Zum Inhalt der Seite

Two Sides of a Coin

R. Lutece²
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Two Sides of a Coin

Da es mir die beiden echt angetan haben, kam ich nicht umhin zu Rosalinds Voxophone-Aufnahme eine kleinen OS zu schreiben und da ich wie allen meinen FFs und Kapitel, auch diesem Musik zugeordnet habe, will ich sie auch dieses Mal nicht vorenthalten. Es sind beides Lieder zu Nightwish, einmal "Turn Loose the Mermaids" und "Arabesque". Geschrieben wurde der OS aber nicht nur zu denen, sondern zum Soundtrack "Imaginearum" (es gibt zwei Alben von Nightwish mit dem Namen, einen Soundtrack und ein normales Musikalbum)
 

Viel Spaß :)
 

Tron
 

~*~*~*~*~*
 

The sound of iron shocks is stuck in my head,

The thunder of the drums dictates

The rhythm of the falls, the number of dead's

The rising of the horns, ahead
 

From the dawn of time to the end of days

I will have to run, away

I want to feel the pain and the bitter taste

Of the blood on my lips, again
 

Iron - Woodkid
 

~*~*~*~*~*
 

Two Sides of a Coin
 

Er zögerte.
 

Sein unentschlossener, fast schon ängstlicher Blick suchte den ihren. Darin selbst stand nur freudige Erwartung, natürlich auch Sorge, denn das war immer noch ein Experiment. Aber sie … sie wäre dann nicht mehr allein.
 

Sie hätte ihn, jemanden der dachte wie sie. Es war etwas anderes, nur durch das Feld zu schreiben oder sich mal zu sehen, aber ihm gegenüber zu stehen - ihrem Ebenbild, das war etwas völlig neues. „Komm schon.“, bat sie ihn und in ihrer Stimme lag etwas Flehendes. „Es wird halten. Das Feld ist stabil!“, versuchte sie ihn weiter zu beschwichtigen und streckte die Hand aus. Er müsste sie nur ergreifen und ihren Gedanken wurde der Satz „Nimm meine Hand“ zu einem Mantra. Noch einmal sah sich Robert in seinem Arbeitszimmer um, dann ging sein Blick wieder zu seinem weiblichen Spiegelbild. ‚Jetzt oder nie‘, mit diesem Gedanken nahm er die dargebotene Hand an. Seine Fingerspitzen durchbrachen als erstes die Barriere und es kribbelte, wie als wären alle Nervenbahnen gleichzeitig mit Information geflutet worden. Seiner Hand folgte sein Arm und mit ihm breitete sich das Gefühl aus. Er wusste nicht ob es gut war, ob er abbrechen sollte, sein Blick galt lediglich Rosalind, die ihn erwartungsvoll ansah und als sie seine Hand auf ihrer spürte umschloss sie diese.

Mit einem Ruck zog sie ihren Bruder hindurch, der sofort ins Stolpern geriet. Zuerst sah es nur so aus, als wäre es der Schwung gewesen, mit dem ihn seine Schwester hindurch gezogen hatte, doch sobald auch sein Kopf hindurch war, war es als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Erinnerungen, die definitiv nicht seine waren überlagerten sich, nahmen ihm die Klarheit zwischen Wahrheit und Einbildung. Oder war beides die Wahrheit, doch nur eine war seine? Rosalinds Mimik verwandelte sich innerhalb von Sekunden von einem freudigen Lächeln in eine sorgenvolle Miene. Sie hatte ihn auffangen wollen, als sie erkannte, dass er sich nicht mehr halten konnte, doch er war zu schwer und sie zu schwach.
 

Beide stürzten sie zu Boden, wobei Robert noch Glück hatte und auf ihr landete. „Robert?“, fragte sie besorgt und wartete auf eine Reaktion, eine die nicht kam. „Robert?“, versuchte sie es erneut und legte eine Hand unter sein Kinn, damit sie sein Gesicht anheben konnte. Blut lief ihm aus der Nase und obwohl er offensichtlich wach war, war sein Blick verklärt, als hätte man ihn eben aus dem Tiefschlaf gerissen. Sie ließ ihn wieder los und sein Kopf sank zurück auf ihre Brust. Zuerst versuchte Rosalind ihn von sich herunter zu schieben, doch er war viel zu schwer. Sie müsste sich herausziehen, doch mit ihren Händen am Boden fand sie kaum halt und nach den ersten Versuchen scheiterte auch das, bis sie an ihren Schreibtisch dachte, der schwer genug war um nicht zu verrücken. Vielleicht würde sie von einigen Büchern, die jetzt schon wankend auf ihm lagen, erschlagen werden, doch sie hatte lieber eine Schramme im Gesicht, als weiter hier zu liegen – untätig! Mit ihrer rechten Hand griff sie nach dem Fuß des Schreibtisches, während sie mit der anderen Robert leicht anhob und sich so langsam befreite und heraus robbte. Dieses Mal landete er ein wenig unsanft auf dem Boden. Einige Strähnen hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und fielen ihr jetzt wild ins Gesicht, aber sie schenkte ihnen keine Beachtung. Kaum hatte sie ein paar Mal durch geatmet, stemmte sie sich auch schon mit voller Wucht gegen ihren Bruder und dreht ihn um. „Du könntest mal abnehmen!“, beschwerte sie sich leicht entnervt, als sie ihn endlich umgedreht hatte und mit Schwung auch halb über ihn drüber gesegelt war.

Nur kurz schnaufte sie einmal durch und lehnte dabei mit ihrer Stirn gegen den Teppichboden. Nach ein paar Minuten richtete sie sich wieder auf und wand sich ihm zu. Seine Augen suchten desorientiert nach einem Anker, doch es schien als könnte er nichts fassen. Immer wieder stammelte er unzusammenhängende Sätze und hin und wieder fiel auch ihr Name oder Bruchstücke zu transdimensionalen Reisen. „Robert?“, rief sie ihn erneut und legte beide Hände an seine Wangen und zwang ihn, sie anzusehen. Der Versuch scheiterte jedoch direkt, denn er sah einfach durch sie hindurch. „Robert!“, das klang jetzt fast schon nach einem Befehl oder war es doch eher sie Stimme einer besorgten Schwester, die nicht wusste was das bedeutete. Natürlich hatten sie vorher Versuche unternommen. Gegenstände, Reptilien, kleine Säugetiere bis hin zu größeren wie Hunden. Sie alle hatten sich desorientiert gezeigt, hatten aber völlig normal reagiert. Einer der Hunde, die Robert geschickt hatte, hatte sich sogar in ihrem Haus so gut ausgekannt, das er gleich seinen Platz neben dem Kamin gesucht hatte. Er war postwendend wieder an ihren Bruder zurückgegangen. Sie war Physikerin und hatte nichts für Tiere übrig und in ihren Augen war es zur ein Experiment gewesen.
 

