Blind von SeishiroSumeragi (Holly x Rico) ================================================================================ Kapitel 4: Sorrow ----------------- Als Rico endlich – nach einer halben Ewigkeit, wie ihm schien – im Krankenhaus ankam und sich nach Holly erkundigte, sah ihn die diensthabende Schwester skeptisch an und fragte, ob denn überhaupt mit ihm alles in Ordnung sei. Er erklärte ihr ungeduldig, dass er einfach nur schlecht geschlafen hatte, weil er sich Sorgen wegen seines Freundes machte. Und dann hätte er in den Nachrichten von diesem furchtbaren Unfall gehört. Es entsprach ja sogar fast der Wahrheit, was er da von sich gab; nur mit dem Unterschied, dass „geschlafen“ bei dem, was er in dieser Nacht getan hatte, wohl ziemlich übertrieben war. Die Schwester sagte nichts weiter zu dieser Geschichte – sie hatte offensichtlich beschlossen, sich ihren Teil zu denken und bemerkte, dass es wohl nicht viel bringen würde, Rico vorzuschlagen, sich doch erst mal ein wenig auszuruhen und eventuell ein leichtes Schlaf- oder Beruhigungsmittel zu nehmen. Rico nickte daraufhin. Stattdessen nannte sie dem Violinisten die Zimmernummer Hollys und beschrieb ihm den Weg. Sie erklärte ihm außerdem, dass durch den Aufprall auf das vor ihm fahrende Fahrzeug und die Tatsache, dass anschließend noch ein weiteres Auto in seinem Wagen gefahren war, die Front- und eine Seitenscheibe gesplittert seien. Einige Splitter bohrten sich regelrecht in den oberen Bereich seines Gesichts – die Stirn und Augenpartie seien besonders betroffen gewesen. Trotz einer schnellen OP, bei der man alle Splitter entfernt hatte, wurde aufgrund der teils sehr tiefen Schnittverletzungen irgendetwas an den Augen des Sängers verletzt. Noch könnten die Ärzte daher nicht sagen, ob Holly sein Augenlicht je wieder zurückerlangen würde. Die Nachricht war für Rico ein Schock. Er stand da, ohne sich zu rühren, völlig durcheinander. Das lag nicht nur daran, dass er kaum verstanden hatte, was die Schwester ihm da versucht hatte, zu erklären – für ihn zählte nur ihr letzter Satz. Die Welt drehte sich rasend schnell um ihn herum, ohne dass er es mitbekam. Genauso wie die Gedanken in seinem Kopf. Er konnte sie nicht greifen, nicht klar denken und auf einmal hatte er wieder das Gefühl, zu fallen. Immer tiefer. In diese endlose, schwarze Tiefe. Nur mit Mühe schaffte er es, sich auf den Beinen zu halten, sein Zittern und seine Tränen zu verbergen und gleichzeitig seine Stimme halbwegs normal klingen zu lassen, als ihm gewahr wurde, dass die Schwester sich gerade wiederholt nach seinem Befinden erkundigt hatte. Er sagte ihr, dass schon alles in Ordnung sei und ging dann langsam in Richtung Fahrstuhl, um zu Hollys Zimmer zu gelangen… Auch wenn er Angst davor hatte, was ihn hinter der Tür erwarten würde, neben der ein Schildchen mit der Zimmernummer angebracht war. Leise klopfte er an, ehe er eintrat. Mit einem kurzen Blick erfasste er die Situation: Holly lag in seinem Bett, die Augen durch einen Verband verdeckt. An seinem Arm hing ein Tropf, der ihn stetig mit Nährstoffen versorgte. Sein Atem ging ruhig, doch es war unmöglich zu sagen, ob er wach war oder schlief. Abgesehen von dem Verband um seine Augen schien er aber nur ein paar kleinere Schürfwunden und blaue Flecke abbekommen zu haben. Der Violinist musste sich bemühen, deutlich zu sprechen, damit man das Zittern in seiner Stimme nicht hörte. „Holly?“ Es war kaum mehr als ein schwaches Flüstern. Vorsichtig ging er auf das Bett des Sängers zu und ließ sich langsam auf den daneben stehenden Stuhl sinken. Dabei ließ er Holly nicht aus den Augen. Er fühlte sich einfach nur schwach und zitterte am ganzen Körper, während er sich setzte. Der Anblick Hollys verstärkte seine Sorge und seine Schuldgefühle nur noch mehr und Rico kämpfte erneut mit den Tränen. Der Sänger regte sich indes und wandte den Kopf etwas unbestimmt in Ricos Richtung. „Hey… ich bin's, Rico…“ Der Violinist konnte kaum verhindern, dass seine Stimme brüchig und schwach klang. Fast so als müsste er sich von einer schweren Krankheit erholen. „Rico?