnappen ließ. „Victor, stimmt etwas nicht?“ rief sie besorgt in die plötzlich entstandene Dunkelheit, dann sprach sie schnell ein paar leise Worte und das Buch in ihren Händen begann zu leuchten wie eine Fackel die nicht verbrannte. Das von ihm ausgehende Licht erfüllte fast den ganzen Raum. Doch als sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah sie nichts bedrohliches und konnte nicht ausmachen was Victor gesehen haben mochte. Ein wenig verwirrt sah sie ihn an. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“ Sie ließ den Blick noch einmal durch den Raum schweifen, aber sah nichts außer den Regalen, den Sesseln und ein Buch auf dem Beistelltisch des einen. Es lag ein Lesezeichen darin, was Hildegard wiederum neugierig machte. Sie ging ein Stück darauf zu um den Titel zu lesen. Als das Licht, das von dem Buch ausstrahlte, Victors Gesicht erreichte, wirkte er einen Moment lang fast enttäuscht. Die honigfarbenen Augen der Klerikerin hatten im Dunkeln einen noch eindringlicheren Ton angenommen, nicht unähnlich der Farbe, die schmelzendes Gold in der Glut hatte. Im Licht dagegen hatte er das Gefühl, nur eine spiegelnde Oberfläche betrachten zu können. Das zu erklären allerdings schien ihm ein wenig zu weit zu gehen, also sagte er schlicht „Ich habe nur etwas von dem Rauch eingeatmet, als ich die Flamme ausgeblasen habe, nichts weiter.“ Das Buch auf dem Beistelltisch war vielleicht, dem Lesezeichen nach, zu einem Drittel gelesen und die silberne Prägung auf dem blauen Leineneinband verriet, dass es sich um die Gemeinsprachliche Übertragung des Werkes eines wohl terranischen Naturphilosophen handelte. Hildegard nickte beruhigt, offensichtlich zufrieden mit Victors Erklärung und strich mit der freien Hand über die Silberprägung. Sie liebte die Einzigartigkeit dieser gebundenen Kunstwerke, ob mit oder ohne Verzierungen. 'Naturphilosophie?' Hildegard schmunzelte. Er schien doch ein weites Interessengebiet zu haben. Aber gut, immerhin hatte er auch Jahre Zeit und es würde sicherlich langweilig werden sich immer nur mit den gleichen Themen auseinander zu setzen. Aber ansonsten hatte sie den Eindruck, würde er sich zu wenig Zeit für sich selbst gönnen und sich vermutlich viel zu sehr in diesen Bergen von Akten vergraben. Sie erinnerte sich an den Stapel an Papieren auf seinem Schreibtisch, die er als Tagewerk betrachtete und drehte sich um. „Habe ich dich eigentlich richtig verstanden, dass heute keine Angelegenheiten mehr anstehen die so dringend wären, dass du nicht noch ein wenig Zeit mit mir vergeuden könntest?“ „Ich bezweifle stark, dass ich 'vergeuden' gesagt habe, aber im Großen und Ganzen ist die Antwort: Ja.“ Sicher hätte man die Ausgabe aufwendiger gestalten können und viele der Lederbände in den Regalen waren Schmuckbände. In diesem Fall war es Victor allerdings eher darauf angekommen, überhaupt eine Abschrift des Werkes zu bekommen und nur für sich selbst orderte er keine überbordenden Extras. Er folgte der Bewegung ihrer Hand mit dem Blick und zuckte auf ihr Schmunzeln andeutungsweise die Schultern: Wenn sie, die sonst allzu praktische Klerikerin, Lyrik lesen konnte, konnte er ja wohl auch Naturphilosophie studieren. „Wunderbar, darauf hatte ich gehofft!“ mit einem breiten Lächeln hakte sie sich bei ihm unter. „Dann sei doch so freundlich und begleite mich in den Garten, ich möchte deine Katze suchen.