Opfer von kreakiwi ================================================================================ Kapitel 1: 01 ------------- Es war ein schöner Frühlingsmorgen an diesem Dienstag, einer von den ersten, wärmeren Tagen, an dem jeder bereits seine Sommerkleidung aus dem Schrank suchte und vom Strand träumte. Mir fiel dies gar nicht auf – ich hatte anderes im Kopf. Mein Kopf pochte, als ich mich in meinem Bett aufsetzte und stechend schnell wach wurde. Mein erster, leicht panischer Blick fiel auf meine Zimmertür. Niemand zu sehen. Das war ein gutes Zeichen. Mein zweiter Blick fiel auf den Fernseher, an dem gerade irgendeine schlechte Nachtsendung leise vor sich hinlief. Ich schaltete ihn aus, froh, dass anscheinend keiner bemerkt hatte, dass er die ganze Nacht lief. Es war nicht das erste mal, dass mein Fernseher die ganze Nacht eingeschaltet war. Verständlich, dass meine Eltern sich sehr darüber aufregten und doch hielt ich mich nicht an ihr Verbot. Ich entsperrte meinen Ipod, um auf die Uhr zu schauen und auch gleich den Wecker auszuschalten. Viertel vor fünf. Das war ein bisschen früher als sonst, aber auch wenn ich ein Langschläfer war, wollte ich mich jetzt nicht wieder hinlegen. Also stand ich auf, zog mich an, putzte mir meine Zähne und machte mir mein Essen für die Schule fertig, wofür ich mir diesmal besonders viel Zeit ließ. Es war immer schön, etwas besonderes in der Schule essen zu können, und nun hatte ich die Zeit. So gab es wenigstens einen Lichtblick in der Schule. Naja, einen Zweiten hatte ich auch noch. Meine zwei Schwestern kamen spät wie immer. Sie hetzten hin und her, ließen ihre Taschen und ihre Essenstüten überall liegen und waren so schnell wie sie gekommen waren auch wieder verschwunden. Das war mir gleich, solang sie wieder da waren, wenn wir los mussten – erneut fiel mein Blick auf die Uhr, es war Zeit, mir Schuhe und Jacke anzuziehen. Ich traute dem Frühling noch nicht. Vielleicht dachte ich auch einfach nicht darüber nach, wie bereits erwähnt hatte ich andere Dinge im Kopf. In all dieser Zeit, seit dem Moment, in dem ich aufgewacht war, fühlte ich ein unglaubliches Unbehagen in mir. Mein Magen drehte sich wieder und wieder um, wenn ich an das dachte, was mich erwartete. Das war kein unbekanntes Gefühl für mehr mich. Was mich so Schlimmes erwartete? Nun... nichts anderes als ein weiterer, ganz normaler Schultag. Ich versuchte ununterbrochen, den Gedanken daran zu unterdrücken. In der Zeit, in der meine zwei Schwestern mich ablenkten, war da nur dieses Gefühl, dass sich nicht unterdrücken ließ, doch als ich im Bus saß, aus dem Fenster starrte und meine Schwestern schwiegen oder sich nur leise über ihre Hausaufgaben unterhielten, fiel es zunehmend schwerer, nicht daran zu denken – daran, dass ich gerade zur Schule fuhr. Zu meiner Schule, mit diesen Leuten... diesen Leuten.... Als ich die Schule schlussendlich vor mir hatte und geradewegs auf den Eingang zusteuerte, überkam mich dieses Gefühl plötzlich wie eine Explosion – kurz blitzte es auf, zog mich runter, ich hatte die Kontrolle verloren, die ich schnell wieder über mich gewann und es schaffte, dieses Gefühl wie sonst immer zu unterdrücken. Doch ich wusste, wenn ich das Klassenzimmer betreten würde, würde es erneut unaufhaltbar aufblitzen. Und von da an immer wieder... Nun, vielleicht kann man sich ja bisher vorstellen, was hier los ist. Wer, oder eher, was ich bin. Ein „Opfer“ wie man so schön sagt. Auch wenn dieser Begriff inzwischen schon zum Schimpfwort auserkoren wurde... was unglaublich ist, nebenbei bemerkt... stehe ich innerlich dazu, dass ich genau das bin. Ich bin das Opfer von Menschen, die sich einen Spaß daraus machen, andere nieder zu machen. Ich bin nicht das einzige, doch kenne ich niemanden, der es in dieser