Einsteins Goldfisch oder: Vom Kamel, das durch ein Nadelöhr ging von Ixtli ================================================================================ Sein und Sollen oder: Du hast Schiss vor Nina, was? --------------------------------------------------- Am Morgen hatte er Julius noch wie immer gehört, wie er – möglichst leise – versucht hatte, die alte Holztreppe hinunter zu schleichen. Mittlerweile hatte Max ein Gehör für die kleinsten Geräusche entwickelt, wie etwa das, wenn die Haustür sich öffnete oder schloss. Das erstickte Schleifen des Zugluftstoppers über die Bodenfliesen des Flurs hatte er sonst nie wahrgenommen, erst seit er morgens um die gleiche Zeit wie Julius wach wurde und dann mit flachem Atem den Geräuschen lauschte, die im stillen Haus plötzlich so laut klangen, dass es unmöglich schien, dass sonst niemand davon wach wurde. Als sich die Haustür mit ihrem schwachen Seufzen geschlossen hatte, schwang Max die Beine aus dem Bett und stand auf. Er ging zu seinem Fenster und schob mit dem Zeigefinger zwei Lamellen des geschlossenen Rollos auseinander, so dass er einen Blick nach draußen in den langsam dämmernden Tag werfen konnte, ohne dabei selbst entdeckt zu werden. Julius würde sich zuerst aufwärmen – das dachte sich Max jedenfalls, denn sehen konnte er das von dieser Seite des Hauses aus nicht – und nach ein paar Minuten würde er langsam um die Ecke gelaufen kommen, auf dem Kopf eine grüne Mütze und, wenn es so kalt war wie heute, mit Handschuhen an den Händen. Er würde noch einen Blick auf seine Armbanduhr werfen und dann, begleitet von dem im Takt seiner Schritte knirschenden Kiesweg, der um das Haus führte, in Richtung Feldweg laufen. Erst wenn Julius den schmalen Steg über den Bach genommen hatte und dann hinter dem nebligen Hügel, auf dem in den warmen Monaten Schafe grasten, verschwunden war, verließ Max seinen Platz am Fenster und begann, sich für den Tag fertig zu machen. Den Zeitpunkt, wann Julius wieder zurückkam, kannte er mittlerweile auch, ohne dass er noch auf die Uhr gucken oder sich großartig beeilen musste, damit er ihn nicht verpasste. Als erstes sah man Julius' hellgrüne Mütze hinter dem Hügel auftauchen, begleitet von den weißen Atemwolken, die er wie eine alte Lok, die sich einen Berg hinauf quälte, in den klirrend kalten Himmel ausstieß. Und sobald er wieder das rhythmische Knirschen von Julius' Schuhen auf dem Kiesweg hören konnte, wusste Max, dass er noch genau fünf Minuten Zeit hatte, um zu entscheiden, ob er Julius über den Weg laufen wollte, oder nicht. Heute entschied er sich dagegen. Max nahm die Dose mit dem Goldfischfutter aus dem Regal und öffnete den Deckel. Einen der Sticks zwischen Daumen und Zeigefinger haltend, tauchte er vorsichtig seine Fingerspitzen ins Wasser. Einstein, der nur auf die Bewegung an der Wasseroberfläche gewartet hatte, schoss aus seiner Totenkopfhöhle hervor und beeilte sich, die Hand mit dem Futter zu erreichen, ehe sie etwa wieder verschwinden konnte. "Guten Morgen", begrüßte Max den orange-roten Fisch, der ungeduldig an dem Stick zupfte, um ihn aus den Fingerspitzen seines Herrchens zu befreien. Vor seiner Tür hörte er Julius vorbeigehen und noch ehe er das Rauschen der Dusche hören konnte, verließ Max sein Zimmer. Am Mittag dieses Freitags lief Max Julius dann noch einmal unverhofft im Hausflur über den Weg, als dieser gerade zur Tür hinaus wollte. In einer Hand hielt er seinen Schlüsselbund und