Der Weg aus dem Kampf von Shirokko (Wenn Träume Berge versetzen) ================================================================================ Kapitel 27: In der Schlucht des Todes ------------------------------------- Kapitel 27 Die Schlucht des Todes Die Insel war in den zwei Tagen ihres Aufenthaltes weiter gezogen, dennoch fand Mimoun schnell ihren ursprünglichen Lagerplatz wieder. Sanft setzte er seinen Freund auf den Boden. Hier herrschte wieder größere Hitze als oben auf den Inseln. Durch die Jagd am Vormittag hatte er sich zum Glück bereits darauf eingestimmt und sich damit abgefunden. Wenigstens würden sie nun weiter dem Fluss folgen und hätten damit ausreichende Abkühlung für den Notfall. Mit sicheren Schritten trat er an das Dornengestrüpp heran und sah seinen Freund fragend an. „Reicht deine Kraft oder soll ich wieder schnippeln?“, wollte er wissen und hob bezeichnend seine Armschienen. „Bist du unterbeschäftigt und musst Frust ablassen, dann darfst du, aber wenn es schnell gehen soll, mach lieber ich.“, erwiderte der Braunhaarige grinsend. Prüfend hüpfte der Geflügelte auf und ab. Durch die Jagd hatte er ausreichend Bewegung gehabt und Anstrengung, zumindest in gewissen Maßen, durch das Tragen des Magiers. Eigentlich war er nicht unterbeschäftigt. Und zum Frust ablassen hatte er keinen Grund. „Würdest du mir die Ehre geben, deine Fähigkeiten erneut bewundern zu dürfen?“ Tief verneigte er sich vor seinem Freund. „Sicher.“, sagte dieser amüsiert. Anstatt das Zeug verdorren zu lassen, formte er die Ranken ein wenig um, so dass sie die Sachen einfach herausheben konnten. Ganz nebenbei ließ er auch noch die Früchte reifen. Nach dieser winzigen Stärkung zogen sie weiter. Zu Fuß und immer wieder mit Abstechern zum Wasser, damit sie trinken konnten. Die Rast am Abend erzwang ein Lagerfeuer, denn die Wegzehrung, die Mimoun mitgebracht hatte, war noch immer roh. Längst waren die Sterne am Firmament und Dhaôma betrachtete sie, die Arme um die Knie geschlungen. Er dachte über die letzten Tage nach, zog für sich sein Resümee. Es war soviel passiert. Mehr, als er erwartet hatte. Das neue Leben, die Angst vor dem Tod, die Freude, der Streit mit Mimoun. Letzteres war es, was ihn daran hinderte, Schlaf und Ruhe zu finden, denn er wusste noch immer nicht, was er davon halten sollte, dass dieser glaubte, dass er ihm etwas aufzwang. Immerhin wusste er jetzt, warum er ihn beschützen wollte. Weil er sein Freund war. Offenbar bedeutete Freundschaft nicht nur Sympathie, sondern auch Beschützerwille. Aber das löste sein Grundproblem nicht. Seufzend ließ er sich zurück ins hohe Gras fallen. Zu gerne würde er fragen, aber er wusste nicht, wie er es ansprechen sollte. Auch Mimoun fand keine Ruhe. Er spürte die Unruhe des Magiers und das verhinderte auch seinen Schlaf. Zwar hatte er sich schon vor seinem Freund zur Nachtruhe zusammengerollt, doch er lag noch immer wach. Als Dhaôma aufseufzte, drehte er sich schließlich zu ihm um. Aufmerksam betrachtete seinen Freund durch das Gras hindurch, bevor er sich halb aufrappelte und zu ihm hinüber kroch. „Machst du dir immer noch Sorgen um Leoni und das Baby?“, wollte er leise wissen. „Das brauchst du nicht. Sie sind gesund und in guten Händen. Ich bin mir sicher, dass Asam sie unter allen Umständen beschützen wird.“ „Nein, warum sollte ich? Sie waren doch okay, als wir gegangen sind.“ Aus seinen Gedanken gerissen, richtete er sich auf Mimoun aus, der vor dem Nachthimmel kaum zu erkennen war. Da war es, das Problem, das er hatte, aber das änderte nichts. Er wollte nicht wieder streiten, deswegen wollte er es nicht ansprechen. Seine Augen fanden wieder die Sterne. „Nein, den beiden wird es gut gehen, denn Seren muss keine Angst haben, dass ihr Vater im Krieg fällt. Selbst wenn wir es nicht schaffen sollten, wird Asam nicht in den Krieg ziehen, denn er wird den nächsten Rat anführen. Aber für alle Fälle sollten wir unser Bestes geben, Frieden zu schaffen. Es wäre schön, wenn sie ohne Gewalt und Angst aufwachsen könnte.