Eines das geglückt war, aber das hier? Das Nasenbluten – erinnerte sich Rosalind und tastete ihre Westentasche nach einem Taschentuch ab und als sie keines fand, hob sie den Kopf um ihr Jackett zu suchen. Schnell sprang sie auf die Beine, strauchelte die ersten Schritte und sah sich erneut um, denn in ihrer sitzenden Position hatte sie es nicht entdecken können. Es war nicht ihre Art wie ein aufgeschrecktes Huhn von ihrem Arbeitszimmer in die Garderobe zu hasten, doch das dort am Boden war ihr Bruder. Sie nur als er! Es hatte funktioniert! Nur leider war er nicht ansprechbar. Hastig zog sie das Taschentuch aus der Innenjacke ihres Jacketts und eilte zurück ins Arbeitszimmer, wo sie nebenbei auch die Maschine abstellte. Damit wirkte es nicht mehr so als wäre ein Gewitter darin ausgebrochen, so ganz ohne statische Entladungen und flimmernder Luft. Rosalind kniete sich neben ihm auf den Boden und tupfte sachte das Blut weg. „Robert?“, fragte sie erneut und strich ihm mit einer Hand über die Stirn. „Verstehst du mich?“
 

Keine Reaktion.
 

„Weißt du wer ich bin? Robert!“, sein Name kam ihr nun wesentlich strenger über die Lippen, doch erreichte es sein Bewusstsein überhaupt nicht. Mit Desorientierung und Verwirrung hatte sie gerechnet, aber nicht in diesem Zustand, der einem Delirium glich.
 

Mit einem Seufzend faltete sie das Taschentuch erneut und hielt es ihm unter die Nase, damit er weder sich, noch den Boden weiter beschmutzte. Erst jetzt bemerkte Rosalind, das auch ihre Kleidung nicht verschont geblieben war, doch die paar roten Flecken auf ihrer grünen Krawatte und dem beigen Hemd waren unwichtig. So vollkommen uninteressant. Viel mehr sorgte sie sich um seinen geistigen Zustand und das Nasenbluten. Wieso hörte es nicht auf? Sie musste doch schon Minuten hier knien und inzwischen war das ganze Taschentuch voll. Auch ihre Hand hatte sich rot verfärbt. Die zähe Flüssigkeit klebte an ihrer Hand und nahm eine rostrote Farbe an. „Verdammt.“, fluchte sie und legte das Tuch zur Seite. Unbeirrt lief das Blut weiter aus seiner Nase, während er flüsternd Dinge stammelte. Ein Albtraum. Rosalind wollte gerade aufstehen, als er ihren Albtraum wiederholte. Einen den sie als Kind immer gehabt hatte, aber sie noch niemanden erzählt hatte. Woher konnte er das wissen? Leicht schockiert musterte sie seine Gesichtszüge, doch mit einem Blick auf seine Nase, fiel ihr wieder ein was sie holen wollte. Halt.

Sollte sie ihn hier liegen lassen? Kurz stockte sie in der Bewegung zum Aufstehen und entschied sich auch um. Ehe sie ein neues Taschentuch holen würde, würde sie ihn umbetten. Er konnte nicht auf dem Fußboden neben der Maschine liegen bleiben, doch in den ersten Stock ins Schlafzimmer konnte sie ihn nicht tragen. Und Hilfe holen konnte sie auch nicht. Das waren keine Experimente mit denen man hausieren ging, das war nichts für die Öffentlichkeit. Es reichte schon wenn Comstock davon wusste und sie ihrer Meinung nach zweckentfremdete. Das Sofa! Es war nicht allzu weit weg und womöglich konnte sie ihn hoch hieven. Sie sprang auf und rannte hinüber zu dem alten viktorianischen Sofa, das mit rotem Stoff bezogen war. Anstatt als einladende Sitzgelegenheit zu dienen, war es vollgestopft mit Büchern, welche sie mit einem Handstreich achtlos zur Seite warf.

Wie Dominosteine fielen die anderen Buchtürme um, als das Gewicht der Federn einmal verlagert worden war. Einen Teil der Bücher schob sie unter das Sofa, die anderen unter den Wohnzimmertisch oder einfach zur Seite damit sie aus dem Weg waren. Der schwierige Teil kam jetzt erst noch.
 

Rosalind kehrte zu Robert zurück, der noch immer in diesem erbärmlich abwesenden Zustand war und packte ihn unter den Armen um ihn die wenigen Schritte hinüber ins Wohnzimmer zu schleifen. Mit voller Wucht stemmte sie sich nach hinten um ihn überhaupt von Ort und Stelle zu bekommen. „Du bist …“, fluchte sie und brach ab als sie vor Anstrengung stöhnte. „… zu schwer!“ Ein paar Mal bekam sie auch Übergewicht und stürzt nach hinten, mit Robert auf ihren Füßen. Dann musste sie sich wie befreien und anheben – das Spiel begann erneut. Waren es Stunden gewesen bis sie ihn endlich neben dem Sofa hatte? Rosalind hatte keine Ahnung, doch der Schweiß stand ihr auf der Stirn und ihre Wangen waren ganz rot vor Anstrengung. „Ein bisschen mitmachen könntest du auch!“, murrte sie schlecht gelaunt, während sie ihn auf das Sofa zog. Mehrere Male versuchte sie auf die Hebelkraft zu setzen, vergaß aber ihre erschöpften Arme und kippte über die Lehne nach hinten. Fluchend zog sie sich wieder auf die Beine und machte weiter, bis er endlich auf dem Rücken lag und das noch auf dem Sofa und nicht daneben oder nur halb. Über seine Wangen zogen sich die roten Blutrinnen und auch seine Kleidung wies, wie ihr Teppich, hier und da Blutflecken auf.

