Familiengeschichten von Khyre (Der Weg zur Liebe ist ein steiniger) ================================================================================ Kapitel 1: Wiedersehen macht Freude ----------------------------------- Kapitel 1 – Wiedersehen macht Freude Er war schon immer ein ungeliebtes Kind gewesen. Als er drei Jahre alt war, verließ ihn seine Mutter für einen anderen Mann und ließ ihn bei seinem cholerischen, wenn auch fürsorglichen Vater, zurück. Jeden Tag lag ihm das Gebrüll seines Vaters in den Ohren. Das Gebrüll in Abwechslung mit unheimlichem Geflüster, wenn er ihm wieder ins Ohr wisperte, wie grausam doch seine Mutter sei, ihn und seinen Vater allein zu lassen. Er fürchtete seinen Vater für den täglichen lautstarken Tadel und zugleich liebte er ihn. Er war noch immer alles, was er hatte. Als er in die Schule kam, wurde er wegen seiner Schweigsamkeit gehänselt. Die Mittelschule verbrachte er damit, sich in Büchern über Fantasiewelten zu vergraben und seinen Verfolgern die Hänselei doppelt heim zu zahlen, indem er vor den Lehrern gegen sie intrigierte. Und nun, obwohl er bald die Oberschule abgeschließen würde, hatte er es noch immer nicht geschafft, seinen antrainierten Kokon zu verlassen. In seiner Klasse gab es keinen, den er auch nur annähernd als Freund von sich bezeichnen konnte. Lens Blick galt der grauen Stadt, die sich, in einem Talkessel liegend, unterhalb des Fensters seines Klassenzimmers ausbreitete. Schwer hingen die bauschigen Wolken vom Himmel und kleine Wassertropfen trafen bereits gegen die staubige Fensterscheibe und zersprangen dort wie kleine Glassplitter. Nach und nach wurden die Tropfen dicker und diese sammelten sich schließlich zu kleinen Flüsschen und zerteilten Lens Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelte. Irgendwo von Fern nahm Len die Stimme des Lehrers als leises Murmeln wahr. Wenn er fertig war mit der Schule würde er ein Jahr Zivildienst machen. Raus. Er musste weg von hier. Er wusste nicht, ob das Ausland besser war, als hier, aber er wünschte sich einen Neuanfang. Wie gerne würde er zu einer dieser kleinen lachenden Gruppen von Schülern gehören, die er jeden Tag zu Gesicht bekam. Aber zugleich war es, als gehörten diese Gruppen einer anderen Welt an als seiner. Vor den anderen bekam er den Mund nicht auf. Immer wenn er etwas sagen wollte, war es, als bliebe ihm die Zunge im Hals stecken. Was hatte er schon zu erzählen? Das Einzige, was er bisher geleistet hatte, war, sich die Leute, die ihm lästig waren auf widerliche Art vom Hals zu halten. Er fühlte sich schmutzig, so mit anderen umzuspringen. Als ob er eine Sünde begangen hätte, die nicht wieder gut zu machen sei. Als sei er eine wertlose Existenz. Zu gerne wäre aus diesen Gedanken ausgebrochen, aber er wusste nicht, wie. Seufzend schob er sich die vorderen Strähnen seiner schulterlangen, schwarzen Haare aus dem Gesicht, die ihm schon wieder ins Gesichtsfeld hingen. Die meiste Zeit betrachtete er seine Umwelt durch einen leichten Vorhang, den sein langer Pony bildete. Er war nicht hässlich, im Gegenteil. Sein Vater mochte ein unangenehmer Mensch sein, aber sein gutes Aussehen hatte er seinem Sohn vererbt. Wie sein Vater war Len schlank und ein wenig muskulös. Seine Haut war makellos, weich und hell. Und seine leuchtend goldenen Augen gaben seinem Äußeren passend zu dem langen Haar etwas Wildes. Doch Len war nicht wild. Sein Vater war es, aber er war einfach nur ein Verlierer. Seine innere Unsicherheit verweigerte ihm jeden nennenswerten Schritt. Schon zu lange war er mit seinem Vater allein gewesen. Ja, sein Vater war für ihn da. Aber selbst dessen giftige Worte gegenüber seiner Mutter sättigten seine Seele schon lange nicht mehr. Sein Groll gegenüber diesem egoistischen Stück von Frau war zu groß. Nicht einmal innerhalb dieser 14 Jahre hatte sie sich Zuhause blicken lassen. War vom einen Tag auf den anderen verschwunden. Alles, was er noch über sie wusste, war, dass sie wegen einem neuen Kind mit einem anderen durchgebrannt war. Mit einem neuen Kind. Und das Kind, das Zuhause auf seine Mutter gewartet hatte, war vergessen. Der Gipfel der Sache, der eigentliche Grund, warum er überhaupt hier schon wieder am grübeln und warum er so niedergeschlagen war, war das, was nun in Stücken irgendwo vor seinem Haus lag: Ein Einladungsschreiben zum Geburtstag dieser Frau. Wie konnte genau diese Person es wagen, ihm eine Einladung zu ihrer Geburtstagsfeier zu schicken? Abermals flackerte tiefer Zorn in ihm auf und die Worte des Briefs, obgleich er diesen noch während dem Lesen in kleine Fetzen gerissen hatte, schoben sich in seine Gedanken. Es war eine schöne, geschwungene Handschrift gewesen, die verkündete: „Lieber Len, ich weiß, dass es lange her ist, dass wir in Kontakt treten. Aber ich dachte mir, dass es doch gut wäre, wenn wir eine kleine Versöhnungsfeier veranstalten würden. Und was wäre da besser zu geeignet, als mein Geburtstag? Schließlich wird Naoko, deine Halbschwester, ab diesem Jahr die selbe Schule besuchen wie du. Den Schlüssel zu eurem Haus habe ich noch, also mach dir keine Sorgen. Wir kommen auch ohne euch rein. Bis du von der Schule kommst, richten wir schon die Getränke und das Essen hin. Ich habe auch extra Nudelsalat gemacht. Den hast du als Kind doch gerne gegessen! Deine Mama, Mao“ „Versöhnungsfeier“? Was erdreistete sich diese Frau eigentlich? Und was sollte dieses „mach dir keine Sorgen“? Er machte sich eher Sorgen darum, dass diese drei Personen in sein Haus eindrangen. Das war Hausfriedensbruch. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sein Vater würde sie schon rauskegeln. Und dann noch dieses heuchlerische „Deine Mama“. Diese Frau schon lange nicht mehr seine Mutter, das war klar. Mochte ja sein, dass es Zeiten gegeben hatte, in denen diese Frau etwas für ihn zubereitet hätte, doch diese waren längst vorbei. Er hatte sich sein Essen selbst zusammen suchen dürfen, da sein Vater mit der Arbeit schon beschäftigt genug war. Um ehrlich zu sein würde er lieber Steine fressen, als irgendetwas von ihr anzunehmen. Dieser Teufel. Zur Sicherheit sollte er heute gar nicht erst heim gehen. Hastig band sich Naoko die Haare vor dem Spiegel. In ihrem Mund steckte noch das Haargummi, als ihre Mutter sie zum Frühstück rief. "Beeil dich bitte ein bisschen, du bist schon spät dran!" "Ja, gleich!" "Willst du gleich am ersten Tag auf der Highschool als Langschläferin abgestempelt werden?", meinte Mao und stand schon mit den Händen in die Hüften gestemmt im Türrahmen. "Blödsinn - Mobbing in dem Alter, das wäre ja kindisch!", kicherte Naoko und prüfte währenddessen nochmal, ob ihr Haargummi auch gut saß, indem sie nochmal daran herum zupfte. "Du weißt nicht, wie kindisch die Menschen sein können. Intrigen und dergleichen sind sogar eher Sache von Erwachsenen...." "Ja ja...", murmelte Naoko und ging dann in die Küche, wo sie sich gleich einen Toast in den Mund schob, der neben dampfenden warmen Brötchen im Brotkorb auf dem Tisch gelegen hatte. "Den habe ich noch gar nicht getostet!", fuhr ihre Mutter sie daraufhin aber verblüfft an und Naoko fiel das angebissene Brot vor Schreck aus dem Mund. "Hoppla..." "Wo bist du heute morgen mit deinem Kopf?" "Na ja... ich darf doch heute zum ersten Mal meinen Halbbruder treffen! Und dann ist da auch noch deine Feier bei seinem Vater … " Naoko schlug bereits das Herz bis zum Hals. Sie wollte schon immer wissen, wie ihr Halbbruder so war. Nichtmal ein aktuelles Bild hatte sie von ihm. Nur ein Bild von dem ganz kleinen Len. Er sah so putzig aus zwischen ihrer Mama und seinem Vater. "Das aber auch nur wegen dir. Ich hoffe, dass Ray über die Jahre ruhiger geworden ist. Das ist mehr ein Experiment, verstehst du? Nicht, dass jetzt die große Familienfreude ausbricht … " "Muss man denn mit den Gefühlen von