Blind von SeishiroSumeragi (Holly x Rico) ================================================================================ Kapitel 11: Revenge of the fallen --------------------------------- Reichlich verwirrt blieb Holly zurück und wurde erst durch Micha aus seinen Gedanken gerissen. Die Einladung auf ein Feierabendbier nahm er gern an, denn ein wenig Ablenkung würde jetzt sicher gut tun. Vielleicht würde er nachher, mit etwas Distanz zu den Geschehnissen, eine plausible Erklärung für Ricos plötzlichen Sinneswandel und sein Verhalten finden. Aber im Moment beherrschten sein Inneres vor allem zwei Gefühle: Verwirrung und Enttäuschung. Eine denkbar schlechte Mischung, um auf die Lösung einer psychologisch verankerten Frage zu kommen. Während Benni, Rico und David sich entschuldigten, gingen die anderen vier Mitglieder der Instanz gemeinsam in eine Bar. Wie sich herausstellte, war es wirklich eine gute Idee gewesen, der Einladung zuzustimmen, denn so konnte Holly wenigstens für ein paar Stunden seine trüben Gedanken vergessen. Als er sich abends dann jedoch von den anderen Jungs verabschiedet hatte, geriet er wieder ins Grübeln. Er lief noch eine Weile nachdenklich durch die Straßen und kam letztlich zu dem Schluss, dass Ricos distanziertes und kühles Verhalten ihm gegenüber wohl einfach seine Art war, mit der Situation umzugehen und damit klarzukommen. Immerhin machte er dem Sänger so jedes Mal aufs Neue deutlich, dass er nichts weiter mit ihm zu tun haben wollte. Holly seufzte. Hoffentlich würde weder die Arbeit am Album, noch ihre Tournee darunter leiden. Aber andererseits… wenn sie sich jetzt aufgrund der Aufnahmen, Proben und Vorbereitungen ständig sahen, würde sich das sicher nach einer Weile wieder geben. Und dann konnte er bestimmt auch in Ruhe mit dem Violinisten reden. Dieser kleine Hoffnungsschimmer zauberte ein leichtes Lächeln auf das Gesicht des Sängers. Es war wie ein Licht am Ende eines sehr langen Tunnels.… Doch weit gefehlt! Holly ahnte noch nicht, dass er damit so falsch lag, wie die alten Gelehrten mit ihrer Vermutung, die Erde sei eine Scheibe. Denn wie sich schnell herausstellte, änderte sich das Verhalten des Violinisten nicht ein bisschen. Während der Produktion von „Ewig“ ließ er Holly weiter schmoren, indem er so tat, als sei nie etwas gewesen und gleichzeitig geschickt jeden Körperkontakt und jedes Gespräch unter vier Augen vermied. Inzwischen kam es zwar sogar mal vor, dass die beiden miteinander telefonierten; doch die Anrufe waren kurz und prägnant und ausschließlich auf die Arbeit am Album und ihre Tour bezogen. Private Dinge – selbst Smalltalk – waren eine Seltenheit und Holly wagte es nicht, den Abend noch einmal anzusprechen. Der Sänger war froh, überhaupt wieder mit Rico sprechen zu können. Diesmal wollte er es nicht erneut versauen! Also: kein überflüssiges Risiko. Wenn der Moment gekommen war, den Abend gefahrlos ansprechen zu können, würde Holly das schon merken. Das hoffte er zumindest. Doch auch die folgenden Interviews, Pressekonferenzen, Fotoshootings und Videodrehs wurden zu einer einzigen Zerreißprobe für den Sänger; denn scheinbar hatte Rico es sich zur Aufgabe gemacht, ihn endgültig aus der Fassung zu bringen. Sobald sie in der Öffentlichkeit bzw. vor einer Kamera oder einem Mikrofon waren, war der Dunkelhaarige nicht gerade zimperlich, was den sonst so hartnäckig vermiedenen Körperkontakt anging und auch mit leicht zweideutigen Bemerkungen sparte er nicht. Anfangs dachte Holly noch, dass nun vielleicht doch das Eis ein wenig gebrochen sei und der Violinist manch Zweideutigkeit schlicht nicht bemerken würde; aber er realisierte schnell, dass er sich auch damit täuschte. Der sonst eher zurückhaltende und schüchterne Rico schaffte es irgendwie, einerseits immer noch der Ruhigere zu sein und doch – wann immer es passte – das Gesagte zu