Blind von SeishiroSumeragi (Holly x Rico) ================================================================================ Kapitel 10: Highway to Hell --------------------------- Während Rico am nächsten Morgen noch überlegte, was er zum Frühstück essen sollte, klingelte erneut sein Telefon. Er hatte es nach dem Aufstehen wieder angeschlossen – immerhin gab es noch andere Leute, die ihn eventuell erreichen wollten. Allerdings konnte er sich kaum vorstellen, dass um diese Zeit jemand anderes anrufen würde. Entnervt seufzte er und verdrehte die Augen. Er hatte keine Lust, ranzugehen – seine Nachricht gestern sollte eigentlich unmissverständlich gewesen sein. Stattdessen warf er erneut einen Blick in seinen ziemlich leeren Kühlschrank und unterdrückte ein Gähnen. Der Violinist hatte nicht nur (mal wieder) ziemlich schlecht und wenig geschlafen, sondern auch noch vor seiner Abreise zu Holly alle schnell verderblichen Dinge entweder aufgegessen, sie mit zu dem Sänger genommen oder weggeschmissen. Er würde wohl erst einkaufen gehen müssen, bevor er ordentlich frühstücken konnte. Als dann jedoch der nervige Piepton des Anrufbeantworters erklang, erinnerte er sich daran, dass er diesen vorübergehend ausschalten sollte. Wenn jemand anrief, würde er an der Nummer erkennen, ob es Holly war oder nicht. Doch die Stimme, die dann zu hören war, war nicht die des Sängers. „Hey, Rico. Benni hier. Ich hab versucht, dich auf dem Handy zu erreichen. Alles okay bei-“ Weiter kam er nicht, denn der Violinist rannte ins Wohnzimmer und drückte eilends die grüne Taste seines Telefons. „Benni?“, fragte er hastig. „Tut mir leid, ich dachte, jemand anderes würde anrufen.“ „Ist doch nicht so wild. Ich wollte bloß fragen, ob bei dir alles in Ordnung ist… und ob du reden willst.“ Rico schluckte. Er wusste, wie gut der Cellist ihn kannte und konnte mit ihm immer über alles reden. Dass er auch jetzt wieder ein feines Gespür dafür hatte, dass der Dunkelhaarige offensichtlich etwas auf dem Herzen hatte, bewies nur einmal mehr, wie sehr sich die beiden auch ohne Worte verstanden. „Kann ich vorbeikommen?“, fragte Rico deshalb leise. „Da brauchst du doch nicht fragen. Meine Tür steht immer für dich offen – das weißt du doch.“ Er konnte förmlich hören, wie Benni am anderen Ende der Leitung lächelte. „Ich muss nur vorher einkaufen gehen. Mein Kühlschrank ist leer und ich hab noch nichts gegessen.“ Rico seufzte. Es war immer wieder erstaunlich, wie schnell er sich entspannte, wenn er mit dem anderen Streicher der Band redete. „Das ist nicht so schlimm. Komm einfach vorbei, ich hab auch noch nicht gefrühstückt. Ich mach uns beiden was. Einkaufen können wir danach immer noch.“ Als Rico bei Benni ankam, erwartete dieser ihn schon. Lächelnd begrüßte der Cellist seinen Bandkollegen und nahm ihn in den Arm. Sie kannten einander schon so lange, dass Rico jede Sekunde mit dem anderen genoss. Besonders in Situationen wie dieser. Und scheinbar entging Benni das nicht, denn er hielt ihn noch einen Moment länger im Arm als gewöhnlich. „Wollen wir erst mal in Ruhe essen?“, fragte der Cellist dann. Rico nickte und so setzten sich die beiden an den bereits gedeckten Tisch. Während sie aßen, berichtete der Violinist grob, was in der Zeit während Hollys Krankenhausaufenthalts und danach passiert war und kam schließlich zu dem Abend, der alles verändert hatte. Der Cellist kannte inzwischen die meisten Geschichten, die seinen langjährigen Freund und den Sänger betrafen, denn natürlich war ihm nicht entgangen, dass Ricos Verhalten sich veränderte, nachdem Holly eine Weile in der Band war. Er hatte ihn am Abend nach dem Unfall darauf angesprochen. Rico erzählte ihm, wie er anfangs seine eigenen Gefühle noch geleugnet hatte – so lange, bis er sich selbst nicht mehr belügen konnte und sich eingestehen musste, dass er den Sänger liebte… Und so wusste der Cellist natürlich auch, dass die beiden hin und wieder miteinander ins Bett