Seelensplitter von Zuckerschnute ================================================================================ Kapitel 4: Ein freier Tag ------------------------- Meine Hobbys? Warum wollen Sie die denn wissen? Ich dachte es ginge hier um meine Taten! … Ach so, Sie wollen ein Gesamtbild von mir erstellen! … Nun gut… Ich werde Ihnen von einem Tag berichten, der mir besonders am Herzen liegt! *** Als sie an diesem Morgen aufwachte war die Welt wunderbarerweise in Ordnung. Keine Schule, keine Termine, nur sie, ihre Blumen und die Kinder des städtischen Waisenhauses, die sie mindestens einmal Wöchentlich besuchte. Die meisten Erwachsenen dort glaubten zwar, dass diese Besuche nur dazu dienten ihren Ruf ein wenig aufzupolieren, aber sie wusste es besser. Sie und die Kinder. Alera selbst hatte zwei Wochen in diesem Heim verbracht und es gab nur zwei Ereignisse in ihrem Leben die sie als schlimmer eingestuft hatte. Beschwingt setzte sie sich auf, schwang die Beine aus dem Bett, riss ihren Kleiderschrank auf um ein altes T-Shirt und eine weite Sporthose heraus zuziehen. Bei dem Gedanken was ihre Mitschüler zu diesem Outfit sagen würden musste sie kichern. Alera Benett von Siegel sah man in der Öffentlichkeit eher mit Minirock, Hotpants oder Röhrenjeans. Es gab doch nichts über Samstage! Mit diesem Gedanken stibitzte sie einen von Bettys frischgebackenen Muffins aus der Küche und setzte sich an den Frühstückstisch, wo Lucas gerade eine Tasse heiße Schokolade für sie abstellte. Seine Tochter Lucia saß ihr gegenüber und biss gerade herzhaft in ein Käsebrötchen, bei dessen Anblick Alera am liebsten davongelaufen wäre. Käse, eines der ekligsten Lebensmittel überhaupt! „Na, schon wach?“ neckte er sie. „Ich hatte heute Nacht mal keinen Albtraum und wenn ich durchschlafe, dann stehe ich auch früher auf, das weißt du doch!“ „Natürlich weiß ich das!“ er strich mit einer Hand über ihr Haar und sie kämpfte gegen das Verlangen an, ihn darum zu bitten weiter zu machen. Der Butler hatte schließlich genug zu tun, besonders da in diesem Moment Beatrice und Richard das Esszimmer betraten. Eine Stunde später öffnete sie schwungvoll die Tür zum Geräteschuppen und machte sich mit Haake, Schaufel und Gartenschere bewaffnet auf den Weg zu ihrem Blumenbeet, wo einige Setzlinge darauf warteten, eingepflanzt zu werden. Leise vor sich hin summend lockerte sie die Erde, vergrub Blumenzwiebeln und pflanzte neue Blumen. Als sie zwei Stunden später eine Gießkanne mit Wasser füllte waren sowohl ihre Hände wie auch ihre Kleider dreckig, aber das störte sie kein bisschen. Sie mochte das Gefühl von Erde unter ihren Händen und liebte es mit anzusehen wie ihre Pflanzen wuchsen und gediehen wenn sie sich um sie kümmerte. Nachdem sie die Pflanzen gegossen hatte räumte sie alles auf und winkte dem Gärtner, der für den restlichen Garten verantwortlich war, zu. Emmett war ein netter, älterer Herr, mit von der Sonne gebräunter Haut und haselnussbraunen Augen, in denen es schelmisch blitzte. „Alles eingepflanzt, Mädel?“ rief er ihr vom Rosenbeet aus zu. „Ja! Wo soll ich die leeren Kisten hinbringen?“ „Lass stehen Mädel, ich mach das schon!“ winkte er ab. Emmett hatte selbst keine Kinder und hatte es sich deswegen zur Aufgabe gemacht, Alera zu verhätscheln und zu verwöhnen, soweit er die Möglichkeit dazu hatte. Die meisten Pflanzen in ihrem Blumenbeet und im Wintergarten waren Geschenke von ihm und er hatte ihr beigebracht, wie man sich am besten um sie kümmerte. „Danke!“ mit diesen Worten lief sie leichtfüßig ins Haus zurück. In ihrem Zimmer angekommen wusch sie sich erstmal im Bad den Dreck von den Händen, anschließend zog sie ihre Klamotten aus, beförderte sie in den Wäschekorb und zog stattdessen eine enge Jeans und ein T-Shirt mit V-Ausschnitt an. Dann kämmte sie ihre schwarzen Locken aus und verbrachte fünf Minuten damit, sie hochzustecken, weitere zehn gingen fürs schminken drauf. Eine völlig andere Person blickte ihr jetzt aus dem Spiegel entgegen. „Alera! Seht mal, es ist Alera!