kommentieren, sich an Holly ranzuschmeißen oder ihn wie zufällig zu berühren, sodass dieser völlig aus dem Konzept gebracht wurde und alle Mühe hatte, sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Langsam verstand der Sänger wirklich gar nichts mehr… Wie schaffte es Rico, privat bzw. wenn sie unter sich waren, so kalt und abweisend und in aller Öffentlichkeit derart provokativ und anhänglich zu sein? Natürlich genoss Holly die Berührungen und die Nähe; doch gleichzeitig verletzten sie ihn auch. Denn er wusste nicht, aus welchen Beweggründen Rico handelte und langsam kam ihm immer mehr der ungute Verdacht, dass es eine Art Rache war… für das, was er getan hatte, womit er Rico verletzt hatte. Was auch immer das sein mochte. Doch momentan machte ihm eine ganz andere Frage zu schaffen: Wie lange wollte Rico das durchziehen und wie lange würde er selbst es aushalten? Kurz vor Tourneebeginn unternahm er einen erneuten Versuch, mit Rico zu reden. Denn das Verhalten des Dunkelhaarigen verunsicherte ihn zunehmend. Und vergrößerte zudem sein schlechtes Gewissen und seine Qual – Tag für Tag. Er wollte diesen Abgrund, der sich mittlerweile unübersehbar zwischen ihnen aufgetan hatte, endlich überwinden; wollte wissen, was mit Rico los war und endlich alles klären. Doch wieder scheiterte sein Versuch an der Distanziertheit des Violinisten, die er offensichtlich nicht ablegen wollte. Holly machte sich indes beträchtliche Sorgen, ob er die Tour unter diesen Umständen durchstehen würde und ob die anderen nicht inzwischen mitbekommen hatte, dass da irgendetwas nicht stimmte. Das wäre zwar prinzipiell nicht schlimm und eigentlich konnte Holly jede Hilfe nur Recht sein, doch andererseits waren Vermittler wohl das letzte, was sie gebrauchen konnten. Am Ende würde Rico noch denken, der Sänger hätte seine Bandkollegen dazu überredet, mit ihm zu sprechen… und das würde die Sache gewiss nur verschlimmern. Also war dieser Weg schon mal keine Option. Doch ehe er sich eine andere Möglichkeit hatte einfallen lassen, war auch schon Koffer packen angesagt. Seufzend warf er alles, was er brauchen würde, in seine Tasche und sah zu einem Foto, das die Band auf ihrem Kurztrip nach China zeigte. Sie alle grinsten ihm gut gelaunt entgegen. Traurig nahm er das Bild in die Hand und betrachtete es eine Weile. Das war wirklich eine angenehme und schöne Zeit gewesen… Erneut seufzend stellte er den Bilderrahmen wieder hin. Es brachte ihn nicht weiter, wenn er in der Vergangenheit lebte – seine Tasche packte sich immerhin nicht von selbst. Also wandte er sich wieder seinem Kleiderschrank zu und zog ein paar T-Shirts daraus hervor. Unter die sonst immer vorhandene Aufregung und Vorfreude auf die Tour mischte sich diesmal ein bitterer Beigeschmack der Nervosität. Es war diese unangenehme Art der Ruhelosigkeit, wenn man genau wusste, dass da noch etwas war, dass man unbedingt erledigen musste. Etwas, das man aber am liebsten schon längst hinter sich gebracht hätte, weil klar war, dass es nicht besonders angenehm werden würde. Am nächsten Tag zogen die Mitglieder der Instanz einmal mehr vorübergehend in den Nightliner und stellten sich darauf ein, die nächste Zeit miteinander auf engstem Raum zu verbringen. Mit anderen Worten: es würde noch schwerer für Holly werden, in Ruhe mit Rico zu reden und wahrscheinlich noch komplizierter, wenn der Dunkelhaarige seinen bisherigen Kurs beibehalten und ihm derart distanziert gegenüber treten würde. Holly seufzte innerlich bei diesem Gedanken und verstaute seine Tasche im Schlafabteil des Busses. Es war wohl das Beste, die Dinge erst einmal auf sich zukommen zu lassen und abzuwarten, was passieren würde. Sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen, wie Rico sich ihm gegenüber unter diesen Umständen verhalten würde, war eh aussichtslos. Doch wenn der Sänger dachte, dass