“ Das Buch würde ihnen auch draußen den Weg leuchten und für Hildegard als Beleuchtung auch im Garten völlig ausreichend sein, ihr ging es in erster Linie darum Nasszur zu finden und wenigstens ein bisschen Zeit mit seinem Besitzer zu gönnen. Dann könnte sie sich auch zufrieden verabschieden. Zumindest stellte sie es sich so vor. „Und dann könntest du mir unterwegs auch erzählen was du zurzeit liest. Falls es dir nichts ausmacht, natürlich.“ Der Fürst von Malfori schaute nicht wenig überrascht – zum wiederholten Male an diesem Tag – als Hildegard sich einfach bei ihm unterhakte. „Wenn du möchtest. Ich fürchte nur, es ist nicht besonders interessant zu erklären. Es geht vornehmlich um die Frage, woraus die stoffliche Welt aufgebaut ist und wie Veränderungen von Materie zu erklären sind. Der Autor entwickelt dabei ein vielleicht etwas naives System, das auf der Vermischung von fünf Elementen beruht. Insgesamt ist es aber ein faszinierender Ansatz, eine solche Erklärung quasi aus dem Nichts zu erdenken und logischer Prüfung zu unterziehen.“ Während er sprach, führte er Hildegard durch die Gänge des Schlosses und schließlich über eine Nebentür in den Garten hinaus. „Und wie benennt der Autor diese fünf Elemente, was sind sie für ihn?“ Sie hatte ihm aufmerksam zugehört, doch seine Reaktion als sie sich bei ihm unterhakte war ihr nicht entgangen. Und da sie vermutete der Körperkontakt könne ihm unangenehm sein, oder ihm als ungebührlich erscheinen, lies sie seinen Arm nach kurzer Zeit schon wieder los, als er ihr eine der Türen auf dem Weg aufhielt und hielt sich stattdessen mit beiden Händen an ihrem geliehenen, leuchtenden Buch fest. „Feuer, Wasser, Luft, Erde und Äther. Wobei Äther die Quintessenz der anderen Elemente ist. Und man kann zwischen den anderen Elementen durch Verdichten oder das Gegenteil davon wechseln, beispielsweise wird komprimierte Luft Wasser, weiter komprimiert Erde oder aber leichter als Luft Feuer. Oder so ähnlich.“ Victor machte eine vage Handbewegung, die bedeuten konnte, dass er in letzter Zeit keine Muße gefunden hatte sich weiter einzulesen, aber genauso gut, dass er den Autor nicht vollständig verstanden hatte – oder das vorgestellte System stellenweise unklar oder unlogisch war. „Hmm...“ sie dachte kurz konzentriert nach, bevor sie die nächste Frage stellte. „Ich glaube ich verstehe Äther als Quintessenz der anderen vier Elemente nicht so ohne weitere Erläuterung. Und gibt es auch einen Ansatz zur Erklärung von Magie? Ich habe schon häufiger gelesen, dass Magie als eines der Elemente genannt wird, mögen es nun diese oder andere Fünf sein. Sowieso ist die Auswahl dessen was als Element verstanden wird immer faszinierend, oder?“ Sie begann ihre Überlegungen zu diesem Thema mit Gesten zu untermalen, was für sie völlig typisch war und hatte den Sinn ihres Ausfluges in den Garten schon verdrängt, bis sie mitten darin standen. „Achja, die Katze! Wo ist Nasszur denn nun?“ Suchend versuchte sie den Garten zu überblicken. Sie waren, ins Gespräch vertieft, schon ein Stück weit in den Garten hineingegangen und der Kiesweg hatte weich federndem Gras Platz gemacht. Überall dort, wo das magische Licht hinreichte, waren die Farben und Konturen der Rosenbüsche klar, die Schatten darunter und dahinter schwarze Scherenschnitte, während dahinter graue Büsche und bläuliche Schatten unter einem bleichen und von hohen, dünnen Wolken oftmals gedämpften Mond lagen. „Ich fürchte, soweit bin ich noch nicht, Äther scheint für ihn leichter zu sein als alle anderen und die eigentliche Grundmaterie, aus der alles andere besteht. Und zu der Zeit und an dem Ort, an dem das Buch geschrieben wurde, gab es keine Magie. Oder wenn, müsste man sie sich über eine Manipulation des Äthers wirkend vorstellen.