“ schrie eines der Kinder, kaum dass sie den Aufenthaltsraum betreten hatte. „Hallo Kids!“ sie musste lachen, als zwei der jüngeren Kinder sich an ihren Beinen festklammerten. „Hast du uns was mitgebracht?“ die Frage war durchaus berechtigt, da sie des Öfteren kleine Geschenke wie Spielzeugautos und Puzzles mitbrachte. „Ja, das könnte man so sagen!“ leuchtende Kinderaugen brachten ihr Herz zum Schmelzen. „Was denn? Autos?“ „Nein Puppen!“ „Leckere Kekse?“ die Kinder überschlugen sich fast mit Vorschlägen. „Nein!“ sie strich Susi, die sich immer noch an ihrem Bein festklammerte, über die goldene Haarpracht. „Ihr wisst doch sicherlich, dass zurzeit ein Zirkus in der Stadt ist und ich habe es geschafft Frau Knoblich zu überreden, dass ihr alle eine Vorstellung besuchen dürft!“ Die Kinder jubelten so laut, dass sie sich die Ohren zuhalten musste. „Zirkus? Das ist doch was für Kleinkinder!“ diese Worte kamen von einem pubertierenden Kotzbrocken, der gerade seine ‚Alles-ist-doof-Phase‘ hatte. „Niemand zwingt dich mitzugehen, Jimmy!“ erinnerte ihn Lydia sanft. „Wenn du lieber hier bleiben willst musst du es nur sagen!“ Lydia Berg war eine der jüngeren Sozialarbeiterinnen und eine der wenigen, die sich wirklich noch um das Wohl der Kinder sorgten, was man von der Heimleiterin und den meisten anderen Angestellten nicht gerade sagen konnte. Das lag vor allem daran, dass hier viele Kinder aus Problemfamilien landeten. Kinder und Jugendliche mit gewalttätigen oder drogenabhängigen Eltern, die auf jedes Zeichen der Führsorge mit äußerster Ablehnung reagierten. Irgendwann stumpften die meisten Betreuer ab, was leider auf Kosten der ‚guten‘ Kinder ging. „Hierbleiben? Nee!“ Jimmy holte ein Päckchen Zigaretten aus einer Hosentasche, steckte sich einen der Glimmstängel in den Mund und begann, seine übrigen Taschen nach einem Feuerzeug zu durchwühlen. „Da schau ich mir lieber irgendwelche Clowns an!“ die Suche nach dem Feuerzeug war erfolgreich verlaufen, doch bevor der Junge es benutzen konnte, nahm Alera ihm die Zigarette wieder ab. „Erstens bist du noch keine sechzehn und zweitens musst du uns doch nicht allen die Luft verpesten, oder?“ Der braunhaarige grummelte irgendwas, das verdächtig nach ‚Spaßbremse‘ klang, packte allerdings kommentarlos alles wieder weg. Schließlich war die geheime Leidenschaft von James Witt das puzzeln und er wusste genau, dass es ohne Alera höchstens jedes dritte Schaltjahr mal ein neues geben würde. „Alera?“ sie hob den Blick von dem Buch, aus dem sie den Kindern gerade vorlas und legte den Finger unter die Zeile, in der sie stehen geblieben war. „Was ist denn?“ fragend blickte sie Lydia an, die mit ihrem Kollegen Holger neben ihr stand. „Ja, ähm, wir haben einen Neuzugang, ein Mädchen. Elf Jahre alt, die Mutter ist eine Prostituierte, der Vater tot…“ Holger geriet ins Stocken. „Sie kapselt sich total ab, kannst du versuchen, sie etwas aufzutauen?“ fuhr Lydia fort. Die Bitte an sich war eigentlich nichts ungewöhnliches, es hatte sich relativ schnell herausgestellt, dass sie einen Draht zu diesen Kindern hatte, der sich nicht mit Geschenken allein erklären ließ. Vermutlich lag es schlicht und ergreifend daran, dass misshandelte Kinder meist eine gute Menschenkenntnis entwickelten, einfach aus purer Notwendigkeit. Wahrscheinlich spürten sie, dass ein ‚das tut mir Leid‘ oder ein ‚ich weiß wie du dich fühlst‘ bei ihr tatsächlich auf eigenen Erfahrungen beruhten und nicht nur antrainierte Floskeln waren. Was sie viel mehr beunruhigte war die Tatsache, dass Holger überhaupt ins Stocken gekommen war. Der schwarzhaarige Mann mit den verschiedenfarbigen Augen arbeitete schon seit über zehn Jahren hier und hatte folglich schon einiges gesehen, aber trotzdem hatte er Schwierigkeiten darüber zu sprechen? Das arme Kind musste schreckliches durchgemacht haben. „Ich werde sehen, was ich tun kann!