es nicht noch schlimmer kommen könnte, so hatte er sich gründlich getäuscht, wie er schnell feststellen musste. Bereits die ersten Shows bewiesen ihm, dass Rico wohl nicht so schnell bereit war, mit ihm zu sprechen. Die beiden waren auf der Bühne ja immer schon recht anhänglich und tanzten miteinander, zogen sich gegenseitig aus oder spielten aneinander herum. Doch der Violinist trieb dieses Spielchen nun scheinbar mit dem größten Vergnügen auf die Spitze. Bei jeder sich auch nur im Ansatz bietenden Gelegenheit warf er dem Sänger Blicke zu, bei denen dieser unter anderen Umständen – sprich: wenn sie allein zu hause oder in einem Hotelzimmer gewesen wären – Rico sofort flachgelegt und durchgenommen hätte. Auch hatte er das Gefühl, dass sowohl die „zufälligen“ als auch die provokanteren Berührungen zunahmen. Ganz zu schweigen davon, dass er ihn noch öfter antanzte und sich scheinbar nur noch zwischen dem Sänger und Benni hin und her bewegte… Mit all dem wäre Holly ja noch irgendwie klargekommen, denn natürlich reizten ihn derartige Blicke und Berührungen und auch die Nähe zu dem Violinisten war durchaus angenehm. Doch leider blockte er immer noch ab, sobald sie die Bühne verlassen hatten. Und er beschäftigte sich, wie Holly auffiel, sehr ausgiebig mit den Jungs von Lord of the Lost. Der Sänger hatte das Gefühl, dass selbst Benni mehr Aufmerksamkeit als sonst erfuhr und langsam verhärtete sich sein Verdacht, der schon seit dem Telefonat mit dem Cellisten in seinem Unterbewusstsein verankert war: Konnte es sein, dass Rico und Benni eine Affäre hatten? Zwar hatte der Cellist vor kurzem eine Freundin gehabt, aber das musste nichts heißen. Außerdem hatten sie sich inzwischen getrennt – den Grund dafür kannte er nicht. Aber vielleicht war es Rico gewesen… Immerhin kannten sich die beiden Streicher schon seit einer halben Ewigkeit und hatten viel zusammen erlebt und durchgemacht. So abwegig war dieser Gedanke also gar nicht. Und je länger er sie still beobachtete, desto öfter sah er die kurzen Blicke, die so viel bedeuten konnten, die flüchtigen Berührungen und die ständige Nähe zwischen ihnen… Prinzipiell hatte er ja kein Problem damit – wenn es nur nicht gerade um Rico gehen würde. Und wenn dadurch nicht so viele andere Fragen aufgeworfen werden würden. So wie Rico sich benahm bzw. benommen hatte und mit der jetzigen Erkenntnis, dass er wohl wirklich schwul war, schien es nahezu sicher, dass er Gefühle für Holly gehabt hatte. Wie weit diese wirklich gingen, wusste der Sänger nicht; schließlich hatte er jahrelang geglaubt, dass er sich diesbezüglich nie Hoffnung machen dürfte und Rico in ihm nichts weiter als einen guten Freund mit gewissen Vorzügen und gleichzeitig einen sehr wichtigen Menschen in seinem Leben sah. Das bedeutete dem Sänger viel und er wusste es zu schätzen, dass Rico ihn derart respektierte und sich immer um ihn sorgte. Allerdings hätte er nie gedacht, dass da vielleicht mehr sein könnte. Sein derzeitiges Verhalten ließ jedoch kaum einen anderen Schluss zu. Das Problem war nur: jetzt war es zu spät. Er hatte sich Benni zugewandt, denn der Sänger hatte ihn verletzt. Durch seine eigene Dummheit hatte er den Menschen verletzt, der ihm am meisten am Herzen lag. Wie konnte er nur so blind sein?! Rico schien darüber hinaus auch noch sehr glücklich zu sein, was zwar im Grunde das war, was Holly wollte, doch unter diesen Umständen fiel es ihm schwer, sich für den Violinisten zu freuen. Denn dieser schien sich nun an ihm rächen zu wollen, indem er ihm zeigte, wie es war, verletzt zu werden. Und das nicht nur mit Benni. Auch Chris und seine Jungs waren um Zweideutigkeiten und versaute Sprüche nie verlegen und Rico schien neuerdings ziemlich angetan davon zu sein. Er ging im Verlaufe der Tour immer mehr auf die Kommentare vom Lord und seiner Band ein und es dauerte nicht lange, bis