“ Er sah sich suchend um „Nasszur!“ Victor hatte nicht einmal sonderlich laut gerufen, aber Hildegard spürte instinktiv, dass dem hörbaren Ruf ein zweiter folgte. Das Gefühl war vergleichbar mit dem, als Victors Geist ihren berührt hatte, nur ungleich schwächer, als würde ein Teil seines Geistes ihren nur streifen und dann auf etwas anderes gerichtet sein. 'Ein Ort und eine Zeit ohne Magie?' verwundert versuchte Hildegard sich so etwas vorzustellen, aber konnte es nicht so recht. Magie war etwas so natürliches und genau so spürbar wie die Luft die sie atmete und die in Form eines Windhauchs über ihre Haut fuhr. Sie konnte sich keine Welt ohne vorstellen, die so plastisch und lebendig war wie die ihre. Sie fröstelte kurz während sie nachdachte und richtete ihre Gedanken dann beinahe genau so instinktiv auf das Rufen, dass sie geräuschlos zu hören glaubte. Sie war versucht sich dem Ruf zuzuwenden und nach dessen Ursprung zu suchen, aber schüttelte diese Gedanken ab. In diesem Augenblick fiel ihr auf wie viel klarer ihre Gedanken sich anfühlten, jetzt wo dieser ständige Schmerz in ihrem Kopf nachließ, über den sie kaum mehr nachgedacht hatte, der sie aber dennoch nicht ganz losließ. Erleichtert seufzte sie auf. „Und, kommt Nasszur?“ „Wehe ihm, wenn nicht“, antwortete Victor. Wenn man schon eine Raubkatze als Haustier hatte, musste die aufs Wort hören. Gerade solche Befehle wie 'Die Gäste sind kein Fresschen!' waren essentiell. Er hatte die Worte auch kaum zu Ende gesprochen, als es unter den Rosenbüschen raschelte und der Panther, einen Regen aus blutroten Blütenblättern mitreißend, vor ihnen auf dem Gras landete und gleich zum nächsten Sprung ansetzte. Victor hatte gerade noch Zeit, einen Fuß nach hinten zu stellen und dann hatte er sein „Kätzchen“ auf dem Arm. Hildegard konnte ein Kichern ob dieses Anblicks nicht unterdrücken. Der Fürst mit seiner übergroßen „Katze“ hatte durchaus etwas skurriles. „Na da freut sich aber wohl jemand dich wiederzusehen, Victor!“ noch immer lachend suchte sie sich ein Plätzchen von dem aus sie die beiden amüsiert beobachten konnte. Sie zog es vor nicht zu riskieren, dass Nasszur auf die Idee kommen könnte mit ihr genau so verfahren zu können wie mit Victor, denn sie läge jetzt mit Sicherheit mit ein paar unschönen Prellungen unter der Katze auf dem Rücken. Hildegard steuerte also die nächste Marmorbank an die sie fand und wartete ab. Sollte Nasszur tatsächlich zum Spielen kommen wollen, wäre sie zumindest auf dieser Höhe nicht mehr gefährdet sich den Hals zu brechen oder hätte Zeit noch schnell einen Zauber vorher auszusprechen. Auf niedriger Höhe mochte sie Victors ungewöhnliche Katze eigentlich recht gern. Victor schmunzelte selbst über das Riesenkätzchen, dass er plötzlich auf dem Arm hatte, drückte die Nase einen Moment in Nasszurs Nackenfell und nötigte die Katze dann zurück auf den Boden, wo Nasszur ihn beinahe doch noch damit zu Fall brachte, dass er seinen massigen Kopf an Victors Knien rieb. Der Fürst brachte sich dagegen schnell neben Hildegard auf der Bank in Sicherheit und vergrub die schlanken, blassen Finger im Fell des Panthers, der sich mit einem an fernen Donner erinnernden Schnurren zwischen Hildegard und Victor zwängte, um möglichst ausgiebig und von allen verfügbaren Händen gekrault zu werden. „Oha, na da ist ja wieder jemand anhänglich!