Spurensuche von Veku (Nur wer mit offenen Augen, aufrichtigem Herzen und reiner Seele wandelt, kann finden wonach er sucht) ================================================================================ Kapitel 1: Die Ruhe vor dem Sturm --------------------------------- Kapitel 01 Die Ruhe vor dem Sturm “This peace on earth's not right (with my back against the wall) No pain or sign of time (I am much too young to fall)” Avenged Sevenfold - Afterlife Vor 30 Jahren Obwohl die Mittagszeit schon lange vorüber war und die Sonne den höchsten Punkt am Himmelszelt weit hinter sich gelassen hatte, nahmen die hohen Temperaturen kaum an Intensität ab. Die einzigen Möglichkeiten, um dieser Hitze zu entkommen, waren, sich einen schattigen Platz zu suchen oder jede größere Anstrengung zu vermeiden. Die meisten Indianer des A’Ewejelles Stammes waren klug genug, sich an solch einem heißen Tag zurückzuziehen und auf die kühlen Abendstunden zu warten, um die täglich anfallenden Aufgaben zu erledigen. Nur wenige der fünfzig Mitglieder zeigten sich unerschrocken gegenüber der hellen, wärmespendenden Sonne am Horizont. Eine Handvoll Frauen waren damit beschäftigt, die jungen Triebe und älteren Pflanzen auf der etwa zehn Hektar großen Plantage mit Wasser aus dem Rentiersee feucht zu halten. Obwohl die große Hitze die ohnehin schon schweißtreibende Arbeit deutlich erschwerte, beklagten sich die Frauen nicht, sondern gingen in ihrem Tun geradezu auf. Sie wussten, dass sie mit ihrem Fleiß einen wichtigen Beitrag zum Erhalt ihres Stammes leisteten. Einige eifrige Kinder der A’Ewejelles halfen den Frauen bei der Arbeit und lernten zeitgleich, wo ein Teil ihrer Nahrung zum Überleben herkam. Besonders die heranwachsenden Mädchen erhielten einen ersten Vorgeschmack darauf, was in naher Zukunft zu ihren Aufgaben gehören würde. Andere Kinder dagegen spielten gemeinsam, in dem sie sich abwechselnd versteckten und dadurch für kurze Zeit schattenspendende Plätze aufsuchen konnten, bis sie von ihren Mitspielern gefunden wurden. Junge Männer entschieden sich, im See schwimmen zu gehen, um dadurch eine erfrischende Abkühlung zu bekommen. Einer von ihnen jedoch verzichtete auf diesen Spaß und setzte sich bewusst der brennenden Hitze aus. Das helle Licht, das die Sonne spendete, war genau richtig für Lesharo, um ihm bei der Verbesserung seines Bogens behilflich zu sein. Lesharo war vor wenigen Tagen 25 Jahre alt geworden und besaß noch den ersten Bogen, den er sich vor knapp einem halben Jahrzehnt selbst geschnitzt hatte. Aber da er auf jeder Jagd nach Bisons seine Fähigkeiten hinsichtlich dem Auflauern, Angreifen und Töten des Tieres verbesserte, wollte er keinesfalls einen Misserfolg einbüßen, nur weil er seine Ausrüstung nicht stetig auf ihre Zuverlässig- und Genauigkeit überprüfte. Daher nahm der junge Indianer jede Gelegenheit wahr, um Pfeil und Bogen aufeinander abzustimmen und somit noch zielorientiertere Schüsse abgeben zu können. Lesharos Bogen war etwas über einen Meter lang und an den Enden sehr schmal. Zur Mitte hin verlief das Holz breiter und dort wo der Indianer es mit der Hand festhielt, hatte er zwei breite Kerben hinein geschnitzt und mit dünnen Streifen Bisonleder umwickelt, um eine bessere Griffigkeit zu erreichen. Mittlerweile war Lesharo mit seiner Ausrüstung zufrieden und hatte einen Punkt erreicht, wo er nur noch wenige Verbesserungsansätze finden konnte. Einen gab es allerdings noch und das war die Bogensehne. Er hatte das Gefühl, dass die Elastizität eben jener nachgelassen