er sogar „mitspielte“. Besonders Chris schien es ihm angetan zu haben, denn man sah die beiden oft zusammen. Das wiederum überraschte Holly ein wenig, denn entweder war der Dunkelhaarige sehr sprunghaft oder er hatte eine offene Beziehung mit Benni. Beides passte so überhaupt gar nicht zu dem Rico, den er kannte. Doch da er auch das Verhalten des Violinisten kaum noch einschätzen konnte, sollte ihn wohl auch das nicht mehr wundern – immerhin hätte er auch nie geglaubt, dass Rico es durchziehen würde, ihn derart zu ignorieren und ihm nicht mal eine kleine Chance zu lassen, ordentlich mit ihm zu reden. Das war es nämlich, was Holly trotz aller Vorbehalte, wie der Dunkelhaarige reagieren würde, immer wieder versuchte. Aber wie sollte er es auch schaffen, ihn unter vier Augen zu sprechen, wenn er mit circa einem Dutzend anderen Kerlen unterwegs war, von denen mindestens einer scheinbar immer anwesend waren? Als er eines Nachts im Nightliner lag, die Decke anstarrte und über die bisherige Tour nachdachte, während die restliche Band schlief, beschlich ihn sogar das seltsame Gefühl, dass Chris und Benni scheinbar nie von Ricos Seite wichen – mindestens einer der beiden war eigentlich immer da. Konnte das wirklich nur Zufall sein oder sorgten der Lord oder der Cellist absichtlich dafür, dass Rico nie allein mit Holly war? Lautlos seufzend drehte sich der Sänger auf die Seite. Er würde wirklich mit dem Violinisten reden müssen, wenn die Tour vorbei war – koste es, was es wolle. Auch wenn er noch keine Ahnung hatte, wie er das machen sollte… Viel Zeit zum Überlegen hatte er nicht mal mehr, denn inzwischen war das Tourfinale quasi schon in Sichtweite. Doch zuvor musste Holly erstmal die letzten Gigs, Stadtbummel und Barbesuche überstehen, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Leichter gesagt, als getan, wie sich herausstellte. Denn je näher sie dem finalen Gig in Berlin kamen, desto mehr schien Rico es darauf anzulegen, ihn vollends durchdrehen zu lassen. Einmal betrat er nichtsahnend den Backstage-Bereich eines Clubs und fand den Violinisten auf der Couch in Chris' Armen vor. Die beiden schienen gerade nicht unbedingt nur beim Kuscheln zu sein. Hinter ihm kamen auch Disco und Class herein. „Boah, sucht euch ein eigenes Zimmer.“, meinte der Drumer von Lord of the Lost grinsend und verdrehte die Augen. „Mach doch mit, Disco. Dann stört's dich nicht mehr. Die beiden werden wohl kaum was einzuwenden haben.“ „Au ja!“ Mit sichtlicher Freude huschte Disco an dem Sänger der Instanz vorbei und warf sich schwungvoll zu Chris und Rico auf die Couch, die gefährlich knarzte. „Nicht so stürmisch.“ Auch Rico grinste, jedoch nur so lange, bis der Drumer quasi genau auf ihm landete und ihm die Luft wegblieb. „Mein Gott… bist du atemberaubend.“ „Ohh… machst du jetzt ihm schöne Augen?“, schaltete sich nun auch Chris ein und bedachte den Violinisten mit einem Blick wie von einem ausgesetzten Welpen. „Und was ist mit mir?“ „Keine Sorge, dich würde ich doch niemals ignorieren.“ Spielerisch strich er dem Sänger durchs Haar. Class hielt sich indes den Bauch vor Lachen, während Gared reinkam, eine Augenbraue hob und den Haufen auf dem Sofa betrachtete. „Treiben die's schon wieder am helllichten Tag?“ Holly fragte sich ernsthaft, wie er es schaffte, eine solche Frage derart trocken rüberzubringen. Noch dazu, wenn sich sein Bandkollege neben ihm vor Lachen nicht mehr einkriegte. Der Sänger der Instanz war jedenfalls verdammt froh, in dem Moment von Oli gerufen zu werden und somit eine Ausrede zu haben, wieder zu verschwinden. An dieser Szene würde er wohl noch lange zu knabbern haben… aber er war ja selbst schuld. Warum war er all die Zeit auch so blind gewesen? Als dann der Gig in Berlin anstand, war Holly fast endgültig fertig mit den Nerven. Inzwischen hatte mehrere Bandmitglieder gefragt, ob