“ Noch ein wenig kroch er nach vorn und legte seinen Kopf auf Dhaômas Bauch. So wie damals, als dieser nach langer Krankheit wieder zu Bewusstsein gekommen war. Es war gut, so zu liegen. Beruhigend, den Herzschlag des anderen zu hören. „Müssen wir uns halt noch ein wenig mehr anstrengen, damit wir es schaffen, bevor sie alt genug ist, dass dieses Wissen und die Tragweite dessen wirklich ihr Bewusstsein erreicht.“, murmelte Mimoun. In einem kleinen Winkel seines Kopfes ahnte er, dass das nicht alles gewesen sein konnte. Schließlich schläferte der gleichmäßige Rhythmus ihn ein. „Hmhm.“ Dhaômas Gedanken kehrten zurück zu dem Streit und der Frage, die ihn interessierte, während seine Finger sich unbewusst in den schwarzen, dicken Haaren vergruben, sachte hindurch strichen und daran zupften. Dass Mimoun einschlief, bemerkte er nur am Rande. Erst, als er sich endlich dazu durchgerungen hatte, endlich zu fragen, wurde er der Tatsache gewahr, dass sein Freund auf ihm schlief. Seufzend schloss er die Augen. Dann musste das eben bis zum nächsten Morgen warten. Doch am nächsten Morgen erwartete sie eine böse Überraschung. Schon in den frühen Morgenstunden wurden sie von einem Regenschauer geweckt. Die ersten Tropfen registrierte er nur als lästigen Störfaktor. So wie eine Fliege. Träge wischte er sich über die Haut, wo er getroffen worden war. Zu den ersten gesellten sich weitere dazu und es wurden immer mehr. Mimoun erhob sich gähnend von seiner weichen Unterlage und streckte sich. Regen war gut, versprach er immerhin ein Ende der Hitzeperiode. Aber genauso war er lästig, wenn man ganz gemütlich ausschlafen wollte. Missmutig sah er zu Dhaôma und versuchte zu ergründen, ob dieser für das zeitige Wecken verantwortlich zu machen war, dieser lag jedoch noch immer auf dem Rücken. Es war also nicht zu erkennen. Auch sah dieser aus, als wäre er dadurch geweckt worden. Und eigentlich würde der Magier nicht so fies zu Werke gehen. Bis auf wirklich sehr wenige Ausnahmen, hatte er ihn immer ausschlafen lassen. Sein Blick glitt als nächstes zu den Wolken hoch, um abzuschätzen, wie lange dieser Regenguss anhalten würde. Vielleicht konnten sie ja die Zeit nutzen, um ohne Hitzschlag vorwärts zu kommen. „Frühstücken und Abmarsch?“, schlug Mimoun vor und suchte sich ihr Essen aus den Taschen zusammen. Den Regen auf der Haut zu spüren, empfand er noch nicht als unangenehm. „Sicher.“ Dhaôma grinste. Seitdem sie wieder Sommer hatten, genoss auch er den Regen auf der Haut und in den Haaren. Jede sich bietende Gelegenheit hatte er wahrgenommen – oder selbst verursacht. Dank Cerel brauchte er sich auch keine Sorgen mehr um seine Samen machen, die sicher in einer gewachsten Haut untergebracht waren. Der Regen wurde etwas stärker, kurz nachdem sie losgegangen waren, und benetzte die Welt mit seinem gleichmäßigen Nass. Es war angenehm und Dhaôma konnte den Wetterumschwung spüren. Gegen Mittag ließ der Regen nach, danach wurde es schwül. Diese Wetterlage war für Mimoun die allerschlimmste. Die warme Feuchte in der Luft zerrte an seinem Freund, das blieb dem Magier nicht verborgen. Und weil er wusste, was das bedeutete, hielt er Ausschau nach einem Unterschlupf. Bald würde es ein Gewitter geben. Sie hatten Glück, eine Felswand zu erreichen, in deren zerklüfteten Wänden sie Unterschlupf fanden, als Blitz und Donner über den Himmel zogen, der jetzt schwarz von Wolken war. Als der Regen einem Wolkenbruch gleich