gingen. Doch er stand dem Violinisten immer zur Seite, war da, wenn er ihn brauchte – ob zum Reden, für einen Rat unter Freunden oder einfach nur zum Anlehnen. Heute traf irgendwie alles zu, denn es dauerte ziemlich lange, bis die Geschichte zu Ende erzählt war und Rico endlich seine Gefühle dargelegt hatte. Inzwischen hatten sie aufgegessen, den Tisch abgeräumt und sich gemeinsam auf die Couch gesetzt, wo sie ihr Gespräch fortsetzten. Benni wusste, wie schwer es war, niemanden zum Reden zu haben und er war immer wieder besorgt um den Jüngeren, wenn er merkte, dass da irgendetwas nicht stimmte. Und diesmal schien ihn sein Instinkt nicht getrübt zu haben, dass es momentan besonders schlimm war. Er legte einen Arm um den Violinisten, der sich dankbar an den Cellisten lehnte, während er mit dem Chaos in seinem Inneren kämpfte. Insgesamt dauerte es mehrere Stunden, bis sie sich letztlich auf den Weg zum Einkaufen machten. Rico fühlte sich zwar immer noch nicht gut, aber wenigstens etwas befreit von der Last, die er trug und inzwischen war er auch wieder ruhiger geworden. Denn er hatte ziemlich erfolglos versucht, sich nicht über Holly aufzuregen – besonders als er von den vielen Anrufen erzählte – und auch seine Tränen konnte er nicht ewig unterdrücken. Währenddessen erging es einem anderen Mitglied der Instanz auch nicht sehr viel besser. Holly lehnte die Angebote der anderen ab, ihn noch nach Hause zu bringen und fuhr stattdessen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu seiner Wohnung, nachdem sich die Gruppe voneinander verabschiedet hatte. Er wollte nachdenken. In Gedanken noch einmal alles genau durchgehen in der Hoffnung, Antworten zu finden. Doch als er seine Wohnungstür hinter sich verschloss, hatte er mehr Fragen aufgeworfen, als er beantworten konnte. Der Sänger hatte eine Vermutung – doch sie war so weit hergeholt und abwegig, dass die Wahrscheinlichkeit, dass er damit auch nur im Ansatz richtig lag, verschwindend gering zu sein schien. Andererseits… vielleicht war sie ja auch derart abwegig, dass sie schon wieder logisch war und näher an der Lösung als alle anderen Ansätze, die Holly in Betracht gezogen hatte. Doch das konnte er sich kaum vorstellen. Nein, das war unmöglich. Seufzend und reichlich verwirrt betrat der Sänger sein Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch sinken. Er sah sich langsam in dem dunklen Raum um und sein Herz zog sich zusammen. Es kam ihm still und irgendwie einsam ohne Rico vor. Gestern noch hatten sie hier gemeinsam gesessen, waren einander so nahe gewesen. Er hatte den Duft des Violinisten gerochen und seine Anwesenheit gespürt – genauso wie die Hand auf seinen Augen. Diese weiche, angenehm warme Haut auf der seinen… Wehmütig sah Holly zu dem leeren Platz neben sich, der gestern noch besetzt gewesen war und strich über den Stoff des Sofas. Traurig stand er auf und ging in die Küche, um sich irgendwie abzulenken und etwas zu trinken. Es war schon schwer genug, sich auf die drängenden Fragen in seinem Bewusstsein zu konzentrieren, wenn er sich die ganze Zeit Sorgen um den Dunkelhaarigen machte, da dieser in seinem Zustand mit dem Auto bis nach Dresden unterwegs war… aber wenn nun noch all die Erinnerungen an diese wunderschöne Woche auf ihn einströmten, machte das die Sache nicht gerade leichter. Wie musste sich Rico nur gefühlt haben, als er so besorgt wegen ihm war? Wie hatte er das nur ausgehalten? Die ständige Nervosität, die Unruhe. Es war einfach grauenhaft, qualvoll und zermürbend. Doch in dem Moment, als er die Küche betrat, wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Wie konnte er erwarten, dass er an dem Ort Ablenkung finden würde, wo er nur für ihn gekocht hatte? Wo er sein ganzes Talent als Koch aufgebracht hatte, um ihm einen unvergleichlichen Abend zu bescheren… Automatisch führten ihn seine Beine ins Esszimmer, wo sie gesessen hatten. Er war nervös und aufgeregt gewesen – wie