Hinsicht so schwer hat wie ich. Mein Name ist Saphira, ich war zu dieser Zeit 15 Jahre alt und ging in die 9. Klasse einer Realschule. Einer von mir so sehr verhassten Realschule. Meine zwei Schwestern – Zwillinge, nebenbei gesagt - Evora und Lyria gingen auf ein Gymnasium, an dem es ihnen um einiges besser erging. Auch nicht gerade gut, würde ich sagen, aber immerhin etwas besser. Ich betrat das Klassenzimmer, mein Blick fiel auf meine Klassenkameraden, die sich in Grüppchen im Raum verteilt hatten. Automatisch registrierte ich in meinem Kopf diese Stellen, an denen sie standen, als Tabugebiet – ich konnte nahezu eine schwarze Aura um sie herum sehen. An der Stelle, an der die meistverhasstesten Leute standen, war diese tiefschwarz und sehr groß... ,Halte Abstand!', schrie es in meinem Kopf. Ich unterdrückte es, genau so wie mein nun klopfendes Herz und das sich anbahnende unangenehme Gefühl. Setze dich einfach an deinen Platz, Saphira. Dort bist du nicht sicher, nicht geschützt, aber du hast keine Wahl. Und dort kannst du auf beschäftigt tun, vielleicht sinkt dann die Chance, dass sie dich ansprechen... oder... etwas anderes tun. Diesem Gedanken gehorchte ich und setzte mich auf meinen Stuhl. Ich sagte nicht hallo zu dem Mädchen, dass neben mir saß. Wir saßen nebeneinander, weil sie ebenfalls fertig gemacht wurde, ebenfalls den Titel „Opfer“ innehatte, doch das hieß noch lange nicht, dass ich sie mochte. Ich mochte hier niemanden. „Hallo Saphiraa!“, begrüßte mich Avesthia gespielt freundlich. Sie war eine von den Mitläuferinnen, so eine, die so tat, als würde sie die ganze Zeit versuchen, sich mit einem anzufreunden. Wenn sie sich dann mal wieder dabei beteiligte, einen fertig zu machen, hieß es „Aber ich hab doch nur...“. Sie bekam nur einen Blick von mir. Ich hätte wahrscheinlich auch dann nicht hallo gesagt, wenn ich sie gemocht hätte, aufgrund meiner Angst, dass meine Stimme versagte oder irgendwie merkwürdig klang. Reden tat ich nicht viel... Vielleicht kennt ihr es, wenn man eine Weile nicht redet, bekommt man dann das Gefühl, man könne es nicht mehr und es würde sich komisch anhören, wenn man es plötzlich ohne Stimmtest tun würde. Manchmal stimmte dies ja auch. Dennoch, mein Blick war fast schon freundlich. Früher war er wirklich freundlich, ich habe wirklich versucht, mich mit ihnen anzufreunden – ich war es auch jahrelang, mit einigen, besonders mit Avesthia. Wir waren beste Freundinnen, das hatte sie immer wieder gesagt und ich hatte mich gefreut. Ich hatte gedacht, ich könnte doch dazugehören, doch normal sein... Was für ein Irrtum... In der dritte Klasse hatte ich sie kennen gelernt, da unsere Klasse zu wenig Schüler hatte und so auf die zwei anderen Klassen aufgeteilt wurde. Sie war ein so ruhiges, freundliches Mädchen gewesen. Doch als ich sie kennenlernte und wir uns anfreundeten, bemerkte sie auf einmal jeder, als hätten sie meine Entdeckung gestohlen. Wir freundeten uns an, doch auf einmal mochte sie jeder, jeder wollte ihre Freundin sein und sie konnte niemals nein sagen. Mit mir hatte sie immer schlecht über die anderen geredet und mir gesagt, dass ich ihre einzige beste Freundin wäre, doch insgeheim wusste ich von Anfang an, dass sie dies jedem erzählte. Später sagte sie auch, dass sie einmal über mich gelästert hätte, doch ich wusste längst, dass sie dies schon tausendmal mit jedem getan hatte. Ich kam mir vor wie ein dummes Mädchen, dass von einem Frauenschwarm verarscht und betrogen wurde und genau das wiederum kam mir lächerlich vor, sie war doch kein Kerl. Ich sagte und tat also nie etwas. Wie denn auch – so ein nettes, schüchternes Mädchen wie ich? Außerdem wollte ich sie nicht verlieren, da sie die einzige war, die mich nett behandelte und durch die ich wenigstens einen kleinen Status