wieder einsetzte, war Dhaôma glücklich, dass sie es trocken hatten. Bei solch einem Wetter draußen zu sein, kam Selbstmord gleich. Immer wieder krachte es, wurde kurzzeitig hell, dann wieder dunkel. Im Grunde war es zu früh, um dunkel zu werden, aber das Unwetter ließ keine Sonne hindurch. Schlapp hatte sich der junge Geflügelte einen Ort gesucht, wo er einerseits vor den schlimmsten Witterungsbedingungen geschützt war, andererseits aber auch vereinzelte Regentropfen abbekam, die ihm Linderung verschafften. Mimouns Blick glitt nach draußen. Es schien fast so als wolle die Natur selbst verhindern, dass sie ihr Ziel erreichten. Sah wohl so aus, als würden sie nicht mehr weiterkommen heute. Nachdem sich Mimoun wieder halbwegs wohl fühlte, und ordentlich durchgeweicht war, kletterte er das Stück zu Dhaôma hinüber. Noch verspürte er keinen Hunger, sah also keinen Sinn darin, jetzt schon das Essen zu bereiten. Lustlos lehnte er sich neben seinen Freund an die Wand. Das Gewitter hielt den ganzen Abend bis tief in die Nacht hinein an. Erst zum Morgen hin schwächte es soweit ab, dass sie ihre Reise ungehindert fortsetzen konnten. Erstaunt sah Mimoun sich um. Am Nachmittag des vergangenen Tages hatte sich ihm nicht die Möglichkeit dazu geboten. Er war einfach nur froh darüber gewesen die Felswand als groben Schutz gefunden zu haben. Prüfend ging er in Gedanken die Karte noch einmal durch. Mimoun hatte sie sich so häufig angesehen, dass er sie nahezu auswendig konnte. „Halt mal.“ Sprachs und drückte Dhaôma seine Sachen in den Arm. Es regnete noch immer und seine Flügel fanden kaum Auftrieb, doch es reichte. Er sah, was er sehen wollte. Während sich der Fluss tiefer in die Erde grub, erhoben sich zu beiden Seiten die Wände ein Stück weit empor, verbreiterten sich in der Ferne zu einer Schlucht. „Gefunden.“, rief er triumphierend, als er wieder neben Dhaôma landete. Dhaôma hatte sich auch schon seine Gedanken gemacht, nun strahlte er. „Wir sind in der Schlucht? Yai!“ Jubelnd hüpfte er durch die Gegend. „Und das noch vor dem Winter!“ Fast hatte er damit nicht mehr gerechnet. „Jetzt müssen wir sie nur noch finden!“ Mimoun nickte und lachte. Dieses ausgelassene Treiben des Jungen zu beobachten, erfüllte ihn mit Freude. „So schwierig dürfte das nicht sein. Laut Karte hat sich der Fluss damals nicht geteilt. Also hat auch die Schlucht nur einen Weg. Das wird sich auch im Laufe der Zeit nicht mehr geändert haben. Also brauchen wir ihr nur zu folgen. Das wird einfach.“, befand er, nahm wieder seine Sachen an sich und setzte seinen Weg fort, tiefer in die Schlucht hinein. Mit neuem Elan folgte der Braunhaarige. In seinem Inneren herrschte eine ganz neue Aufregung. War hier der richtige Ort? Waren hier die Drachen? Lebten sie hier, versteckt zwischen den Felsen? Aber war das überhaupt möglich? Addar sagte doch, dass er nur einmal Drachen gesehen hatte. Und wenn seine Insel so nahe an der Schlucht vorbeischwebte, sollte er sie doch sehen können. Durch diesen Gedanken bekam seine Freude einen kleinen Dämpfer. Dennoch war die Landschaft atemberaubend. Zuerst nur wenig, dann jedoch immer tiefer und reißender peitschte das Wasser durch die Felsen. Darüber führte bald nur noch ein schmaler Grat an den Felsen entlang, über ihnen waren selbige weit zusammengerückt und ließen kaum noch Licht hindurch. Die Luft war diesig und kalt und Dhaôma war glücklich über seinen Pelzponcho. Der Geflügelte begann sich schnell unwohl zu fühlen. Zwar fiel noch immer Licht in diese Schlucht, so dass sie ihren Weg erkennen konnten, jedoch umgab ihn von allen Seiten starrer Fels und Erde. Und unter ihm rissen die Fluten alles mit sich, was in ihre Fänge geriet. Zumindest klang es mittlerweile in seinen Ohren so. Und der schmale Weg unter seinen Füßen gab ihm alles, nur nicht Sicherheit und Vertrauen. Bald robbte er seitlich an den Felsen entlang, da er sonst immer mit seinen Flügeln hängen blieb, was jedes Mal ein unterdrücktes Zischen als Reaktion hatte. Seine Finger krallten sich fest in den scharfkantigen Fels, um nicht inmitten der Fluten zu verschwinden. „Ich will wieder nach oben.