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Cream Tea: Darjeeling 96,5°

First Flush Black Tea (SFTGFOP 1)
von

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18. Dezember 1848

Westminster Abbey, London, Montag, 18. Dezember 1848
 

Das Läuten der Glocken verkündete das Ende der Beerdigung seines älteren Bruders. Rain stand vor dem Ausgang der riesigen Kathedrale und verabschiedete sich von den Gästen, die gekommen waren, um seinem Bruder Cloud Arthur den letzten Beistand zu erweisen. Der Sarg würde noch heute ohne Beisein der Verwandten des Toten in die Privatgruft der Herzoge von Rutherford gebracht und dort bestattet werden.

Schneeflocken fielen träge und in kleinen Bahnen auf die kalten, matschigen Gehwege von London. Außer des verhaltenen Geschwätzes der Trauernden war die Welt um Rain herum still an diesem tristen Morgen.

„Mein herzliches Beileid, Duke Rutherford“, verabschiedete sich ein weiterer seiner angeblichen Bekannten der High Society. Er konnte nicht einen einzigen Namen ohne seinen neuen Sekretär zuordnen und doch wussten alle, wer er war. Er war der neue „Duke Rutherford“ und die Menschen hatten diesen Titel schneller auf ihn umgewälzt, als er gedacht hatte. Ein Schauer lief über seinen Rücken.

„Euer Bruder war ein guter Mann. Dass er so plötzlich von uns scheiden musste, …“, führte der andere aus, obwohl Rain ihm gar nicht zuhörte. Mit einem Halblächeln, einer kühlen Miene und einem verhaltenen Kopfnicken entließ er den Mann aus seinem Sichtfeld. Es rückte ein Weiterer nach und danach noch einer und noch einer und …

Eine Hand legte sich auf seinen rechten Unterarm und Rain zuckte unmerklich zusammen, bevor er sich ein wenig zur Seite drehte und die ganz in schwarz eingehüllte Gestalt seiner Ehefrau betrachtete. Minervas liebliches Gesicht war mit einem ebenso schwarzen Schleier verhüllt, doch er konnte den ermutigenden Blick aus ihren Augen förmlich unter seiner Haut brennen spüren. Sie war das Einzige, was ihn jetzt erreichen konnte. Sein Halt.

„Duke Rutherford, verzeiht meine Ungehörigkeit. Ich fürchte, wir haben nicht die Ehre gehabt, einander vorgestellt zu werden. Mein Name ist Mortimer John McFarlane. Meine Tochter war die Patentochter Eures verstorbenen Bruders, Gott habe ihn selig. Mein herzliches Beileid.“

Rain fuhr herum und betrachtete intensiv das Gesicht des Mannes und der Frau, die an seinem Arm hing und obwohl diese schwarz trug und ein anständig betroffenes Gesicht zog, ließ der tiefe Ausschnitt an ihrer Ernsthaftigkeit zweifeln. Lord McFarlane und seine Ehefrau, Lady McFarlane. Er ließ seinen Blick nur kurz vollkommen unbeeindruckt über sie gleiten, bevor er sich dem Mann zuwandte, der ihn angesprochen hatte. Er war Ende vierzig, Anfang fünfzig vielleicht und ein ziemlich alter Mann. Seine Falten waren Furchen, die von harter und mühsamer Arbeit sprachen. Mag sein, dass es keine Feldarbeit oder Fabrikarbeit gewesen war, die diesem Mann so zugesetzt hatte, aber Händler und Kaufmänner, sowie Seefahrer, Soldaten und Kapitäne verstanden die Strapazen, die ein Gewerbe mit sich brachte.

Der Baron trug inzwischen feine Stoffe, die der Mode folgten, was Rain insgeheim bewunderte, denn der Mann hatte sich sein Fabrikimperium aus dem Nichts aufgebaut. Das letzte Mal, als Rain ihm über den Weg gelaufen war, war schon eine ganze Weile her. Er vermutete, dass sein Bruder Cloud damals gerade die Patenschaft über Lord McFarlanes Tochter übernommen hatte, da war sie gerade wenige Wochen alt, und da hatte der Mann weder besonders viel Geld, noch ein gut laufendes Gewerbe gehabt, eine mittelgroße Familie und einen niederen Adelstitel. Sie waren einander nicht vorgestellt worden, weil Rain es aus Prinzip vermieden hatte, sich unter das Schöne Volk zu mischen – schon damals, als er bloß ein griesgrämiges, kleines, vernachlässigtes Kind war.

