Seelenbücher von Naomi9 ================================================================================ Kapitel 1: Seelenbücher ----------------------- Er stand im Wohnzimmer am Fenster und schaute über die Straße. Sie saß gegenüber auf der Veranda. Ihre Beine baumelten zwischen den Pfeilern des Geländers herunter. Auf ihrem Schoß lag ein Buch. Auch wenn er es nicht hören konnte, so wusste er, genau wie die ganze Nachbarschaft, dass ihre Eltern im Haus wieder stritten. Sie stritten jeden Tag. Und jeden Tag saß sie auf der Veranda und las. Vierzehn, vielleicht fünfzehn war sie. Nicht älter. Braune, wilde Locken und braune große Augen. Alle drei Tage ein neues Buch. Er hatte nie ein Kind in ihrem Alter so viel lesen sehen. Sie las alles, was auf Seiten gedruckt und zwischen Buchdeckeln eingefangen war. Richtige Bücher. Keine Taschenbücher, bei denen der Rücken zerknickte und eine hässliche Linie zu sehen war, wenn man sie ins Regal stellte. Wenn sie nicht dort saß und las, dann suchte sie nach Arbeit. Rasen mähen, Unkraut jäten, Laub harken, Schnee schippen oder für die gebrechliche alte Dame, drei Häuser weiter, den wöchentlichen Einkauf. Von dem Geld, das sie verdiente kaufte sie neue Bücher. Für ihn konnte sie nichts tun. Er war zwar dreiundsechzig, aber fühlte sich nicht alt. Alles was er selber tun konnte, wollte er auch selbst tun. Er konnte sie von seinem Fenster aus dem Wohnzimmer und aus der Küche sehen. Wenn er mit seinen Arbeiten fertig war, stand er am Fenster und beobachtete sie. Oft kannte er die Bücher. Geschichten von berühmten Autoren oder weniger berühmten. Krimi, Fantasy oder Liebesromane. Wenn er ihr zuschaute überlegte er, an welcher Stelle der Geschichte sie wohl war. Er schaute, war sie noch am Anfang, in der Mitte oder schon am Ende. Und er schaute auf ihre Mimik. Denn sie schaute traurig, lachte, wirkte ängstlich, aufgeregt und manchmal schien sie Herzklopfen mit den Figuren zu bekommen. Da er alt war und nicht mehr arbeitete ging er oft spazieren. Und manchmal, wenn er wieder in seine Straße einbog und sie schon von Weitem sah, überlegte er sie anzusprechen. Früher war er Abteilungsleiter in einer großen Firma gewesen. Viele Leute waren unter ihm gewesen. Viele Verträge hatte er abgeschlossen. Doch nun traute er sich nicht, dieses kleine Mädchen anzusprechen. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, dem Erwachsene gegenüberstehen, die man doch kennen müsste, aber nicht wusste, wie sie hießen. Er redete sich ein, dass er sie nicht beim Lesen stören wollte. Doch eines Tages hatte er keine Ausrede mehr. Denn sie saß auf der Veranda und hatte kein Buch vor sich. Sie saß einfach nur da und schaute vor sich hin. Und schließlich fasste er einen Entschluss und ging über die Straße zu ihr hinüber. Als er dicht am Haus stand, konnte er die Schreie drinnen hören. Doch er beachtete sie nicht, sondern nur das Mädchen, das zu ihm aufschaute. „Hast du keine Bücher mehr?“ „Keines, das ich noch nicht gelesen habe.“ „Dann komm mal mit.“ Er überlegte nicht lange, als er das sagte. Und auch sie überlegte nicht lange, sprang von der Veranda und folgte ihm. In seinem Haus war es sehr kühl. Er bemerkte wie anständig sie war, schaute nicht in die Ecken, sondern folgte ihm stumm. Schließlich blieb er vor einer Tür stehen. Der Raum dahinter, würde mehr als die Hälfte des Untergeschosses einnehmen, erklärte er ihr, bevor er die Tür öffnete. Sie staunte. Die Regale standen dicht an dicht, aus dunkler Eiche. Jedes war vom Boden bis zur Decke mit Büchern vollgestopft. Sie lachte. Das erste Mal sah er sie ohne ein Buch lachen. Sie lief ein Regal entlang, strich dabei vorsichtig mit den Fingern über die Rücken. Hinter einem anderen Regal kam sie schließlich wieder zum Vorschein. „So ein lautes Zimmer. In deinem Haus ist es ja nie still.“ Er setzte sich in seinen schweren Ohrensessel und dachte über ihre Worte nach, während sie wieder durch die Regale wanderte. Dieses Zimmer war nicht laut. Es war das leiseste Zimmer, in seinem ganzen Haus. Doch sie hörte die Stimmen der Bücher. Er ließ sie jeden Tag zu sich kommen. Sie las bei ihm. Und auch er fand die Lust am Lesen zurück. Nicht zuletzt, da sie mit den Büchern redete. Und ihm half, sie zu verstehen. Sie übersetzte ihm die Sprache der Bücher, sprach die geflüsterten Worte laut aus, damit er sie hören konnte. „Darf ich deine Bücher umräumen?