Ihre Haare standen schon längst zu allen Seiten ab und erweckten den Eindruck als hätten sie in eine Steckdose gefasst. Unter Bergen von Büchern suchte sie nach einem der Sofakissen, die sie nicht benützte und deswegen immer irgendwo gelagert hatte, nur nicht auf dem Sofa. Damit betete sie seinen Kopf etwas höher, während sie unter seine Beine Büchern schob, damit sie höher lagerten und seinen Kreislauf etwas unterstützen. Sie mochte Physikerin sein, doch ein paar medizinische Grundlagen kannte sie schon. Das einzige was ihr wirklich sorgen machte war die Blutung, die einfach nicht aufhörte und das er langsam aber sicher ruhiger geworden war.
 

Rosalind rannte nach oben ins Schlafzimmer um frische Taschentücher aus dem Schrank zu holen, als sie in ihrer Eile fast das Loch im Boden übersehen hatte. Mit einem „Huch“, war sie gerade noch zum Stehen gekommen. Wo kam das her? Noch bevor ihr Verstand sich verselbstständigen konnte, mahnte sie sich, dass es um ihren Bruder ging und dass nur ein materielles Problem war, das behoben werden konnte. Nun an ihren … halbierten Kleiderschrank kam sie nicht mehr heran, dafür war das Loch zu groß und zu zentral, aber ihr Nachtkästchen war in Reichweite und das genügte. Sie packte einen ganzen Stapel und rannte weiter in die Küche, wo sie eine Schüssel mit kaltem Wasser füllte. Beides brachte sie ins Wohnzimmer und stellte es auf den Tisch dort ab. „Robert? Erkennst du mich?“, fragte sie ihn und setzte sich auf die Kante des Sofas. Rosalind tauchte das weiße Tuch in das kalte Wasser und legte es ihm auf die Stirn, bevor sie ein zweites nahm und das gleiche wiederholte, aber dieses Mal um seine Wangen zu säubern und um die Blutung hoffentlich etwas in den Griff zu bekommen. Das kalte Wasser schien Wirkung zu zeigen, als würde es ihm wieder etwas Klarheit schenken. Seine blauen Augen fanden tatsächlich ihre und er sah nicht einfach durch sie hindurch, sondern er sah sie an.

„Rosalind.“, wisperte er und lächelte schwach. Sie hatten es geschafft, er war bei ihr, wenngleich er auch wusste, dass sein Zustand nicht normal war. „Ja!“, erleichtert atmete sie auf und strich ihm durch die gleichen rostroten Haare, wie sie, sie hatte. „Wir haben es geschafft.“, murmelte er und schloss die Augen. Erneut stimmte sie zu, doch die Euphorie hielt nicht lange an. „Robert?“, rief sie erneut, doch er gab nicht mehr an und seine Augen blieben geschlossen. Der Blutverlust. Natürlich. Er war so blass, selbst für seine Verhältnisse und wie viel mochte er schon verloren haben? Wenn sie sich ihr Wohnzimmer ansah, ihn, sich selbst, die Taschentücher, dann war es zu viel.
 

Für ein paar Sekunden war ihr Verstand gelähmt aus Sorge ihn zu verlieren, bevor sie wirklich eine Chance gehabt hatten. „Blut … du brauchst Blut.“, abwesend strich sie durch seine Haare und versuchte ihm das Gefühl von Sicherheit zu geben, selbst wenn ihre Hände leicht zitterten vor Aufregung. „Wir sind identisch.“, mit dieser Erkenntnis sprang sie auf und rannte in ihr Labor neben an, das nicht wie eine Werkstatt aussah, sondern wie eine Mischung aus Operationssaal und Hexenküche. Sie suchte nach einem geeigneten Schlauch für eine Transfusion und zwei passenden Infusionsnadeln, sowie Pflastern mit denen sie diese fixieren konnte. Was noch? Sie überlegte noch kurz, kehrte aber anschließend zurück ins Wohnzimmer. Die Utensilien legte sie neben die Taschentücher und die Wasserschüssel auf dem Wohnzimmertisch ab. Sie musste noch den Sessel neben das Sofa schieben, damit sie auch einen Sitzplatz hatte, sollte ihr Kreislauf Einspruch erheben. Zuallererst räumte sie ihn wieder frei, dieses Mal aber nicht nur von Büchern, sondern auch den Phonographen, den sie ebenfalls auf den nun übervollen Wohnzimmertisch stellte.

Etwas das ihr dann ein paar Sorgen bereitete waren ihre mangelnden medizinischen Kenntnisse. Sie war Physikerin, kein Arzt, aber sie musste ihm einen Zugang legen. Hoffentlich nahm er das, Nein, das würde er nicht. Robert war sie und damit hätte er jedes Verständnis wenn die ersten Versuche nicht klappten und er einige blaue Flecken hatte, die von ihrem Scheitern erzählten. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie noch eine Schere benötigte, denn sie konnte ihm weder Jackett noch Hemd ausziehen. Wo war nur plötzlich ihr Verstand geblieben?
 

Rosalind kam sie vor wie ein Schulmädchen, eines das alles vergaß und es entsprach überhaupt nicht ihrer Art. In der Küche, nach dem fast die Hälfte des Schubladeninhaltes achtlos auf dem Boden gelandet war, wurde sie fündig. Robert selbst reagierte auf gar nichts mehr, nicht einmal als der kalte Stahl der Schere, seine Haut berührte. Vier Anläufe brauchte sie, bis sie ihm einen nutzbaren Zugang gelegt hatte und doppelt so viele, bis sie dasselbe an sich selbst wiederholt hatte. Erst als sie sah wie die rote Flüssigkeit über den Schlauch aus ihrem Körper, in seinen rann, war sie beruhigt genug um sich hinzusetzen.

Mit ihrem freien Arm wischte sie ihm noch einmal das Blut aus dem Gesicht, doch wie es aussah, hatte das Nasenbluten endgültig aufgehört. Zum Glück! Erleichtert atmete Rosalind auf und legte ihre Hand auf seine. Wenigstens würde er nicht verbluten und was seinen Verstand anging … nun sie wusste es nicht. Einen so brillanten Kopf in diesem Zustand zu sehen, das tat immer weh, doch noch viel mehr, wenn einen nichts mehr weiter trennte als ein Chromosom. Das Bild, welches er abgab, war jämmerlich, in jeder Hinsicht, doch wenn Rosalind an sich selbst hinab sah, dann wusste sie, dass sie kein Stück besser aussah. Ihre Kleidung wies Blutflecken auf, war zerknittert und schmutzig. Ihre Haare standen trotz ehemaliger Frisur zu allen Seiten ab und fielen ihr wirr ins Gesicht. Hier und da wiesen ihre Hände noch ein paar getrocknete, wie verwischte Blutflecken auf. Und natürlich steckte in ihrer linken Armbeuge noch die Nadel für die Transfusion. Ihren eigenen Ärmel hatte sie nur hochgekrempelt, während sie den von Robert radikal aufgeschnitten hatte. Die Blässe seiner Haut unterstrich seine Sommersprossen und hob auch die roten Haare hervor, die nun wie eine Flammenmähne wirkten.
 