“ mit diesen Worten legte sie das Buch beiseite und warf den Kindern einen entschuldigenden Blick zu. Kurze Zeit später klopfte sie an eine Tür, neben der ein Schild mit der Aufschrift ‚Sato Yamasaki‘ hing. Das darauffolgende „Herein!“ war so leise, dass die schwarzhaarige es fast nicht gehört hätte. Das Mädchen auf dem Bett war entgegen ihrer Erwartungen keine Asiatin, sondern hatte eindeutig europäische Wurzeln und war außerdem so hübsch, dass ihre Klassenkameradinnen sie garantiert aus Neid hänselten. Haut wie Porzellan, hohe Wangenknochen und große, rauchgraue Augen in einem zart geschnittenen Gesicht, das von glänzendem Haar in der Farbe von Weißgold umrahmt wurde. Nach kurzen Zögern schloss sie die Tür, setzte sich auf das Bett gegenüber und blickte ebenfalls aus dem Fenster. Die Bäume im nahegelegenen Park trugen saftig grüne Blätter und die Blumen in den Beeten blühten in allen Farben, wie es sich für Frühlingsende gehörte. Wie sollte sie mit dem Mädchen ins Gespräch kommen? Das war irgendwie immer der schwerste Teil, aber sie hatte im Laufe der Zeit verschiedene Techniken entwickelt. Also zückte sie ihr Handy, schrieb eine SMS und ein paar Minuten später öffnete sich die Tür erneut. Die Kinder hier mochten alle unterschiedlich sein, aber eines hatten fast alle gemeinsam: einen unglaublichen Beschützerinstinkt gegenüber den jüngeren. Sato bildete da ganz offensichtlich keine Ausnahme. Sobald Susi den Raum betreten hatte veränderte sich ihre Haltung. Sie saß jetzt näher am Bettrand, ihre Rücken war gerade und jeder Muskel angespannt. Sollte sie auch nur den Verdacht haben das Alera dem Mädchen etwas antun wollte, würde sie sofort dazwischen gehen. Das war natürlich völlig unnötig, die schwarzhaarige hatte noch nie einen Menschen willentlich verletzt und hatte auch nicht vor, in näherer Zukunft damit anzufangen. Und den Kindern würde sie gleich dreimal nicht wehtun! Obwohl… ein paar hätten schon eine Abreibung verdient, aber das war nicht ihr Job. Der kleine Blondschopf kletterte auf Aleras Schoß, blickte deren gegenüber aufmerksam an und meine schließlich mit der unverfälschten Ehrlichkeit die allen kleinen Kindern zu eigen war: „Warum guckst du denn so böse?“ Sato blinzelte überrascht. „Ich gucke doch nicht böse!“ „Doch tust du! Du guckst, als ob du Alera hauen möchtest und das mag ich nicht! Ich hab sie nämlich ganz doll lieb!“ Um ihre Aussage zu untermauern schlang sie die Arme fest um ihren Oberkörper und kuschelte sich an sie. Das schien dem weißblonden Mädchen zu genügen, sie entspannte sich etwas. „Freust du dich auch auf den Zirkus?“ Himmel, die Kleine war wirklich Gold wert! Man konnte förmlich sehen, wie Sato in der Gegenwart dieses mini Rauschgoldengels dahin zu schmelzen begann. Ein Gefühl, das Alera nur zu gut kannte. „Zirkus?“ „Ja! Alera sagt, wir dürfen alle in den Zirkus! Sie darf doch mit, oder?“ „Aber natürlich Engelchen!“ die schwarzhaarige lächelte das Mädchen auf ihrem Schoss strahlend an. Irgendetwas an diesem Gesichtsausdruck erregte die Aufmerksamkeit der elfjährigen, aber sie konnte den Finger nicht darauf legen. Das Lächeln schien echt zu sein und es erreichte auch die Augen, die eine eigentümlich grüngraue Färbung aufwiesen. Bei den meisten Leuten vermischten sich die Farben, doch bei Alera waren grau und grün klar voneinander getrennt, selbst die Ränder schienen mit einem Lineal gezogen worden zu sein. „Es sei denn natürlich, du willst nicht mit!“ das hübsche Gesicht wandte sich ihr zu, sie lächelte immer noch. Irgendetwas war mit diesen Augen, da war Sato sich sicher. Hinter diesem funkeln lag etwas, dass man auf den ersten Blick übersah. Einsamkeit und tiefe Trauer, sorgfältig versteckt. Wer war sie? „Ich würde gerne mitkommen!