Rain brachte es schließlich über sich, zu nicken und das Beileid zu akzeptieren. Der Mann hatte von Herzen gesprochen – eine Seltenheit –, obwohl seine Frau dieser Ansicht nicht zu folgen schien. Sie schaute Rain mit glitzernden Augen an, die ihm einen Schauer über den Rücken jagten. Rain schaute demonstrativ weg.

„Euer Bruder hat uns zu seinen Lebzeiten sehr geholfen, wofür ich mich in absehbarer Zukunft bei Euch gerne revanchieren würde, Duke Rutherford.“

„Ich bitte Euch, macht Euch keine Umstände“, antwortete die zarte Stimme Minnies, als Rain nichts erwidern mochte. Minnie. Seine Rettung. Wie nahm sie wohl die Veränderung auf, die ihnen beiden bevorstand und vollkommen überraschend noch dazu? Er hätte sich nie erträumen lassen, jemals diesen Titel zu tragen! Und jetzt war er Herzog.

„Solltet Ihr jemals etwas brauchen, wendet Euch an mich“, widersprach der Baron und warf sowohl Minnie als auch Rain einen wohlwollenden Blick zu. Rain nickte wieder und ließ den Blick über die Schlange der Beileidwünschenden, sowie die Gruppen der Trauernden, die etwas abseits standen, schweifen. Sein Blick blieb dabei an den Kindern Lord McFarlanes hängen. Du liebe Güte! Ein ganzer Pulk!

Rain blinzelte und begann, zu zählen. Zwei Frauen, beide verheiratet und die ältere der beiden mit zwei eigenen Kindern, ein Mann, ebenfalls verheiratet und mit Kind, ein jung aussehender Mann, die Patentochter seines Bruders, ein jüngerer Jugendlicher und … sechs? Ja, sechs kleine Mädchen. Zwölf eigene Kinder und drei Ehepartner sowie drei Enkelkinder.

Rain blinzelte erneut und zählte noch einmal, nur um sicher zu gehen. Er spürte, wie Minnie, die sich bei ihm eingehakt hatte, seinen Arm drückte und er wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu. Lord McFarlane hatte den erstaunten Blick Rains nicht übersehen und seine Wangen hatten sich verfärbt.

„Mein ganzer Stolz“, murmelte er verlegen und Rain betrachtete die Familie noch einmal neugierig.

„Was für ein ausgesprochen großer Segen!“, stimmte Minnie dem Mann gutherzig zu. Wie gut, dass er Minnie hatte, die sich immer einer Antwort erbarmte. Ohne sie wäre er wohl als unhöflich abgestempelt worden.

„Der Kindersegen in meiner Familie war groß, wahrlich. Zu meinem Bedauern musste ich dafür den Tod zweier Ehefrauen in Kauf nehmen. Beide im Kindbett“, flüsterte der Baron und überblickte seine Familie mit einem Hauch von bitterer Traurigkeit. Ein Stich durchfuhr Rain, so schmerzhaft, dass er unwillkürlich zusammenzuckte. Er konnte den Mann verstehen. Auch er hatte seine erste Frau im Kindbett verloren. Rosetty Sara und sein ungeborenes Kind waren nun schon zwei Jahre tot und doch schmerzte ihr Tod ihn immer noch tief in seinem Herzen. Die Angst, dass auch Minnie wie Rose sterben konnte, war groß, zumal auch Minnie seit einer ganzen Weile ein Kind unter ihrem Herzen trug. Rain warf Minnie einen liebevollen Blick zu, den sie zurückgab. Aus reiner Gewohnheit ließ er seinen Blick einmal über ihren Leib gleiten, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Sie drückte seinen Arm und er stieß langsam den angehaltenen Atem aus. Als er sich Lord McFarlane zuwandte, lächelte der Mann traurig und sagte:

„Ich sehe, Ihr versteht mich gut. Ein Jammer, dass so viele gute Menschen von uns gehen müssen.“

Rain stimmte dem Mann zu und betrachtete noch einmal die Familie. Dieses Mal blieb sein Blick an der Patentochter seines verstorbenen Bruders hängen. Wie hieß sie doch gleich? Noch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, unterbrach der Baron seine Gedanken und stellte sie leise vor, da sie noch nicht ihr Debüt in der Gesellschaft hatte und es davor verpönt war, Aufmerksamkeit auf junge Mädchen zu lenken:

„Meine Tochter, die ehrenwerte Miss Juliana Paulette McFarlane. Die Patentochter Seiner Lordschaft, Gott sei Seiner gnädig!“

„Natürlich. Mein Bruder hat in seinen Briefen von ihr berichtet“, antwortete Rain schließlich etwas steif und schaute dem Mann tief in die Augen, bevor er fortfuhr:

„Mir würde es Freude bereiten, ihre Fortschritte auch weiterhin verfolgen zu dürfen. Ich mag nicht ihr Pate sein, aber ich möchte Seiner Lordschaft den Wunsch erfüllen, den er in einigen Briefen an mich äußerte.“

Lord McFarlane schien zunächst erstaunt, dann zunehmend erfreut, bevor er hastig seinen Dank kundtat. Sein Kopf und Körper neigten sich dabei mehrfach prekär tief gen Erdboden in überschwänglichen Verbeugungen. Rain nahm den Dank mit einem einfachen Nicken an.

„Ich sollte Euch nicht weiter aufhalten, Duke Rutherford. Mein tiefempfundenes Beileid für Euren Verlust“, wiederholte der Mann noch einmal, seine Familie tat es ihm nach und die große Gruppe verließ den Platz vor der Kathedrale.

„Was für eine respektable Familie“, flüsterte Minnie neben ihm und Rain stimmte ihr insgeheim zu, doch er konnte in den Gesichtern anderer Trauernden sehen, was seiner gutgläubigen Frau entgangen war. Lord McFarlane war im Adel nicht ganz so beliebt, wie Minnie es wohl glauben mochte. Kein Wunder: Kaufmänner oder Händler oder Fabrikanten, wie er einer war, waren nicht besonders gut angesehen. Kein Adeliger arbeitete für seinen hohen Stand. Wer es doch tat, war nicht adelig. Außerdem war Lord McFarlane nicht von Geburt an Baron, sondern durch einige glückliche Umstände und einer vorteilhaften Ehe mit einer seiner vorigen Frauen zum Baron geworden. Noch ein Nachteil.

Rain schmunzelte, als ihm die Ironie der ganzen Situation bewusst wurde, doch noch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, wandte sich eine seiner älteren Schwestern, die er, zugegeben, heute eines der wenigen Male in seinem Leben getroffen hatte, an ihn und sagte:

„Duke Rutherford, wünscht Ihr eine solche Bekanntschaft wirklich fortzuführen? Es wird für vorteilhaft erachtet, mit dem heutigen Tage einen Punkt an des Briefes Ende zu setzen.“

Prudence Rubinia, Ehefrau von Lord Carl Stephen Hampton, 12. Earl von Derby. Er hätte wissen sollen, dass allein ihr Name schon aussagte, was für einen Charakter die Frau mit sich brachte. Minnie und er schauten seine Schwester eine Weile an, bevor er sich dazu entschloss, zu antworten.

„Ich sehe keinerlei Grund, einen Punkt zu setzen, wo keiner verlangt wird. Der Brief ist noch nicht zu Ende geschrieben, Lady Hampton. Zudem unterscheidet sich Lord McFarlanes Situation nur wenig von meiner eigenen und meine Bekanntschaft pflegt Ihr auch.“

Seine Schwester sog scharf die Luft ein und schaute ihn aus blitzenden Augen an. Nun, er besaß jetzt einen höheren Stand als Lord McFarlane, aber auch er war nur ein zweiter Sohn gewesen und hatte durch eine Erbschaft seitens seines Onkels ein Gewerbe erhalten, mit dem er in kürzester Zeit stinkreich geworden war.