hatte und dadurch die Pfeile nicht mehr die Geschwindigkeiten aufnahmen, die er sich erhoffte. Daher hatte Lesharo sich vom letzten erbeuteten Bison die längste Sehne herausgetrennt, die er kriegen konnte, ohne dass sie ihm von einem anderen Indianer streitig gemacht wurde. In dem Sonnenlicht war es für das junge A’Ewejelles Mitglied ein Leichtes, die alte Tiersehne schnell vom Bogen zu lösen. Da er diese jedoch noch für brauchbar hielt und nicht einfach achtlos wegwerfen wollte, steckte er sie in die Tasche seiner Leggings aus Bisonleder. Da Lesharo auf einem großen, breiten Stein saß, baumelten seine nackten Füße in der Luft. Direkt unter ihnen lagen zwei mit bunten Mustern verzierte Mokassins, die er bei den hohen Temperaturen eher weniger gern trug, lieber spürte er den Wind über seine Haut streichen – wenn denn ein Lüftchen seinen Weg kreuzte. Deswegen trug der junge Indianer auch kein Oberteil. Seine Haut, die bereits seit Kindesbeinen an die heißen Sommertage gewohnt war, glänzte in der Sonne. Feine Schweißperlen hatten sich auf den Oberarmen und der Brust gesammelt und es fehlte nur eine winzige Bewegung, um ihre kleine Oberfläche von Haut zu trennen, um sie eben jener hinab rinnen zu lassen.  Lesharo fuhr sich über die ebenfalls schweißnasse Stirn und blickte mit einer Hand vor den Augen haltend gen Himmel. Keine einzige Wolke war zu sehen – das würde mit Sicherheit auch die nächsten Stunden so bleiben. Wenn der Stamm jedoch eine ausreichend nahrhafte Mahlzeit für den Abend haben wollte, würden sich die Krieger der A’Ewejelles bald für die Jagd bereit machen müssen. Ein Grund, weshalb sich Lesharo beeilte, rechtzeitig fertig zu werden. Ein weiterer kam genau in dem Moment direkt auf ihn zu. Onatah. Eine junge und äußerst hübsche Indianerfrau mit hüftlangen, dunkelbraunen Haaren. Mit einem breiten, offenen Lächeln blieb sie knapp einen Meter vor ihm stehen. „Endlich habe ich dich gefunden!“ Der Angesprochene hob fragend eine Augenbraue. „Solltest du nicht auf dem Feld sein?“ Seine Frage übergehend trat Onatah noch einen Schritt näher, sodass Lesharo die vielen kleinen, dunklen Punkte, die quer über ihre Nase und den Wangen verliefen, sehen konnte. Ihre hellen Rehaugen musterten ihn belustigt, ehe sie ihm neckisch zu zwinkerte. „Du bist nie da, wo man dich erwartet, Lesharo. Und eigentlich hast du wegen deiner frecher Worte überhaupt kein Geschenk von mir verdient, trotzdem habe ich eins für dich dabei.“ Erst jetzt fielen dem Älteren ihre Arme auf, die sie versteckt auf ihren Rücken gedreht hatte. Nun deutlich interessierter an ihrem Auftauchen, versuchte Lesharo den Kopf so zu drehen, um einen Blick auf das zu erhaschen, was ihm sein Gegenüber mitgebracht hatte. Doch vergebens. Onatah war auf dieses Manöver bestens vorbereitet und drehte sich immer genau dann weg, wenn er glaubte, etwas erkennen zu können. „Na gut, zeig schon, was du da hinter deinem Rücken versteckst“, sprach Lesharo reumütig. „Gibst du wirklich so schnell auf?“ „Was erwartest du denn?“ „Ein bisschen mehr… Elan?