unter den Mädchen sicher hatte. Aber dann kam der Tag. Es war in der sechsten oder siebten Klasse, ich erinnere mich nicht genau. Wir waren also sehr lange befreundet. Es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern, wie es begonnen hat... Was war plötzlich passiert? Wir kommunizierten in der Schule ausschließlich über Briefe, in denen wir „stritten“... Ist es ein Streiten, wenn es von einer Person ausgeht? Erzwungen? Wenn ich jetzt darüber nachdenke, ich glaube, sie wollte einfach nur eine spannende, dramatische Situation. So, wie man sie bei RTL sieht. Sie war ja so enttäuscht von mir und wir konnten keine Freundinnen mehr sein, das schaffte sie einfach nicht, buhuu... Ich schrieb einen Brief. Einen langen Brief. Einen Brief darüber, wie viel sie mir bedeutete. Dass sie meine beste Freundin war, dass ich sie einfach nicht verlieren wollte! Es war ein langer Brief, auf meinem schönsten, größten Diddlblatt. Und nicht nur das, ich kaufte ihr ein Kuscheltier. Am nächsten Tag fing ich sie vor der Klasse ab, damit keiner aus unserer Klasse dabei war. Ich gab ihr beides und sah sie traurig an. Sie bedankte sich höflichermaßen. Auf den Brief hat sie nie geantwortet und ich hab ihn so bereut. Bevor ich auch nur die Klasse betreten hatte – ich war noch dabei, meine Jacke aufzuhängen – kam ein anderes Mädchen aus der Klasse, hängte ihre Jacke neben mir auf und sagte leise mit einem breiten Grinsen... „Erpresserin“. Dann ging sie wieder in die Klasse. In dieser Zeit klinkte die Situation in der Klasse völlig aus. Es war, als hätte ich meinen einzigen Schutzwall verloren. Die Leute, die auf mir herum hacken wollten, taten dies viel mehr und ungestörter als sonst und selbst die Mädchen, die nicht zur coolen Clique gehörten, sahen auf mich herab und schlossen mich aus. Ich hatte den „Engel“ der Klasse enttäuscht, das Mädchen, das jeder mochte. Ich war schon immer ein sehr schwacher Mensch, sei es nun physisch oder psychisch gesehen, ich weiß nicht, in welchem von beiden ich schwächer bin. Ein sehr stilles, unheimlich in sich gekehrtes Mädchen, wahrscheinlich werdet ihr niemals jemanden finden, bei dem dies so ausgeprägt ist wie bei mir. Im Kindergarten gab es ein Mädchen, dass sehr taff war und sie machte mich die ganze Zeit über fertig. Es war nicht schwer, mich fertig zu machen, aber sie tat es wirklich gezielt. Wir waren Kleinkinder, im Kindergarten, aber dennoch – ich denke, das war bereits Mobbing damals. Nun gut, man kann sich vorstellen, wenn so ein schwacher Mensch von Beginn seines Lebens an so schlechte Erfahrungen macht, kann er sich nicht normal entwickeln. Als ich eingeschult wurde, war meine Psyche wahrscheinlich bereits nicht normal. Doch in der vierten Klasse, als ich mich um mehr und mehr mit Avesthia anfreundete, besserte es sich ein bisschen. Wenn ich mit ihr zusammen war, hatte ich das Gefühl, ich könnte wenigstens so tun, als wäre ich normal... Und als sie mich dann von sich stieß, stand ich allein da, aus meiner Welt gerissen, die ich um sie herum aufgebaut hatte. Von da an versprach meine Schulzeit schlimmer zu werden, als je zu vor. Von Tag zu Tag verschlimmerte sie sich. Heute sollte eine ganz besonders schlimme Zeit beginnen, doch das wusste ich in diesem Moment noch nicht... Die ersten Schulstunden verliefen normal. Ich wurde mit einem Papierball abgeworfen, was ich bereits gewohnt war, aber ansonsten passierte nichts außergewöhnliches. Meine Klassenkameraden quälten die Lehrer, warfen auch ungeplant Dinge durch die Gegend, waren unglaublich laut und hörten niemals zu. In der Pause redete ich mit Irwana. Irgendwo musste man ja schließlich seine Zeit vertreiben, richtig? Auch wenn ich sie nicht sehr mochte, sie war noch eins der kleinsten Übel. Irwana war ein oft fröhliches, blondes