unter den anderen Arm hatte er einen großen Plastikkorb geklemmt. "Was – wo willst du denn hin?", platzte es unwillkürlich aus Max heraus, noch ehe ihm sein Verstand beruhigend auf die Schulter klopfen konnte. Stumm deutete Max auf den Korb, weil es ihm nach diesem ersten erschrockenen Satz vor Überraschung die Sprache verschlagen hatte. "Noch ein paar Sachen erledigen", erwiderte Julius lapidar. "In der Stadt", fügte er hinzu, weil er sich auf einmal zu einer Erklärung genötigt sah. "Kann ich mit?" Max wartete nicht erst die Antwort ab, sondern quetschte sich an Julius vorbei aus der Haustür hinaus. Max saß bereits im Auto, als Julius gerade erst die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. "Willst du abhauen, oder warum hast du es so eilig?" Julius ließ sich auf den Fahrersitz gleiten. Er steckte den Schlüssel in das Zündschloss und startete den Wagen. "Das Gleiche wollte ich dich gerade fragen." Das erste Mal seit Tagen hatte Julius ein Lächeln für Max übrig. Erleichtert atmete Max innerlich auf. Niemand lächelte, wenn er nicht gerade insgeheim Mordgedanken hegte. Aber Julius und Mord? Nie im Leben... Für die nächsten Kilometer schwieg Julius. Allerdings tat er es nicht auf diese unangenehme Art und Weise, die andere Anwesende unruhig und zappelig werden ließ. Er wirkte gelassener, je weiter sie sich von dem alten Bauernhof entfernten, auf dem sie alle mehr oder weniger lange miteinander lebten. Auch Max begann, sich zu entspannen. Die Alarmbereitschaft, in die er sich versetzt gefühlt hatte, seit er Julius verdächtigt hatte, ihm aus dem Weg zu gehen, fiel von ihm ab. "Du dachtest, ich wollte dich damit bestrafen, oder?" Max sah zu Julius hinüber, der konzentriert auf die Straße blickte. "Eigentlich nicht, nein – oder: doch. Ja, aus Versehen. Tut mir leid." Julius seufzte auf. "Weißt du, ich habe dich mit den Kleinen in den Film geschickt, weil ich wusste, dass sie auf dich hören. Bei deinen Freunden war ich mir nicht so sicher..." "Warum nicht? Du kennst sie genauso gut wie mich, oder nicht?" "Ich meinte, dass es mir nicht so lieb war, euch Große alleine weg zu schicken..." Julius setzte den Blinker und bog auf den Parkplatz eines Großmarktes ab. Als es er wagte, zu Max hinüber zu sehen, grinste der ihn an. "Du hast Schiss vor Nina, was?" "Quatsch", murmelte Julius ertappt. "Das Geschirr hast du seitdem aber nie wieder falsch eingeräumt." "Das nennt man Dazulernen." "Natürlich", entgegnete Max triumphierend, wobei er jede Silbe deutlich betonte. Sein Grinsen wurde noch um eine Spur breiter. "Na, warum hast du so einen Heidenrespekt vor Nina? So weit ich weiß, habt ihr die gleiche Ausbildung." Julius wand sich sichtlich auf seinem Sitzplatz. Man sah ihm an, dass er am liebsten aus dem Auto gesprungen wäre. "Wir haben das gleiche studiert, ja, aber anders als Nina, bin ich gerade erst damit fertig geworden und das hier ist meine erste richtige Arbeitsstelle." "Schön, du hast ja Recht", gab sich Max großzügig. "Und außerdem", begann Julius, "außerdem weiß ich noch immer nicht, was aus meinem Vorgänger geworden ist. Das ist schon ein bisschen seltsam, oder?" Was Julius als Scherz gemeint hatte, kam bei Max anders an. Das Grinsen war von einer Sekunde auf die andere wie aus seinem Gesicht gewischt und nun war er es, der den Türgriff in der Hand hatte, um die Tür zu öffnen und nach Draußen zu gelangen. Max biss sich nervös auf die Lippe. "Nina hat dir also noch nichts