Erst jetzt bemerkte sie das leichte Zittern seiner Glieder, was wohl vom Blutverlust verursacht wurde. Rosalind sah sich in ihrem Chaos von Wohnzimmer um und entdeckte zwischen Büchern, Fachzeitschriften und eigenen Notizen eine Decke. Kurz streckte sie sich und zog sie zu sich und riss dabei auch zig Bücherstapel um, die sich quer im Raum verteilten und ihr auch einen blauen Zeh verpassten, als sich eine spitze Kante hinein bohrte. „Mhm … das musste sein.“, murrte sie und schloss kurz die Augen, bis der Schmerz nach ließ. Erst dann stand sie auf und breitete die Decke über ihn aus. Kurz erfasste sie ein Schwindel, doch sie saß schon wieder, bevor sie Gefahr lief zu stürzen.

Jetzt hieß es warten und um ehrlich zu sein zählte das nicht zu ihren Stärken, nicht wenn sie ihrem Bruder so nah war, wenn sie nur der Zustand des Bewusstseins trennte und nicht eine ganze Dimension. Rosalind musterte sein Gesicht, das ihrem so ähnlich war und doch auch wieder nicht, weil seine Züge an sich maskulin waren. Mit einem Seufzen rieb sie sich über die Stirn und legte ihre Hand erneut auf seine, da sie für das ausbreiten der Decke zwei Hände gebraucht hatte. Während die Zeit wie Sand weiter rieselte, fiel ihr Blich auf den Phonographen, den sie nur gelegentlich benutzte. Warum nicht jetzt auch? Eine Schallplatte befand sich noch darauf, sie musste nur die Nadel noch in die richtige Position bringen, ehe sie die Kurbel drehte und das Gerät in Gang setzte.

Es erklang „Der Frühling“ von Vivaldi, eines der wenigen Stücke die sie regelmäßig hörte, wenn sie nicht weiter kam und etwas Abstand zu ihrer Forschung brauchte. Oft kam die Lösung dann ganz von selbst.
 

Er war hier. So wirklich fassen konnte sie es noch gar nicht, zumindest emotional. Rationell war es ihr durchaus bewusst.
 

Die Anstrengung und auch die Aufregung forderten, ohne ihr Zutun, ihren Tribut. Rosalind hatte nicht gemerkt wie sie in dem Sessel eingenickt war oder wie die vier Jahreszeiten ihr Ende gefunden hatten und nur noch ein Rauschen vom Phonographen zu hören war, bis dieser abgestellt worden war, aber nicht von ihr. Robert hatte sich gefühlt, als wäre er aus einem tosenden Ozean aufgetaucht und dem Leuchtturm, namens Musik, in den sicheren Hafen gefolgt. Als er die Augen aufgeschlagen hatte war ihm die Umgebung vertraut vorgekommen.

Sein Haus, hatte er gedacht, doch die warme Hand auf seiner erinnerte ihn an das Gegenteil. Es war sein Haus, aber dann auch wieder nicht. Sein Blick folgte der Hand, zu der schlafenden Frau, die so chaotisch aussah wie das komplette Wohnzimmer, das einem Sturm glich. Welchen Krieg sie geführt hatte war auch fast auf Anhieb ersichtlich und als er den Schlauch für die Transfusion sah, zog er ihn auch, damit sie sich selbst nicht weiter in Gefahr brachte. Seine Hände zitterten wie Espenlaub, als er sich aufsetzte und den Schlauch, samt beider Nadeln neben die Wasserschüssel zu legte und im selben Zug den Phonographen abzustellen.
 

Hier. Er war hier bei ihr. Das Lutecefeld hatte funktioniert und wenngleich er nicht noch einmal diesen Zustand von Verwirrtheit erleben wollte, so hatte es sich dennoch gelohnt. In seinem Kopf formte sich auch schon die Theorie, weshalb seine Erinnerungen so durcheinander waren. Vermutlich weil es ihn … sie hier schon gab. Es waren nämlich nicht seine, sondern ihre und manchmal war auch gähnende Leere in seiner Erinnerung. Sein Verstand hatte versucht sich diesem Universum anzupassen um das Trauma des Übertrittes zu verarbeiten.
 

Schweigend beobachtete er seine schlafende Schwester, bis er sich entschloss, dass es Zeit war sich einmal richtig gegenüber zu stehen. „Rosalind?“ Er legte seine Hand an ihre Wange um sie so angenehm wie möglich zu wecken, doch kaum hatte er sie berührt, war sie auf den Beinen und stand kerzengerade vor dem Sessel. Das war doch … etwas unerwartet. Es war ihr deutlich anzusehen wie sie mit dem Wechsel ihres Bewusstseinszustandes kämpfte und versuchte alles einzuordnen. Ein paar Mal blinzelte sie, dann wandte sie sich zu ihm um. Noch bevor Rosalind etwas sagen konnte verlor sie das Gleichgewicht und stürzte zur Seite. Sie war viel zu schnell aufgestanden für ihren Kreislauf, der sie nun dafür bestrafte.

Robert, der das sah wollte sie auffangen, doch überschätzte er sich selbst auch und am Ende lagen sie beide zwischen Sofa und Wohnzimmertisch eingeklemmt auf dem Boden, mit vielen blauen Flecken, weil sie unsanft auf Bücher aufgekommen waren oder wie Rosalind auf der Kante des Tisches. „Au …“, stöhnten sie synchron und rieben sich entsprechend schmerzende Körperstellen. „Alles in …“, begannen sie beide gleichzeitig und brachen im selben Moment auch ab. Sie hielten kurz inne, doch dann schmunzelte Robert auch schon. „Wie geht es dir?“, fragte Rosalind schließlich, als er mit einer Handbewegung deutete sie sollte zuerst sprechen. „Besser.“, antwortete er und das erleichterte aufatmen von ihrer Seite aus war nicht zu überhören. „Vielleicht sollten wir …“, er stockte kurz und die Gelegenheit nutzte Rosalind sofort, „… lieber noch einen Moment liegen bleiben.“ Das hatte er nicht sagen wollen, doch wenn er an seine zitternden Knie dachte, dann war das gar kein so schlechter Einwand. „Ich hatte durchaus einen andere Vorstellung von meinem ersten Treffen mit … mir.“ Er hatte mich Absicht nicht „sie“ gesagt, denn sie waren ein und dieselbe Person. Als würde man mit einem Spiegelbild reden, nur dass das einen eigenen Willen hatte. Rosalind schnaubte und rollte mit den Augen.