Mädchen, meist mit einem breiten Grinsen auf den Lippen, dass oft durch etwas Fieses dort gelandet war. Einer ihrer Ticks war seit etwa einem Jahr, mir und manchmal auch einigen anderen, ständig mit ihrer kalten Hand ins Genick zu fassen, ein sehr unangenehmes Gefühl. Ich hatte zu dieser Pause eine Brotbox mit Cornflakes mit nach draußen genommen, aus der ich grade aß, während wir redeten. Als unser Gespräch beendet war, schaute ich in eine andere Richtung. Nach einer Pause fiel ihr Blick kurz auf meine Brotbox, dann wieder in mein Gesicht. „Saphira, dreh dich mal um!“, rief sie mich, mit ihrem üblichem, fiesem Grinsen. Dieser Moment schien wie in Zeitlupe abzulaufen, gleichzeitig kam er mir auch unglaublich schnell vor. Kaum hatte ich mich zu ihr gedreht, schlug sie von unten auf meine Brotbox, die in hohem Bogen nach oben flog und die Cornflakes überall verteilte. Kurz hielt ich geschockt inne, starrte auf das Konfetti aus Cornflakes um mich herum, nun sah uns jeder an. Ich macht einen Schritt auf sie zu, legte meine Hände um ihren Nacken, sah ihr wütend in die Augen, dann sammelte ich meine leere Brotbox auf, drehte mich um und ging. Keine zehn Meter war ich gegangen, ehe mir die Tränen in die Augen schossen... Wie gesagt, ich war nie sehr stark und zu diesem Zeitpunkt bereits sehr psychisch instabil. Doch ich hielt die Tränen so gut es ging ein, immerhin war ich mitten auf dem Schulhof und überall waren Leute. Kapitel 2: ----------- Ich spürte eine Träne über mein Gesicht rinnen, welche ich eilig wegwischte. Ich war auf der Suche nach einem ruhigen Ort auf dem Schulhof, um die Pause zu überstehen. Innerhalb der großen Pausen musste man das Gebäude leider verlassen und überall waren Schüler, so dass ich nirgendwo geschützt stehen bleiben konnte um mich zu beruhigen, also lief ich einfach mit gesenktem Kopf die Punkte ab, an denen wenigstens etwas weniger Leute waren und hoffte, dass sie mir nicht ansahen, was sich in meinem Kopf und in meiner Gefühlswelt abspielte. Selbstverständlich erwartete ich eine Entschuldigung von Irwana. Ich war sozial alles andere als fit, so viel wusste ich dann doch, dass sie, nach so einer fiesen Tat, zu mir kommen und sich entschuldigen sollte. Niemals hätte ich geahnt, dass sich innerhalb von Sekunden meine Meinung umkrempeln könnte, zu etwas völlig Falschem... Als ich die Pause überstanden hatte und ein wenig erleichtert das Gebäude betrat, überlegte ich, wie ich mich verhalten sollte. Sollte ich einfach nicht mehr mit ihr reden? Sie würde sich bestimmt nicht direkt entschuldigen, vielleicht auch gar nicht. Wenn sie mich ansprach, sollte ich trotzig reagieren? Meine Gedankengänge tätigte ich umsonst. Als ich im Klassenzimmer war, sah mich einer meiner Mitschüler an. Ein so hässliches Gesicht, ein so hässlicher Charakter. Wenn er nicht der zweitschlimmste auf meiner Hassliste war, dann war er die Nummer 1. Seit der Grundschule mit mir in einer Klasse. Sein Name war Lennys. Ein fieses Grinsen stahl sich in sein Gesicht. Niemand hatte so ein grässliches, fieses Grinsen wie dieser Zwerg. Während er mich so anstarrte, sprach er das Wort aus, was für eine furchtbar lange Zeit das schlimmste existierende Wort für mich sein sollte. Es war nicht nur ein Wort, es war ein neuer Name. Ein Spitzname. „Würger“. Ich weiß nicht, ob er, der Namensgeber, vielleicht nicht mitbekommen hatte, dass es Irwanas Angewohnheit gewesen war, einem in den Nacken zu fassen und ich es fast nie getan hatte. Fest stand, dass er und einige andere mich hassten und natürlich ich in dem Moment diejenige war, die etwas Schlimmes getan hatte, nicht sie. Und dass er es so umgewandelt hatte, dass es schlimm wirkte und ich mich dafür schämen musste. Würger. Ein Mensch, der einen anderen würgt. Ihm die Luft raubt. Ihn