Kein Adeliger arbeitete. Wenn er es doch tat, war er nicht adelig.

Dass jetzt gerade er, Rain Noel Carradine, den Titel seines verhassten Vaters über seinen älteren Bruder vererbt bekam, war geradezu lächerlich.

Von dem Tag an, als Duke Cloud Arthur Carradine von Rutherford, Yorkshire, seinen tragischen Kutschenunfall hatte, war er ein Duke, ein Herzog. Und das, obwohl er ein Schifffahrtsimperium zu kontrollieren, darüber hinaus noch den Tod seiner eigenen Mutter im Kindbett nach seiner Geburt verschuldet hatte, welcher seiner Familie das „Licht“ ihrer Existenz gestohlen hatte und eine Frau gegen den Wunsch seiner Familie geheiratet hatte, die keine anständige Mitgift noch einen außergewöhnlich guten Titel – oder überhaupt einen – mit sich brachte.

Und jetzt hatten die hochwohlgeborenen Töchter – und sein „Adoptivbruder“ – ihn an der Backe.

Weil er der einzig überlebende männliche Erbe war und somit Anspruch auf den Titel hatte.

Ironie des Schicksals.

Sein Vater würde sich im Grabe umdrehen!

Rain kicherte leise.

20. Januar 1852

Southall Park, Yorkshire, Dienstag, 20. Januar 1852
 

Rain stand am Fenster seines Büros und schaute mit hinter dem Rücken verschränkten Armen hindurch über die weiten Ländereien seines Landsitzes. Noch lag dicker, weißer Schnee überall. Die Zufahrtswege waren von Gärtnern freigeschaufelt worden, der Rest jedoch lag noch unberührt da. Sein Blick wanderte über die grundstückseingrenzende Mauer aus voriger Zeit hinauf in den wolkenverhangenen grauen Himmel, der weiteren Schneefall ankündigte. Kein Wunder in Yorkshire. Er würde noch eine ganze Weile auf den Großteil seiner Bediensteten verzichten müssen, die sich bei solchem Wetter und so einer Verkehrslage kaum aus der eigenen Haustür herauswagten. Nicht, dass er mehr als nur das Minimum an Arbeitskräften benötigt hätte.

Es klopfte an die Tür. Ohne sich umzudrehen, gewährte Rain Eintritt. Es war sein Sekretär – es konnte nur sein Sekretär sein. Kaum ein anderer war noch im Anwesen außer dem Kindermädchen, der Köchin, dem Butler, seiner Tochter und ihm selbst, sowie eben seinem Sekretär.

„Euer Gnaden, McIntyre brachte mir gerade die Post“, ließ der ältere Mann verlauten. McIntyre war der neue Butler, der von Rain gerade frisch eingestellt worden war, weil der alte das Zeitliche gesegnet hatte. Jetzt hatte eben dessen Sohn diese Arbeit übernommen und wurde immer noch nur McIntyre von alle gerufen. Die McIntyre-Familie diente seiner Familie angeblich schon seit einigen hundert Jahren. Nicht, dass er davon besonders viel gewusst hätte.

„Ich war so frei und habe sie geordnet“, versuchte sein Sekretär noch einmal. Rain erlöste ihn jedoch nicht und blieb beharrlich vor seinem Fenster stehen. Lediglich seinen Fellüberwurf zog er enger um die Schultern, da ein ungemütlicher Windhauch durch das Zimmer fuhr. Das Fenster war seit geraumer Zeit undicht. Sobald Frühjahr kam, würde er sich darum kümmern. Sein Blick richtete sich wieder aus dem Fenster und blieb dieses Mal am zugefrorenen Blumenbeet hängen. Als ganz kleiner Junge hatte er seine Familie dort unten spielen sehen. Vom Fenster seines Kinderzimmers aus, das in einem abseits gelegenen Winkel des Anwesens untergebracht worden war. Mit großen staunenden Augen hatte er sein Kindermädchen gefragt, ob er nicht mitspielen dürfe, doch sie hatte verneint. Er dürfe nicht, weil Seine Gnaden es verboten habe, da er sehr schwächlich sei.