“ Auch Holly sprach relativ leise, jedoch lag es bei ihm mehr daran, dass die Schmerzmittel ihn noch ein wenig benommen machten. Es dauerte einen kurzen Moment, bis er weitersprach. Wahrscheinlich hatte er einfach nicht damit gerechnet, dass er schon Besuch hätte. „… Was machst du hier, Stolzi?! Hab ich dir nicht gesagt, du sollst schlafen?“ „Ja… aber ich… Es kam keine Nachricht von dir und irgendwie konnte ich nicht richtig einschlafen. Und dann hab ich zufällig in den Nachrichten von dem Unfall erfahren und…“ Die Stimme Ricos versagte bei dem Gedanken an die Bilder der Sondermeldung. Er schluckte und biss sich auf die Lippe, um die erneut in ihm aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. „Tut mir leid… ich wollte mich melden, aber ich wurde sofort in den OP geschoben, als ich wieder halbwegs bei Bewusstsein war. Und jetzt hab ich auch noch keine Möglichkeit dazu gehabt.“ Wieder eine kurze Pause. „Hast du dir wirklich solche Sorgen gemacht?“ Nun klang Holly selbst ein wenig besorgt und hob eine Hand in die Richtung, in der er Rico vermutete. „Ja… aber du musst dich nicht entschuldigen; du kannst doch nichts dafür.“ Es grenzte schon fast an ein Schluchzen, was der Dunkelhaarige von sich gab, während er sich vorbeugte, sodass Hollys Hand auf seinem Kopf lag. Dieser strich ihm zärtlich durchs Haar, während er schwach lächelte. „Viel mehr… viel mehr tut es mir leid. Ich hätte das verhindern müssen. Ich hätte auf mein Herz hören sollen. Das ist alles meine Schuld. Wenn ich dich nur überredet hätte, bei mir zu bleiben – wenigstens bis zum nächsten Morgen… dann wäre das alles nicht passiert. Verzeih mir bitte, Holly.“ Inzwischen liefen ihm stumme Tränen in Strömen über die Wangen und wieder schluckte Rico. Doch nun brauchte er nicht mehr versuchen, die salzigen Perlen zurückzuhalten. Ein leises Schluchzen entrann seiner Kehle. Das schwache Lächeln verschwand von den Lippen Hollys, als er Ricos Worte hörte und machte einem ernsten Ausdruck Platz. „Hey… das ist doch nicht deine Schuld. So ein Blödsinn! Nur weil du etwas geahnt hast, heißt das doch noch lange nicht, dass du es auch hättest verhindern können. Und außerdem…“ Doch Rico würde wohl nie erfahren, was Holly noch sagen wollte, denn er unterbrach sich und sein Gesichtsausdruck wurde seltsam. Der Violinist wusste nicht, was in seinem Freund vorging, da ihm das wichtigste Indiz dafür fehlte – der Ausdruck in dessen Augen. Doch er merkte, dass sich die Stimmung des Sängers abermals verändert hatte. „Rico… weinst du?“ Langsam zog er die Hand zurück und ließ sie ein Stück sinken. So verharrte sie nur wenige Zentimeter von Ricos Gesicht entfernt. Doch ehe er es berühren konnte, klingelte das Handy des Violinisten. Dieser setzte sich daraufhin wieder auf und kramte in seiner Tasche nach dem Mobiltelefon. Holly ließ seine Hand sinken und schwieg nachdenklich. „Hallo?“ Rico klang belegt und abwesend, als er an sein Handy ging und sich mit der anderen Hand die letzten Tränen aus dem Gesicht wischte. Er sah auf die Uhr, während er sich fragte, wer das sein konnte. Doch er musste feststellen, dass es bereits acht Uhr war – durchaus eine Zeit, zu der Anrufe vielleicht selten, aber auch nicht ganz unüblich waren. Es war Benni, der anrief. „Hey, ich bin's. Hab ich dich geweckt? Wenn ja, tut es mir leid. Aber es ist wichtig. Ist Holly noch bei dir?“ „Nein… nein, hast du nicht. Keine Sorge. Aber Holly ist… er ist…“ Wieder versagte die Stimme des Violinisten. Er konnte einfach nicht aussprechen, was er selbst nicht wahrhaben wollte und biss sich erneut auf die Lippe. Eigentlich hatte er sich um jeden Preis zusammenreißen wollen. Er musste jetzt stark sein – auch für Holly. Doch er schaffte es einfach nicht. „Oh Gott… Also war er wirklich in den Unfall verwickelt?