er über irgendetwas reden wolle, doch er hatte jedes Mal dankend abgelehnt. Was hätte er auch sagen sollen? Er konnte nicht erwarten, dass die anderen so tolerant waren und er wusste nicht, wie oder wo er anfangen sollte. Immerhin war das ein ziemlich heikles Thema – nicht nur, dass er in einen Bandkollegen verliebt war, er war darüber hinaus auch noch schwul… Inzwischen bereute er es jedoch, sich niemandem anvertraut zu haben; er hatte das Gefühl, kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen und wahrscheinlich würde es auch so kommen, wenn er nicht schleunigst etwas unternahm. Aber einen Hoffnungsschimmer gab es: sie waren bereits auf dem Weg nach Berlin und das hieß, ihr letzter Gig stand bevor. In seiner Heimat. Er konnte also nach dem Konzert nach Hause in seine Wohnung fahren und sich überlegen, wie er die Sache mit Rico am besten angehen sollte, ohne ihn noch mehr zu reizen oder zu verletzen. Immerhin waren all seine vorherigen Versuche, ein vernünftiges Gespräch mit ihm zu führen, gescheitert… Doch als es schließlich soweit war und sich das Kesselhaus in Berlin allmählich füllte, hatte er immer noch keinen Ansatz gefunden, wie er an Rico herankommen oder überhaupt zu ihm durchkommen sollte. Doch wenn der Violinist erst mal wieder in Dresden war, würde es wohl noch schwerer werden. Andererseits: vor dem Konzert mit ihm zu reden, wäre eine ziemlich schwachsinnige Idee – immerhin wusste er nicht, wie das Gespräch laufen würde und im schlimmsten Fall wäre der gesamte Gig in Gefahr. Das durfte er nicht zulassen; es ging schließlich um das große Finale ihrer Tournee. Persönliche Probleme hatten auf der Bühne nun mal nichts verloren – ihre Fans hatten immerhin Geld für das Konzert ausgegeben und wollten dafür eine ordentliche Show sehen. Und die sollten sie kriegen! Egal, was Holly gerade durchmachte. Seufzend ließ er sich in einen Sessel fallen. Er würde das schon irgendwie hinkriegen. „Hey, alles klar?“ Holly D. setzte sich zu ihm. „Ja, alles in Ordnung. Geht nur echt schnell rum die Zeit, was?“ „Stimmt. Das ist schon wieder unser letzter Gig… kommt einem immer gar nicht so lang vor.“ „Kannst du laut sagen.“ Plötzlich hörte man die Fans in der Halle kreischen. „Ich glaub, es geht los.“, meinte Bo auf einmal, der gerade aus dem Bad kam. „Rockt die Bude und heizt denen mal ordentlich ein.“, antwortete Holly D. „Dann langweilen sie sich am Ende bei euch.“ Der Gitarrist von Lord of the Lost grinste. „Keine Sorge, wir werden ihnen schon zeigen, wer die bessere Band ist.“ Alle lachten. „Viel Spaß.“ Damit verschwand Bo zusammen mit seinen Bandkollegen auf der Bühne. Die Mitglieder der Instanz vertrieben sich während des Auftrittes ihrer Vorband die Zeit mit belanglosem Smalltalk. Als aus dem Zuschauerraum besonders lautes, vornehmlich weibliches Kreischen zu hören war, konnte Holly seine Neugier nicht unterdrücken und ging zum Bühnenaufgang. Er war ohnehin gerade ein wenig unstet hin und her gelaufen, um seine Nervosität zu bekämpfen und da Rico momentan auf der Bühne bei den Jungs von Lord of the Lost war, wollte er natürlich erst recht wissen, was da vor sich ging. Doch was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Stocksteif stand er da, nicht im Stande sich zu rühren und starrte auf die Szene, die sich ihm bot: Rico schien Chris und seinen Jungs gerade eine wunderschöne „Kriegsbemalung“ verpasst zu haben und nun küssten sich die beiden vor aller Augen. Und das nicht etwa schüchtern und zurückhaltend, sondern sehr leidenschaftlich und intensiv… und wie es Holly vorkam minutenlang. Er hatte es sich also wirklich nicht eingebildet – die Zweideutigkeiten, die Berührungen, die Blicke, die Nähe, das aneinander Rumspielen. Der Sänger spürte, wie seine Knie nachgaben. Panisch griff er nach dem Geländer, um sich festzuhalten. Er durfte nicht zusammenbrechen, nicht