“, lächelte Onatah und entfernte sich wieder von Lesharo, während sie sprach. Der junge Indianer hatte keine Lust auf solche Spielchen und bei jedem anderen hätte er bereits das Interesses verloren, nur um sich dann wieder seine Beschäftigung zu zuwenden. Bei Onatah lagen die Dinge jedoch anders. Sie war die Liebe seines Lebens. Bereits in ihrer gemeinsamen Kindheit war nicht zu leugnen gewesen, dass die Indianerfrau eine wahre Schönheit war, nicht nur äußerlich. Onatah besaß eine innerliche Stärke, die einfach jeden in den Bann zog. Es gab niemanden von den A’Ewejelles, der nicht von ihr bezaubert wurde. Und genau das war wahrscheinlich einer der Gründe, weshalb sich Lesharo bis zum heutigen Tage nicht getraut hatte, ihr seine Gefühle zu gestehen – dass sie die Eine war, die er zu seiner Frau machen wollte. Dieser Unfähigkeit verdankte er es, dass sie seit Jahren bloß eine enge Freundschaft miteinander verband und es keinerlei Anzeichen gab, die einen anderen Schluss zu ließen. Lesharo lächelte schwach bei dem Gedanken, dass er auf ewig dazu verdammt war, Onatah zwar nahe sein zu können, aber nicht auf die Weise, die er sich wünschte. Er würde sich mit dem Platz des besten Freundes zufrieden geben müssen, so lange er nicht den Mut aufbrachte, gegen seine Schüchternheit anzukämpfen. „Ich warte!“, sagte Onatah und holte ihren Freund zurück in die Realität, „So wie es aussieht, willst du wohl gar nicht wissen, was ich Schönes für dich mitgebracht habe.“ Lesharo stand auf und legte den Bogen direkt neben den Stein, auf dem er zuvor noch gesessen hatte. Ohne dass die junge Frau auch nur im Entferntesten hätte reagieren können, war der Ältere auch schon mit einem Satz bei ihr. Onatahs Versuch, einen ausweichenden Schritt zur Seite zu machen, wurde je zunichte gemacht, als Lesharo seine Arme um ihre schlanke Gestalt schlang. Das Lachen, was daraufhin ertönte, war beinahe wie Musik für die Ohren des A’Ewejelles Mitgliedes. „Oh nein, lass mich los!“ „Das hast du dir nun selbst zuzuschreiben.“ Immer noch lachend versuchte Onatah sich aus dem festen Griff des Anderen zu befreien. Schnell musste sie jedoch feststellen, dass dies ein eher schwieriges Unterfangen war und entschied sich daher, zu anderen Mitteln zu greifen. Sie schaffte es, einen Arm aus der Umarmung zu lösen und setzte ihn sogleich dafür ein,  Lesharo in die Seiten zu kneifen. Zunächst tat sich gar nichts, doch dann lachte auch der Ältere. „Findest du das etwa fair?“ Onatah zuckte die Schultern soweit es ihr möglich war. „Du lässt mir keine andere Wahl.“ Lächelnd ließ Lesharo die junge Frau los und trat einen Schritt zurück. „Irgendwie läuft es immer darauf hinaus.“ „Das kommt dir nur so vor“, versicherte ihm Onatah und brachte schließlich auch ihre bis dahin verborgene Hand zum Vorschein, „und das hier, ist für dich.“ Beinahe schon schüchtern hielt sie Lesharo einen dunkelbraunen Köcher hin. Zunächst etwas verwirrt, was es damit auf sich hatte, streckte der junge Indianer die Hand danach aus. „Für mich?“, murmelte er leise, ehe ihm ein Licht aufging, „Den hast du selbst angefertigt?“ Daraufhin bekam er bloß ein Nicken als Antwort und nahm sofort den Köcher genauer unter die Lupe. Dieses Exemplar war knapp einen halben Meter lang und war rundherum mit Fell bedeckt. Zur Öffnung hin wurde es breiter und war am oberen Rand mit drei verschiedenfarbigen Linien verziert. „Dafür wirst du doch sicherlich Wochen gebraucht haben“, staunte Lesharo und konnte den Blick nicht von dem Gegenstand in seiner Hand losreißen. Er sah die Mühe dahinter und konnte kaum in Worte fassen, wie sehr er sich über dieses Geschenk freute. Onatah zuckte erneut mit den Schultern. „Du hast schon längst einen neuen gebraucht. Bei deinem Alten ist es bestimmt nur noch eine Frage der Zeit, bis er auseinander fällt.“ Lesharo verzog bei dieser Bemerkung das Gesicht und wollte gerade etwas erwidern, als ihm die junge Frau zuvor kam. „Ich hoffe, er gefällt dir und bringt dir auf deiner Jagd heute etwas Glück“, lächelnd trat sie zu ihm und musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihm flüchtig auf die Wange zu küssen, „und nun muss ich zurück aufs Feld. Die anderen suchen bestimmt schon nach mir.