vor seinem ersten Date mit seiner ersten großen Liebe. Das Gefühl war einfach wunderschön gewesen; die Schmetterlinge im Bauch, die wild umher tanzten, als er ihn umarmt hatte. Holly hatte das Gefühl gehabt, dass er Rico niemals zuvor so nahe gewesen war. So unendlich nah, dass er den Herzschlag des Dunkelhaarigen spüren konnte. Doch dann war der Moment der Erinnerung vorbei und der Sänger stand wieder in seinem verlassenen, dunklen Esszimmer. Allein. Langsam senkte er den Kopf und wandte sich ab. Er wollte diesen Anblick nicht länger ertragen müssen. Als er zurück ins Wohnzimmer ging, fiel ihm noch etwas anderes ein. An dem Abend, als sie hier gemeinsam gesessen hatten und Holly seinen Kopf auf dem Schoß des Violinisten gebettet hatte, hatte er etwas gesagt. Etwas, dass Rico scheinbar auch verletzt hatte. Zwar hatte der Dunkelhaarige so getan, als sei es nichts weiter, aber Holly war nicht entgangen, dass eine gewisse Enttäuschung in seiner Stimme zu hören gewesen war, als es darum ging, dass er ja auch mal wieder nach Hause fahren könnte. War es das? War das womöglich schon der Anfang von all dem? Ein Tropfen von so vielen, die das Fass letztlich zum Überlaufen brachten? Möglich wäre es… Immerhin hatte Rico zugegeben, dass er lieber noch bleiben wollte. Holly hatte ihm nur verdeutlichen wollen, dass er sich schlecht dabei fühlte, den Violinisten die ganze Zeit derart auszunutzen. Dass der Dunkelhaarige sich das nicht ewig antun musste, nur weil er sich zu irgendwas verpflichtet fühlte, sich Sorgen machte oder sonst was. Er wollte doch nur ausdrücken, dass Rico sich auch mal wieder Zeit für sich nehmen sollte. Immerhin hätten sie sich ja trotzdem öfter treffen oder miteinander telefonieren können oder so. Sein schlechtes Gewissen diesbezüglich nagte schon seit dem Unfall am ihm. Und genau deshalb wollte er das ganze mit dem Essen wieder gutmachen, den Abend danach entsprechend ausklingen lassen und sich entschuldigen bzw. das Thema vorsichtig ansprechen. Aber was, wenn das bei Rico ganz anders angekommen war? Wenn es nicht so rüberkam, wie Holly es eigentlich beabsichtigt hatte? Wahrscheinlich war genau das der Fall gewesen, denn Ricos Laune war nach dem Gespräch ziemlich getrübt und so verlief der Abend eher schweigsam, als entspannt. Oder besser gesagt: ganz anders als Holly sich das vorgestellt hatte… Aber wann verlief im Leben schon mal irgendetwas normal? Sein Unfall bewies doch das genaue Gegenteil. Und als hätte dieser Gedanke ihn daran erinnert, warum er so besorgt war, rannte der Sänger wie von der Tarantel gestochen zum Telefon und wählte Ricos Handynummer. „Komm schon. Geh ran!“ Ungeduldig lauschte er dem Freizeichen, doch niemand nahm ab. Gut, das musste ja nichts heißen. Vielleicht war er noch unterwegs und konnte nicht ans Handy gehen. Oder er hörte es schlicht weg nicht. Oder… doch die beiden anderen Möglichkeiten, die dem Sänger in den Sinn kamen, verdrängte er gleich wieder – so gut es ging. Er versuchte es mehrmals hintereinander und lief zwischen den Anrufen wie ein Tiger im Käfig unstet auf und ab. Nach dem dritten Versuch, bei dem er vor dem Fenster stand und sein Spiegelbild in der Fensterscheibe betrachtete, das ihn traurig und zugleich vorwurfsvoll anstarrte, wurden die Gedanken, die er so sehr zu unterdrücken versuchte, immer aufdringlicher. Doch Holly schüttelte den Kopf und wählte stattdessen die Festnetznummer Ricos. Eigentlich müsste der Violinist bereits zu Hause angekommen sein; zumindest wenn kein Stau oder dergleichen dazwischen gekommen war. Als auch dort niemand abnahm, drängten sich ihm die beiden Gründe dafür, die Holly nicht wahrhaben wollte, immer mehr auf. Seine erneuten Versuche blieben allesamt erfolglos und irgendwann verlor Holly jede Hoffnung. Er fühlte sich leer, einsam, kraftlos und allein gelassen. Doch er wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass er selbst schuld an all dem war. Dass alles anders hätte