„Ich war nicht erpicht darauf dich quer durch mein Haus zu ziehen.“, „Das erklärt die …“, „Tut es, ja.“, beantwortete sie ihm die Frage, bevor er sie stellen konnte, doch er verstand direkt. „Du hast meine Kleidung zerschnitten.“, „Das war notwendig gewesen.“ Es herrschte ein kurzes Schweigen, denn sie beide wussten, sie hätte auch einfach nur die Ärmel von Jackett und Hemd nach oben krempeln können. „Natürlich.“, antwortete er schließlich und grinste zufrieden.
 

„Tee?“, „Gerne.“ – wieder schwiegen sie kurz um anschließend wieder synchron zu sprechen: „Sobald wir wieder stehen können.“

Free your mind

As my heart comes to life

A feverish embrace that I can't hide

Like spark to a flame

Feel it in my heart that this won't fade
 

Free to rise again

And an end against all odds

We'll overcome

Together we are one
 

To Feel Alive – Iameve
 

~*~*~*~*~*~*
 

Free your mind
 

Zum zweiten Mal schon las er die Zeile, doch noch immer ergab sie keinen Sinn.
 

Mit einem Seufzen rieb sich Robert über die Augen und verharrte kurz in einer leicht resignierenden Haltung, ehe er wieder aufsah. Auch beim dritten Mal wirkte die mathematische Formel eher als würde er tausend Hamster sehen, anstatt einer Lösung. Von der unlogischen Seite her betrachtet waren natürlich keine Hamster auf dem Blatt, aber es ergab genau so viel Sinn, wie wenn er nur die Buchstaben las. Er warf die Notizen an das Fußende des Bettes auf dem er lag und ließ sich schlecht gelaunt zurück ins Kissen sinken.

„Du solltest dich nicht überanstrengen.“, mahnte ihn Rosalind, die gerade zur Türe eintrat und das Schauspiel schon von der Treppe aus betrachten konnte. In ihrer Hand hielt sie ein Tablett, auf dem eine dampfende Teekanne stand, zwei Tassen, ein Kännchen Milch und auch etwas Gebäck. Ihr Gesichtsausdruck war neutral, aber doch, in ihren Augen konnte er die milde sehen, mit der sie ihn bedachte. Darin lag auch Verständnis. Seit über zwei Wochen war er ans Bett gefesselt und hatte nicht viel mit sich anfangen konnten. Hatten sie doch beide gedacht, dass er sich schneller erholen würde, nachdem es am ersten Tag dann doch noch recht gut um ihn gestanden hatte. Ein Irrtum, wie er sehr schnell festgestellt hatte.

Gestern erst waren die Reparaturen am Schlafzimmerboden oder an der Decke des Arbeitszimmers – je nach dem aus welchem Winkel man es betrachtete – beendet worden. Danach waren sie beide vom recht kargen und rein obligatorischen Gästezimmer ins Schlafzimmer ungezogen. Obwohl Rosalind nur ungern fremde Menschen im Haus hatte, abgesehen von der Dame am Empfang, hatte sie sich und auch nur nach dem die ersten Latten abgebrochen waren, doch dazu entschlossen das Loch nicht als dauerhafte Gegebenheit zu akzeptieren. „Der Schneider war eben da und hat deine Kleidung gebracht.“, informierte sie ihn und stellte das Tablett auf einem kleinen runden Tisch ab, der genau dort stand, wo vor einigen Tagen noch das Loch geklafft hatte. Er stand hier auch nur, weil die Treppe ein Abstieg vom Mount Everest war und Robert keine Kraft hatte das zu bewältigen. Damit hatte sich auch der Lebensmittelpunkt seiner Schwester verändert. Seit dem zweiten Tag hatte er sie so genannt, denn eine andere Bezeichnung war ihm nicht eingefallen und selbst wenn sie er war, war sie es auch wieder nicht. Zwei Personen derselben Sache. Zwillinge. Das erleichterte es für sie und für die anderen Menschen in Columbia.

„Deine Nase.“, mit diesen Worten riss sie ihn nicht nur wieder aus seinen Gedanken, sondern reichte ihm auch ein Taschentuch, das er für einen kurzen Augenblick desorientiert ansah. Robert war nicht in der Lage es zu nehmen, sondern starrte es an, bis Rosalind es ihm unter die Nase hielt. Erst jetzt fiel ihm der metallische Geschmack von Blut auf seinen Lippen auf. Ein kleiner Rückfall.

Der stechende Kopfschmerz ließ nicht lange auf sich warten. Jedes Mal wenn er daran dachte, das Rosalind nicht seine Schwester war, sondern eine andere Version seines selbst, dann stellte sich genau jener Schmerz ein. Als würde das Universum selbst nicht akzeptieren können, das es ihn nun hier gab. Die Erinnerungen an seine Vergangenheit waren überblendet worden mit ihren oder eher gesagt so, als hätte sie ihr ganzes Leben schon einen Zwilling gehabt. Doch wenn er versuchte diese falsche Erinnerungen zu fassen, sie genauer zu betrachten, dann verschwammen sie, als hätte das Universum einen Stein hinein geworfen und alles verwischt. Die eigenen, wirklichen Erinnerungen waren ebenso schwammig. Es war rein instinktiv. Wenn Rosalind ihn fragte und er nicht darüber nachdachte, dann konnte er ihr antworten, sonst geschah immer dasselbe.
 

Es setzte eine Desorientierung ein, Nasenbluten und Kopfschmerzen. Immer dasselbe. Er hörte sie reden, aber alles klang so fern und dumpf.
 

Erschöpft und er wusste nicht einmal warum, schloss er die Augen und driftete ab.
 