“ Sprach sie und war in der nächsten Sekunde auch schon auf und davon. Das Einzige was Lesharo noch wahrnahm, waren die langen dunkelbraunen Haare, die im Wind hin und her flogen. Zurück ließ Onatah einen sprachlosen Indianer, der kaum glauben konnte, was gerade passiert war. Die Wange, auf der nur für einen winzigen Augenblick die Lippen derjenigen zu spüren waren, für die sein Herz schlug, pochte angenehm. Und seine Hände wurden durch das Gewicht des geschenkten Köcher taub, ehe sie anfingen zu Kribbeln und diese Empfindung auf den ganzen Körper übertrugen. Seine Beine fühlten sich an, als hätte er dort keine Knochen, weshalb Lesharo zurück zu dem Stein von vorhin taumelte und sich auf eben jenen niederließ. „Unglaublich“, flüsterte der junge Indianer und betrachtete das Geschenk noch einmal von allen Seiten, ehe er neben sich griff und vom Boden zehn angefertigte Pfeile aufhob. Sogleich ließ er sie in dem neuen Köcher fallen und lächelte bei dem Anblick. Er gab Onatah im Stillen Recht, sein eigentlicher Köcher hatte an einigen Stellen bereits Löcher und es war bisher ein Wunder gewesen, dass er auf der Jagd keinen seiner Pfeile verloren hatte. Lesharo spielte schon lange mit den Gedanken, sich eher um die Aufbewahrung seiner Ausrüstung zu kümmern, als um eben jene selbst. Doch ständig waren ihm Dinge am Pfeil und Bogen aufgefallen, deren Überprüfung Vorrang hatten. Und so war das Herstellen eines neuen Köcher nahezu in Vergessenheit geraten. Das Onatah jedoch sein ramponierter Besitz aufgefallen war, erstaunte ihn und dass sie sich dann noch die Mühe gemacht hatte, ihm etwas Neues zu bauen, erfüllte ihn nahezu mit Stolz. Doch trübte seine aufgehellte Stimmung die Tatsache, dass seine Auserwählte dies nur als freundschaftlichen Dienst getan hatte und es keinen tieferen Sinn in das Geschenk hinein zu interpretieren gab. Lesharo seufzte schwer. Trotz der Gewissheit, dass seine Liebe nicht erwidert wurde, nahm er sich vor, den neuen Köcher stets würdevoll mit sich zu tragen und ein besonders Auge auf dessen Unversehrtheit zu legen. Lächelnd schulterte er sein Geschenk und war überrascht wie angenehm sich das dunkel Fell auf seiner Haut anfühlte, trotz der weiterhin erbarmungslos anhaltenden Hitze. Aber das A’Ewejelles Mitglied schwor sich, dass er den neuen Köcher nicht eher wieder ablegen würde, bis die Jagd am heutigen Tag vorbei sein würde. Um nicht noch mehr Zeit in der prallen Sonne zu vertrödeln, widmete sich Lesharo erneut seinem Bogen und betrachtete die Enden eingehend. Hier und da musste er die Kerben für die neue Tiersehne noch ein wenig weiter einschnitzten und vergrößern. Obwohl es keine allzu anstrengende Arbeit war, spürte der junge Indianer neuen Schweiß auf seiner Stirn, der ihm hin und wieder direkt in die Augen floss. Gefühlt fuhr er sich mit der Hand alle paar Sekunden über eben jene, da das Salz im Schweiß seine Netzhaut reizte. Es brannte und dadurch sah er seinen Bogen teilweise doppelt oder dreifach. Lesharo hatte schon zu Beginn seiner Arbeit die vorwitzigen Strähnen seines schwarzen, schulterlangen Haares nach hinten gebunden, um nicht von diesen immer wieder gestört zu werden. Und nun gab es doch etwas, dass ihn stetig bei seinem Tun belästigte und nach einiger Zeit auch nervte. Dennoch gelang es ihm, zunächst die Bisonsehne in der ersten Kerbe stramm fest