vielleicht umbringt. Das war nicht, was ich getan hatte, natürlich nicht. Ich hatte meine Hände um ihren Nacken gelegt, natürlich berührten meine Hände dadurch automatisch den Hals, aber ich hatte nicht zugedrückt. Noch dazu war es ein Bruchteil einer Sekunde gewesen. Aber darum ging es nicht. Wann ging es bei so etwas denn schon um die Wahrheit? Sie wollten mich fertig machen, mich quälen. Es wurden viele Gespräche darüber geführt. Es war mir so unendlich peinlich, wenn der Spitzname vor einem der Lehrer fiel. Was sollten sie über mich denken? Aus diesem Grund bat ich in dieser Angelegenheit nicht um Hilfe. Natürlich bekamen sie es mit, doch sie sagten nichts. Meine Klassenkameraden unterstellten mir, dass ich sie hätte umbringen wollen. Immer wieder sagten sie solche Dinge, lachten über mich. Immer wieder fiel dieser Name. Tage später. Wochen später. Monate später. Und auch dann machte es mir noch genau so viel aus wie am letzten Tag. Ich wartete nur darauf, dass der Name fiel, ununterbrochen und ich wurde nie enttäuscht. Manchmal glimmte kurz ein Hoffnungsschimmer auf, wenn sie es lange Zeit nicht erwähnten – doch es kam immer wieder. Der Name haftete an mir wie ein uraltes Kaugummi, mit seinem Untergrund verschmolzen. Wenn ich nach Hause ging, war ich erleichtert, da ab da für ein paar Stunden der Name nicht mehr fallen und mich auch sonst keiner von ihnen fertig machen konnte (das dachte ich zumindest...), aber natürlich ging es mir auch dann nicht „gut“. Ich hatte begrenzte Internet Zeit, die ich ständig zu verlängern versuchte. Nichts lenkt einen so gut ab wie das Internet, es funktionierte zwar auch nicht hundert Prozent, aber es war die beste Ablenkung, die ich bekommen konnte. Die restliche Zeit verbrachte ich vorm Fernseher, auch wenn ich Hausaufgaben erledigte. Es galt, jede noch so kurze Sekunde meines Lebens übermäßig zu füllen, es durfte kein Raum, keine Lücke in meinem Kopf leer bleiben! Denn mein Kopf war voll mit diesem Wort, diesem Namen. Überfüllt. Ich musste es verdrängen, doch es ging nicht. Es ist unheimlich anstrengend, sich darauf zu konzentrieren, nicht an etwas zu denken. Beim Fernsehen und überhaupt bei allem driften die Gedanken immer ab, manchmal für Sekunden, manchmal länger und in meinem Kopf tauchte nichts anderes als dieses Wort mehr auf. Es war eine Qual. Dieses Empfinden war nichts Neues für mich, im Gegenteil, ich kannte es, so lange ich denken konnte und es war über die Jahre langsam immer schlimmer geworden. Doch das hier, das war unglaublich, es schmerzte mich so sehr, ich wollte nicht mehr daran denken, keine Sekunde mehr, doch es ging einfach nicht anders! Der einzige Ausweg, den ich sah, war, mich umzubringen. Natürlich tat ich dies nicht und ich war auch nicht kurz davor, doch die Gedanken daran waren stets vorhanden und das war schlimm genug. Keinem Menschen sollte es so gehen. Kein Mensch sollte diesen Schmerz erleiden müssen! Ich habe mir geschworen, so oft, so sehr: Ich würde niemals diesen Schmerz vergessen. So sehr war ich mir sicher, ich hätte alles umsonst erlitten, wenn ich es vergessen würde, es wäre falsch. Und das Wichtigste war, meinen Hass nicht zu vergessen. Denn würde ich meinen Hass vergessen, würde das heißen, dass es okay war, dass sie das mit mir gemacht hatten. Würde ich zu einem normalen Menschen reifen, würde das heißen, dass es nichts ausmachte! Und das tat es! Es machte etwas aus! Diese Menschen hatten mein Leben zerstört, verhindert, dass ich überhaupt jemals anfangen konnte, es wirklich zu leben! Nach einigen Wochen gab es einen Hoffnungsschimmer, wie ich den Spitznamen loswerden konnte: Die Sommerferien näherten sich! Während alle sich freuten, in Urlaub zu fahren, am Strand baden zu gehen und andere Sachen, war meine Freude, dass ich