Ein bitteres Schmunzeln huschte über Rains Mundwinkel. Seine Gnaden. Damals noch sein Vater. Ein Mann, der seit Rains Geburt seinen eigenen Sohn verabscheut hatte. Rain erinnerte sich nur zu gut daran, jeden Nachmittag aus dem Fenster geschaut und sich gewundert zu haben, warum er nicht mitspielen durfte. Erst in späteren Jahren, als er spitzbübisch genug war, um Dienstmägde zu belauschen, erfuhr er den wahren Grund: Bei seiner Geburt war die Herzogin gestorben. Kindsbetttot. Nichts, was er verschuldet hätte, wollte man meinen, doch sein Vater, der seine Frau abgöttisch geliebt hatte, hatte es Rain nie vergeben können. Rains Gesicht war seiner Mutter zudem so ähnlich gewesen, dass der Mann ihn nicht hatte ansehen können, ohne den Tag seiner Geburt zu verfluchen und in eine fürchterliche Rage zu verfallen, so groß war der Verlust.

Daher hatte man Rain in sein Kinderzimmer eingesperrt, mit fürchterlichen Gouvernanten gequält und oft sinnlos bestraft. Bis eines Tages, da war Rain drei oder vier Jahre alt, seine verwitwete Tante Caroline Therese ihn gerettet hatte. Sie war mit ihm nach London gezogen in ihr Anwesen, das ihr nach dem Tod ihres Ehemannes vererbt worden war. Dort war er endlich richtig Kind gewesen, denn auch seine zweite Tante, Rhiannon Lucinda, war zu ihnen gezogen. Sie waren eine echte Familie gewesen, unterbrochen nur von den verhassten Besuchen seines Vaters, der ab und zu in einer letzten Anwandlung von Pflichtgefühl nach ihm schauen wollte.

Rain konnte es dem Mann nicht ganz so verübeln, wie er es vielleicht getan hätte, wenn er nicht miterlebt hätte, wie schwer der Verlust einer geliebten Ehefrau auf der eigenen Seele lastete. Vor allem ein Verlust, der durch eine schwere Geburt verursacht wurde. Zumal dies ein grausamer, langsamer Tod war.

Rosetty Sara war mit Kind im Kindbett gestorben und Rain hatte diese Tode nie wirklich verarbeiten können, daher hatte er sich so gefürchtet, als auch Minerva Flora schwanger wurde. Er hatte sie wie seinen eigenen Augapfel gehütet und sie nicht mehr aus den Augen gelassen, selbst wenn dies öfters zu geringfügigen Auseinandersetzungen geführt hatte. Dass die Geburt seiner Tochter Doreen Integrity, Dorie, ohne Schwierigkeiten verlaufen war, hatte seine Ängste jedoch nicht verfließen lassen. Im Gegenteil: Er war der absoluten Meinung gewesen, dass Minnie ihm kein weiteres Kind mehr schenken musste. Minnie hatte geschnaubt und ihn gerügt, als er ihr seine Entscheidung mitteilte. Er sei jetzt ein Herzog. Seine erste Pflicht sei es, einen Erben zu zeugen.

„Euer Gnaden? Die Post“, hörte er die Stimme seines Sekretärs von weit entfernt an seine Ohren dringen. Rain schüttelte sich innerlich und streifte mit einem letzten Blick das Blumenbeet, das ihn auf diese Gedanken gebracht hatte. Er war immer noch derjenige, der vom Fenster aus zusehen musste, wie die Welt an ihm vorbeistrich. Das war seine Strafe gewesen und würde sie auch immer sein. Dafür, dass er seine Mutter getötet und somit das Licht aus seiner Familie geraubt hatte.

Rain seufzte und drehte sich schwerfällig zu seinem Sekretär um, der ihn aus dicken Brillengläsern fragend und vielleicht etwas mitleidig anschaute. Dawson kannte ihn zu gut und das, obwohl sie sich erst seit gut vier Jahren kannten. Er hatte keine Zeit, zu träumen.