zu wickeln, ehe er den Bogen einmal drehte, um dasselbe auch auf der anderen Seite zu machen. Es zeigte sich schnell, dass das helle, elastische Band gerade lang genug war, um die beiden Enden des Bogens miteinander zu verbinden. Als Lesharo zufrieden genug mit dem Ergebnis war, stand er auf und brachte sich in Position, indem er das rechte Bein einen halben Meter vor das andere stellte und leicht in die Knie ging. Den Bogen hielt er direkt vor sich nach vorne gestreckt. Er griff in seinen neuen Köcher, um einen seiner Pfeile zu Tage zu fördern. Diesen spannte er mit dem Ende, wo er auch eine leichte Kerbe eingeschnitzt hatte, direkt gegen die Sehne und zog diese langsam soweit zurück, bis sie unter Spannung stand. Lesharo suchte nach einem geeigneten Ziel, an dem er seine überarbeitete Ausrüstung ausprobieren konnte. Doch gab es nichts weiter als Bäume – wenn er nicht gerade ein Mitglied seines Stammes oder gar ihre Pferde als Übungsobjekt benutzen wollte. „Dann muss ich vorerst eben mit einem Baum vorlieb nehmen“, murmelte Lesharo und kniff das linke Auge zu, um besser das geplante Ziel anvisieren zu können. Er zählte im Stillen bis drei und ließ dann den Pfeil los. Beinahe zu schnell für das menschliche Auge raste die dreißig Zentimeter lange und mit einem spitzen Stein am Ende versehende Waffe direkt auf den Baum zu. Lesharo hob die Hand über die Augen, um besser den Flug seines Pfeils beobachten zu können. Es hatte nicht mal eine gefühlte Sekunde gedauert und der Baum war getroffen. Direkt in die Mitte des gewaltigen Stammes. Zufrieden mit seiner Leistung betrachtete der junge Indianer noch einmal den fertigen Bogen und konnte seine Arbeit damit als erledigt ansehen. Nickend verstaute er nun auch diesen Teil seiner Ausrüstung in dem neuen Köcher und konnte kaum ein stolzes Anschwellen seiner Brust verhindern. Jetzt konnte die Jagd kommen! Beinahe wie aufs Stichwort nahm Lesharo einige Bewegungen vom Stamm aus wahr. Die rund fünfundzwanzig Tipis der A’Ewejelles lagen gerade einmal einen gefühlten Steinwurf von ihm entfernt. Und obwohl die meisten Indianer damit beschäftigt waren, der Sonne zu entkommen, wurde nun der Eindruck erweckt, dass sich einige der Männer des Stammes zum Aufbruch bereit machten. Lesharo spürte wie sein Herz schneller schlug. Er konnte es kaum erwarten, seine Ausrüstung nun auch im Kampf und ins besonderes bei beweglichen Zielen auf ihre Zuverlässigkeit zu überprüfen. Nacheinander traten neun Männer hervor und bewegten sich geradewegs auf Lesharo zu. Nickend gingen sie an ihm vorbei und steuerten einen abgezäunten Bereich an. Zu seiner rechten befanden sich die Pferde des Stammes. Momentan beherbergten sie zwanzig Stück. Nicht jedem Mitglied der A’Ewejelles gehörte ein eigenes, manchmal besaß ein Indianer sogar mehrere und bewies damit besonderes Geschick,  Können und Macht. Wer ein Pferd besaß, konnte einen gewissen Reichtum kundtun, der ihm gerade dann behilflich war, wenn es darum ging, bei der Familie einer Auserwählten um ihre Hand anzuhalten. Der überwiegende Teil der neun Männer hatte das dreißigste Lebensalter bereits hinter sich gelassen, nur zwei von ihnen waren im selben Alter wie Lesharo. Dazu zählte einmal Lootah, ein großer und kräftiger Indianer, der die anderen Jäger gut um einen halben Kopf überragte. Die stark ausgeprägten Muskeln an Armen und Beinen waren selbst unter seiner Kleidung gut zu erkennen. Seit dem letzten Winter gehörte dieser Indianer zu Lesharos Familie, da er seine Schwester zur Frau genommen hatte. In