Menschen herum experimentieren, bevor man ihnen vertraut?" "Anders geht es hier eben nicht. Und jetzt auf!", beendete Mao das Gespräch, schob ihrer Tochter das Vesper zu und winkte sie zur Tür, "Nimm dich vor Len aber in Acht - er hat die Erziehung seines Vaters genossen." "So schlimm kann er ja nicht sein!", grummelte Naoko, während sie in ihre Jacke schlüpfte. Sie fand es ganz schön fies, dass ihre Mutter ihr die Freude auf den Tag nehmen wollte, auf den sie so lange gewartet hatte. Eigentlich wollten Mao und Kai ein Treffen der Geschwister und einen allgemeinen Kontakt zu Ray vermeiden, doch Naoko hatte so sehr darauf bestanden, dass die Eltern schließlich nachgeben mussten. "Wie findest du eigentlich die neue Uniform?", lenkte Naoko das Thema um. "Schick,“ antwortete Mao kurz angebunden, steckte ihrer Tochter das Vesper zu und schob sie zur Tür hinaus. „Und jetzt geh!" Bis Naoko ihren Halbbruder aber treffen konnte, vergingen gähnende Stunden Einführungsunterricht und als es dann endlich zur Großen Pause klingelte, musste sie sich erst durch ein Knäul von kichernden Mädchen durch quetschen, das sich vor dem Klassenzimmer des Physikleistungskurses gebildet hatte. Die Mädchen schienen sich brennend dafür zu interessieren, jemanden zu interessieren, der dort gerade Unterricht hatte. „Wer bist du denn?!“, wurde sie gleich gefragt, als sie sich gerade zur vordersten Reihe vorgekämpft hatte. „Ich heiße Naoko Takagawa und will bloß zu meinem Halbbruder!“, antwortete sie genervt. „Was ist das denn für ein Auflauf hier?!“ „Kann es sein, dass du neu bist?“ „Ja, bin ich.“ „Ach so. Dann kannst du nicht wissen, dass dort ein unglaublich gut aussehender junger Mann drin sitzt!“ „Nein, weiß ich nicht. Der interessiert mich auch nicht.“ Endlich kamen die ersten jungen Männer aus dem Klassenraum. Naoko zückte das Kindheitsfoto von Len und versuchte, sich vorzustellen, wie der kleine schwarzhaarige Fratz nun heute wohl aussah. Aber die gelb-goldenen Augen waren unverkennbar. Er kannte außer ihrer Mutter so gut wie niemanden mit solchen Augen. „Oh, er kommt!“, flüsterte es um sie herum und die Mädchen begannen nun, sich möglich unauffällig zu formieren, sodass es den Anschein machte, sie stünden nur zum Zeitvertreib hier vor diesem Zimmer. Naoko, die nicht so recht wusste, was sie in dieser Situation tun sollte, wandte ihren Blick nur wieder der Tür zu. Ein junger, wenn auch etwas trüb aussehender Mann mit langem, glatten Haar trat nun durch die Tür und ein paar der Mädchen versuchten, unauffällig einen Blick auf ihn zu erhaschen. Das konnte nicht sein! War ihr Halbbruder etwa ein Frauenschwarm?, ging es Naoko durch den Kopf. Wenn sie nur die Augenfarbe von dem Typen erkennen könnte! Len hatte Hunger und genug von der Welt für heute. Er hatte sich verschiedene Orte überlegt, an denen er heute die Nacht verbringen könnte, aber freuen tat er sich nicht darauf. Aufgrund des mangelnden Freundeskreises blieben nur Orte wie die Parkbank, ein Karton oder das Schulgelände übrig. Am gemütlichsten wäre wohl das Krankenzimmer, aber Len hatte keine Lust, sich auf seine schauspielerischen Fähigkeiten einzulassen. Er hasste es im Grunde, Menschen zu belügen, um sie für ihre Zwecke einzusetzen. Er wusste genau, wie es ging, aber es war ihm zu wider. In seiner Grübelei wäre es fast mit jemandem zusammen gestoßen, der irgendwie ungünstig mittig vor dem Klassenzimmer stand. Als er aufblickte, machte sein Herz einen kurzen Satz. Er hatte keine solche Schönheit erwartet. Da stand ein junges Mädchen vor ihm, mit einem zu einem Pferdeschwanz hochgesteckten pinkem Haar und rubinroten Augen. Auch ihr Vorbau war nicht schlecht. Die Überraschung wurde neben dem Erscheinungsbild aber noch durch ihre ersten Worte getoppt: „Len? Len Kon?“, fragte das Mädchen unsicher. Woher kannte sie seinen Namen? Er hatte richtig goldene Augen! Wie ein Kätzchen. Und dann die dünnen Lippen, die weiße Haut und die leicht kantige Gesichtsform, die ihn irgendwie elegant erscheinen ließen. Sie verstand gut, warum er so beliebt bei den Frauen war. Aber er war ihr Halbbruder und deshalb warf sie sich ihm einfach in die Arme, um ihn richtig zu begrüßen. Ihr entgingen dabei nicht die Zischlaute, die die umstehenden Mädchen dabei von sich gaben. „Len! Endlich sehe ich dich mal im Original!“, rief Naoko erleichtert und froh und drückte ihn nochmals fest. „Weißt du, ich habe von dir immer nur dieses eine Foto hier gehabt! - wo hab ich es denn hin?“, wunderte sie sich und kramte danach. Dann zuckte sie aber mit den Schultern und blickte zu Len auf. „Ich bin Naoko! Freut mich, dich kennen zu lernen!“ Lens Gesicht war zunächst einfach nur verblüfft. Naoko musste innerlich lachen, weil sie das Gefühl hatte, mitverfolgen zu können, wie sich seine Rädchen im Kopf langsam drehten. Dann aber wandelte sich sein Gesichtsausdruck zu einer finsteren Miene. Sein Kiefer spannte sich an und plötzlich wurde Naoko flau in der Magengegend. Er sah gerade wirklich aus, als wolle er sie am liebsten töten. „Ähm … war ich zu direkt?“, fragte Naoko in entschuldigendem Tonfall. Len war sauer. Zum einen natürlich, weil diese Ausgeburt von Halbschwester ihn begrüßte, als wären sie die besten Freunde. Besonders aber war er auch sauer auf sich, dass er sich von ihrem Erscheinungsbild hatte so täuschen lassen. Natürlich, Naoko sah ihrer Mutter zum verwechseln ähnlich. Als hätte es in seinem Kopf einmal „Klack“ gemacht, kamen dunkle Erinnerungen an seine Mutter in ihm auf. „Verschwinde …“, knurrte Len und es war mehr aus Selbstschutz, denn als Aggression gemeint. „Ähm … hör mal! Tut mir Leid, o.k.? Ich weiß, ich war ein bisschen voreilig! Aber, ich dachte, weil wir Geschwister sind -“ „Wir haben nichts miteinander zu tun,“ fiel ihr Len ins Wort und wandte sich zum gehen ab. „Aber die Feier - !“ „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich zu dieser lächerlichen Feier gehe?!“, fuhr Len herum. „Lass mich einfach in Ruhe! In einem Jahr mache ich Abitur und dann sehen wir uns nie wieder. Du wirst dieses Jahr mit mir an einer Schule auch aushalten, ohne mir gezielt über den Weg zu laufen.“ „Aber ich will dich doch kennen lernen! Len, ich habe so lange darauf gewartet!“ „Ich dich aber nicht. Bestell unserer „Mutter“ einen schönen Gruß. Sie wird mich heute nicht auf der Feier sehen.“ Und mit diesen Worten ging er endgültig davon. Er drehte sich auch nicht mehr um. Aber er wusste, dass Naoko von diesen Worten sehr geknickt sein würde. Vielleicht weinte sie auch. Er wollte nicht so kalt ihr gegenüber sein. Unter anderen Umständen hätte er sie gerne kennen gelernt. Dass überhaupt jemals jemand sich so direkt ihm zu wandte, war das erste Mal in seinem Leben. Sie wirkte auch sympathisch. Aber es ging nicht. Es ging einfach nicht. Naoko weinte nicht unmittelbar. Sie verkroch sich dazu auf die Mädchentoilette. Ein Fehler, wie er größer nicht sein konnte. Dort riefen ihr die „Fangirls“ ihres Halbbruders nämlich nur deutlich genug hinterher, dass ihr das recht geschehe. Mit Mühe und Not plagte sie sich noch durch den Schultag und kam endlich, als es schon dunkel war, aus dem Schuldgebäude. Es war die letzte Stunde überhaupt für diesen Tag gewesen und hinter ihr, die als letzte aus dem Klassenzimmer und dann auch durch aus der Schule gegangen war, schloss der Hausmeister die quietschenden Türflügel des Stahlzauns vor dem Gebäude. Es war furchtbar kalt und der erste Schnee für dieses Jahr fiel. Aber der interessierte Naoko nicht. Sie zog den Kragen ihrer Jacke nach oben und steckte die Hände in die Taschen. Dann watschelte sie in Richtung Feier. Ihre Mutter hatte ihre eine Beschreibung zu dem Haus gegeben, die einfach zu verstehen war. Aber Naoko wollte gar nicht mehr so recht auf die Feier. Wie würde wohl dieser Ray reagieren? War es denn das richtige, was sie und ihre