kommen können, wenn er sich nur anders – richtig – verhalten hätte. Aber die einzige Person, die ihm dies bestätigen und ihm sagen konnte, welche Fehler er begangen hatte, konnte entweder nicht mit ihm sprechen oder wollte es nicht… Dennoch versuchte Holly verzweifelt, seinen Bandkollegen zu erreichen und hinterließ ihm eine Nachricht nach der anderen auf dem Anrufbeantworter. Einmal nahm jemand ab und im ersten Moment überflutete ihn eine Welle der Hoffnung, doch noch ehe er wirklich zu Wort kam, wurde sofort wieder aufgelegt. Enttäuschung machte sich breit; doch es hatte auch etwas positives. Nun wusste Holly zumindest, dass jemand da war. Und dass dieser jemand offensichtlich nicht mit ihm sprechen wollte. Das bestätigte zwar seinen Verdacht, brachte ihn aber nicht sehr viel weiter. Es war gut, dass Rico offenbar nicht aufgrund eines Unfalls nicht abnahm. Aber natürlich konnte er so immer noch nicht mit ihm kommunizieren – außer über die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Eigentlich war ihm klar, dass Rico nicht unbedingt begeistert wäre, ständig neue Nachrichten auf diesem Wege von ihm zu bekommen. Doch er musste es einfach versuchen – so etwas wollte er am liebsten persönlich klären. SMS oder Email waren da die letzte Wahl. Also würde er es noch ein einziges Mal probieren… Allerdings stellte sich auch das als fataler Fehler heraus, denn Rico war in der Tat alles andere als begeistert und hinterließ einen sichtlich in sich zusammengesunkenen Holly, der langsam sein Telefon sinken ließ. Es war, als hätte er ihn erneut geschlagen. Zwar hatte der Sänger sich bereits gedacht, dass Rico nicht mit ihm sprechen wollte, doch er hatte irgendwie dennoch Hoffnung gehabt, zu ihm durchzukommen. Es jetzt derart direkt und unmissverständlich zu hören, tat weh. Es tat verdammt weh. Aber genau deshalb wollte er ihn ein allerletztes Mal anrufen. Wollte sich entschuldigen für das, was er getan hatte. Denn wenn es ihm schon so dreckig ging – wie musste es dann erst Rico gehen? Doch diesmal kam statt der Ansage des Anrufbeantworters, nur die weibliche Computerstimme, die Holly mitteilte, dass „der gewünschte Teilnehmer“ zur Zeit nicht erreichbar war. Er hatte offensichtlich endgültig genug von dem Sänger. Und der konnte es sogar verstehen. Er hätte ihm nur zu gern gesagt, dass es ihm leid tat. Dass er ihn nie verletzen und auch nicht loswerden wollte. Und dass er mit ihm darüber reden wollte, was passiert war. Denn er wollte verstehen, warum Rico so leiden musste. Doch er ahnte nicht, dass dies noch sehr lange dauern und ihn einiges an Beherrschung und Durchhaltevermögen kosten würde… Langsam öffneten sich für Holly die Tore der Hölle, ohne dass er es merkte. Blindlings lief er darauf zu; hätte er gewusst, dass dies alles nur der Anfang einer qualvollen Zeit sein würde, hätte er wohl alles daran gesetzt, mit Rico zu reden. So aber hatte er Angst, den Violinisten nur noch mehr zu verletzen, wenn er sich ihm aufdrängte. Er steckte in einer Zwickmühle, aus der es kein Entkommen gab. Ebenso wenig wie aus der Hölle, durch die er gehen würde… In den folgenden Tagen hörte er nicht ein Sterbenswörtchen von dem Violinisten – kein Anruf, keine Nachricht, nicht mal irgendein Lebenszeichen. Seine Sorge wuchs mit jedem Tag, der verging. Und doch wagte er es nicht, Rico noch einmal anzurufen. Wahrscheinlich würde er wieder nicht rangehen. Ihm kam sogar der Gedanke, dass er einfach auf gut Glück vorbeifahren könnte, doch auch diese Idee verwarf er wieder. Warum sollte der Dunkelhaarige ihm die Tür öffnen? Das würde keinen Sinn ergeben, wenn er schon nicht am Telefon mit ihm sprechen wollte… Und den ganzen Weg nach Dresden zu fahren, nur um dann vor verschlossener Tür zu stehen, war – gelinde ausgedrückt – schwachsinnig. Zumal Holly nicht wusste, ob Rico überhaupt da sein würde. Wer wusste das schon? Vielleicht hatte der Dunkelhaarige sich ein paar Tage Auszeit gegönnt, um so