Als Rosalind erkannte, dass ihr Bruder das Bewusstsein verloren hatte, überprüfte sie seinen Puls – nur zur Sicherheit. Ihre Sorge um ihn war groß und gar nicht so unberechtigt. Es hatte sich gebessert, ja, doch gut, war es bei weitem noch nicht. „Außer Lebensgefahr.“, flüsterte die Physikerin und tupfte das restliche Blut ab. Kaum hatte ihr Bruder die Augen geschlossen, hatte auch das Nasenbluten nachgelassen. Sie versuchte sich mit den Worten selbst zu beruhigen, doch sie war es ganz und gar nicht. Was … wenn es ein Fehler gewesen war? Der Größte überhaupt? Der Gedanke ihn zurück zu schicken quälte sie, aber die Vorstellung, dass er starb war noch viel schlimmer, das konnte sie nicht zulassen. Wenn es die nächsten Wochen keine sichtbare Veränderung gab, dann musste er wieder gehen. Es musste sein. Traurig faltete sie die Hände auf ihrem Schoss zusammen – das Taschentuch hatte sie immer noch in der Hand – und sank in sich zusammen. Selbst wenn er viel schlief und nicht länger als eine Stunde wach war, so genoss sie jedes Gespräch mit ihm. Zu Beginn hatten sie noch mehr unterschiede entdecken wollen, nur ging es ihm danach immer so schlecht, das er für Stunden kaum ansprechbar war. Bis sie darauf gekommen war, das es an den Erinnerungen lag. Eine Erkenntnis die sie im selben Moment gehabt hatten.
 

Unterschiede gab es einige.
 

Columbia gab es bei ihm nicht und auch nicht Comstock. Er mochte sein schwebendes Atom gefunden haben, doch keinen Sponsor, der das Potential förderte. Ein Physikprofessor an der Universität von Princeton. Ohne Zweifel eine der angesehensten Universität der Welt und ein großer Erfolg, doch kein Vergleich zu einer fliegenden Stadt. Selbst wenn sie an Comstock gekettet war, gab es hier keine Regeln, die ihr etwas verbaten. Schnell hatte Rosalind gelernt sich die Maske der Politik aufzusetzen, sich offen zu beugen, selbst wenn man anders dachte. Es gab viele Wege um ein Ziel zu erreichen und eines davon war sich selbst zu kontrollieren, hartnäckig zu sein und vollkommen eisern seinen Weg zu gehen – ohne Rücksicht. Eigenschaften die Robert auch hatte, aber nicht so ausgeprägt. Er war intelligent, ebenso kontrolliert aber doch … menschlicher oder einfach nur offener. In seinem Leben wurde ihm vermutlich auch nicht jede Schwäche zum Verhängnis. Nein, seines war womöglich einfacher gewesen.
 

Man konnte Stunden darüber philosophieren. Wer hatte mehr Glück? Sie, weil sie jede Forschung durchführen durfte die sie wollte und alles finanziert bekam oder er, der keinen täglichen Spießroutenlauf hatte gehen müssen um zu bekommen was er wollte? Immerhin hatte Robert Comstock noch nicht kennen gelernt, doch sie wusste genau, das er dasselbe wie sie denken würde: Verrückt. Realitätsfern, aber mächtig.

Rosalind faltete das Taschentuch zusammen und richtete die Bettdecke ordentlich hin, damit er sich nicht verkühlte, ehe sie das Taschentuch in die Wäsche gab. Abwesend wusch sie sich die leichten Blutspuren im Bad ab und überlegte was sie mit Robert machen könnte. Was für eine Lösung gab es, außer Musik? Einfach nur die Zeit? Ganz nach dem Motto: Zeit heilt alle Wunden? Sie gab nicht viel auf Metaphern, aber um seinetwillen hoffte sie, dass es besser werden würde. „Madame Lutece?“, fragte eine zaghafte Stimme und als Rosalind den Kopf hob, sah sie ihre Empfangsdame, die am Treppenabsatz stand und nicht wagte den ersten Stock zu betreten. „Was gibt es Sarah?“, fragte sie in ihrem emotionslosen Tonfall, der den Eindruck erweckte, das sie nur ungern mit Personen sprach die einen niedrigeren IQ besaßen wie sie. „Vater Comstock hat ein Telegramm für sie geschickt. Es ist sehr eilig.“, die Stimme von Sarah war gegen Ende hin immer kleinlauter geworden und Rosalind wusste, das Robert sie dafür getadelt hätte. Sarah war so schüchtern, das sie mit jedem „Buh“ bereits tot umfiel. Auch die geschäftige Stimme der Wissenschaftler brachte sie jedes Mal an ihre Grenzen. An und für sich hatte Rosalind nichts gegen sie, das einzige was sie störte, war eben dieses … dieses duckende Verhalten. Das was von Frauen erwartet wurde und etwas das sie selbst nicht leiden konnte. Sarah erinnerte sie jeden Tag daran, was sich ihre Mutter für sie gewünscht hätte. Was hatte Rosalind nur gestritten, nur um studieren zu dürfen? Alles. Sie hatte alles geopfert.

Auch ihre Familie.
 

„Wenn du durch diese Tür gehst, dann habe ich keine Tochter mehr.“
 

Das Echo der Worte ihrer Mutter hallte in ihrem Kopf wieder. Sie war gegangen und sie hatte studiert.
 

„Madame Lutece?“, fragte Sarah erneut und musterte sie sorgenvoll. „Ist alles in Ordnung?“, „Natürlich.“, antwortete sie lediglich und nahm das Telegramm endlich in Empfang. „Sie können gehen Sarah.“, „Sehr wohl, Madame.“ Zügig ohne dabei den Eindruck von Hast zu erwecken ging Sarah nach unten und verschwand schnell durch die Eingangstüre zum Vorzimmer. Nur wiederwillig drehte Rosalind das Telegramm um und las deren Inhalt.
 

Madame Lutece STOP

20 Uhr Dinner STOP

Erwarte Ihr Kommen STOP

Comstock
 

Reichte es nicht wenn sie ihn einmal die Woche sehen musste? Jetzt schon zweimal?
 

Schlecht gelaunt rieb sie sich die Stirn und kehrte zurück ins Schlafzimmer wo Robert noch immer im Tiefschlaf lag. Sie warf das Telegramm auf das Tablett neben dem Tee und schenkte sich anschließend etwas ein. Der Earl Grey würde hoffentlich ihre Laune etwas anheben oder sollte sie noch etwas arbeiten? Nein, nicht jetzt sofort. Noch im Stehen schenkte sie sich die Milch an und setzte sich anschließend hin. Was wollte Comstock von ihr? Ein beunruhigendes Gefühl beschlich sie und breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Das war nie ein gutes Zeichen. Mit beiden Händen umschloss sie die Tasse und stütze ihre Ellenbogen auf dem Tisch ab, den Blick auf das Telegramm gerichtet. Die Antwort würde wohl nicht wie von Zauberhand darauf erscheinen, also wand sie sich ab und sah zu Robert.
 