Eltern hier versuchten? Und würde Len wirklich nicht kommen? Wo er wohl hinging, wenn nicht nach Hause? Er würde sicher irgendwo bei Freunden Unterschlupf finden. Es würde sicher jemand da sein, der ihn wegen seinem Trampel von Halbschwester tröstete. Es tat ihr so Leid. Sie wollte ihn nur kennenlernen und hatte überhaupt nicht an seine Gefühle gedacht. Wäre sie nur etwas subtiler an die Sache herangegangen … Len war so sauer gewesen, dass er vergessen hatte, dass er der Frau im Krankenzimmer das Krank-Sein vorspielen wollte. Er war einfach in den Park gegangen und ewig herum gelaufen. Und als er auf die Uhr blickte, war es bereits zu spät, um in der Schule unter zu kommen. Und noch dazu war es jetzt bitter kalt. Er hatte nicht mal eine ausreichend warme Jacke mitgenommen. Sollte er die Nacht einfach im Bahnhof verbringen? Dann doch lieber im eigenen Keller. Wenn er sich zum richtigen Zeitpunkt in den hinteren Teil vom Keller schleichen würde, bekäme das wohl keiner mit und er hätte seine Ruhe. Und wegen dem Heizkessel war es dort sogar angenehm warm. Zunächst würde er sich aber etwas zu essen kaufen und die Zeit ein wenig tot schlagen, bis sicher war, dass alle „Gäste“ im Haus waren, damit er sich über den Garten in den Keller schleichen konnte. Die Geburtstagsfeier verlief ziemlich trist. Ray hatte sich, sobald Familie Takagawa seine Türschwelle übertreten hatte, in den Keller verzogen. Er meinte, er müsse noch Wäsche bügeln und wünschte ihnen ein schönes Fest. Naoko, die einen cholerischen, furchteinflösenden Mann erwartet hatte, war über Rays ruhige Begrüßunf positiv überrascht gewesen, aber nun stand sie genauso verloren in den halbdunklen Wohnraum der Familie Kon und starrte auf ihren leer gegessenen Teller. „Versöhnungsfeier, ja?“, löste sich die tiefe Stimme von Kai Takagawa aus der Stille. „Der Sohn kündigt an, er kommt nicht und der Vater verschwindet in den Keller. Ich denke, damit ist ja alles geregelt. Jetzt, wo wir gegessen haben, können wir ja gehen, oder?“ Mao, Naokos Mutter, hob den Kopf nicht an. Draußen begann es wieder zu schneien. Auch Naoko erwiderte nichts. Schließlich hatte sie ja auch wunderbar zu diesem Ergebnis beigetragen. Um abgelenkt zu wirken schaute sie sich nochmals im Raum um. Die kirschrot gestrichenen Wände waren schon schräg. Aber sonst wirkte das Haus eigentlich sehr schön. Es war im Vergleich viel größer als das Haus ihrer Familie und es hingen verschiedene Moderne Gemälde an der Wand. Der Tisch an dem sie saßen, stand normalerweise in der Küche, die im hinteren Teil des Hauses lag. Neben der Küche zweigten noch ein weiteres Zimmer in den hinteren Teil ab, das Naoko aber noch nicht betreten hatte. Genauso wie auch den Raum im vorderen Teil der Wohnung, der links von der Haustür lag. Die Fenster waren erstaunlich hoch für die einer Wohnung und gaben der Einrichtung aus Möbeln im Jugendstil eine zusätzliche noble Note. Nein, eigentlich fand sie die roten Wände doch nicht so schlecht. Überhaupt hatte sie nicht den Eindruck, dass hier ein furchtbarer Mensch mit seinem Sohn wohnte. Schließlich fasste sie doch einen Entschluss. „Mama, Papa, ich möchte versuchen, mit Ray zu sprechen.“ „Wie meinst du das?“, fragte Mao. „Ich werde runter in den Keller gehen und ihn zu uns rauf bitten. So schwer kann das doch nicht sein. Es wäre doch schade, wenn wir umsonst hergekommen wären. Wir sollten wenigstens versuchen, miteinander zu reden.“ „Dann komme ich mit,“ rief ihr Vater. „Nein, ich gehe alleine.“ „Wieso?“ „Weil ich glaube ich am unparteiischsten bin.“ „Du weißt, dass er gefährlich ist? Was, wenn er auf dich losgeht?“, fragte ihre Mutter besorgt. „Das wird er schon nicht!“, und Naoko musste lachen. Sie behandelten Ray wirklich wie ein unberechenbares Tier. Ratlos blickten das Ehepaar sich an. „Ich nehme meine Handy mit, ja? Und wenn wirklich etwas sein sollte, kann ich mich ja per Kurzwahl gleich melden!“, schlug Naoko vor. Mao zuckte mit den Schultern. Das nahm Naoko als „Ja“ und schon rannte sie zur Tür, streifte sich ihren Mantel über und folgte den Fußspuren im Schnee hinter das Haus. Als Naoko die Tür zum Keller öffnete, stand Ray tatsächlich vor einem Bügelbrett und glättete seine Wäsche. Überraschung war in seinem Gesicht abzulesen. Der Keller war behaglich warm und so legte Naoko ihre Jacke erst einmal auf einem Schränkchen am Treppenabsatz ab und steig dann zu Ray herunter. Ray war wohl genauso schweigsam wie Len, denn er sprach sie auch nicht an, als sie vor ihm stand. Stattdessen lächelte er aber. Als Naoko ihn in diesem hell beleuchteten Raum zum ersten Mal deutlich sah – in der Wohnung hatte zuvor auch das Halbdunkel vorgeherrscht – bekam sie Herzklopfen. Zugegeben, Len sah gut aus. Aber sein Vater übertraf ihn bei weitem. Durch das ärmellose, eng anliegende Hemd war sein gut trainierter Körper gut nachzuvollziehen und seine vollen Haare waren deutlich wild frisiert – ganz im Gegenteil zu der Nicht-Frisur seines Sohnes. Und vor allem wirkte er auch viel netter als Len, dem sie kein Lächeln zutraute. Wie alt war Ray? 36 oder so?, ging es Naoko durch den Kopf. Sie konnte es nicht glauben. „Äh …“, ergriff sie das Wort unbeholfen, „ich … wollte …-“ „Ja?“ „Es ist … wegen der Feier. Willst du nicht zu uns nach oben kommen?“ Bei der Aufforderung grinste Ray. Dann schritt er bestimmt auf Naoko zu, die ihrerseits verunsichert nun rückwärts ging. Es war nicht aus Angst. Im Gegenteil. Sein Lächeln hatte etwas unglaublich Attraktives. „Ähm!“, entfuhr es Naoko, als sie an die Wand stieß und Ray ihr nun so nahe war, dass sie seine Körperwärme zu spüren bekam. In ihrer Tasche begann das Handy zu vibrieren, aber Naoko war wie erstarrt als sie in Rays Gesicht blickte, und ihr Blick von seinen geschwungenen Augenbrauen über die reine Haut bis zu dem schwungvoll ins Gesicht fallende, tiefschwarze Haar bis hin zu seinen Lippen wanderte. Ray stützte seine muskulösen Unterarme an der Wand hinter ihr ab. Er roch süßlich. „Die Versöhnungsfeier, nicht wahr?“, meinte er in amüsiertem Tonfall. Naoko schwieg und blickte ihm einem Herzschlag, der so heftig war, dass sie ihn mit ihren eigenen Ohren zu hören schien, in die gold-gelben Augen. „Was würden sie zum Thema Versöhnung sagen, wenn sie erfahren würden, wie ich über dich herfalle?“, fragte Ray und grinste. „Was?“, flüsterte Naoko erschrocken. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Aber die Zeit, darüber nachzudenken, bekam sie nicht. Ray hatte ihre Lippen bereits mit den seinen versiegelt. Es war ihr erster Kuss. Und er war gut. Sie hatte das Gefühl, je öfter Ray ansetzte, ihr Körper nach und nach zu zerfließen begann. Er war zärtlich. Der Seufzer, der Naoko entglitt, ging aber in dem Quietschen der aufgehenden Kellertür unter. Doch es waren nicht ihre Eltern, die dort in der Tür standen, sondern ein komplett fassungsloser Len, dem bei dem Anblick die Kinnlade herunter geklappt war. Irgendwie sah er so richtig dämlich aus. „Guten Abend, Len,“ begrüßte ihn sein Vater beschwingt. Len schien allerdings nicht in genauso guter Laune zu sein, denn nach mehreren Ansätzen brüllte er seinen Vater an: „Was zum Geier tust du da?!“, und stapfte zu ihnen die Treppe herunter. „Ich amüsiere mich ein wenig. Nichts weiter,“ gab Ray noch immer ungeniert zurück. „Amüsieren?!“, fragte Len fassungslos, riss die beiden auseinander und stellte sich vor Naoko. „Bist du komplett übergeschnappt?! Ich habe ja viel über deine Weibergeschichten gehört, aber das geht zu weit. Das ist Missbrauch von Minderjährigen. Noch dazu von einem Familienmitglied. Ich bin so enttäuscht von dir. Ich weiß, dass du -“ „-Was ist hier los?“, kamen Stimmen von draußen und Mao und Kai kamen zur Tür herein. „Ray hat sich an Naoko vergriffen,“ erklärte Len verbittert. Sofort verfinsterten sich die Mienen der beiden. „Ist das wahr?