“, fragte Benni sofort und Rico konnte das Entsetzen in der Stimme des Cellisten hören. Er sah förmlich, wie sein Gesicht kreidebleich wurde. „Oli hat mich vorhin angerufen und gesagt, ich solle schnell die Nachrichten einschalten. Wir wollten es erst nicht glauben, aber das eine Auto sah dem von Holly einfach zu ähnlich, als dass es ein Zufall sein konnte. Zumal er ja angekündigt hatte, dass er nach Hause wollte…“ Rico schwieg daraufhin, denn wieder zuckten die Bilder der zerstörten Fahrzeuge durch seinen Kopf. Das alles war einfach noch zu verstörend für ihn, als dass er einen klaren Gedanken fassen konnte. Er fühlte sich, als stünde er kurz vor einem Nervenzusammenbruch – und wahrscheinlich war dem auch so. „Und zufällig hatten wir uns ja erst vor ein paar Tagen darüber unterhalten, wann man am besten durchkommt. Da hat Holly noch gesagt, er würde lieber nachts oder sehr früh fahren, um den ganzen Verkehr zu meiden.“ „Hm…“, machte Rico nur. Es war mehr ein Zeichen dafür, dass er überhaupt noch in der Leitung war, denn eigentlich konnte er sich kaum auf das konzentrieren, was Benni ihm da erzählte. „Hey Rico, ist alles okay? Du hörst dich furchtbar an. Wo bist du jetzt?“ „Ich bin im… bei Holly.“, brachte der Violinist leise hervor. Er bemühte sich, so deutlich wie möglich zu klingen und gleichzeitig seine wahren Gefühle dabei zu verbergen. Auf Bennis Nachfrage erklärte er ihm den Weg, dann steckte er sein Handy wieder weg, nachdem er den Anruf beendet hatte. Für einige Sekunden herrschte Schweigen im Raum. „Die anderen sind auf dem Weg… sie haben es auch aus den Nachrichten erfahren und machen sich ziemliche Sorgen.“ „Hm… Ihr seid unmöglich. Ich meine: wie spät ist es?! Ihr fahrt in aller Herrgottsfrühe durch die halbe Weltgeschichte, obwohl es mir gut geht. Das ist doch verrückt! Wegen euch werd ich echt noch ganz verlegen.“ „Aber…“, begann Rico, wusste jedoch selbst nicht so recht, was er eigentlich einwenden sollte. Und dann sprudelten die Worte einfach aus ihm heraus, ohne dass er etwas dagegen hätte tun können. „Dir geht’s überhaupt nicht gut! Du hattest einen schweren Autounfall und vielleicht verlierst du für immer deine Sehkraft. Willst du mir allen Ernstes erklären, dass du das unter 'gut' verstehst?!“ Ohne es zu wollen, war er etwas lauter geworden und war beinahe von seinem Stuhl aufgesprungen. Jetzt ließ er sich zurücksinken, beruhigte sich wieder und schluckte. Die Verzweiflung in seiner Stimme war dafür nun umso deutlicher zu hören. „Tut mir leid. Ich wollte nicht…“ „Hey, hey.“ Holly hob beschwichtigend die Hände. „Schon gut. Ist doch alles in Ordnung.“ Wieder bildete sich ein schwaches Lächeln auf seinen Lippen. „Du siehst die Dinge einfach anders als ich. Versuch doch, das Ganze mal ein wenig positiver anzugehen. Ich hab den Unfall verhältnismäßig unbeschadet überstanden – immerhin lebe ich noch und befinde mich auch nicht im kritischen Zustand so wie einige andere Unfallopfer. Richtig? Und ich brauche mein Augenlicht nicht, um zu singen. Das kann ich auch tun, wenn ich blind bin. Ich werde meine Leidenschaft, die Musik, nicht aufgeben, nur weil das Leben mir einen Kiesel in den Weg legt.“ „Aber-“ Doch der Sänger schüttelte sanft den Kopf und unterbrach Rico erneut. „Kein Aber. Ich werde weitermachen – egal, was jetzt passiert. Ich werde kämpfen. Außerdem werde ich euch und euer Lächeln in meinem Herzen bewahren. So kann ich euch jederzeit sehen. Und genau dieser Gedanke gibt mir die Kraft, weiterzumachen. Warum jetzt verzweifeln, wo noch gar nichts feststeht?