diesen Spitznamen loswerden würde und ganze sechs Wochen niemanden von ,denen' mehr sehen musste! Meine Sommerferien liefen ab wie meine gesamte Freizeit: Allein in meinem Zimmer an meinem Netbook. Das war schon immer, die einzige Sache, die sich über die Jahre geändert hatte, war, der Erwerb meines Laptops – vorher hatte ich eine begrenzte Zeit am PC meiner Eltern gehabt. An meinem Laptop begrenzten sie meiner Internet-Zeit immer noch, wogegen ich mich heftig wehrte... Ihr könnt es euch vorstellen warum, das war das einzig Schöne in meinem Leben. Hier kommen wir zum nächsten Punkt, der wichtig in meinem Leben war: Ich hatte einen ganz bestimmten Chat entdeckt. Meine Schwestern und ich hatten unsere ersten Mangas gelesen, von denen wir begeistert waren. Die Zeichnerin konnte einfach unendlich schön zeichnen! Daher suchten wir im Internet herum, als meine Schwestern einen PC bekamen – eine ganze Weile bevor ich meinen Laptop hatte – sahen alle möglichen Bilder an und stießen auf ein Fanforum, in dem wir uns anmeldeten. Dort gab es auch einen Chat, in dem sich nie jemand aufhielt. Was ich nicht wusste – es war eine Chatbox von einer anderen Seite. Wenn ich im Forum auf „Chat“ klickte, entstand automatisch ein „Gastchatroom“, der nur solange bestehen blieb, wie jemand drin war. Da dort niemand war klickte ich auf „andere Chatrooms“ und war damit automatisch in den Chats der ursprünglichen Seite, die nichts mehr mit dem Forum zu tun hatte. Dort betrat ich einen Raum, dessen Name meiner Meinung nach interessant klang – und hier begann meine Liebe zu diesem Chat. Die Leute dort waren so unendlich freundlich und ihnen gefiel mein Name, sie machten Scherze und ich schrieb eine Weile mit ihnen. Diese Freundlichkeit kannte ich so nicht, ich war völlig begeistert und ging die nächsten Tage immer mal wieder am Computer meiner Schwestern, oder dem meiner Eltern, um mit ihnen zu schreiben und bald tat ich es täglich. Immer wenn ich so sie mit ihnen schrieb grinste ich und lachte ab und zu, was so ungewohnt und so schön für mich war! Die Zeit mit diesen Leuten im Chat war die schönste meines Lebens. Damals war ich ungefähr elf schätze ich. Ich war viele, viele Jahre täglich in diesem Chat anzutreffen. Dort lernte ich später auch meine beste Freundin kennen, ein unglaublich wichtiger Mensch für mich – sie hörte sich meine Probleme und Sorgen an, meine depressiven Gedanken. Wenn ich es in der Schule nicht aushielt und mich nicht zurückziehen konnte, so konnte ich wenigstens mein Handy zücken und ihr eine SMS darüber schreiben, wie schlecht es mir ging. Das war so wichtig für mich... und endete in einer gewaltigen Handyrechnung jeden Monat. Somit wurde es gleich zu einem weiteren Streitthema mit meinen Eltern. Sie konnten es natürlich nicht verstehen, aber sie gingen gegen alles vor, was mir mein Leben erleichterte und um ehrlich zu sein war dies auch alles, wofür ich lebte. Nun. Dies waren meine Sommerferien, mit zugezogenen Vorhängen am Laptop mit meiner besten Freundin und einigen anderen chatten und versuchen, nicht an dieses Wort zu denken. Sie würden es doch bestimmt nach den Sommerferien vergessen haben, beziehungsweise als verjährt ansehen. Immerhin hatte ich mich unglaublicherweise tatsächlich noch am selben Tag bei Irwana entschuldigt! Ich mich bei ihr! Ihre Antwort war „Schon okay“ gewesen, von ihr kam nichts in Richtung einer Entschuldigung... Ich irrte mich. Natürlich irrte ich mich. Als würden sie etwas, dass mich so quälte, je vergessen. Bereits am ersten Tag fiel das Wort wieder und es war, als wäre da nichts gewesen, keine sechs Wochen Ruhe, keine sechs Wochen ohne dieses Wort. Es riss mich mit all meinen Hoffnungen knallhart in die grausame Realität zurück. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)