“, fragte Mao und blickte ihre Tochter an. Naoko wirkte überfordert mit der Situation und stammelte nur ein: „Nein, es … ich … es war nur ein-“ „Es ist wahr,“ erwiderte Ray nur mit einem kalten Lächeln. „Allerdings sind wir nicht sehr weit gekommen. Ich kann das bei Zeiten dann mal nachholen.“ Dafür fing er sich einen Kinnhaken von dem vor Zorn bebenden Kai ein, der ihn gegen die hintere Wand taumeln ließ. „Naoko, zeig dich!“, donnerte ihr Vater und Naoko trat völlig eingeschüchtert vor. Doch außer dem Kuss war nichts geschehen und Naokos Kleidung saß noch ordnungsgemäß an ihrem Platz. „Wir gehen!“, bestimmte Kai nach strenger Prüfung seiner Tochter und zog sie mit sich. „Ich hätte wissen sollen, dass es nicht anders kommt.“ Naoko wandte sich so gut es ging um und versuchte, noch einen Blick auf Ray zu erhaschen. Ob er ernsthaft verletzt war? Doch Ray entgegnete ihren Blick nur mit einem Lächeln. Dann wurde sie schon durch die Tür nach draußen gezogen. Kapitel 2: Merkwürdige Freundschaft (zensiert) ---------------------------------------------- Kapitel 2 – Merkwürdige Freundschaft Den Rest des Abends hatte Naoko damit verbracht, ihren Eltern möglichst ausführlich zu erklären, was passiert war. Doch unter diesen Umständen war Ray noch nicht viel anzuhängen – zumal Naoko die Situation auch gar nicht als schlimm empfunden hatte, wie sie immer betonte. Naoko war froh darum. Sie machte sich eher Sorgen um Ray. Ihr Vater versuchte sogar, sie zu überreden, auf eine andere Schule zu gehen, damit sie Len auch nicht mehr begegnen musste. Aber das konnte sie ihm ausreden. Ob sie Len wirklich wieder sehen wollte, oder nicht, wusste sie nicht. Auch wenn es vollkommen logisch war, wie Len reagiert hatte, war sie ihm irgendwie böse. Aber wegen dieser Sache nun die Schule zu wechseln, hielt sie für übertrieben. Die nächste Überraschung wartete schon in der großen Pause auf sie, als Len in ihr Zimmer kam und mit der Hand auf ihren Tisch schlug. „Ich werde dich beschützen.“ „Äh … was?“, fragte Naoko überfordert und blickte Len fragend an. Im Hintergrund begann wieder das Geraune. „Ich weiß, dass ich vielleicht nicht der Richtige bin, um Leute zu beschützen, aber mein Vater ist nicht berechenbar. Und ich bin, glaube ich, der Einzige, der weiß, wie man mit ihm umgeht.“ „Du willst mich vor deinem Vater beschützen? Danke, aber ich denke ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen,“ entgegnete Naoko. „Das bezweifle ich.“ „Und wie willst du das anstellen, wenn ich fragen darf?“ „Ich werde dich einfach nach Hause begleiten. In der Schule sollte Ray kein Problem werden.“ „Kannst du dich nicht einfach normal mit mir anfreunden, du Loser?“, fragte Naoko nun provokant. Ihr ging das Theater um Ray wirklich auf die Nerven. „Es geht hier nicht um solche Banalitäten!“, fluchte Len. „Du siehst meiner Mutter zum verwechseln ähnlich. Bist für ihn quasi nur die jüngere Version von ihr. Weißt du, was das vermutlich für einen Eindruck auf ihn macht? Was du in ihm evozierst?“ „Alles wird gut,“ meinte Naoko nur und seufzte. Sie fragte sich gerade wirklich, wer von Vater und Sohn den größeren Schaden hatte. „Ich begleite dich nach Hause. Keine Widerrede,“ beendete Len das Gespräch und ging. „Meinetwegen,“ murmelte Naoko nur. Warum hatte sie sich noch gleich auf ihren Halbbruder gefreut? Der war ja echt schlimmer als ihr Vater. Wie versprochen begleitete Len sie nach Hause. Mao und Kai waren positiv über Lens Verhalten überrascht, aber dieser winkte nur ab, dass das in der Situation selbstverständlich wäre und ging wieder, ohne ins Haus zu kommen. Die Gunst von Mao und Kai waren ihm egal. Besonders die Gunst seiner Mutter war ihm ganz besonders egal. Am liebsten hätte er einen Rückzieher gemacht, aber nun hatte er schon so groß angegeben, dass er Naoko beschütze, also musste er sich auch daran halten. Auch wenn diese sich darum gar nicht scherte. Im Gegenteil, sie machte sich sogar darüber lustig. Das war traurig. Und was noch schlimmer war, sie hatte ihn als „Loser“ bezeichnet. Len schloss die Haustür auf und begab sich schlafwandlerisch in sein Zimmer. Sein Zimmer lag stets im Dunkeln und war nur spärlich eingeräumt. Im rechten Eck, direkt neben der Tür stand noch immer sein Kinderbett, das nun mit einem weißen Tuch überdeckt völlig verstaubt zurückgelassen da stand. Es gab nur ein Fenster in seinem Zimmer und vor diesem hing immer der weiße Vorhang, der über die Zeit schon gräuliche Farbe angenommen hatte. Len warf sich auf das durchgelegene Sofa, das ihm seit Jahren als Bett diente, und stieß sich dabei beinahe an dem kniehohen Glastisch, der vor dem Sofa aufgestellt worden war. Er hatte nicht einmal große Lust, seinen Rucksack vom Rücken zu nehmen. Und so lag er auf dem Bauch in dem Halbdunkel. Dass er ein sozialer Versager war, war ihm nichts Neues. Aber es so direkt ins Gesicht gesagt zu bekommen, tat weh. Am nächsten Tag vor der Schule auf Naoko zu warten, machte ihn fast wahnsinnig. Letztlich hatte er sich doch entschlossen, die Beschützerei sein zu lassen. Schließlich wollte er sich ihn nicht aufdrängen und außerdem war er es Leid, zu jemandem freundlich zu sein, der diese Freundlichkeit gar nicht wollte. Naoko ließ auf sich warten, aber als sie endlich aus dem Gebäude kam, lief sie ihm strahlend entgegen. „Len!“, rief sie und kramte aus ihrer Tasche ein kleines Geschenk. „Hier!“ Len war verwirrt, aber er nahm das Geschenk entgegen. „Wofür - ?“ „Ich wollte mich entschuldigen. Das gestern … war nicht so gemeint. Ich war bloß so sauer, weil alle Ray weiß-Gott-was anhängen und dabei hat er mich doch bloß geküsst. Ich weiß, dass du es auch nur gut gemeint hast.“ „Oh.“ „Meinst du nicht, dass wir einfach so Freunde werden könnten?“ „Ähm ja, gerne!“, rief Len überrascht und nach Jahren zeichnete sich auf seinem Gesicht ein Lächeln ab. Das brachte auch Naoko zum Lächeln. Sie fand, dass Len so richtig niedlich aussah. Von diesem Tag an trafen sie sich nicht mehr nur auf dem Hin- und Rückweg von der Schule, sondern auch immer öfter am Wochenende oder nach der Schule und unternahmen etwas. Ob nun im Kino oder auf Schulfesten, oder einfach nur im Gang, man sah die beiden immer nebeneinander stehen. Lens Fangirls nahmen die gute Beziehung zwischen den beiden zähneknirschend hin und manche versuchten sogar, aus Naoko geheime Informationen über Len heraus zu quetschen. Über den heimlichen Fanclub von Len zu reden, brachte beide aber immer zum Lachen. Len hatte von diesem bisher gar nichts mitbekommen und war daher umso überraschter, als Naoko begann, davon zu erzählen. Über Ray schwiegen sie sich aus und bald war er auch aus Naokos Bewusstsein verschwunden. Es war in der Nacht vor Weihnachten, als Len bemerkte, dass er mehr Gefühle für seine Halbschwester hatte, als gut für ihn waren. Sie waren noch bis spät zusammen unterwegs gewesen und Naoko hatte ein wenig Glühwein getrunken. Und als sie in der leeren Bahn saßen, legte sie sich auf Lens Schoß, um ein wenig zu dösen. Naokos schlafende Gestalt war für Len ein unbeschreiblich schöner Anblick. Er strich ihr sanft ein paar Strähnen aus dem Gesicht und musste über die vom Glühwein geröteten Wangen lächeln. Doch dann fiel sein Blick auf den leicht geöffneten Mund des Mädchens und sein Herz begann unweigerlich zu schlagen. Was wenn er -? Er blickte sich um. Sie waren wirklich nur zu zweit in dem Abteil. Aber er durfte nicht, schließlich war sie seine Halbschwester. Er durfte einfach nicht. Außerdem war es nicht einmal sicher, ob sie überhaupt von ihm geküsst werden wollte. Und so wandte er den Blick ab und blickte, mal um mal seufzend aus dem Fenster. Den Weihnachtstag verbrachten sie auf dem Weihnachtsmarkt und schauten sich überall um. Besonders Naoko war voll dabei und sie bestaunte die vielen kleinen Dinge, von Rehkitzfiguren bis hin zu Lebkuchenhäusern. Vor den Räucherkerzen machten sie auch halt. Len war in seinen Gedanken woanders. Es irritierte ihn, von Naoko an der Hand genommen und überall hin mitgeschleppt zu werden. Es wusste, dass sie es sicher nur freundschaftlich meinte, aber er musste sich wirklich oft zureden, um diese warme Hand, die ihn führte nicht anders zu deuten. Er wurde richtig aus den Gedanken gerissen, als Naoko ihm ein Räucherstäbchen unter die Nase hielt. „Riech mal!