wenigen Monaten würde sie auch schon ihr erstes, gemeinsames Kind zur Welt bringen. In seinen Augen hätte er keinen besseren Schwanger bekommen können. Lootah war trotz seiner erschreckenden Erscheinung ein angenehmer Zeitgenosse und guter Zuhörer. Geduld und Logik gehörten zu seinen Stärken, Lesharo lernte viel von ihm und sah ihn beinahe schon als eine Art Freund an. Das konnte er jedoch nicht von Amar behauptet. Dieser Indianer schritt mit hocherhobenem Haupt an den Schwarzhaarigen vorbei und würdigte ihn keines Blickes. Man konnte mit Recht behaupten, dass sie Rivalen waren. Die gegenseitige Abneigung glich nahezu abgrundtiefen Hass und das nur, weil sie beiden die Besten und Stärksten sein wollten – und dieselbe Frau begehrten. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Amar bereits mit der älteren Schwester von Onatah verheiratet war. Doch war es unübersehbar, dass seine Sehnsucht einer anderen galt. Lesharo befürchtete, dass dem Anderen das Vorrecht galt, was Onatahs Schicksal anging. Da er ihre Schwester bereits als Frau hatte, konnte er sich auch mit ihr vermählen. Eine Vorstellung, die es für Lesharo keinesfalls zu akzeptieren galt.   Der junge Indianer ballte die Fäuste und biss die Zähne zusammen. Niemals würde er Onatah jemanden wie Amar überlassen, vorher würde er lieber sterben, als seine Auserwählte in den Armen des Rivalen zu sehen. Mit diesem Ziel vor Augen schritt er den Männern hinterher. Auf der heutigen Jagd würde er beginnen, dem Anderen zu beweisen, dass er kein leichtes Spiel gegen ihn haben und einsehen würde, dass er keine Chance hatte. Als Lesharo bei den Pferden ankam, waren die anderen Jäger bereits damit beschäftigt, ihre Pferde vorzubereiten. Der junge Indianer brauchte nach seinem Vierbeiner gar nicht erst Ausschau zu halten, da er genau wusste, wo er die Stute finden würde. Enola war das einzige Pferd, das sich der Herde nicht anschließen wollte, daher stand sie die meisten Zeit weit Abseits – im hinteren Teil der abgezäunten Wiese. Lesharo konnte sich nicht erklären, weshalb das Tier dieses Verhalten an Tag legte, doch beobachtete er dies seit dem Moment, als er sie gefangen und hierher gebracht hatte. Mittlerweile war schon ein Jahr vergangen und dennoch zeigte Enola auch ihm gegenüber keinerlei Interesse. Sie ließ sich nur schwer handhaben und jeder Ausritt bewies sich als echte Zerreißprobe ihrer beider Nerven. Die junge Stute hatte einen eigenen Kopf und machte den Eindruck, mit dem Leben in Gefangenschaft sehr unglücklich zu sein. Genau das versuchte der Indianer aber zu ändern, indem er sich nahezu aufopfernd um sie kümmerte. Er wusste, jeder andere hätte Peitschen, Schläge und Gebrüll eingesetzt, um das Pferd zu züchtigen, doch Lesharo hatte nicht vor, sich mit Gewalt Respekt zu verschaffen. Das Tier sollte ihm nicht mit Angst begegnen, sondern mit Wohlwollen. Als Lesharo schließlich bei Enola angekommen war, schnaubte sie und bewegte sich von ihm weg. „Das alte Spiel wieder, hm?“, sprach er lächelnd und streckte furchtlos die Hand nach dem Pferd aus, wissend, dass er jederzeit Gefahr lief, mit einem einzigen Tritt in die ewigen Jagdgründe geschickt zu werden. Beruhigend sprach er auf das Pferd ein, während er sich ihr vorsichtig näherte bis er sie am Hals berührte. Ihre dunkelbraunen Augen sahen ihn direkt an und er konnte keine Aggression in ihnen erkennen, weshalb er sich auch weiter heran traute. Vom Hals strich er über den muskulösen Rücken und klopfte ihr dann auf die Seite. „Es geht auf die Jagd, ich hoffe, du bist bereit.