darüber gesagt?" Julius, der gerade beschlossen hatte, ab sofort vorsichtiger mit dem zu sein, was er sagte, schüttelte leicht den Kopf. "Ich wusste nicht, dass das ein Geheimnis bleiben sollte. Kündigungen kommen vor. Ich habe mir da keine großartigen Gedanken gemacht." Max stieß abfällig die Luft durch die Nase aus. "Es war viel zu offensichtlich, als dass es hätte noch als Geheimnis durchgehen können." Das war das Letzte, was Max dazu sagte. Er sprang aus dem Auto und schlenderte zur Eingangstür des Großmarktes hin, die sich mit einem Zischen öffnete und hinter Max mit dem gleichen Zischen wieder schloss. Julius fand Max vor einem riesigen Regal, das die aktuellsten Weihnachtsartikel anpries, die in den normalen Geschäften noch nicht zu kaufen waren. Zwischen meterlangen blinkenden Lichterketten, Christbaumkugeln, die so groß wie Fußbälle waren und singenden Plüsch-Rentieren in Lebensgröße wirkte Max selbst wie ein Spielzeug. Julius, der einen Wagen vor sich her schob, versuchte, sich einen Überblick über das vor ihnen liegende Regallabyrinth zu verschaffen. "Kennst du dich hier aus?" "Was brauchst du denn?" "Moment", Julius kramte die Liste, die ihm Nina aufgeschrieben hatte, aus seiner Jackentasche und las die ordentlich verfassten Notizen laut vor. "Blumenkohl, Orangen, Kaffee, Kakaopulver, Tee, Brot, Milch, Butter, Gemüse in Konserven und Nudeln." Max dachte einen Moment nach. Er versuchte, sich an normale Supermärkte zu erinnern und wie die Waren dort angeordnet waren. "Das hört sich an, als hätte sie dir alles so aufgeschrieben, wie es im Laden steht." Julius sah auf die Notizen und dann wieder zu Max. "Ich glaube, du hast recht." "Nina halt", witzelte Max und nahm die Einkaufsliste an sich. Der Reihe nach fanden sie alles so vor, wie Nina es ihnen aufgeschrieben hatte. Julius schüttelte mehrmals den Kopf, während er sich die irrwitzigen Größen ansah, in denen die Waren angeboten wurden. Drei-Kilo-Packungen Kaffee? Teebeutel im 100er-Pack? Julius kam sich vor wie Jack im Land der Riesen. "Normalerweise wird das ganze Zeug ja zu uns geliefert." Gerade wuchtete Max ein Päckchen Kakaopulver, das man eher als Sack Kakaopulver bezeichnen musste, auf den Wagen. "Was hat Nina denn geplant? Gab es eine Katastrophenmeldung?" Julius hakte den Kakao in der Liste ab. "Sie meinte, dass sie lieber genug zu Hause habe, weil sie nicht einfach so mal zm Einkaufen kommt, wenn ich weg bin und Kerstin noch nicht da ist." "Wie, wenn du weg bist?" Max klang erstaunt. "Freie Tage - ist das nicht so üblich bei euch?" Max zuckte mit den Schultern. Er konnte Julius unmöglich sagen, dass er das Wegsein womöglich anders interpretierte. "Für mich sowieso nicht. Ich bin ja einer der Glücklichen, die das große Los gezogen haben und jedes Wochenende da bleiben dürfen." "Oh", erwiderte Julius unoriginell. Was sollte er dazu auch sagen? Die Frage nach dem Warum brannte ihm auf der Zunge, aber gleichzeitig fürchtete er, dass das Thema keines war, das man in einem Supermarkt vor dem Kaffeeregal besprach. Er nahm zwei Pakete Tee aus dem Regal und wägte ab, welche Sorte sie nehmen sollten. "Pfefferminz oder Fenchel?" "Wir haben übrigens eine Wette laufen", sagte Max, ohne scheinbaren Zusammenhang. Julius ließ seine Hände sinken. Die Teebeutel raschelten leise im Innern der sich neigenden Packungen. "Eine Wette?" "Ja, eine Wette." Max tat, als lese er interessiert die Nährstofftabelle auf einer der buntbedruckten