“, meinte sie und er gehorchte. „Flieder oder so?“, gab er zurück. „Ich finde, die riechen wie du!“, rief Naoko und lächelte breit. „Unsinn, Menschen riechen doch nicht wie Räucherkerzen … “, grummelte Len, fühlte sich aber dennoch geschmeichelt. Sie sah so süß aus, wenn sie gute Laune hatte … Den Weihnachtsabend verbrachten sie bei den Takagawas. Len war seit der Beschützer-Aktion vor Ray ein willkommener Gast bei Mao und Kai und bekam zu Weihnachten sogar Geschenke von ihnen. Len hatte sich seine Mutter immer unsympathisch vorgestellt, doch je länger er Mao nun kannte, desto mehr begriff er, dass die Trennung seiner Eltern wohl nicht an ihr gelegen hatte, sondern an seinem Vater. Mao blieb für ihn noch immer eine Fremde, und er war sich sicher, dass die Lücke, die sich durch die lange Trennung ergeben hatte, sich auch nie vollständig schließen würde. Aber sie wurde mehr und mehr Mensch für ihn und er würde sogar so weit gehen, Mao als eine Freundin von ihm zu bezeichnen. Es war einfach schön, mit den Dreien Zeit zu verbringen. Als Naoko ihr Geschenk von Len öffnete und lilafarbene Räucherstäbchen zum Vorschein kamen, warf sie sich ihm um den Hals. Mao und Kai mussten lachen, wie Len so überrumpelt und mit peinlich berührtem, rotem Gesicht unter ihr auf dem Boden lag. Weil es spät wurde, hatte Mao in Naokos Zimmer für Len einen Futon aufgeschlagen. Als Len aus dem Bad zurück ins Zimmer kam, saß Naoko auf ihrem Bett und betrachtete die Schachtel Räucherstäbchen in ihren Händen. Doch als sie das Geräusch der Tür vernahm, blickte sie auf. Sie sah Len zum ersten Mal mit offenen Haaren. Und das stand ihm erstaunlich gut. „Ich nehm's zurück!“, rief sie ihm entgegen und lächelte. „Was nimmst du zurück?“, fragte Len verwirrt und setzte sich auf den Futon vor sie. „Ich dachte immer, dass du so furchtbar aussiehst mit den langen Haaren. Aber sie stehen dir.“ „Oh, danke …“, meinte Len verlegen. Anfangs hatte sie sich wirklich lustig über Len gemacht. Aber je näher sie ihn kennen gelernt hatte, desto mehr hatte sie ihn schätzen gelernt. Er war so ein lieber Mensch und so goldig. „Weißt du, Len, ich hab mich total gefreut, als du mir die Räucherstäbchen geschenkt hast.“ „Ja, das habe ich gemerkt,“ erwiderte Len und musste kichern. „Aber warum?“ „Weil mir das zeigt, dass du mir zugehört hast.“ „Wie? Ähm … ist das nicht normal?“ „Nein, finde ich nicht“, sagte sie bestimmt, blickte dann aber zu Boden. „Len … ich …“, begann sie dann zögerlich und stubbste dann den sitzenden Len auf den Futon, sodass sie nun auf ihm saß. „Würdest du … mit mir mein erstes Mal haben? Ich … kann mir sonst niemanden vorstellen … ich … ich glaube, ich habe mich in dich verliebt …“ Len blickte sie an, als hätte Naoko von ihm verlangt, er müsse auf der Stelle zwei Tonnen Fleisch essen. Wusste dieses Mädchen, was sie da gerade von ihm verlangte? Scheinbar nicht, sonst hätte sie nicht gefragt. Sie, verliebt in ihn? Das konnte doch nicht sein! Sie waren Geschwister. Nein, das ging nicht! „Naoko, wir sind Geschwister. Das geht nicht,“ gab er bestimmt zurück. „Halbgeschwister!!“ „Das macht doch keinen Unterschied!“ „Du hast also nur Gefühle als Bruder für mich?“ „Ich … Es gehört sich nicht und fertig aus.“ „Du hast also Gefühle! Es muss doch keiner Wissen!“ „Das habe ich nicht ges -“ Aber weiter kam er nicht, da Naoko ihn einfach küsste. Richtig, es musste ja keiner wissen. Und so gab er sich dem Kuss hin. Und nicht nur dem Kuss. Naoko fühlte sich wohl. Auch wenn Len seine Unsicherheit anzumerken war, war er doch lieb und zärtlich. Sie war sicher auch die erste Frau mit der er so intim geworden war. Das mit dem gemeinsamen Höhepunkt klappte nicht so recht, aber es war für beide eine Erfahrung, für die es in diesem Augenblick keinen anderen gegeben hätte, mit dem sie diese gern gemacht hätten. Kapitel 3: Strategisch ungünstig -------------------------------- Kapitel 3 – Strategisch ungünstig Len und Naoko wurden durch ein Klopfen an die Tür aus dem Schlaf geschreckt. „Seid ihr wach?“, flötete es von draußen. „J-Ja!“, antworteten die beiden im Chor. „Sehr schön. Frühstück ist fertig!“ So schnell sie konnten, schlüpften in ihre Kleider und zogen sich an. Dann wurden sie auch gleich zum Einkaufen geschickt. Naoko, die überglücklich war, hakte sich bei ihm ein und in einer einsamen Minute zog sie Len sogar zu sich und wollte ihn küssen. Aber dieser wies sie ab. „Naoko, das war einmal, ja?“ „Was meinst du?“, fragte Naoko etwas enttäuscht, weil sie ihm gegenüber gerne ihre Zuneigung ausgedrückt hätte. Len antwortete nicht unmittelbar. Aber Naoko war geduldig und letztlich wandte Len den Kopf zur Seite und meinte: „Ich habe nur mit dir geschlafen, weil du es dir gewünscht hast. Jetzt hattest du dein erstes Mal und jetzt ist gut.“ Naokos Antwort war eine Ohrfeige. „Du hast was …?!“ „Wir sind Geschwister, dabei bleibe ich.“ Das war zu viel für Naoko. Sie brach in Tränen aus und schrie Len an, er solle sich zum Teufel scheren. Dann rannte sie davon. Len tat es Leid. Natürlich war es gelogen. Aber er konnte die Verantwortung für so eine Beziehung nicht auf sich nehmen. So wäre sie vielleicht eine Weile traurig, aber auf Dauer konnte er so den Frieden in der Familie sichern. Da war er sich sicher. Wenn sie meinte, er solle sich zum Teufel scheren, war ihm das nur Recht, auch wenn er sich Sorgen machte, wo sie jetzt wohl hin lief. Aber Naoko hatte im Gegensatz zu ihm einen stabilen Freundeskreis. Sie würde schon jemanden finden, bei dem sie sich ausweinen konnte. Und so machte er sich auf den Heimweg, um sich nach der langen Nacht ein wenig hinzulegen. Er schritt wortlos an seinem Vater vorbei, der gerade in der Küche stand und Plätzchen backte. Doch er konnte einfach nicht einschlafen und wälzte sich wegen seines schlechten Gewissens nur herum. Schließlich beschloss er, spazieren zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen. Naoko ging zu niemandem. Sie hatte sich im Park auf einer Bank nieder gelassen und still vor sich hin geweint. Sie war so wütend auf Len, weil er sich nicht richtig zur Wehr gesetzt hatte, sondern einfach nur mitgemacht hatte, um ihr einen Gefallen zu tun. Sie brauchte so ein komisches Mitleid nicht. Wenn er sie als Schwester ansah, sollte er dabei bleiben! Aber letztlich tat es ihr doch Leid, da sie ja diejenige war, die die Initiative ergriffen hatte und ihn so überrumpelt hatte. Hatte er an dem Abend nicht auch Wein mit ihren Eltern getrunken gehabt? Vielleicht hatte er auch deshalb die Kontrolle über sich verloren. Sie sollte sich entschuldigen gehen. Schließlich hatte sie ihn lieb. Auch als Freund und Halbbruder. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, ging sie dann einkaufen, wie ihr befohlen und nach Hause. Ihre Mutter wunderte sich, dass Naoko alleine zurück kam, aber diese entgegnete nur, dass die Einkäufe ja nicht so schwer wären und Len etwas dazwischen gekommen war. Der verwunderte Gesichtsausdruck war nicht wirklich von Maos Gesicht zu wischen, aber sie hakte auch nicht nach. Dann ging Naoko schon wieder aus dem Haus und meinte, sie wolle spazieren gehen. Maos Sorge war ihr deutlich am Gesicht abzulesen, doch sie ließ ihre Tochter gehen. Eine halbe Stunde später stand Naoko vor dem Haus der Kons. Doch es war nicht Len, der ihr die Tür öffnete, sondern Ray. „Len? Der ist vor ein oder zwei Stunden wieder aus dem Haus. Ich denke aber, dass er bald zurück kommt. Willst du nicht so lange reinkommen?