weit weg wie möglich von dem Sänger zu sein. Quasi um ihn endgültig loszuwerden. Dennoch dauerte es lange, bis er sich gänzlich selbst davon überzeugt hatte, dass es sinnlos wäre, zu Rico zu fahren. Immerhin wäre ihm kein Weg zu weit und so lange dauerte es bis nach Dresden nun wirklich nicht… Aber Holly konnte schlecht verleugnen, dass es nur ein Versuch seiner selbst war, die Realität zu verdrängen. Rico hatte ihm sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass er seine Ruhe haben wollte. Und das konnte er schlecht ignorieren, denn damit würde er alles nur noch schlimmer machen. In dieser Zeit versuchte Holly, sich so gut es ging von der Tatsache abzulenken, dass sich zwischen ihm und Rico vielleicht für immer etwas verändert hatte, dass sie sich nie wieder so nahe sein würden. Er begann, die Lyrics für ihr neues Album zu überarbeiten und zu perfektionieren. Besonders der Titelsong „Ewig“ bekam den letzten Schliff. Ursprünglich hatte er zwar die Struktur und Aussage des Liedes im Kopf gehabt, doch irgendwie hatten ihm die passenden Wörter gefehlt. Natürlich hatte Holly die Lyrics grob zu Papier gebracht, aber jetzt warf er den Zettel weg und schrieb alles noch einmal ins Reine, wobei er viele Stellen korrigierte. Denn nun kamen die Worte wie von selbst aus dem tiefsten Inneren seiner Seele. Auch Songs wie „Wieder einmal Rot“, „Schwarzer Sand“, „Von Anfang an“, „Unterwegs“, „Sing!“ und „Der Fährmann“ wurden an vielen Stellen überarbeitet und verbessert. Außerdem schrieb er vier neue Texte – inspiriert durch seine momentane Situation und durch Wörter, die er irgendwo aufschnappte. In dieser Zeit war er viel unterwegs; er fuhr meist relativ ziellos durch Berlin, im Gepäck nichts weiter als Block und Stift. Wann immer er ein Wort hörte oder las, dass ihn auf eine Idee brachte, schrieb er es auf. So entstanden die Titel und Lyrics für „Regenbogen“, „Tausendschön“, „Mein Kind“ und „Der Wind“. Als er insgesamt siebzehn Songtexte, komplett überarbeitet, vor sich liegen hatte, sah er sich mit einem weiteren Problem konfrontiert: normalerweise würde er jetzt Rico anrufen, um mit ihm über die Arrangements und musikalische Umsetzung der neuen Stücke zu sprechen. Zum Teil war dies zwar schon in der gemeinsamen Woche und dem Treffen mit den anderen Instanz-Mitgliedern passiert, doch jetzt standen die Songs endgültig und zudem waren neue hinzugekommen. Doch wie würde Rico reagieren? Würde er es nicht vielleicht als billigen Versuch Hollys werten, endlich wieder mit ihm zu sprechen? Seufzend starrte der Sänger zu seinem Telefon. Er saß zu Hause am Schreibtisch und hatte gerade die letzten Änderungen an „Der Wind“ vorgenommen. Inzwischen war es fast zwei Wochen her, dass er das letzte Mal Ricos Stimme gehört hatte. Traurig wurde ihm klar, dass der Violinist sich daran nicht zu stören schien. Nicht so sehr wie er selbst jedenfalls. Denn jeden Morgen sah der Sänger hoffnungsvoll auf sein Handy, überprüfte sein Postfach, schaute sogar mehrmals täglich in den Briefkasten und horchte bei jedem Telefonklingeln nervös auf. Aber jedes Mal musste er sich aufs Neue eingestehen, dass es keinen Sinn hatte, sich Hoffnungen zu machen. Und obwohl er wusste, dass die Enttäuschung danach nur umso größer war, konnte er dennoch nichts dagegen tun. Zwar hatte er sich die beiden Wochen über ganz gut ablenken können, indem er von morgens bis abends an den Songs gearbeitet hatte und ständig unterwegs war, aber jetzt war all das, was er die ganze Zeit zu verdrängen versucht hatte, wieder da. In der Öffentlichkeit war es ihm leichter gefallen, seine Gefühle zu kontrollieren, denn er wusste, dass er schlecht auf offener Straße einen Nervenzusammenbruch kriegen konnte. Es war ihm natürlich nicht immer ganz gelungen, seine Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren – schließlich hatte Rico jahrelang sein Denken beherrscht. Doch es war immerhin einfacher, als wenn er zuhause allein