Vor fünf Minuten noch war sein Gesicht aschfahl gewesen, doch jetzt hatte es schon wieder etwas Farbe angenommen. Wie lange er dieses Mal nicht ansprechbar war?
 

Rosalind stand noch einmal auf um sich das Notizbuch zu nehmen, das er vor wenigen Minuten einfach weggeworfen hatte und blätterte im Gehen durch, bevor sie sich wieder zu ihrem Tee setzte. Es war eines ihrer Bücher, wie sie damals ihre ersten Versuche gemacht hatte. Ob er sehen wollte, wie sie gearbeitet hatte? Bestimmt. Sie würde es auf jeden Fall wissen wollen. In Nostalgie verfallen überflog sie ihre Notizen, musterte die Zeichnungen und trank hin und wieder etwas von dem Tee. Sie hatte schon zwei weitere Tassen getrunken, als sich ihr Bruder wieder regte und mit einer Hand an den Kopf fasste. Ahja, die Schmerzen. Gemächlich stand sie auf und ging langsam auf ihn zu. Sein Blick war noch verklärt, doch er schien sie zu erkennen. „Schon gut.“, flüsterte sie leise und klang wie eine besorgte Mutter, die am Bett ihres kranken Kindes stand. „Schlaf weiter.“, flüsterte sie leis. Robert kämpfte gegen die Müdigkeit, das konnte man deutlich sehen, doch seine Versuche zu reden erstickte sie im Keim. Sanft legte sie ihm eine Hand unter das Kinn, als Zeichen das er nicht reden brauchte. „Ich weiß du willst nicht.“ Angestrengt und vor allem genervt atmete er hörbar aus, doch er beugte sich dem Willen seiner Schwester und zeigte Einsicht. Es gäbe für ihn heute keine Möglichkeit mehr wirklich wach zu sein und wenn dann erst spät abends. Vorsichtig setzte sich Rosalind auf die Bettkante und begann ein altes Wiegenlied zu summen. Ihre Mutter hatte es ihr immer vorgesungen, damals als das Verhältnis noch nicht zerrüttet gewesen war.
 

Ein Lächeln umspielte Roberts Mundwinkel schon nach den ersten Tönen. Er kannte es. Seine unruhigen Bewegungen mit dem Kopf wurden langsamer und langsam aber sicher driftete er wieder in den Schlaf. Sein Verstand selbst war für wenige Minuten wach, aber unendlich müde. Er fühlte wie Rosalind kurz eine Hand an seine Stirn hielt, so als würde sie seine Temperatur fühlen, dann glitten ihre Fingerspitzen weiter und strichen ihm kurz durch das Haar. Sie war besorgt, das wusste er. Es war keine Vermutung oder etwas ähnliches, sondern er war vollkommen überzeugt, dass sie so fühlte. Er wusste nicht warum, aber es war so. Als würden selbst ihre Gefühle synchron agieren. Das war nicht möglich, das war ihm auch bewusst. Darüber müsste er mit ihr reden diese These … diese wunderschöne Musik. Sie lähmte seinen Gedankengang und bevor er sich bewusst wurde, dass er am Einschlafen war, war es schon geschehen.
 

Ein paar Minuten blieb sie noch am Bett sitzen und musterte seine Gesichtszüge, die selbst im Schlaf nachdenklich wirkten. Er war ihr so ähnlich und doch auf seine eigene Art ganz anders. Nur widerwillig löste sich Rosalind von seinem Anblick, doch die Uhr tickte unaufhörlich und zeigte bereits 19 Uhr an. Die Sonne war am Untergehen und tauchte den Himmel in ein kräftiges Rot. Schweigend und fast schon schlecht gelaunt brachte sie das Tablett mit dem Tee nach unten, wo sie vom Koch empfangen wurde. Innerlich fluchte sie – warum hatte sie ihm nicht abgesagt? Mit dem Essen bei Comstock brauchte sie dessen Dienste heute nicht. Aber mit Roberts Rückfall und ihrem Schwelgen in Nostalgie hatte sie es vergessen. „Monsieur Roché.“, grüßte sie ihn und stellte das Tablett ab. „Ihre Dienste werden heute Abend nicht benötigt.“, „Aber Madame …?“, „Ich habe eine Einladung erhalten und werde nicht zugegen sein … sie …“, Rosalind stockte und dachte kurz nach, „Könnten für meinen Bruder eine kleine und leichte Mahlzeit zubereiten. Sollte er aufwachen und Hunger haben. Ein paar belegte Brote dürften genügen.“, „Sehr wohl Madame.“, „Es tut mir Leid für die Umstände. Nächstes Mal werde ich Ihnen früher Bescheid geben.“ Sein Tonfall hatte seine Enttäuschung hörbar Preis gegeben und rein aus Höflichkeit hatte sie sich bei ihm entschuldigt, doch in ihren Worten lag kein ehrliches Gefühl. Nur Geschäftssinn.
 

Mehr gab es nicht zu reden und sie drehte sich auf den Absätzen ihrer Schuhe um und ging ins Arbeitszimmer an den Schreibtisch. Sie schrieb für Robert eine kleine Notiz, sodass er sich nicht sorgte, wenn sie nicht da war. Den Zettel legte sie ihm ans Nachtkästchen, ehe sie sich ihrer Garderobe zuwandte, die leider einen etwas gehobenen Standard für ein Dinner mit Comstock verlangte. Das Kleid selbst war champangerfarben, äußerst schlicht und entsprach der aktuellen Mode. Sie wählte dazu farblich passende Schnürstiefel, ganz ähnlich ihren Alltagsschuhen. Ihre Frisur frischte sie nur auf, änderte jedoch nichts daran, dazu sah sie keinen Anlass. Selbst wenn sie ein Abendkleid trug – es war immer noch Comstock. Nur wiederwillig und mit gequältem Gesichtsausdruck verließ sie das Labor und als sie die Türe hinter sich ins Schloss zog, verschwand auch dieser.
 