“ Naoko hatte schon völlig vergessen, wie gutaussehend Ray war und erstarrte einen Moment als sie ihn wieder vor sich sah. Dann fasste sie sich aber wieder. Ray war ja laut aller unberechenbar und ihre letzte Begegnung war alles andere als romantisch zu deuten. Laut Len war Ray ja auch ein Weiberheld. Das wunderte Naoko nicht, bei diesem Aussehen. Laut Len war der Kuss außerdem vermutlich auch reine Provokation gewesen. Logisch, was wollte ein gestandener Mann wie Ray schon von einer 16-Jährigen? Sie beäugte ihn skeptisch, traute sich dann aber doch herein. Dann fiel ihr der Kinnhaken ein, den Kai Ray verpasst hatte und sie studierte kurz dessen Kiefer. Die Haut war so makellos wie zuvor. „Danke der Sorge. Ist aber nicht viel passiert, damals,“ beantwortete Ray ihren prüfenden Blick und lächelte ihr zu. Dieses verflixte Lächeln. Irgendwie sah er aus wie ein kleiner Junge, dem man ein Bonbon geschenkt hatte, wenn er sie mit diesen strahlenden Augen anlächelte. Nur dass kleine Jungen nicht so attraktiv dabei aussahen. Naoko schloss die Tür hinter sich und hängte ihre Jacke an einen der Haken neben der Tür. „Setz dich doch. Ich habe gerade Kekse gebacken. Willst du welche?“ „Ich weiß nicht so recht …“ „Keine Sorge, die sind nicht vergiftet!“, rief Ray und lachte bei Naokos nachdenklicher Miene. „Schau!“ Und damit schob er sich einen der runden Kekse, die in einer Schüssel auf dem Esstisch standen in den Mund. Naoko setzte sich mit an den kleinen Tisch, an dem gerade so zwei Personen essen konnten. Die Kekse dufteten herrlich. Also ließ sie sich doch breit schlagen, einen zu probieren. Sie waren köstlich. Also nahm sie sich noch einen zweiten. Ray lachte, als er sah, mit welcher Begeisterung Naoko die Kekse verputzte. „Schmeckt's?“ „Ja! Die sind verdammt gut! Wo hast du gelernt so gut zu backen?“ „Ich bin Chefkoch in einem 5-Sterne Restaurant.“ „Was?!“, rief Naoko erschrocken und ihr fiel fast ein Stück Keks aus dem Mund. „Hat dir das niemand erzählt? Dabei scheint deine Familie ja viel über mich zu reden.“ „Nein, das wusste ich nicht.“ „Oh je“, meinte Ray dazu nur und kramte eine Visitenkarte hervor. „Hier, das ist das Restaurant, in dem ich arbeite. Ich würde mich freuen, dich einmal als Gast bei mir begrüßen zu dürfen.“ „Mondlicht Taverne“, las Naoko. „Was für ein furchtbar kitschiger Name.“ Damit brachte sie Ray abermals zum Lachen. „Den habe ich mir nicht rausgesucht.“ „Sagtest du nicht, du seist Chefkoch?“ „Das stimmt auch, aber das heißt nicht, dass ich auch der Geschäftsführer bin. Im Grunde bin ich nur der Chefkoch eines Ablegers einer größeren Restaurantkette.“ „Verstehe.“ Auch wenn es unangebracht war, verfiel Naoko darin, Ray von ihrem Streit mit Len zu erzählen. Ray hatte auf unerklärliche Weise eine vertrauenswürdige Aura. Und Ray hörte ihr aufmerksam zu und sprach ihr sogar zu, sich mit Len zu vertragen, auch wenn er für einen Augenblick traurig wirkte, als sie erzählte, wie intim sie mit Len geworden war. Als Naoko das sah, sprach sie sich zu, dass der Eindruck sicher nur Einbildung war. „Du bist gar kein so schlechter Mensch“, meinte sie schließlich und lächelte ihm zu. Ray blickte ihr nicht ins Gesicht, meinte aber nur „Danke.“ Eine Weile blickte der die Keksschüssel vor sich an, dann begann auch er zu erzählen. „Weißt du … eigentlich wollte ich damals wegen Mao nicht so ausrasten. Aber ich war so verzweifelt, sie zu verlieren, als dein Vater auftauchte. Und dann tat sie wenn ich heim kam immer so, als existiere ich nicht und als mir klar wurde, dass sie mich nie geliebt hatte und nur noch wegen Len mit mir zusammen war, war das zu viel. Sie hat auch nie etwas gesagt, sondern nur geschwiegen und unglücklich geschaut, woher sollte ich dann wissen, was los ist?“ „Fehler von beiden Seiten. Aber passiert ist passiert. Man muss weiter gehen und fürs nächste Mal aufpassen, nicht wahr?”, meinte Naoko. Halb, um sie beide aufzumuntern. Ray blickte sie mit weichem Blick an. “Ja, du hast recht.” Dann beugte er sich über den Tisch und küsste Naoko flüchtig auf den Mund. Naoko schreckte zurück und erwartete, wieder von ihm irgendwo festgehalten zu werden, doch nichts geschah. Stattdessen blickte Ray verlegen zur Seite. “Verzeih mir. Ich … konnte nicht widerstehen. Du bist so süß“, gab er zu. Doch es lag nicht der Tonfall eines Machos in seiner Stimme, nein, es klang wie eine wirkliche Entschuldigung. “Du solltest wissen, dass ich in dir nicht deine Mutter sehe. Für mich bist du Naoko. Es erweckt leicht den Anschein, als würde ich nur einen Ersatz suchen … ” “Schon gut. Ich glaube dir”, beschwichtigte ihn Naoko, war aber selbst verunsichert. Wieso machte es ihr nichts aus, das Ray ihr einfach näher kam? Sie liebte doch Len, oder? “Ach wirklich?”, ungläubig lächelnd blickte er auf, wandte den Blick dann aber schnell wieder ab. “Sag, Ray, könntest du mich lieben?”, fragte Naoko und ihr kam eine Idee. “Mehr noch, als ich deine Mutter geliebt habe. Das kann ich dir versprechen. Weil du auch den Kontakt zu mir aufrecht erhältst.” Die Antwort bereitete ihr Herzklopfen. Eigentlich dachte sie, die Situation und ihre Gefühle unter Kontrolle zu haben, aber mit solchen Aussagen warf Ray sie aus der Bahn. Diese Antwort hatte sie für ihren Plan nicht erwartet. “Kontakt? Wir hatten doch noch keinen Kontakt!”, antwortete Naoko nach langem Zögern und strich sich eine Strähne hinter das Ohr. “Ich … ich meinte damit, dass du offen wirkst.” Ray wirkte selbst unbeholfen in dem, was er sagen wollte. War dieser Mann wirklich 36? Naoko musste lachen. “Ich wollte dich um etwas bitten.”, begann Naoko und sah Ray in die Augen. Doch dies zu tun war der finale Fehler. Denn in seinen Augen las sie Ehrlichkeit. Ray schien sie wirklich zu mögen. “Worum wolltest du mich bitten?”, schreckte er sie nach der kurzen Stille auf. “Ach…vergiss es.” Verwirrt blickte er Naoko an. “Worum geht es denn?”, fragte er eindringlicher. “Nun ja, ich dachte… also …wenn Len uns erwischen würde … “ “Ah ja, ich verstehe”, unterbrach Ray sie und grinste, als ob er ihr nicht böse über die kommende Aktion sein könnte. “Eifersuchtstest, habe ich recht?” Naoko nickte. “Aber das … ich meine … wenn du ein übler Typ gewesen wärst, dann wäre es in Ordnung gewesen. Aber jetzt wo ich dich kennen gelernt habe, möchte ich nicht, dass ihr, du und Len, euch streitet. Es tut mir Leid. Noch dazu sagtest du - ” “Ach Blödsinn. Der redet seit meiner letzten Aktion so oder so schon kaum ein Wort mehr mit mir.” “Aber -” “Ich bin wieder da!”, schallte es plötzlich durch den Flur. “Spaziergang hat ein bisschen länger gedauert … Ray?” Ray erhob sich, ging einmal um den Tisch und drehte Naoko geschwind zur Seite, um besser an sie heran zu kommen. “Nein, Ray! Bitte! Ich will keinen Streit!”, flüsterte sie ihm noch eindringlich zu, doch Len stieß bereits die Tür zum Wohnraum auf und sah Ray, der eine erschrockene Naoko küsste. “Nicht schon wieder!!”, brüllte Len - die von ihm erwartete Reaktion. Ray ließ sich provokant noch einige Sekunden Zeit bevor er Naoko losließ. Dann blickte er seinen Sohn herausfordernd an. “Kannst du es nicht einmal unterlassen, dich an ihr zu vergreifen?! Sie ist nicht meine Mutter! Du bist so widerlich …. - “ “Warte! Stopp! Len, es ist meine Schuld, ich habe ihn dazu angestiftet!!”, unterbrach ihn Naoko und ergriff Lens Arm, doch Len schüttelte sie einfach ab. Er blickte auf Naoko mit überlegenem Blick herab. “Wer glaubt, wird selig. Du brauchst ihn nicht in Schutz zu nehmen.” “Ich nehme ihn nicht in Schutz, es ist die Wahrheit!” Daraufhin seufzte Len nur und packte sie an der Hand. “Komm, ich bringe dich nach Hause. Und ich will, dass du dich nie wieder hier blicken lässt, solange ich nicht hier bin, verstanden?!” “Nein!!” Len