“ Die Klerikerin legte das Buch zur Seite und beugte sich zu Nasszur herunter, kraulte diesen am Kopf und ging dann dazu über auf der ihr zugewandten Seite mit gleichmäßigen Bewegungen durch das schwarze Fell des Panthers zu streichen. Es hatte fast etwas meditatives die Riesenkatze zu streicheln und dabei ihrem tiefen Schnurren zu lauschen. Eine Weile saß sie schweigend, fuhr mit den Fingern durch das glatte Fell und beobachtete Victors blasse Hände. Im Halbdunkel des Gartens unterschieden sie sich gar nicht so sehr von den ihren, so lange nicht der Schein des Buches ihn gerade streifte. Sie setzte an von ihrer ersten Begegnung mit Nasszur zu erzählen. „Als wir das letzte mal hier waren, überraschte uns deine Katze ja ziemlich. Und sie schien einen ausgesprochen großen Gefallen an Dvalinn gefunden zu haben.“ „Das kann ich mir gut vorstellen. Er springt gerne Leute an und er soll das nicht, weil die meisten Leute dann umfallen. Zwerge mit ihrem tiefen Schwerpunkt haben immerhin die Chance, stehen zu bleiben.“ Nasszur, der zumindest ahnte, dass über ihn gesprochen wurde, drehte die Ohren bald hier, bald dorthin und pfotete mit eingefahrenen Krallen nach Victors Knie, als dieser für einen Moment das Streicheln einstellte. „Ja, genau du, alter Spring-ins-Feld“, bekam der Panther darauf zu hören, aber Victor nahm das Kraulen pflichtschuldig, wenn auch kopfschüttelnd wieder auf. Als katzenkraulendes Herrchen hatte Victor irgendwie so gar nichts arrogantes, befand sie. Im Grunde war er sogar richtig süß in diesem Moment, stellte sie mit leichtem Erschrecken fest. Und sie hatte nicht mehr das Gefühl dieser unbedingten Bedrohung, die sie sofort auf Konfrontationskurs gehen ließ und die dafür sorgte, dass sich bei seinem Anblick alles in ihr sträubte. Die Aggression war verschwunden, irgendwann im Laufe des Abends verloren gegangen. Und sie wäre froh diesen deutlich angenehmeren Eindruck mit nach Hause nehmen zu können. „Ich glaube, dass auch Dvalinn Spaß daran hatte mit Nasszur zu spielen, also ist es nicht schlimm. Glücklicherweise schien er auch unterscheiden zu können, mit wem er das machen kann und mit wem nicht.“ Sie lachte. „Nicht wahr Nasszur?“ Dann drehte sie sich noch einmal zu Victor, ohne aufzuhören den schwarzen Panther zu kraulen. „Ich danke dir jedenfalls für den schönen Abend Victor. Ich glaube es ist deutlich besser so wie es jetzt ist, als noch vor ein paar Stunden.“ „Ich hoffe doch, dass er das weiß“, der Panther versuchte zwar, Hildegards Gebrauch seines Namens als Einladung auszulegen, ihr vielleicht auch mal auf den Schoß zu springen, aber Victor unterband schon den Versuch, als er merkte, wie die Katze die Muskeln anspannte, durch einen festen Griff ins Nackenfell und leichten Druck nach unten. Als Resultat rollte die schwarze Katze sich auf die Stiefel ihres Herren und ließ sich jetzt den Bauch kraulen. „Das freut mich“, antwortete er auf ihre andere Aussage etwas allgemein. Victor hielt nicht viel davon, über solche Dinge zu sprechen. Sie waren oder sie waren nicht, aber meistens redete man sie nicht herbei, sondern tot. Sie nahm das Buch an sich, bückte sich kurz um Nasszur zu streicheln und stand auf. „Wiedersehen Nasszur, wiedersehen Victor.“ Sie klopfte ihm zum Abschied sanft auf die Schulter und ging. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)