“, maulte Mimoun schließlich. Dhaôma hatte zwar weniger Probleme auf dem schmalen Grat, aber die Enge in der Schlucht erinnerte ihn schon an die Zeit allein im Berg. Dennoch gefiel es ihm. Alles war neu. Nie hatte er so etwas gesehen. Und selbst die Moose und Farne hier unten waren unbekannt. Mehrere Male kamen sie unter Felsblöcken hindurch, die im Laufe der vorigen Jahre herunter gebrochen und dann auf halber Höhe stecken geblieben waren. Gegen Mittag erreichten sie einen Vorsprung, der breit genug war, um sich auszuruhen. Dort aßen sie ihre letzten Vorräte auf. Ab jetzt mussten sie fischen oder Pflanzen essen, die Dhaôma wachsen ließ. Mimoun ließ sich bäuchlings darauf fallen. Noch immer waren sie von kühlem Niesel umhüllt, die breite Fläche unter ihm machte gerade es jedoch wett. Auch seine Flügel, die er bisher krampfhaft an den Körper gepresst hatte, wollte er liebend gern ausspannen, was leider Dhaôma seines Platzes beraubt hätte. Auf der ganzen Klettertour hatte er sich fast völlig auf seine Schritte konzentriert. Nun betrachtete Mimoun seinen Freund ausgiebig. Diesem schien diese Umgebung nicht ganz so unangenehm zu sein. Neugierig betrachtete er auch jetzt noch alles um sie herum. „Was meinst du?“, begann der Geflügelte leise, mehr zu sich selbst als tatsächlich an Dhaôma gewandt. „Ob wir die ganze Schlucht so entlangkraxeln müssen? Dann wundert es mich nicht, warum der Begriff Tod im Namen enthalten ist.“ „Du könntest drüber hinweg fliegen. Das bedeutet nur vielleicht, dass uns der Eingang oder sonst etwas von den Drachen entgehen könnte. Das fände ich unpraktisch.“ Dhaôma setzte sich an Mimouns Kopfseite, damit der andere Platz für seine Flügel hatte. „Wir könnten durch rufen Kontakt halten. Dann müsste nur ich hier unten sein.“ „Oh ja.“, murrte Mimoun. „Und der Ruf : aaaaaaah…“ Er wedelte mit den Händen neben dem Kopf herum. „…sagt mir dann, dass du baden gegangen bist.“ Der Geflügelte verschränkte die Hände unter seinem Kinn, krümmte und spannte seinen Rücken und streckte die Flügel aus. „Besser.“, befand er schließlich. „Ich stürze nicht ab. Nicht noch mal.“ Einmal hatte wahrlich gereicht. Aber dann lehnte er sich entspannt zurück und schloss die Augen. „Weißt du, ich bin froh, dass du hier bist. Dann fühle ich mich zumindest nicht, als wäre ich hier lebendig begraben.“ Wow, dachte Mimoun belustigt. Das Gefühl drängte sich ihm aber auf. Und das obwohl Dhaôma bei ihm war. Kurz streckte er sich in alle Richtungen und stand schwungvoll auf. „Los. Abmarsch.“, grinste er. „Machen wir, dass wir hier raus kommen. Je früher, desto lieber.“ Und schon begann er seine Sachen wieder zusammenzuklauben. Der Braunhaarige zog einen Flunsch. „Ist das so weit?“ Das war doch nicht zu fassen. Es war kein Wunder, dass das hier Schlucht des Todes hieß, wer wagte sich den freiwillig auf so einen zermürbenden Lauf, wenn er auch oben laufen konnte. Als ihm bewusst wurde, dass er derjenige war, seufzte er tief auf. Und wegen ihm musste auch Mimoun diesen Mist ertragen. „Sag mal, Mimoun, zwinge ich dir wirklich meine Verhaltensweisen auf?“, fragte er mit dunkler, wenig glücklicher Tonlage. Noch immer hatte er die Einladung nicht angenommen, sah ihn einfach nur an. Dieser ließ den Arm wieder sinken. Mimoun war sofort klar, worauf Dhaôma hinaus wollte. Und es schien fast so, als würde der Magier das jetzt hier ausdiskutieren wollen. Auch wenn es jetzt nicht gerade der beste Platz dafür war. „Für mich klang es so, als würdest du den Drachen dafür nutzen wollen, mich daran zu hindern, dir zu helfen.