„Was gibt es?“, rang er sich dazu durch, zu fragen und humpelte auffällig stark zu dem mit gutem Leder und Samt bezogenen Stuhl seines riesigen Schreibtisches hinüber. Der Griff nach der Rückenlehne, auf der er sich abstützte, blieb nicht unbemerkt, doch Dawson kommentierte, klug wie er war, nicht.

„Das Übliche in Bezug auf gesellschaftliche Ereignisse, Euer Gnaden. Verfrühte Einladungen zu Debütantenbällen der Saison, Einladungen zu Theateraufführungen, der Oper, Musikdarbietungen. Das Übliche“, ratterte Dawson runter, während er die Briefumschläge in seiner Hand betrachtete und, sobald er die Adressen gelesen hatte, hintenan ordnete.

„Etwas Wichtiges dabei?“, fragte Rain und verschränkte seine Arme vor der Brust. Mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete er das Geschehen.

„Eine Todesanzeige, ein Brief vom Parlament, einer vom Anwalt aus London, von Ihrer Majestät, von Euren Schiffen, Euren Tanten …“

„Todesanzeige?“, wiederholte Rain mit einem mulmigen Gefühl. Mit dem Parlament, der Königin, seinem Anwalt und den Nachrichten seiner Schiffe konnte er gut leben, aber wer war nun schon wieder gestorben?

„Ja, Euer Gnaden. Der Brief kommt von einer gewissen … Mrs. Maxwell“, murmelte Dawson und rückte seine Brille zurecht, während er die Augen zusammenkniff. Er schniefte und betrachtete den Brief von allen Seiten.

„Maxwell?! Der Mrs. Maxwell aus Oxford?“, rief Rain überrascht aus und fühlte sich in seinem mulmigen Gefühl bestätigt.

„Ja, Euer Gnaden. Mrs. Maxwell aus Oxford.“

„Dann ist es also mein ehemaliger Professor gewesen …“

Professor Maxwell hatte Rain während des kurzen Jahrs, das er an der Universität Oxford verbrachte, begleitet und aufgemuntert. Er war ein wenig wie ein echter Vater gewesen und beide standen noch immer im engsten Kontakt miteinander. Jetzt von diesem plötzlich und unerwartet eingetroffenen Tod zu hören, schockierte ihn. Doch Rain schüttelte das Gefühl ab, bevor er wieder in zu düsteren Ecken seines Geistes versank. Mit einer Handbewegung bedeutete er Dawson, dass er die Post alleine bearbeiten konnte. Sein Sekretär schniefte, verneigte sich und verließ den Raum. Erst dann erlaubte Rain sich, eine Grimasse zu ziehen und sein rechtes Bein auszustrecken. Es schmerzte ungeheuerlich. Es pochte und stach, wurde sogar steif und konnte sein Gewicht nicht tragen. Manchmal hielt es ihn nächtelang wach. Die Nachteile konnte er unendlich weiterführen, doch einen gewissen Vorteil hatte es ja: Es sagte ihm unmissverständlich, wann das Wetter umschwingen würde oder ob es überhaupt schlecht war.

Rain warf den Blick auf den Haufen Briefe, den Dawson fein säuberlich auf seinen Schreibtisch gelegt hatte. Er griff danach und blätterte ebenfalls einmal durch. Den Großteil würde er mit einer Absage beantworten: Er besuchte kaum Bälle, hatte keine Zeit für Opern oder Theater oder Musik oder all diesen Quatsch. Außerdem war er schon gar nicht auf der Suche nach einer neuen Ehefrau und nur dafür besuchte man als alleinstehender Mann Debütantenbälle. Die Mütter dieser Debütantinnen hofften wohl immer noch, dass er ihnen ins Netz ginge.

Rain schnaubte und wandte sich wieder dem Fenster zu, seine Gedanken bei Minnie. Seiner geliebten, toten Minnie. Ein Schmerz durchfuhr ihn wie ein Blitz und er stöhnte leise, während er sich mit den Fingerspitzen über seine Brust rieb.