Packungen. "Wie lange du bleibst." Julius stand vor Max wie ein Pantomime, der eine Statue nachahmte. Irgendwann räusperte er sich. "Eure Erzieher haben Mindesthaltbarkeitsdaten?" "Manche schon." "Und ihr stützt eure Annahmen auf Erfahrung?" Max nickte. "Ich war für die Osterferien." Atemlos wartete er auf den großen Knall. Darauf, dass Julius wütend wurde oder zumindest betroffen. Doch Julius tat nichts davon. Er legte die Packung Pfefferminztee zu ihren anderen Einkäufen und stellte die Packung Fencheltee zurück ins Regal. Ganz normal. Julius schien in Wirklichkeit statt eines Namens ein Synonym für Integrität zu sein. "Da habe ich aber Glück, dass das noch in ferner Zukunft liegt." Seelenruhig schob Julius den Wagen ein Stück weiter. "Es hätte ja auch Weihnachten sein können." Langsam schloss Max wieder zu Julius auf, der vor der momentanen Frage stand, ob er Vollkorn- oder Toastbrot nehmen sollte. Max nahm ihm die Wahl ab und legte beides auf den Wagen. "Ich habe mich aber, denke ich, geirrt, was das Datum angeht." Max sah Julius zu, wie der nacheinander drei 12er-Paletten Milch auf den Wagen wuchtete und ihm dabei lediglich einen kurzen Blick zuwarf. "Ich glaube, du willst schon früher weg, habe ich recht?" Julius hielt in seiner Bewegung inne. Erschüttert sah er sein Gegenüber an, das seinen Blicken auswich. "Wie kommst du denn darauf?" "Es kommt mir vor, als wäre unsere Gruppe nicht das, was du dir auf Dauer antun möchtest", erklärte Max der 20er Packung vorgebackener Croissants, die vor ihm im Regal stand. Julius stützte die Hände in seine Hüften. Ein amüsiertes Lächeln bog seine Mundwinkel nach oben. "Dann schätze ich, dass ihr eure Thesen noch einmal überdenken solltet, ich hatte nämlich nicht vor, nach Ablauf meines Haltbarkeitsdatums zu verschwinden – oder davor." "Und warum dann dieses Unsichtbarmachen?" Aus dem Augenwinkel heraus, sah Max Julius' Lächeln, das nach diesem Satz einen Moment wie eingefroren wirkte. "Ich mache mich nicht unsichtbar. Und ich habe nicht vor, zu kündigen." Julius pausierte kurz. "Sagen wir es mal so, ich bin dabei, die Route neu zu berechnen." Max sah ehrlich irritiert drein. "Das verstehe ich jetzt nicht. Ist das wieder so ein Pädagogen-Ausdruck?" "So weit ich weiß, kommt der Ausdruck aus der Nautik." Julius hakte Milch und Brot von der Einkaufsliste. "Das war jetzt aber auf jeden Fall Pädagogen-Gequatsche..." Julius, der Liste nach dem nächsten Punkt absuchte, hob den Blick. "Ich scheine nicht mit allen meinen Ideen gut anzukommen und deshalb tue ich gerade das, was du mit Unsichtbarmachen meintest", erklärte er mit einem leichten Seufzen. Vorsichtig wie eine Katze, die die Entfernung zwischen zwei Dächern abzuschätzen versuchte, ehe sie den Sprung wagte, versuchte Max nun in Julius' Gesicht abzulesen, ob das, was er gesagt hatte, ernst gemeint war. Er könnte Julius natürlich auch darüber aufklären, dass er sehr wohl gut ankam und zwar bei der ganzen Gruppe, was eine Seltenheit war. Jetzt schien auch der richtige Augenblick zu sein, doch statt diesen einen Satz zu sagen, der vielleicht Julius' Bedenken in wenigen Worten vom Tisch wischen würde, schob Max den immer schwerer werdenden Wagen weiter zur Kühlabteilung hin. Er hatte das Gefühl, schon viel zu viel gesagt zu haben. "Meinst du, es ist zu früh?", brach Julius schließlich den stummen Bann. Er sah hinüber zu Max, der vor dem Kühlregal stand. "Zu früh wofür?", stieß Max perplex