“, erwiderte er nach einigen Augenblicken der Stille. „Ich will nicht, dass du mich dazu zwingst, tatenlos zuzusehen, wenn du leidest. Ich will nicht, dass du dich in dieser Beziehung über meine Wünsche hinwegsetzt.“ Das war eine gute Information. Darauf würde er dann achten. Aber das meinte er nicht. Nur, wie sollte er das ausdrücken? Wie sollte er Mimoun verständlich machen, was er dachte? „Aber du bist hier und musst laufen und klettern. Du fühlst dich unwohl. Und du bist nicht bei deiner Schwester, sondern in Einsamkeit hier unten.“ Er holte tief Luft. „Ist das nur, weil du denkst, dass du mir etwas schuldig bist?“ In seiner Brust zog sich vor Angst vor der Antwort etwas zusammen. „Ich bin nicht einsam.“, erwiderte Mimoun schnell und streckte mit einem Lächeln seine Hand in Dhaômas Richtung. „Und wenn man es bis ins kleinste Detail vergleicht, bin ich dir schon lange nichts mehr schuldig.“ Kurz stockte er und tat so, als würde er angestrengt nachdenken. Leise, aber noch immer laut genug, dass sein Freund ihn hören konnte, murmelte er: „Oder hab ich etwas übersehen? Ist mir da vielleicht etwas entgangen?“ Unglücklich senkte Dhaôma den Kopf, ließ die Hand, wo sie war in der Luft schweben. Ihm kam es so vor, als würde Mimoun nicht verstehen, was er damit sagen wollte. Und so wie es sich anhörte, schien er zu Anfang tatsächlich nur da gewesen zu sein, weil er sich schuldig fühlte. Und jetzt? Mimoun hatte gesagt, dass er für ihn kämpfen wollte, weil sie Freunde waren. Aber er wollte keinen Freund in den Kampf schicken. Unter keinen Umständen wollte er sehen, wie ein Freund starb. Schon gar nicht für ihn. Mimoun ließ die Hand noch wenige Sekunden in der Luft schweben, bevor er sie wieder an die Felswand legte und zu seinem Freund hinüber kletterte. „Ich bin hier, weil ich hier sein will.“, begann der Geflügelte erneut und legte die Hand unter Dhaômas Kinn, zwang seinen Freund ihn anzusehen. Kein Lächeln auf seinem Gesicht, keine Spur von Wut oder Zorn. Alles was er sagte, meinte er völlig ernst. „Nicht, weil ich dir etwas schuldig sein könnte. Nicht, weil mir vom Rat aufgetragen wurde, auf dich Acht zu geben. Der einzige Grund für mein hier sein ist, dass ich es will. Weil ich es nicht ertragen kann, wenn du einsam bist. Selbst wenn du es von mir verlangen solltest, werde ich nicht gehen. Ich werde dich auf deinem Weg begleiten, egal wohin er dich führen mag.“ Kurz huschten die braunen Augen hinauf, nur um sich gleich darauf auf den muskulösen Arm zu richten. Langsam aber sicher erwachte leise Verzweiflung in ihm. „Aber dann wirst du vielleicht Jahre an den Boden gefesselt sein!“, rief er, seine Hände waren zu Fäusten geballt, seine Augen fest zusammen gepresst. „Es ist fast, als würde ich dich anketten! Dir deine Freiheit nehmen!“ Seine Stimme wurde wieder leiser, fast tonlos. „Ich nehme dir genau das, was ich immer haben wollte.“ Mimoun trat wieder einen Schritt zurück. Warum wollte dieser dumme Magier es einfach nicht begreifen? „Dann willst du also, dass ich gehe? Du wählst also wieder die Einsamkeit?“ Seine Stimme hatte einen leicht verletzten Unterton. Vielleicht half es, das Ganze von der anderen Seite zu probieren. Dhaôma schüttelte den Kopf, nickte dann. In ihm schrie etwas, was er nicht hören konnte, bis er selbst mit offenen Augen blind zu sein schien. Was sollte er tun? Wenn er ihn gehen ließ, würde Mimoun wieder frei für eigene Entscheidungen sein, litt aber, weil er – wie er selbst gesagt hatte – es nicht ertrug, ihn einsam zu sehen. Aber wenn er ihn bei sich behielt, musste er weiterhin ständig auf ihn aufpassen und sich anpassen und Dinge tun, die ihm nicht gefielen. „Ich weiß doch auch nicht!