“ Mit diesen Worten wandte sich der junge Indianer wieder von seinem Pferd ab, nur um von der Absperrung eine handgenähte Decke zu holen. Erneut wich Enola einen Schritt zur Seite, ließ es jedoch zu, dass er ihr den Überzug auf den Rücken legte. Sanft strich er über den Stoff, sodass er keine Falten warf. Anschließend holte er auch ein aus Kordeln geknotetes Zaumzeug und legte die kleinere der beiden Schlaufen über ihre Nüstern und während er die größere über ihre Ohren zog, musste er auf den Zehenspitzen stehen. „Geschafft“, murmelte er und schaute seiner Stute in die Augen, „wirklich gut gemacht.“ Mit einem Blick über seine Schulter vergewisserte sich Lesharo, wie weit die anderen Jäger waren und beobachtete wie sie sich nun alle nach und nach auf ihre Pferde schwangen. Der älteste und erfahrenste Indianer machte eine winkelnde Handbewegung und wollte sie somit alle zu sich rufen. Lesharo wandte sich wieder an Enola, trat an ihre Seite, stützte sich mit den Händen auf ihrem Rücken ab und ging in die Knie. Mit einem kräftigen Satz sprang er in die Luft und schaffte es, sein rechtes Bein über ihre Körpermitte zu schlingen. Seine Sitzposition musste er nur wenig korrigieren. Um zu den anderen aufzuschließen, griff der junge Indianer nach dem Zügel und stieß mit seiner linken Hacke in die Flanke seines Pferdes. Enola schritt vorwärts und mit Hilfe von Lesharos Lenkung bewegte sich die Stute direkt auf die kleine Gruppe der Männer zu. Mit einem weiteren Zug am Zügel und einem „Halt“, von dem jungen Indianer, blieb das Pferd stehen. „Da wir nun vollzählig sind, sollten wir unser heutiges Vorgehen besprechen“, sprach Chesmu, der Älteste von ihnen und sah jedem Jäger einmal direkt ins Gesicht, „die große Hitze wird uns die Jagd nicht gerade erleichtern, daher schlage ich vor, dass wir uns aufteilen. Vier von uns nähern sich von hinten an die Bisonherde, zwei schleichen sich links und rechts heran und die letzten zwei werden von vorne kommen, sodass die Tiere nahezu in der Falle sitzen. Wir müssen ihre Trägheit ausnutzen und mit einem einzigen Angriff Beute machen. Die Sonne gibt uns keine zweite Chance.“ Während Chesmu sprach, hingen Lesharos Augen geradezu an dessen Lippen. Obwohl der junge Indianer bereits einige Mal mit dem Anderen auf der Jagd war, erschauderte ihn immer noch die tiefe und kräftige Stimme. Aus ihr sprach die Erfahrung der letzten zwei Jahrzehnte. Auch, so glaubte Lesharo, konnte er zu gleichen Anteilen Kummer und Stolz heraushören. Daher verwunderte es ihn nicht, dass keiner der anderen Jäger gegen den Schlachtplan protestierte. Er war perfekt. Die Sonne brannte nach wie vor erbarmungslos auf sie nieder, weshalb es nur verständlich schien, die Bisons einzukreisen und dann erst anzugreifen. Die Tiere würden keine Möglichkeit haben, allzu weit wegzulaufen und somit den Indianer auch keine unnötigen Kraftreserven zu rauben. Und mit den Worten „… Lesharo und Amar werden die Herde von vorne angreifen“, wurde der junge Indianer je aus seinen Gedanken gerissen. Zunächst unsicher, ob er das eben gesagt richtig verstanden hatte, blickte er Chesmu an, ehe seine Augen zu Amar ihm gegenüber glitten. Dessen finsterer Gesichtsausdruck schien genau das widerzuspiegeln, was Lesahro mit dem Begreifen der ausgesprochenen Worte empfand. Niemals würde er mit dem anderen Indianer ein Team bilden, selbst dann nicht, wenn er kurz vor dem Verhungern stehen würde. „Chesmus“, wollte der Schwarzhaarige widersprechen, wurde jedoch sofort mit einer Handbewegung des Älteren unterbrochen. „Keine Widerworte, an dem Plan wird sich nichts mehr ändern“, und an die anderen gewandt, sprach der erfahrene Jäger, „wenn keine Fragen mehr vorliegen, sollten wir uns allmählich auf den Weg machen.