“ „Wieso möchtest du sie umräumen?“ „Weil Traum gerne neben Hermelin stehen würde und Marinda sich danach sehnt, bei Faun sein zu können.“ „Du gibst ihnen Namen?“ „Nein, die Namen haben sie schon. Ich nenne sie nur dabei.“ Und er erlaubte ihr, die Bücher so umzustellen, wie sie gerne stehen würden. Er half ihr sogar dabei. Und sie erzählte ihm dafür von den Seelen der Bücher. Die Seelen, die sprachen und ihre Geschichten erzählten, bevor man die Seiten schon aufgeschlagen hatte. Die Seelen, die aus vielen Menschen geboren wurden. Eines Tages brachte sie ihm ein neues Buch mit. Es war sogar noch so neu, dass es noch in Folie geschweißt war. Doch sie gab es ihm nicht sofort. „Du denkst, ein Buch könnte nur mit der Seele gespeist sein, die es geschrieben hat. Aber das ist falsch.“ Nie hatte er so etwas gesagt, doch wussten er und sie beide, dass es stimmte. „Ein Buch trägt die Seele des Autoren in sich, die der Lektoren, die das Manuskript gelesen haben, der Freunde und Bekannten, denen der Autor davon erzählte, die Leute, die es gelesen haben. Und die der Personen, denen das Buch gewidmet ist. Von all diesen Leuten trägt das Buch ein Stück in sich. Auch wenn es so klein ist, das selbst ein Staubkorn daneben wie ein Fels aussieht. Daraus ist die Seele der Bücher gemacht.“ Sie gab ihm das Buch in die Hand und er öffnete die Folie. Als er die ersten Seiten aufschlug, kam ihm der Geruch von Druckerschwärze und neuen Seiten entgegen. Ein Geruch, den er seit Jahren nicht mehr gerochen hatte, dabei war er so schön. Er liebte es, wenn sie bei ihm war. Lernte von ihr, selbst mit den Büchern zu sprechen. Auf ihre Worte zu hören. Auch wenn er sie nicht so laut und deutlich verstand, wie sie. Öfter verbrachte er die Nächte mit einem Glas Rotwein in seiner Bibliothek und genoss es, von seinen Büchern umgeben zu sein. Irgendwann verstummten die Schreie im Haus auf der anderen Straßenseite. Ihre Mutter packte ihre Sachen. Sie stieg ins Auto und nahm sie mit. Er stand am Fenster und schaute zu, wie die Sachen im Kofferraum verstaut wurden. Er winkte ihr, als sie ihm mit traurigem Blick aus dem Auto winkte und schließlich davon fuhr. Danach verschwand er in seiner Bibliothek. Der lauteste Raum im ganzen Haus. Der einzige Raum, der ihm ein wenig Trost spenden konnte. Mit flüsternden Büchern, die sich beschwerten, das sie nicht wiederkam. Er ging nicht mehr viel raus. Nur wenn es nötig war. Sein Rasen wuchs höher als sonst. Das Laub blieb ein paar Tage länger liegen. Um den Schnee brauchte er sich nur kümmern, wenn er das Haus verließ. Und das Unkraut wucherte mehr als die Pflanzen in seinem Garten. Die Jahre vergingen. Doch er merkte es nicht richtig. Für ihn war es mehr eine lange Zeit ohne besondere Ereignisse. Im Haus gegenüber zog eine neue Frau zu ihrem Vater. Sie brachte einen Sohn mit. Doch statt Bücher zu lesen, schoss er lieber mit seiner Plastikpistole und fuhr später seine Freundin in seinem neuen, teuren Auto herum. Nur an seiner Umwelt spürte er, dass Zeit vergehen musste, denn in seinem Hause stand sie still. Die Bücher senkten ihre Stimmen. Oder er hörte nicht mehr gut. Er wusste nicht genau, woran es lag, dass das Flüstern eines Tages fast verstummt war. An dem Tag, als es in seiner Bibliothek fast still geworden war, bekam er ein Paket. Als er es öffnete fand er darin ein Buch. Und dieses Buch brachte Leben in seine Bücher zurück. Es war das lauteste und quirligste Buch von allen. Und sein Liebstes. Es handelte von dem Zauberer Bert und dem Mädchen Charley. Durch seine Zauberei und ihren Scharfsinn für gute Geschichten reisten sie zwischen den Zeilen der Bücher und erlebten die unglaublichsten Abenteuer. Er las es immer wieder. Und selbst an den Tagen, an denen er es nicht las, nahm er es an sich und schlug die ersten Seiten auf. Bis zu der Widmung des Buches. Sacht strich er dann über die schwarzen Buchstaben und dachte an die Zeit zurück, als sie noch jeden Tag bei ihm war. Dieses Buch widme ich dir Robert, der du mir all deine Bücher zum Lesen und sprechen gabst und mit mir die schönsten Reisen zwischen den Zeilen vornahmst. Nie vergesse ich, was du mir ermöglicht hast. Deine Lotte Ende Hosted by Animexx e.V. 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