“, flüsterte er erstickt. „Ich will, dass es dir gut geht. Und das ist momentan nicht so.“ Der junge Geflügelte gab ein abfälliges Geräusch von sich. Es war in der momentanen Situation das Dümmste, das er machen konnte. Es rutschte ihm einfach so raus. „Falls es dir entgangen sein sollte, bin ich ein Wesen der Lüfte.“ Wie zur Bestätigung flatterte er ein wenig mit seinen Flügeln. „Natürlich geht es mir nicht gut, wenn ich von allen Seiten von Fels und Erde umgeben bin. Und der Fluss da unten lädt auch nicht unbedingt zu einer Runde Schwimmen ein. Aber wir hatten ja nicht vor, es zu einem Dauerzustand werden zu lassen. Schau mal. Ich hab mich selbst ans Laufen gewöhnt, obwohl ich dem anfangs nicht viel abgewinnen konnte.“ Er klopfte Dhaôma wie schon so oft mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn. „Und wenn wir hier raus sind, mach ich was Ähnliches wie du, nachdem du nach Monaten endlich wieder auf der Erde warst. Fliegen, fliegen, fliegen.“ Sanft schlang er einen Arm um Dhaômas Hüfte. „Also sorgen wir lieber dafür, dass wir nicht ganz so lange brauchen wie auf den Inseln.“ Noch immer hob er nicht ab, sah abwartend zu seinem Freund, der ja bisher nicht damit einverstanden gewesen war, den Weg abzukürzen. Wie automatisch schlang Dhaôma seine Arme um Mimoun, glücklich war er dennoch immer noch nicht. Der Geflügelte stellte es so hin, als wäre seine Situation mit Dhaômas vergleichbar. Das implizierte jedoch, dass er wirklich gefangen war. So wie der Braunhaarige sich Monate lang nicht von diesen beiden Inseln hatte entfernen dürfen. Wodurch konnte er aber nicht sagen. Pflichtbewusstsein und Ehrgefühl hatte Mimoun verneint, genauso dass der Auftrag der Grund für diese Aufopferungsbereitschaft war. Die einzige Möglichkeit, die ihm als Erklärung blieb, war Freundschaft. Aber eine Freundschaft, die von jemandem soviel forderte, verstand er nicht. Weder konnte er darauf antworten, noch konnte er sie annehmen, ohne dass er sich schuldig fühlte. Mimoun wartete noch einige Sekunden. In diesen beobachtete er seinen Freund genau. Noch immer schien dieser nicht zufrieden zu sein. Weder stellte er weitere Fragen noch sagte er sonst etwas. Und so wusste der Geflügelte auch nicht, was er noch sagen konnte, um Dhaôma zu beruhigen. Sein Blick glitt kurz zu dem Spalt über ihnen. Noch gab es genug Licht, um den Weg zu schaffen. Aber er konnte hier unten nur schwer einschätzen, wie lange es so bleiben würde. Seufzend blieb er, wo er war. Brachten sie erst einmal dieses Problem hinter sich. „Was hast du?“, fragte Mimoun. Lange schwieg der junge Magier daraufhin. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, kreisten um die vertrackte Situation zwischen ihnen, aber die Antwort wollte sich nicht bilden. Letztlich seufzte er. „Was genau bedeutet Freundschaft?“, stellte Dhaôma eine Gegenfrage statt einer Antwort. „Äh.“, brachte Mimoun hervor. Was sollte denn jetzt diese Frage? Vor allem… wie erklärte man etwas, das irgendwie selbstverständlich war? „Ein Freund ist jemand, dem man bedingungslos vertraut und der immer da ist und dich auffängt, wenn es dir schlecht geht. Jemand, der dich mag, so wie du bist. Ach Mist. Warum ist es so schwierig, etwas so Einfaches zu erklären?“ Nach dieser Definition hatte er noch nie einen Freund besessen. Nicht einmal in der Zeit, als die anderen noch mit ihm gespielt hatten. „Ich mag dich auch.“, sagte er irgendwann leise. „So wie du bist. Ich kann nicht mit ansehen, wie du dich meinetwegen verbiegst.“ Ernst erwiderte er den grünen Blick. Verstand er nun, was er sagen wollte? „Verbiege ich mich denn?