ignorierte Naokos Sturheit und holte ihre Jacke. “Los, zieh dich an.” “Nein!! Ich will nicht, dass ihr wegen mir streitet!” “Wir streiten nicht wegen dir, sondern weil mein Vater sich nicht zu benehmen weiß. Ein normaler Mann in seinem Alter sollte seine Triebe unter Kontrolle haben.” “Aber ich habe doch gesagt, dass ich schuld bin. Hör mal, ich habe ihn verführt, okay?!” “Mit was denn? Mit deiner bloßen Anwesenheit? Es ist egal, wer an dem Szenario schuld ist. Tatsache ist, dass er der Erwachsene ist und deshalb die Verantwortung trägt.” “Aber das ist unfair!!” Hilfesuchend wandte sie sich zu Ray um, doch der lehnte an der Wand, vor der sie noch vor wenigen Minuten miteinander gesprochen hatten und schwieg. Das Grinsen, das auf seinem Gesicht aufgetaucht war konnte seine Mine gut überdecken. “Willst du die junge Dame nicht nach Hause begleiten?”, fragte er schließlich noch immer halunkisch grinsend. Len reagierte wie erwartet. “Du bereust es kein Stück, habe ich recht?”, zischte er ihm feindselig zu. “Nicht die Bohne.”, entgegnete Ray unverfroren. Und weil Naoko nichts mehr sagte und Ray nur verständnislos und traurig anblickte, legte Len Naoko die Jacke über die Schultern und zog sie zur Tür. Und auch wenn Len es nicht sah, Naoko bekam Rays liebevolles Lächeln und sein Abschiedswinken ihr gegenüber noch mit. Kapitel 4: Filmabend (zensiert) ------------------------------- Kapitel 4 - Filmabend Auch nach langem einreden, war Len nicht von Rays Unschuld zu überzeugen gewesen. Und letztlich hatten Naoko und Len sich im Streit getrennt. Also erzählte sie die Geschichte ihren Eltern. Aber diese waren auf Lens Seite. Naoko war wirklich sauer. Wieso glaubte ihr nur niemand? Wieso gingen alle davon aus, dass Ray, wenn er sich – und das nicht ohne Grund! - in der Vergangenheit einmal schlecht verhalten hatte, nun noch immer ein schlechter Mensch war? Er kam ihr vor wie eine Art Sündenbock, auch wenn sie sich nicht erklären konnte, für was. Sie seufzte und ließ sich in ihrem Zimmer auf ihr Bett fallen. Dabei wollte sie am Anfang doch nur wissen, wie Len wirklich fühlte. Aber nicht einmal das hatte sie heraus finden können. Len war wütend gewesen, als er sie beide zusammen gesehen hatte, aber er hat sie nicht einmal in den Arm genommen oder irgendwie angedeutet, dass es ihm persönlich weh getan hat, sie so zu sehen. Stattdessen hat er sie sachlich ausgefragt, ob Ray wirklich nicht weiter gegangen war und sie mal um mal gewarnt, dass Ray ja ein solcher Weiberheld sei, ein Choleriker, ein Trinker und weiß sonst noch was. Dann hatte er sie nach Hause gebracht und bei ihren Eltern abgegeben, wie man es mit einem ungehorsamen Kind tut. Das machte sie einfach nur wütend. Ihr Plan war nicht aufgegangen, niemand glaubte ihr und man bestimmte über ihren Kopf hinweg, als wäre ihre Stimme nichts wert. Das Schlimmste von alledem war aber, dass Ray nun noch weiter angeschwärzt wurde. Eigentlich hatte sie sich schon beim ersten Mal gedacht, dass die Reaktion übertrieben gewesen war. Und sie wollte ihn eigentlich erst einmal kennen lernen, um sich ein eigenes Bild von ihm zu machen, weil er schon damals nicht wirklich unsympathisch auf sie gewirkt hatte. Aber durch die vielen Treffen mit Len war das irgendwie alles im Sande verlaufen. Wie es Ray wohl gerade ging? Kam er sich nicht von ihr missbraucht vor? Sie verstand einfach nicht, warum die Familie so ein Drama daraus machen musste. Es war doch nur ein Kuss. In Ordnung, zwei Küsse. Zwei sehr gute Küsse. Aber eben doch nur Küsse. Ob Ray irgendetwas fühlte, wenn er sie küsste? Er meinte, er könne sie lieben. Mehr noch, als er ihre Mutter je geliebt hatte! Allein schon bei dem Gedanken an seine Worte bekam Naoko wieder Herzklopfen. Wie konnte Ray so etwas sagen, wo er sie doch gar nicht kannte. War es Lebenserfahrung? Oder war es am Ende er, der mit ihr spielte? Das würde auch die Reaktion der anderen erklären. Aber als er ihr dieses Geständnis gemacht hatte, waren sie nur zu zweit gewesen. Die anderen konnten es also gar nicht erst mitbekommen haben. Sie würde es zu gerne heraus bekommen. Wie dachte Ray wirklich über sie? Wieso sagte er so was? Und wieso konnte er einfach nur zurück lächeln, in dem Bewusstsein, dass er für den Kuss von allen anderen Familienmitgliedern gehasst und beschimpft wurde? Und dann lächelte er auch noch nicht irgendwie, sondern unbeschreiblich schön. An sein Lächeln zu denken, brachte sie selbst zum Lächeln. Sie wollte ihn wieder treffen, unter allen Umständen. Aber das war nur möglich, wenn weder ihre Eltern noch Len es mitbekamen. Aber ob Ray sie nach der Aktion überhaupt wieder sehen wollte? Andererseits hatte er ihr mit einem Lächeln zum Abschied gewinkt … Eine Chance für Naoko bot sich nicht unmittelbar. Doch sie kam, als ihre Eltern am Freitagabend eine Woche später anlässlich ihres Hochzeitstages zu zweit Essen gingen. Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, schlich Naoko sich ins Esszimmer. Das Zimmer war nicht sehr groß. Mit einem Tisch, an dem gerade vier Personen essen konnten und mit zwei Schränken für das Geschirr war der Raum gut ausgefüllt. Als Naoko den Telefonhörer ergriff, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Es gab für sie nur eine Möglichkeit, Ray zu erreichen. Und zwar, indem sie bei Len daheim anrief. Sie hatte eine fifty-fifty Chance, an den Falschen zu geraten und während es durch die Leitung tutete, war sie innerlich schon halb am Beten. Zur Not hätte sie eine Ausrede parat, aber … - „Ja, Hallo? Ray Kon am Apparat,“ tönte es von der anderen Seite. Naoko atmete einmal tief durch. Was für ein Glück! „Hallo, ich bin es, Naoko!“, antwortete sie und betete, dass Ray das Zittern in ihrer Stimme überhörte. Den Bruchteil einer Sekunde war es still am anderen Ende der Leitung. Dann flötete er aber fröhlich zurück: „Ach … äh … hallo! Ich nehme mal an, du möchtest Len sprechen?“ „Nein”, erwiderte sie entschieden und fügte “dich” mit so leiser und schwacher Stimme hinzu, dass die Hoffnung, die darin mitschwang entschwebte, wie ein seidenes Band, das ihre Entfernung zu überbrücken schien und sich sanft um Rays Herz legte. Naoko konnte Ray am anderen Ende schlucken hören. “Ach so.”, meinte er schließlich, als hätte er vergessen, dass er noch telefonierte. “Bist du - bist du sicher?” “Ja.” “Ähm … am morgen Abend um 18.00 Uhr wird Len wegen seinem Job nicht daheim sein … ” Das hätte ein normaler Satz werden können, doch gegen Ende des Satzes verlangsamte sich Rays Sprechtempo um das Dreifache und Naoko musste an der anderen Leitung einfach nur grinsen. “Gut, dann bis morgen”, gab Naoko mit vollkommen natürlicher Stimme zurück. “Gut, dann. Bis … morgen.” Und sie legten auf, obwohl Naoko sich noch überlegt hatte, ob sie Ray hätte sagen sollen, dass er bei seinem letzten Satz klang, als hätte er einen Besen verschluckt. Naoko war wirklich froh, dass Len an einem Samstag jobben ging, denn so klang die Ausrede „Filmabend bei Freunden“ nicht allzu unplausibel. Für den Ort der Party wählte sie jemanden, der zwei Stationen mit der Bahn entfernt wohnte und so war es nicht einmal komisch, dass sie zum Bahnhof ging. Nur, dass sie die Bahn in die entgegensetzte Richtung nahm. Aber das sah ja niemand. Zu gerne hätte sie Ray etwas Selbstgemachtes mitgebracht, aber das wäre dann doch zu auffällig gewesen. Also gab sie sich damit zufrieden, im Supermarkt ein paar Pralinen zu kaufen und sie ihm mitzunehmen. Wer wusste, ob sie Silvester zusammen feiern konnten? Die Wahrscheinlichkeit war ziemlich gering. Und noch dazu war vor ein paar Tagen Weihnachten. Also war ein Geschenk wohl nicht das Schlechteste, auch wenn sie sich nicht sicher war, was Ray wohl gerne hätte. Pralinen schienen ihr da das Unkomplizierteste. Um Len nicht doch zufällig über den Weg zu laufen, kam sie erst um halb Sieben, aber Ray schien damit gerechnet zu haben und öffnete ihr mit einem relativ entspannten Gesichtsausdruck die Tür. „Möchtest du einen Tee?