Sie war nun schon fast drei Jahre tot. Drei Jahre ohne ihren Rat, ihr Lachen, ihre Liebe und Leidenschaft, ohne ihren Humor, ihre Wärme des Nachts, ihr zärtliches Flüstern und ihren liebevollen Augenaufschlag, ihre hochgezogene Augenbraue, ihre Stupsnase, ihre vollen Lippen. Ihr warmes Herz jedoch fehlte ihm am meisten. Sie war seine Rettung und sein Halt gewesen, nachdem Rosetty Sara mit seinem Kind im Leib gestorben war, seine Familie ihn zur Beerdigung seines verhassten Vaters eingefordert hatte und zwei seiner Schiffe auf dem Atlantik verschwunden waren. Seine Liebe, die Mutter seiner kleinen Tochter Dorie, Minnie.

Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel und blinzelte ein paar Mal heftig. Dann wandte er sich ruckartig wieder seiner Korrespondenz zu. Briefe. Richtig. Er musste Briefe beantworten. Jetzt.

Mit neutraler Miene schlitzte er die Einladungen auf und ließ seine Augen über die Wörter und Zeilen huschen, deren Inhalt nichts Besonderes war und ihn nicht dazu bewegte, der Einladung zuzustimmen. Das übliche Geschleime. Nichts Neues. Acht solcher Briefe beförderte er auf den Sekretär seines Sekretärs und legte die Nachricht darauf, er möge sie ablehnen. Dann kümmerte er sich um die anderen Einladungen: Seine Tanten wollte, dass er im Frühjahr nach London ginge, um ein wenig Zeit mit ihnen zu verbringen, Mrs. Maxwell lud zu einer Art Leichenschmaus ein, nur für ihn gemacht, weil er nicht zur Beerdigung da sein würde, die Einladung zur Hochzeit eines ehemaligen Schulkameraden von der Eton konnte er wohl kaum ausschlagen, ein Treffen mit Queen Victoria und die erwartete Ladung zur erneuten Lesung seines Testaments beim Anwalt, außerdem eine Einladung zum Debütantenball der ältesten Tochter seiner ältesten Schwester und zu guter Letzt durfte er jetzt auch noch nach dieser Frau, Miss Evangeline Preston, suchen, die behauptete, ein illegitimes Kind seines Bruders Cloud Arthur auf die Welt gebracht zu haben. Dieses Jahr konnte er sich nicht davor bewahren, nach London reisen zu müssen. Und erst die Aufforderung des Parlamentspräsidenten, er möge nach vierjähriger Inaktivität seinen rechtmäßigen Platz im House of Lords, dem Oberhaus des britischen Parlaments, einnehmen! Rain schmunzelte. Vier Jahre zuvor hätte er nicht einmal davon geträumt, einmal den Innenraum des Oberhauses zu sehen. Als zweiter Sohn hätte er keinen Sitz gehabt und hätte es nur mithilfe eines Studiums vielleicht irgendwann einmal maximal ins Unterhaus gebracht, wäre er daran interessiert gewesen.

Mit einem unzufriedenen Schnalzer machte er sich daran, die wichtigere Korrespondenz zu beantworten. Nebenher fragte er sich, ob der Debütantenball seiner Nichte wichtig war oder ob die Möglichkeit bestünde, aufgrund dringlicher Termine abzusagen. Viscountess Dunne, seine älteste Schwester namens Heather Faith, würde ihn sicherlich dafür rösten, aber vielleicht war es das wert. Rain schüttelte den Kopf. Er fürchtete, er konnte diesem Ball nicht entgehen. Wenn er nicht auftauchte, würde das als schlechtes Zeichen gewertet, als sei etwas falsch mit der Debütantin, seiner Nichte und keiner würde sie mehr heiraten wollen. Die Gerüchte der Peers waren tödlich. Seine Nichte würde als alte Jungfer enden und dazu wollte er das Mädchen nicht verdammen, ohne sie je gesehen zu haben. Es konnte schließlich nichts dafür, dass seine Familie ein Haufen kalter Fische war.

„Euer Gnaden, wünscht Ihr, dass ich Euch einen Tee bringe?“, erkundigte sich die Stimme des Butlers von der anderen Seite der Tür, nachdem er angeklopft hatte. Rain sah auf und starrte das Holz an, bevor er zurückgab:

„Nur zu, McIntyre.“

„Natürlich, Euer Gnaden.“



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