“, fragte Mimoun verblüfft. Das war ihm gar nicht aufgefallen. „Sieht es wirklich so für dich aus?“ Dhaôma nickte und wandte er den Blick ab. „Du gibst alles auf. Dein Zuhause und dein Element. Sogar deine Ziele stellst du für meinen Traum zurück. Dabei könntest du ein schönes Leben haben. Bei deiner Familie, vielleicht mit einer eigenen Familie. Jadya hatte dich gern. Gern genug, um dir schöne Augen zu machen und mich zu bitten, auf dich aufzupassen.“ „Oh.“, entfuhr es Mimoun. Das mit Jadya hatte er irgendwie nicht mitbekommen. Aber es würde zumindest eine Menge erklären. Danach schwieg er eine ganze Weile. Der Geflügelte hielt die Augen geschlossen und dachte nach. Über sich, über sein Verhalten, seine Wünsche und Ziele. „Ich habe nichts von alledem aufgegeben.“, begann er zögerlich. „Schließlich bin ich nicht hier gebunden. Ich kann jederzeit zurück nach Hause. Auch meinem Element hab ich nicht den Rücken gekehrt. Es ist zwar nicht gut und viel, aber selbst hier ist es mir möglich zu fliegen. Und was eine eigene Familie betrifft…“ Er zuckte in einer hilflosen Geste mit den Schultern. „Noch kam in mir nicht das Bedürfnis danach auf. Irgendwann schon, da bin ich mir sicher, aber jetzt noch nicht. Momentan möchte ich mein Leben genießen. Hier und jetzt. So wie es ist. Das ist das, was ich mir wünsche. Und hey. Unsere Ziele sind gleich. Wir wollen beide den Frieden bringen.“ Dhaôma gab auf. Entweder verstand Mimoun ihn nicht, oder er war tatsächlich zufrieden damit, wie ein Hund hinter ihm herzudackeln. Im Grunde genommen freute es ihn ja, aber die Unsicherheit hatte ihn dennoch fest im Griff. Und vor allem ein Faktor machte ihm Angst: dass Mimoun gehen könnte. Einfach so. Weil er genug von ihm hatte. Weil er erkannte, was ihm offenbar noch nicht bewusst geworden war. Weil er doch lieber zu Hause sein wollte. Wenn er sich jetzt abwandte, könnte er sich wenigstens noch damit trösten, dass es das Beste für den Schwarzhaarigen war, wenn er aber später ging, wenn er sich in Sicherheit und Vertrauen wiegte… „Fliegen wir zu deinen Sachen. Ich möchte mich hinsetzen.“ Er war geistig erschöpft. Und seine Beine wollten langsam auch nicht mehr. Mimoun nickte, schlang nun endlich auch seine andere Hand um Dhaôma und stieß sich ab. Sein Blick suchte nun nicht mehr die Wände nach möglichen Hinweisen ab, wie auf seinem Hin- und Rückflug. Ein drittes Mal würde sicher keine anderen Ergebnisse bringen. Und so konzentrierte er sich völlig auf den Flug. Seine Gedanken drehten sich in der Zeit um ihr Gespräch. Irgendwie hatte Mimoun nicht das Gefühl, als wäre die Geschichte zwischen ihnen nun geklärt. Doch was war es, was Dhaôma solche Schwierigkeiten bereitete? Kurz huschte wieder die Frage durch sein Bewusstsein, was Freundschaft nun eigentlich bedeutete. Der Magier war sein Lebtag lang allein gewesen, hatte sich immer auf sich selbst verlassen müssen, dieses Gefühl der Verbundenheit hatte er nicht kennen gelernt. Lag da das Problem? Wusste er einfach nur nicht, wie er mit Mimouns Anwesenheit und Verhalten umgehen sollte? War Freundschaft wirklich so schwierig zu verstehen für ihn? War der Geflügelte selbst vielleicht zu aufdringlich und überstürzt in seinen Handlungen Dhaôma gegenüber gewesen? Hätte er es langsamer angehen sollen und seinen Freund mehr sich selbst überlassen sollen? Entschieden schüttelte er den Kopf. Nein. Das konnte es auch nicht sein. Lebhaft konnte er sich noch daran erinnern, wie glücklich Dhaôma damals ausgesehen hatte, nachdem er sich aus ein paar belanglos dahergesagten Sätzen zusammengereimt hatte, dass Mimoun sein Freund sei. Und er hatte vorhin selbst gesagt, dass er wolle, dass es dem Geflügelten gut ging. Also konnte man behaupten, der