in seiner Wohnung hockte. Dort hätte er kaum an den Songtexten arbeiten können. Allerdings musste Holly sich eingestehen, dass er manchmal unbewusst, wenn er ziellos durch die Straßen Berlins lief, zu den Orten ging, die er zuvor gemeinsam mit Rico besucht hatte. Und gerade dann fiel es ihm schwer, sich zu beherrschen… Kopfschüttelnd versuchte Holly, die Erinnerungen und den damit verbundenen Schmerz loszuwerden. Der Sänger atmete noch einmal tief durch, ehe er zum Telefon griff; ihm blieb dieser Anruf früher oder später ohnehin nicht erspart. Also wozu das ganze sinnlos aufschieben? Sein schlechtes Gewissen würde sich dadurch auch nicht mindern. Er fühlte sich so schon mies genug, da er Rico ziemlich verletzt haben musste und nicht einmal wusste, wieso oder womit genau. Und er wollte ohnehin mit ihm sprechen, um diese Sache endlich zu klären. Vielleicht würde er ihm ja zuhören, wenn sie sich im Studio trafen und die ersten Probeaufnahmen machten… Jedenfalls würde Holly keine Gelegenheit auslassen, Rico um ein Gespräch unter vier Augen zu bitten. Aber bevor er darüber nachdenken konnte, musste er erstmal dafür sorgen, dass sich die Instanz überhaupt traf. Und dazu wiederum musste er Rico anrufen. Natürlich hätte er auch jedem anderen Bandmitglied bescheid sagen und so dem Anruf bei Rico umgehen können. Doch das wäre nicht nur feige, sondern auch kontraproduktiv. Immerhin wollte er ja mit ihm sprechen… Noch einmal tief durchatmend wählte er die Nummer des Violinisten. Das Freizeichen ertönte, doch niemand nahm ab. Holly wollte schon auflegen, da er befürchtete, dass Rico den Anrufbeantworter abgestellt hatte, als sich die Bandansage einschaltete. „Hallo, Rico. Ich bin's Holly… Ich weiß, du willst nichts von mir hören, aber… Ich hab-“ Der Sänger räusperte sich, seine Kehle fühlte sich auf einmal wie ausgetrocknet an und schnürte sich scheinbar immer mehr zusammen. „Ich hab an den Songs für das neue Album gearbeitet. Wie wir es ausgemacht hatten.“, meinte er dann stockend. „Also… äh… Ich ruf dich morgen noch mal an, wenn- wenn du nichts dagegen hast. Du kannst dich auch jederzeit melden. Würde mich über ein-“ Doch die Zeit, die er für eine Nachricht hatte, war vorbei und so brach er mitten im Satz ab. Seufzend ließ Holly den Hörer sinken. Na, das war ja mal ein toller Anruf! Er musste sich angehört haben wie ein Pubertierender, der das erste Mal jemandem ein Geständnis macht… Den restlichen Tag verbrachte er damit, nachzudenken und sich irgendwie von seinem Verdacht abzulenken, dass Rico immer noch nicht ans Telefon gehen wollte, sobald er die Nummer des Sängers sah. Doch andererseits hätte er den Anrufbeantworter wirklich abschalten können, wenn er gar nichts mehr von ihm wissen wollte. Allerdings war er wahrscheinlich nicht der einzige, der Rico eine Nachricht hinterlassen wollte, wenn dieser nicht ans Telefon ging und da war es natürlich sicherer, die Mailbox einzuschalten. Am nächsten Morgen versuchte Holly dann noch einmal, Rico zu erreichen. Er war schon recht lange auf und hatte immer wieder auf die Uhr gestarrt in der Hoffnung, sie möge schneller gehen. Denn er wollte den Dunkelhaarigen mit seinem Anruf auf keinen Fall wecken – das wäre ja noch schöner! Schlimm genug, dass Rico wahrscheinlich ohnehin von seinem Anruf genervt sein würde; wenn er ihn dann auch noch aus dem Schlaf klingeln würde, wäre das wohl kaum förderlich für ihr Gespräch. Doch auch diesmal dauerte es eine Weile, ehe am anderen Ende der Leitung etwas passierte – es war nicht, wie Holly beinahe befürchtete, erneut der Anrufbeantworter… aber auch nicht Rico. „Hallo, Holly.“ Es war ein offensichtlich verschlafener Benni, der sich meldete. „Benni?“, fragte der Sänger überrascht. Damit hatte er nicht gerechnet. „Äh… Ich- bin etwas verwirrt…“ Diese doch etwas unerwartete Situation brachte ihn völlig aus dem Konzept. „Tut mir leid, wenn ich euch geweckt hab. Das wollte ich nicht.“ „Schon gut.