“ Seine Stimme klang erstaunlich zuversichtlich, wie Rico feststellen musste und auch das Lächeln Hollys war optimistisch. Das hätte der Dunkelhaarige wirklich nicht erwartet – auch wenn er wusste, dass Holly nicht so schnell kleinzukriegen war. „Hey, Rico… Als ich dich das letzte Mal sah, hast du so wunderschön und sanft gelächelt. Und auch wenn ich es jetzt nicht sehen kann, bitte ich dich: lächel wieder. Das passt viel mehr zu dir, als ein Ausdruck ständiger Sorge.“ „Aber… als du gegangen bist, da… da war ich… vollkommen nackt.“ Das letzte Wort murmelte Rico fast schon ein wenig beschämt, denn jetzt kam es ihm so falsch vor, an etwas derartiges zu denken. Immerhin sollten sie sich lieber Gedanken darum machen, wie es jetzt weitergehen sollte. „Na und? Dann ist die Erinnerung doch umso schöner.“ Holly grinste, doch Rico wandte den Blick ab und schwieg. Er konnte dieses Grinsen nicht ertragen, solange er durch den Verband immerzu daran erinnert wurde, dass er vielleicht nie wieder in den wunderschönen Augen des Sängers versinken könnte. Wieder drohte die Verzweiflung ihn zu übermannen; doch diesmal schaffte er es, sich zusammenzureißen. Er atmete einmal tief ein und aus. Woher nahm Holly nur diese immense Kraft und Zuversicht? „Rico? Alles in Ordnung? Du bist auf einmal so ruhig.“ Der Angesprochene sah wieder auf und überlegte, wie er antworten sollte. „Die Frage war nicht wirklich ernst gemeint, oder? Wenn du zu hause in deinem Bett liegen und süß und selig schlafen würdest, ohne irgendwelche Schrammen und Wunden, könnten wir uns gern noch mal darüber unterhalten, ob alles okay ist. Aber bis dahin kannst du dir diese Frage wirklich sparen.“ Er machte eine kurze Pause, ehe er fort fuhr. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass bei mir auch nur ansatzweise irgendwas in Ordnung ist, solange du nicht wieder zu hundert Prozent fit bist. Ich mach mir Sorgen um dich, Holly… ernsthafte Sorgen. Du siehst das alles so locker und bist kämpferisch. Das ist zwar schön, aber ich glaube, in dieser Situation nicht unbedingt die idealste Lösung.“ Holly seufzte. „Du hörst dich an wie meine Mutter.“ Er deutete ein Lächeln an. „Können wir jetzt aufhören, über mich zu reden? Das wird schon irgendwie wieder werden. Viel mehr mach ich mir momentan Sorgen, dass deine Sorge dich zerfrisst. Wenn du weiter so machst, wird das kein gutes Ende nehmen. Das tut dir nicht gut, Stolzi. Also bitte… tu es für mich und auch für dich selbst und deine Gesundheit: mach dir nicht so einen Kopf deswegen. Ich will hier nichts verharmlosen, aber… Wir kriegen das schon wieder hin. Zusammen schaffen wir das. Wenn erst mal die anderen der Instanz hier sind, werden sie mir sicher zustimmen. Gemeinsam meistern wir auch diese Situation. Das haben wir bisher doch immer irgendwie geschafft. Also lass dich nicht so entmutigen von ein paar unsicheren Diagnosen. Es steht doch noch gar nichts richtig fest.“ Sein Lächeln sollte wohl eindeutig eine aufmunternde Wirkung haben, doch Ricos Ängste waren nicht durch ein einfaches Lächeln zu besiegen – selbst wenn es das von Holly war, was bei ihm erwiesenermaßen Wunder wirken konnte. „Und wenn du so leicht aufgibst, dann frage ich dich: wie bist du da hingekommen, wo du jetzt bist?“ Rico wusste im ersten Moment nicht, wie er darauf reagieren sollte. Er wusste, dass Holly ihn nur beruhigen wollte. Dennoch reagierte er nicht auf diesen Versuch und wählte eine – wie er selbst fand – etwas unpassende Antwort für diese Situation. Doch er hatte einfach Angst, dass jede andere Reaktion seine wahren Gefühle gezeigt hätte. „Die Antwort ist simpel: ich hab mich ins Auto gesetzt, bin hergefahren, zu deinem Zimmer gegangen und hab mich schließlich auf diesen Stuhl hier gesetzt. Deshalb bin ich jetzt hier. Ende der Geschichte.“, meinte Rico leicht sarkastisch. Holly schnaubte. „Meine Güte! Na, wenigstens hast du deine Schlagfertigkeit zurück. Das ist schon mal was.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)