Alles wirkte wie immer. Die strenge, korrekte Physikerin, welche Columbia ihre Flügel verliehen hatte lief durch Emporia um Vater Comstock zu besuchen.
 

Es war bereits dunkel als Robert nach der Lampe am Nachtkästchen tastete und sie einschaltete. Er brauchte etwas um sich an das Licht zu gewöhnen und um sich daran zu erinnern wo er war. Sein Blick viel direkt auf Rosalinds Notiz, die er kurz in die Hand nahm um sie durchzulesen. Ob er diesen Propheten auch einmal kennen lernen musste? Ihm war nicht danach, nicht wenn er den Gesichtsausdruck seiner Schwester sah, wenn sie von ihm erzählte. Vorsichtig richtete er sich auf, immer darauf achtend ob nicht doch ein Schwindel einsetzte. Es wirkte schon fast so, als wäre er ein alter Mann. Wie in Zeitlupe schlug er die Bettdecke zurück und setzte beide Füße auf dem Boden ab. Bewegung. Er musste seine Glieder strecken, bewegen, etwas gehen. Irgendetwas, nur nicht liegen. Zwei Anläufe brauchte er, dann stand er. Noch etwas wackelig, aber bereit sich nach dem versprochenem Essen umzusehen. Laut ihrer Notiz musste der Koch – ah da stand es – auf dem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes. Dort fanden sich zwei abgedeckte Sandwiches, so wie eine Karaffe mit Wasser. Seine Hände zitterten als es sich etwas einschenkte und das Glas in die Hand nahm. Schon die wenigen Schritte hatten ihn einiges an Kraft gekostet, genug um sich zu setzen.

Auch sein Hunger hielt sich in Grenzen, selbst wenn das Essen vorzüglich schmeckte. Gerne hätte er das erste Sandwich ganz aufgegessen, doch ähnlich wie mit dem Stehen konnte er nach schon wenigen Bissen nicht mehr. Zusammen mit dem Wasserglas wankte er zurück zum Bett um sich wieder hinzulegen. Eine gewünschte Wanderung um nicht ganz so verspannt zu sein, konnte er nicht machen.
 

Er dachte auch nicht über das Nasenbluten oder seine Vergangenheit nach. Einfach nur den simpelsten Dingen nachgehen, das war sein Ziel.
 

„Du bist wach.“
 

Robert hatte sich gerade hingesetzt, als er die Worte vernahm und sofort wieder senkrecht stand. Das Herz schlug ihm bis zum Hals als er sich umdrehte und in das leicht amüsierte Gesicht seiner Schwester sah. Sie wirkte erschöpft, nicht wie nach einem langen Arbeitstag, sondern mental, als lastete ein Gewicht auf ihren Schultern das er nicht sah. Noch bevor er die Frage stellen konnte winkte sie ab. „Nicht heute.“, „Es scheint wichtig zu sein.“, „Ist es. Morgen.“ So karg ihre Konversationen sein konnten, so viel sagten sie auch aus. Andere mochten, dass nicht sehen, sie schon. Sie verschwand hinter dem Paravent und beendete damit das Gespräch. Nicht das er es nicht hätte wieder aufgreifen können, doch ihre Haltung machte deutlich das es für heute genug war. Während sich Rosalind umzog legte sich Robert wieder hin und schloss die Augen, bis die Matratze etwas einsank, durch ihr Gewicht.
 

„Denk nicht so viel nach.“, seufzte sie und deckte sich zu. „Ich denke in letzter Zeit zu wenig.“, „Betrachte es als Urlaub?“ Ein leises Schnauben verließ seinen Mund, doch es klang wenigstens etwas amüsiert. „Schmerzen?“, „Die üblichen.“, „Mhm …“
 

Manche mochten es nicht verstehen, wenn sie sich an ihren Bruder schmiegte und fast schon glücklich die Augen schloss. Es war seltsam, aber für sie war es der lebende Beweis nicht allein zu sein. War es nicht gleichzeitig auch narzisstisch und egoistisch? Vermutlich, doch nach dem Schrecken heute brauchte sie seine Anwesenheit mehr, als je zuvor. Comstock wurde immer noch verrückter, das bewies er täglich aufs Neue.
 

Es war Robert, der das Licht löschte und sich anschließend ebenso sehr an seine Schwester schmiegte, wie sie an ihn.
 

Niemals würden sie wieder allein sein.



Fanfic-Anzeigeoptionen
Blättern mit der linken / rechten Pfeiltaste möglich
Kommentare zu dieser Fanfic (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2013-10-30T06:37:57+00:00 30.10.2013 07:37
hmmm, irgendwie dachte ich mir schon im ersten Kapitel, er ist mir sympathischer als sie. sie wirkt so kalt und arrogant.
aber wenn man bedenkt, wie es in der damaligen zeit für eine frau gewesen sein musste, sich wissen und bildung zu erkämlfen, einen stand in der männerwelt.... ist es irgenwie schon verständlich, dass sie viel härter würde, als ihr bruder.
schön auch, wie du beschreibst, wie wichtig es für sie ist, jemanden zu haben, der ihre einsamkeit vertreibt.
sehr schön :)
Antwort von:  Aphelios
30.10.2013 08:08
Danke für die Kommentare :3
Evtl musst du es richtig einstellen bei den Benachrichtigungen?

Jaein, denn das sie keine echten Zwillinge sind wäre auch im RPG viel später aufgekommen. Jetzt hast du dich selbst gespoilert xD

Ist sie auch. Von dem was man im Spiel mitbekommt ist Robert viel sanfter und vor allem moralischer, während Rosalind gar keine Einsicht zeigt. Erst als er sie damit erpresst zu gehen, lenkt sie ein. Irgendwie ist das zwischen ihnen auch eine sehr traurige nebengeschichte und wie Rosalind anmerkt "Am Ende wird alles in Tränen enden".
Von: abgemeldet
2013-10-30T06:22:47+00:00 30.10.2013 07:22
haha, göttlich. ich hatte grad, als rosalind versuchte Robert aufzuheben und motzte, er wäre zu schwer das bikd mit timon und pumba vor augen, wie timon pumba versucht durch dieses loch zu schieben *lol*

da von wegen, man braucht für das RPG kein vorwissen!
wusste nämlich nicht, dass die zwilligen, keine "normalen" zwillinge sind.
siehte, wieder was gelernt.
Btw. wieso bekommt man keine benachrichtigung, wenn man jemanden mit abos belegt und sich dort was neues tut???



Zurück