“ Ein Gähnen erklang. „Wird eh langsam Zeit, dass ich aufstehe.“ Holly räusperte sich. „Kann ich mit Rico sprechen?“ „Nein.“ Die Antwort kam ohne zu zögern und mehr als direkt. „Erstens schläft er noch und zweitens sehe ich keinen Anlass dazu. Er möchte es nicht und ich auch nicht.“ Die letzten Worte hatten einen eisigen Unterton… und sie waren unmissverständlich. „Äh… ach so. Okay.“ Der Sänger wusste nicht so recht, wie er darauf reagieren sollte. „Tut mir leid-“ Eigentlich wollte er noch mehr sagen, doch Benni unterbrach ihn. „Bei mir brauchst du dich nicht entschuldigen.“ Die Worte klangen weniger kühl als zuvor, doch Holly merkte, dass der Cellist offenbar eine Menge wusste. „Aber verzeih, dass ich dich unterbrochen hab. Was wolltest du eigentlich sagen?“ „Schon… okay. Ähm… Ich hatte gestern Abend angerufen – wegen den Songs für das Album.“ „Stimmt, der AB hatte geblinkt.“, erinnerte sich Benni. „Aber wir waren erst spät zu hause und haben ihn nicht mehr abgehört.“ „Ah, das erklärt's. Wo wart ihr denn?“, fragte Holly in der Hoffnung, die Stimmung ein wenig auflockern zu können. „Wir waren… unterwegs. In ein paar Clubs und Bars eben. Schöne Grüße von Specki übrigens.“ Holly verspürte einen leichten Stich im Herzen, ließ sich jedoch nichts anmerken. „Ah, danke. Habt ihr ihn getroffen?“ „Nein, der war von Anfang an mit dabei. Aber was ist denn nun eigentlich mit den Songs? Deswegen hattest du doch angerufen, oder?“ „Ach ja, genau.“ Holly versuchte, sich zu sammeln, was unter den momentanen Umständen gar nicht so einfach war. „Also insgesamt sind es jetzt siebzehn. Und sie sind alle überarbeitet und fertig. Deshalb wollte ich fragen, ob wir uns die Tage mal im Studio treffen können, um die Songs endgültig zu arrangieren. Das meiste steht ja schon. Und proben müssen wir ja auch noch.“ „Klar, kein Problem. Wie wär's mit übermorgen, elf Uhr?“ „Passt super. Soll ich die anderen anrufen oder wollt ihr das machen?“ „Ich kümmer mich drum. Ich muss eh noch-“ Doch was immer Benni hatte sagen wollen – Holly würde es nicht erfahren. Denn er hörte durchs Telefon, wie eine verschlafene Stimme im Hintergrund fragte: „Benni? Wer ist denn das um die Uhrzeit?“ „Warte mal kurz.“, meinte der Cellist daraufhin zu Holly und wandte sich offenbar an denjenigen, der ihn angesprochen hatte. „Es ist Holly. Er wollte nur bescheid sagen, dass die Songs fürs neue Album fertig sind und einen Termin fürs Studio klarmachen.“ „Mhm. Kommst du dann wieder ins Bett?“ „Ja, ich komm ja gleich. Kuschel du dich aber lieber wieder unter die Decke – du holst dir sonst den Tod, wenn du dir nichts anziehst.“ Leise Schritte entfernten sich und dann war Benni wieder am Telefon. „Bin wieder dran.“ „Okay. Ähm, dann würde ich sagen, sehen wir uns übermorgen.“ „Ja, genau. Wie gesagt: ich ruf die anderen an. Bis dann.“ „Bis dann. Und grüß Specki, wenn ihr ihn das nächste Mal seht.“ „Mach ich. Tschüß.“ Nachdem der Sänger aufgelegt hatte, starrte er eine Weile ins nichts. Dieser Anruf war alles andere als angenehm gewesen. Nicht nur, dass Benni offensichtlich bei Rico schlief, sie schienen sich auch noch ein Bett zu teilen. Und wer weiß, was sie noch alles taten, nach dem was er soeben hilflos mit anhören musste. Am liebsten hätte er die Augen vor der Realität verschlossen; denn er wollte nicht wahrhaben, dass er Rico wohl für immer verloren hatte… Als sie sich schließlich im Tonstudio trafen, wurde Holly einmal mehr überrascht. Dass Benni und Rico zusammen auftauchten, war ja nicht unbedingt verwunderlich und nach dem Gespräch mit dem Cellisten auch irgendwie zu erwarten gewesen. Dass sie aber bester Laune zu sein schienen und auch gleich noch Sotiria eingeladen hatten, erstaunte Holly dann doch. Verwirrt versuchte der Sänger, sich nichts anmerken zu lassen. Was war hier nur los? In welcher verkehrten Welt war er bitte gelandet? Er zweifelte schon ernsthaft an seinem Geisteszustand und begann, ein Paralleluniversum und