“, fragte er, als er ihr die Jacke abgenommen hatte. „Ja, gerne,“ murmelte Naoko und schob ihre Hände vor ihre Brust. Irgendwie hatte sie Lust gehabt, einen Ausschnitt zu tragen, aber nun fragte sie sich, ob dieser nicht doch ein wenig zu tief ging. Ray kommentierte ihre steife Haltung aber nicht und ging gleich darauf in die Küche, um Tee aufzusetzen. Wahrscheinlich dachte er sich in diesem Moment auch gar nichts. Als Naoko sich an den Tisch setzte, fiel ihr auf, dass Ray scheinbar schon für die Unterhaltung für den Abend gesorgt hatte. Neben der Schale mit den köstlichen Keksen lagen zwei dicke Fotoalben auf dem Tisch, die mit „Len – Baby bis Einschulung“ und „Len – Einschulung bis Mittelschule“ beschriftet waren. „Unser Programm für heute Abend?“, fragte Naoko und deutete auf die Alben. „Ich dachte, dass dich das eventuell interessieren könnte. Ich weiß, dass Len nicht unbedingt der Gesprächigste ist, deshalb …“ „Wow, danke! Ich freu mich schon total drauf!“, meinte Naoko und strahlte. Eigentlich war sie wegen Ray hergekommen, aber Kinderfotos von Len waren ein Muss. Und so schauten sie gemeinsam die Fotos an und verglichen Vater und Sohn. Ray war schon in Lens Alter sehr gutaussehend gewesen, aber Naoko gefiel der heutige Ray besser. Für Naoko waren auch die vielen Bilder ihrer Mutter, die zur Zeit der Aufnahme fast im selben Alter war, wie Naoko heute, eine neue Erfahrung. Sie musste zugeben, dass sie sich, bis auf die Augenfarbe wirklich ähnlich sahen. Jetzt verstand sie auch, warum alle sie gewarnt hatten, dass Ray in ihr wohl nur einen Ersatz für ihre Mutter sah, aber Ray hatte das ja schon abgestritten. Zumal sie davon überzeugt war, dass sie charakterlich ein ganz anderer Mensch als ihre Mutter war. Die Nachdenkerei brachte sie aber zurück auf die andere Frage, die sie Ray stellen wollte: „Sag mal, Ray …“ „Ja?“ „Warum hast du mir das letzte Mal so bereitwillig geholfen, obwohl du doch wusstest, dass das nur Ärger für dich bedeuten würde?“ Daraufhin lächelte Ray nur und starrte auf die Tischplatte. „Ich habe mich einfach gefreut, dass ich etwas für dich tun konnte. Da war nicht viel Überlegung dahinter.“ Naoko war gerührt, verstand aber nicht ganz. „Warst du schon immer so selbstlos?“ „Nein“, meinte Ray und musste selbst ein wenig über die Tatsache lachen, „so ein Gefühl ist neu für mich.“ „Oh … aber … warum ich? Ich meine … wieso wolltest du einen Menschen glücklich machen, den du erst zum zweiten Mal gesehen hast?“ „Ich weiß es nicht. Aber ich hatte das Gefühl schon, kurz nachdem ich dich damals geküsst hatte. Im Übrigen wollte ich mich dafür entschuldigen! Ich … eigentlich war es nicht meine Absicht, dich gleich zu küssen. Es war nur … du warst du unglaublich süß … “ Und bei seinen eigenen Worten lief er sogar ein wenig rot an. „Sch-Schon gut“, gab Naoko zurück und blickte nun ebenfalls verlegen auf den Tisch. Dann blätterte sie einfach eine Seite im Fotoalbum weiter, auch wenn sie die zuvor aufgeschlagene Seite noch nicht einmal zu ende gesehen hatten, nur um das Gespräch umzulenken. Nach weiteren 15 Minuten aber wurde Naoko schläfrig und sie bat um eine Pause. „Wenn es dir nichts ausmacht, kannst du dich ein bisschen ins Bett legen. Seit Mao ausgezogen ist, ist die andere Hälfte vom Ehebett unbenutzt.“ Naoko bedankte sich und ließ sich von Ray ins Schlafzimmer führen, aber als sie ihren Blick von Ray zum Bett wandern ließ, überlegte sie es sich doch anders und meinte, es wäre besser, wenn sie einfach das Album bis zum Ende durchsehen würden und sie dann nach Hause ginge. Ray, der das Album mehr unterbewusst mitgenommen hatte, stimmte zu und sie setzten sich auf das gemachte Bett. Im Allgemeinen staunte Naoko über den aufgeräumten Zustand des ganzen Hauses. Bei ihr Zuhause war es zwar nicht schmutzig, aber es lagen immer irgendwo irgendwelche Dinge herum. Sei es die Zeitung vom Vortag auf dem Esstisch, ein angefangenes Buch oder der Schlüssel neben dem Telefon. Hier aber hing der Schlüssel an einem Haken an der Tür, die Wohnung war blitzblank geputzt und irgendwie schien alles sorgfältig überlegt an seinem Platz zu stehen. Auch die Wände vom Schlafzimmer waren rot gestrichen, aber die vergoldeten Lampenstiele und das weiß bezogene Bett passten sehr gut dazu. „Deine Wohnung ist sehr schön“, meinte Naoko schließlich zu Ray. „Am Anfang war sie echt gewöhnungsbedürftig, aber jetzt finde ich sie total schön.“ „Danke“, antwortete Ray und die Freude über das Lob spiegelte sich in einem weiteren Lächeln wieder. „Ach ja – die Fotos!“, fuhr Naoko herum, die sich schon wieder in seinem Lächeln hätte verlieren können. Und Ray schlug auch brav das Fotoalbum auf. Doch in Naokos Dösigkeit waren es weniger die Bilder, die sie aufnahm, als vielmehr Rays Geruch, den sie nun, da er direkt neben ihr saß, deutlicher als zuvor wahrnahm. Allein dieser süßliche Geruch bereitete ihr wieder Herzklopfen. Noch dazu saßen sie dichter als nötig aufeinander und alleine eine Bewegung von Rays Armen, die ihren Körper streiften, jagte ihr einen wohligen Schauer über den Rücken. Vorsichtig drehte sie ihren Kopf nach links, um einen Blick auf Ray zu erhaschen und Ray, der scheinbar mitbekommen hatte, dass Naoko nicht mehr bei den Bildern war, wandte sich ebenfalls zu ihr. Ihre Blicke trafen sich für einen Augenblick, doch Naoko wich ihm sofort darauf aus. Seltsamerweise gelang es ihr nicht, ihm in die Augen zu sehen. Ihr Herz schlug ihr schon wieder bis zum Hals. „Ich …“, begann sie und rückte ein kleines Stück von ihm ab. Dann versuchte sie, ihm ein weiteres Mal in die Augen zu blicken, was scheiterte. „Ich sollte …-“ Aber weiter kam sie nicht, denn Ray hatte schon wieder ihre Lippen mit den seinen versiegelt. Er schreckte aber auf, als Naoko ein leichter Seufzer entfuhr. „Ich habe mir eigentlich geschworen, jetzt, wo ich dein Vertrauen habe… es nicht zu missbrauchen…!”, verfluchte er sich selbst. „Schon gut,” antwortete Naoko nur und ergriff nun von ihrer Seite her die Initiative und küsste ihn. Überrascht blickte er sie an. Die Augenbrauen vor Zurückhaltung schon fast verkrampft nimmt er sie in den Arm und drückt sie an sich. Aber Ray innere Fesseln waren schon gebrochen und er küsste sie unter leisem Seufzen plötzlich innig, was sie auch zurück gab. Beide taumelten zurück und lagen noch die Lippen miteinander verschließend auf dem Bett. Ray wandte sich schon ihrem Hals zu, als er plötzlich schnaufend erstarrte. „Stopp. Keinen Schritt weiter, oder ich kann für nichts mehr garantieren!“, rief er und verharrte über sie gestützt. Er blickte sie an und schnaufte, als leide er unter leichter Atemnot. “Sag, Naoko, wie heiße ich?”, fragte er plötzlich. „Ray”, antwortete Naoko überrascht. Hatte er etwa die selben Befürchtungen gehabt wie sie? Dass er am Ende nur ein Ersatz für Len werden würde? „Und wie alt bin ich?” „40, glaube ich. Aber das macht mir nichts.” „Und Len?” „Len ist 18.” „Nein, das meinte ich nicht…” Und unweigerlich musste Ray lachen. „Weißt du Ray, ich habe Len gesucht und Ray gefunden“, beantwortete sie seine ungestellte Frage und lächelte ihn strahlend an. „Aber bin ich dir nicht ein bisschen zu alt?” „Du siehst in meinen Augen aus wie 30.” Und wieder musste Ray lachen. Er fühlte sich geschmeichelt. „Bist du dir sicher?“, fragte er, als er ihre Hose aufknüpfte. „Ja,“ gab Naoko zurück und nickte. „Du … hast erst vor ein paar Tagen …“ „Er war nicht die Bohne eifersüchtig. Er … hat es wohl wirklich nur aus Mitleid getan.“ „Dann werde ich wohl mein Bestes geben, damit dieses eine Mal so schön wird, dass du dieses erste Mal mit ihm vergessen kannst,“ versprach ihr Ray und ging ans Werk. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)