jetzt. Nicht kurz vor ihrem eigenen Auftritt. Das musste bis danach warten. Doch Holly hatte keine Ahnung, ob er den Gig durchstehen würde – irgendwie hatte er es bisher immer geschafft, all das auszublenden, wenn er auf der Bühne stand. Aber diese Provokation war einfach zu viel. Rico hatte es tatsächlich geschafft; er hatte ihn gebrochen… und er hatte eine derart starke Welle der Eifersucht in Holly ausgelöst, dass dieser über sich selbst schockiert war. Er hätte nie gedacht, dass er auf jemanden so extrem eifersüchtig sein könnte – besonders da ihm klar war, dass Chris nichts dafür konnte. Selbst Rico konnte er keine Schuld geben; immerhin hätte er das alles haben können, wenn er nur viel früher den Mund aufgemacht hätte. Wenn er sich nur getraut hätte, etwas zu sagen. Doch er hatte damals zu viel Angst gehabt – um die Band und darum, dass Rico ihn vielleicht verabscheuen würde… Zwei gute und für ihn völlig ausreichende Gründe, um zu schweigen. Und wie sich jetzt herausgestellt hatte zwei ebenso fatale Irrtümer. Dennoch konnte er das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, nicht bekämpfen. Er selbst küsste Rico so selten. Nur beim Sex um genau zu sein. Und das war Ewigkeiten her. Es schien ein anderes Leben zu sein, in dem er noch mit Rico geschlafen hatte; denn seit dem Unfall hatten sie nicht einmal mehr eine Andeutung in diese Richtung gemacht und Holly wollte Rico auch nie zu irgendetwas drängen. Dazu hatte er die schöne Zeit mit ihm zu sehr genossen. Doch jetzt wurde ihm umso deutlicher bewusst, wie sehr er die Berührungen des Violinisten vermisste. Dessen sanfte Haut, die Küsse, die verführerischen, warmherzigen Blicke, sein Stöhnen… All das erschien ihm nun so unsagbar weit weg, sodass er Angst hatte auch noch die Erinnerung daran zu verlieren. Trotzdem musste er sich zusammenreißen. Er hatte gleich ein Konzert zu spielen und da durfte er sich nicht anmerken lassen, wie fertig er war. Dafür hatte er Zeit, wenn er zu hause in seiner Wohnung sein würde. Allein. Wahrscheinlich für immer. Denn nun lag die Antwort für ihn klar auf der Hand: er würde nicht versuchen, irgendwie ein Gespräch mit Rico zu erzwingen. Er würde ihn anrufen, sich entschuldigen und ihm viel Glück wünschen; auch wenn es ihm schwer fiel, aber sein einziger und innigster Wunsch war schon immer gewesen, dass Rico glücklich werden würde. Danach würde dann wohl die schwerste Zeit für ihn anbrechen. Die, in der er darüber hinwegkommen und lernen müsste, damit zu leben. Wahrscheinlich würde es ziemlich lange dauern, aber das hatte sich Holly selbst zuzuschreiben. Trotz dieser nun auf seiner Seele ruhenden Last schaffte er es irgendwie, so zu tun, als sei alles okay und brachte sogar den Auftritt gut über die Bühne. Auch der anschließende „Fanservice“, die vielen Fragen, Fotos und Unterschriften meisterte er – immerhin waren sie eine willkommene Ablenkung, denn etwas Konzentration auf die Fans war schon erforderlich. Anschließend hieß es abbauen, zusammenpacken und Abschied nehmen. Doch nachdem alles im Nightliner verstaut war, mussten erst mal alle Bandmitglieder der Instanz und von Lord of the Lost gefunden werden. Sonst konnte man sich schlecht voneinander verabschieden. Holly ging gerade noch einmal in den Backstage-Bereich, um seine restliche Band zu suchen, als die Tür zum Bad aufging. Mitten in der Bewegung hielt der Sänger inne und starrte auf die Tür. Heraus kamen Chris und ein etwas verwuschelter Rico… Die Stimme Gareds, der seinen Sänger zu sich rief, nahm Holly nur halb wahr. Sein Blick war auf den dunkelhaarigen Violinisten gerichtet, der sich nun mit einer Hand durch die Haare fuhr. Chris flüsterte ihm etwas ins Ohr, was Holly nicht verstand und ging dann zu Gared. Der Sänger der Instanz stand indes immer noch wie angewurzelt da. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)