Junge hätte das Grundprinzip der Freundschaft zumindest unbewusst begriffen. Sich dessen nicht wirklich bewusst werdend, erreichte Mimoun die Plattform, die über den Fluss hinausragte. Vorsichtig stellte er den Magier wieder auf die Füße und streunte gedankenverloren zu seinen Habseligkeiten, ließ sich daneben nieder. Der Geflügelte verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen. Er hatte sich von Dhaôma gewünscht, dass dieser Mimouns Wünsche nicht überging. Und der Magier wünschte sich die Sicherheit und Unversehrtheit des Geflügelten. War es nicht so, dass Mimoun mit seinem Verhalten manchmal die Wünsche Dhaômas missachtete? Konnte er es ihm verübeln, seine Wünsche zeitweise mit Gewalt durchsetzen zu wollen? Eigentlich nicht. Sie waren nun einmal zwei Individuen. Natürlich gab es da Differenzen. Auch hatte sich Mimoun von Dhaôma gewünscht, dass dieser eigene Entscheidungen traf und Wünsche äußerte. Sollte er das auch tun, damit der Magier nicht mehr den Eindruck gewann, er würde sich für ihn verbiegen? Für Dhaôma wirkte es so, als wolle sich Mimoun abkapseln. Seine verschränkten Arme, die Tatsache, dass er sich wortlos gesetzt hatte und das unwirsche Kopfschütteln ein paar Minuten vorher veranlassten den Jungen dazu, sich Sorgen zu machen. Nur langsam ließ auch er sich nieder, rollte sich ein wenig verzweifelt zusammen, zog den Poncho um seinen Körper. Vielleicht hatte er etwas angestoßen, was ihm zum Nachteil gereichte. Vielleicht hatte er mit seinen Worten Mimoun darauf gebracht, dass es stimmte, dass er tatsächlich ein anderes, besseres Leben haben konnte. Ob er gerade jetzt das Für und Wider abwog? Innerlich verspürte er Angst. Angst davor, alleine zu sein. Und gleichzeitig wusste er nicht, ob er sich vielleicht freuen sollte, dass er ihm bald nicht mehr im Weg stehen würde. Träge öffnete der Geflügelte die Augen. Er konnte nicht sagen, wie lange er einfach nur da gesessen und nachgedacht hatte. Es war eine festgefahrene Situation. Mimoun wollte Dhaôma beistehen, ihn begleiten und schien diesen damit unglücklich zu machen. Was also sollte er tun? Wie sollte er sich nun gegenüber seinem Freund verhalten? Er konnte aus seinen Gedanken kein ihn selbst zufriedenstellendes Ergebnis herausfiltern. Nahezu alle Helligkeit war mittlerweile aus der Schlucht verschwunden. Da sich sein Hunger so langsam meldete, wühlte er blind in seiner Tasche. Mimoun wusste nicht, was Dhaôma in den letzten Minuten oder gar Stunden getrieben hatte. Er hatte nichts von seiner Umwelt mitbekommen. Und so konnte er auch nicht sagen, wo genau sich sein Freund gerade befand und ob dieser schon gegessen hatte. Zu spät ging ihm auf, dass sie mittags die letzten Reste vertilgt hatten. Und er hatte sich nicht die Zeit genommen, Lebensmittel zu beschaffen. Zu sehr war er mit Nachdenken beschäftigt gewesen. „Ach Mist.“, entfuhr es ihm und auf Händen und Knien tastete er sich zu seinem Freund hinüber. Wenn sich das Hungerproblem vorerst nicht lösen ließ, wollte er etwas anderes klären. Vorsichtig arbeitete er sich nach vorn. Erleichtert seufzte er, als seine Finger auf Pelz stießen. Mimoun rollte sich daneben zusammen, mit dem Rücken zu Dhaôma, die Flügel wie zum Schutz über ihn gelegt. „Ich wünsche mir, bei dir bleiben zu dürfen.“ Wunschäußerung. Einfache Methode. Aber ob der Magier noch wach war und diese Worte gehört hatte, konnte er weder sagen noch interessierte es ihn sonderlich. Er hatte es wie zur Bestätigung an sich selbst wenigstens einmal laut ausgesprochen. Es war eher unbewusst, dass Dhaôma im Schlaf näher an die Wärmequelle heranrutschte und seine Hände gegen den Körper drückte, der wärmer war als die Umgebungsluft. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)