“ Keiner der anderen A’Ewejelles Mitglieder erweckte den Eindruck etwas sagen zu wollen, daher gab Chesmus das Tempo vor und nacheinander trabten die Indianer auf ihren Pferden Richtung Steppe. Lesharo zögerte und sein Rivale tat es ihm gleich. Sie sahen sich lange in die Augen, ohne das einer von ihnen auch nur ein einziges Wort sprach. Amar war jedoch der Erste, der das Schweige brach. „Sie gehört mir.“ „Sprich nicht von ihr, als wäre sie ein Gegenstand!“, zischte Lesharo zwischen zusammengebissenen Zähnen, „Onatah hat einen eigenen Willen und wenn Gott will, entscheidet sie sich für den Richtigen.“ „So spricht nur ein Verlierer“, gab Amar herablassend von sich. Kaum das die Worte ausgesprochen waren, erschien auf dessen Gesicht ein Lächeln. „Wir sollten die heutige Jagd nutzen, um herauszufinden, wer würdig genug ist, Onatah zur Frau nehmen zu können.“ „Eine Art Wettbewerb?“, fragte der junge Indianer nahezu angewidert. Er konnte nicht fassen, dass der Andere ein Spiel daraus veranstaltete, wer um die Hand ihrer Auserwählten anhalten durfte. Einerseits war Lesahro standhaft der Meinung nicht so tief gesunken zu sein, sich auf so etwas einzulassen, aber andererseits… er könnte nicht nur beweisen, stärker zu sein als Amar, er würde damit sogar ein Anrecht auf Onatah bekommen. Wenn das alles nicht so schrecklich egoistisch klingen würde, müsste der Schwarzhaarige nicht mit seinem Gewissen hadern. Das Lachen Amars holte ihn aus seinen Überlegungen zurück. „Was ist nun? Bist du etwa zu feige eine solche Herausforderung anzunehmen? Ich hätte es mir eigentlich denken können, so jemand wie du…“ „Abgemacht!“, rief Lesharo einwilligend, „Der Stärkere gewinnt.“ „Vielleicht bist du ja doch kein so großer Feigling wie ich immer dachte.“ Lesharo beobachtete, wie der Andere seinem Pferd kräftig in die Flanken trat und den Jägern des Stammes hinterher galoppierte. Kurzzeitig bekam Lesharo Gewissensbissen und starrten gen Horizont. Die Sonne brannte nach wie vor erbarmungslos vom Himmel und noch immer war keine einzige Wolke zu sehen. Allerdings erkannte er etwas anderes. In weiter Ferne schien Rauch aufzusteigen. Zunächst glaubte der junge Indianer, dass seine Augen ihm einen Streich spielten, als er jedoch die Hand schützend über jene hielt und mehrmals blinzelte, war er sich absolut sicher. Da war dunkler Qualm zu sehen, doch konnte er nicht sagen, woher dieser rührte. Die einzige Möglichkeit, die ihm in den Sinn kam, war, dass der Nachbarstamm, der gut einen Tagesritt entfernt lag ein großes Lagerfeuer gelegt hatte. Obwohl Lesharo diese Erklärung mehr als glaubhaft erschien, verwunderte ihn eindeutig die Tageszeit. Wieso sollten die Eyaky ausgerechnet jetzt ein Feuer benötigen, wo doch die Sonne mehr als stark genug auf sie nieder brannte? Ihm fiel keine Lösung ein und dennoch hielt er diese mehr als rätselhafte Tatsache für ein schlechtes Omen. Lesharo hob den Kopf noch ein bisschen mehr, sodass er fast in die Sonne blickte. „Ich muss das hier schaffen“, flüsterte er, „aber das kann ich nur mit deiner Hilfe, bitte, lieber Gott.“ Ohne Hoffnung auf eine Antwort setzte sich nun auch Lesharo in Bewegung und folgte mit seinem Pferd den Männern, die in der Ferne nur noch als schwarze Punkte zu erkennen waren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)