eine parallele Zeitachse in Betracht zu ziehen. Denn Rico war ausgelassen und fröhlich, lachte mit den anderen als sei nie etwas gewesen… und ignorierte Holly kaum. Er sprach ganz normal mit ihm – jedoch nur über belanglose Dinge oder die Songs. Und noch etwas fiel dem Sänger auf: er vermied jegliche körperliche Nähe. Wann immer sie sich zu nahe kamen, distanzierte sich der Violinist unauffällig und geschickt von Holly. Nach einigen Stunden Arbeit und Probe beschlossen sie, es für heute dabei zu belassen und planten gleich ihre nächsten Treffen. Anschließend ging es ans Aufräumen. Danach kam Holly zu dem Schluss, dass es das beste wäre, Rico jetzt um ein Gespräch zu bitten. Er fand den Violinisten ans Mischpult gelehnt und mit ihrem Toningenieur diskutierend und räusperte sich. „Rico? Kann ich kurz mit dir reden?“ Der Angesprochene sah auf und legte den Kopf schief. Es war unmöglich, zu erkennen, was in ihm vorging. „Was gibt’s denn?“ „Ich würde gern unter vier Augen mit dir sprechen…“ Der Dunkelhaarige hob eine Augenbraue, reagierte jedoch nicht sofort. „Ich komm gleich.“ Dann wandte er sich wieder seinem ursprünglichen Gesprächspartner zu. „Ich warte draußen auf dich.“ Rico nickte ihm nur kurz zu, unterbrach seine Unterhaltung jedoch nicht. Vor dem Eingang zum Tonstudio holte der Sänger seine Zigaretten und das Feuerzeug hervor und steckte sich eine an. Geräuschvoll blies er den Rauch aus. So weit, so gut. Immerhin würde er mit Rico reden können. Fragte sich nur, ob es auch etwas brachte… Es dauerte nicht lange, bis sich die Tür erneut öffnete und der Violinist herauskam. Als er Holly sah, wandte er sich zu ihm, blieb jedoch in einiger Entfernung stehen. „Also? Was wolltest du?“ Holly musterte den Dunkelhaarigen kurz, konnte jedoch nach wie vor nicht im geringsten abschätzen, was wohl in ihm vorging. „Ich wollte mit dir über den Abend reden, an dem wir Ria kennengelernt haben.“ „Und?“ Es war offensichtlich, dass Rico nun, da er mit Holly allein war, noch kühler und distanzierter ihm gegenüber war. Holly ließ seine Kippe fallen, trat sie aus und kam auf den Violinisten zu. „Ich möchte nur wissen, was an diesem Abend geschehen ist. Zwischen uns.“ „Was soll denn gewesen sein?“ Der Sänger glaubte im ersten Moment, sich verhört zu haben. Doch der harte Blick Ricos, der kein Stück zurückwich, während Holly näherkam, bestätigte auf eine seltsame Art und Weise seine Worte. Holly blieb stehen und sah den Dunkelhaarige einen Moment etwas verwirrt an. „Aber… du warst wütend. Und verletzt. Das kannst du doch nicht leugnen, Rico!“ „Ja, und? Kann ich nicht auch mal einen schlechten Tag haben? Deshalb muss ja wohl noch lange nichts aufregendes passiert sein.“ „Du hattest aber keinen schlechten Tag! Vorher warst du noch so ausgelassen und hast die ganze Zeit gute Laune gehabt. Und dann auf einmal…“ „Meine Güte! Dann hatte ich halt einen schlechten Abend. Besser?“ Genervt verschränkte Rico die Arme vor der Brust. „Und was ist mit jetzt? Geht's dir wirklich so gut, wie du es allen glauben machen willst?“ „Beantworte mir eine Frage: Warum sollte es mir denn schlecht gehen? Nenn mir nur einen plausiblen Grund dafür.“ Verständnislos sah Holly den Violinisten an. Was sollte er darauf antworten? Weil ich glaube, dass du Gefühle für mich hast und ich dich verletzt habe, ohne es zu wollen? Keine gute Idee… Doch ehe er noch dazu kam, sich eine Alternative zu überlegen und gleichzeitig darüber nachzudenken, wie er dem Dunkelhaarigen am besten begreiflich machen konnte, dass es ihm leidtat und er sich Sorgen machte, seufzte Rico genervt. „Siehst du? Du weißt auch keine Antwort auf diese Frage. Du glaubst, mich zu kennen und zu durchschauen und hast selbst nicht mal eine Begründung für deine Vermutung. Du bist einfach blind, Holly.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging zu Benni, der gerade ebenfalls das Studio verließ. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)