“ sie war lange nicht mehr im Zirkus gewesen, nicht seitdem ihr Vater gestorben war. „Das ist schön!“ Alera stellte Susi auf den Boden, stand auf und strich sich das T-Shirt glatt. „Kommst du mit nach unten? Die Kleinen freuen sich über jeden Spielkammeraden!“ „Ja! Alera liest uns ‚Sophie im Schloss den Zauberers’ vor, das ist total lustig!“ Susi griff nach der rechten Hand der sechzehnjährigen und hielt Sato die andere Hand hin. In dieser Geste lag so viel vertrauen, dass sie gar nicht anders konnte als zuzugreifen. „Wer bist du?“ fragte sie als sie das kleine Zimmer verließen. „Alera!“ eine Antwort, die absolut nichts aussagte. „Und weiter?“ ein kurzer Blick aus heimlich gequälten Augen. „Alera Benett von Siegel.“ Vor Schreck hätte die Platinblondine beinahe die erste Treppenstufe verpasst. „Dieses stinkreiche Gör, das andauernd in der Zeitung steht?“ ohne es zu wollen benutzte sie dieselben Beleidigungen wie ihre Mutter. Am liebsten hätte sie sich geohrfeigt. „Nein! Ich bin das Gör, das von einer stinkreichen Familie adoptiert wurde und andauernd in der Zeitung steht!“ Diese Antwort war überraschend. „Wenn man es genau nimmt gehören mir ein altes Stofftier, ein bisschen Schmuck und ein paar Bücher. Selbst die Klamotten die ich trage verdanke ich glücklichen Umständen!“ mehr sagte sie zu diesem Thema nicht. Alera brauchte etwa vier Monate, bis sie sich Satos Geschichte in etwa zusammenreimen konnte. Ihr unbekannter Vater hatte ihre Mutter vergewaltigt, wodurch sie schwanger geworden war. Anna Yamasaki hatte die Schwangerschaft bis kurz vor der Geburt verleugnet und das einzige, das sie davon abhielt den Säugling nach der Geburt zu töten war ihr Ehemann, der das kleine Mädchen vom ersten Moment an abgöttisch liebte. Kiyoshi Yamasaki schütze sie so gut er konnte und war die einzige Person, die der kleinen Sato jemals Liebe und Zuwendung entgegen gebracht hatte. Er war sogar so weit gegangen, sich von seiner Frau zu trennen und mit seiner Tochter in einen anderen Teil der Stadt zu ziehen. Doch leider starb Kiyoshi bei einem Autounfall und die achtjährige Sato wurde gegen ihren Willen zurück zu Anna gebracht, der die nun schutzlos ausgeliefert war. Die körperlichen und seelischen Misshandlungen brachten sie mehrmals dazu wegzulaufen, doch sie wurde immer wieder von der Polizei nach Hause gebracht, bis einem der wenigen engagierten Polizisten die vielen blauen Flecken auffielen und eine Untersuchung eingeleitet wurde. Was genau in diesen drei Jahren geschehen war wusste niemand, denn das Mädchen blockte jedes Gespräch in diese Richtung sofort ab, aber es musste schrecklich gewesen sein. Gedankenverloren schüttelte Alera den Kopf. ‚Kein Kind sollte etwas so schreckliches erleben müssen!‘ dachte sie, während die zusah wie Sato ein paar Kindern zeigte, wie man Kraniche aus Papier faltete. ‚Wenigstens macht Holger seinen Job gut! Wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich einen besseren Betreuer gehabt hätte?‘ Diese Frage würde wohl niemand je beantworten können. *** … Stimmt, das war mehr als ein Tag. Aber Sie wissen ja wie das ist, wenn man sich mal warmgeredet hat… … Eine Volkskrankheit bei Frauen? Na das nenne ich doch mal eine treffende Beschreibung! … Wie die Geschichte weiter ging? Sato wurde zu einem meiner Lieblinge und ich sorgte dafür, dass sie die beste Pflegefamilie bekam die ich finden konnte. Wir stehen heute noch in Kontakt. Sie hat eine süße Tochter, die sie abgöttisch liebt und die übrigens nach mir benannt wurde! … Natürlich hat mich das gefreut. Ich bin einen Monat lang auf Wolke sieben durch die Gegend geschwebt und bei der Taufe habe ich Rotz und Wasser geheult. Mein Patenkind war so ein goldiges Baby… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)