aus. "Ist September noch zu früh für Lebkuchen?" "Lebkuchen?", wiederholte Max verwirrt über den Ausgang ihres Gesprächs. Julius betrachtete sich den mannshohen Stapel aus Päckchen mit Schokoladeüberzogenen Herzen, Sternen und Brezeln, der zwischen dem Brotregal und der Kühlabteilung aufgebaut war. "Ob wir einfach ein Päckchen zwischen die anderen Einkäufe schmuggeln?" Max half Julius, die Einkäufe aus dem Wagen ins Haus zu tragen. Die Heimfahrt war weitestgehend unspektakulär verlaufen. Jedenfalls, wenn es um das ging, über das sie im Laden gesprochen hatten: Mindesthaltbarkeitsdaten und Julius' Verbleib in der Gruppe. Nina stürzte sich freudestrahlend auf den Lebkuchen und packte gleich eines der Päckchen aus, um eine Schale davon auf den niedrigen Tisch im großen Wohnzimmer zu stellen. "Darauf warte ich schon seit letzten Ostern. Ist dir schon einmal aufgefallen, dass das Zeug immer nur ein halbes Jahr lang haltbar ist?", kommentierte Nina den Einkauf des Gebäcks, nachdem sie ein Stück aus einer Brezel gebissen und mit verträumtem Blick genossen hatte. "Hattest du vor, heute schon zu fahren?" Die Frage ging an Julius, und Max, der vom Flur aus die Frage ebenfalls mitangehört hatte, wartete mit angehaltenem Atem auf die Antwort. "Eigentlich wollte ich erst morgen früh los, oder frühestens heute nach dem Abendessen." "Wie du willst." Nina aß den Rest der Lebkuchenbrezel. "Bis wann sollte ich spätestens wieder hier sein?" "Sonntagabend reicht." Max hörte, wie sich Julius' und Ninas Stimmen entfernten. Er wartete, wohin sie gingen und ging dann selbst in die entgegengesetzte Richtung davon. Bis das Abendessen vorbei war, hatte Max wie auf glühenden Kohlen gesessen. Wenn es um einen Termin ging, zu dem man offiziell kein genaues Datum festlegen wollte und stattdessen heute oder morgen sagte, war in den meisten Fällen das heute die exakte Angabe und das oder morgen nur dazu da, um dem Gesprächspartner zu suggerieren, dass er sich noch ein wenig in Sicherheit wiegen konnte. Als sich Julius mit den Worten, er müsse noch ein paar Sachen zusammenpacken, verabschiedete, musste sich Max zusammenreißen, um nicht sofort aufzuspringen und Julius zu folgen. Nervös half er dabei, den Tisch abzuräumen und alles in die Küche zu tragen, doch insgeheim hoffte er auf eine Gelegenheit, zu verschwinden. "Räumst du bitte die Spülmaschine ein?" Nina benötigte einen zweiten Anlauf mit ihrer Frage, bis Max gemerkt hatte, dass er damit gemeint war. Mist! Genau das, was er jetzt nicht brauchen konnte. "Ja." So leise es nur irgendwie ging, räumte Max das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine. Er durfte Julius nicht verpassen, wenn er denn wirklich heute schon nach Hause fahren wollte. Eine viertel Stunde später stieß Max die Tür des Geschirrspülers zu. Etwa im gleichen Augenblick hörte er Schritte auf der Treppe. Also fuhr er doch schon heute Abend. Max hastete auf den Flur. Es war tatsächlich Julius, der einen kleinen Rollkoffer hinter sich her zog und einen Rucksack über der Schulter hängen hatte, den er jetzt auf dem Boden abstellte, um seine Straßenschuhe anzuziehen. "Oh, mein persönliches Verabschiedungs-Komitee", begrüßte Julius Max gutgelaunt, als er ihn im Türrahmen zur Küche erblickte. Max stieß sich vom Türrahmen ab, gegen den er sich haltsuchend gelehnt hatte und schlenderte möglichst gefasst auf Julius zu. "Was ist los?" Julius nahm seinen Rucksack wieder auf. Dann grinste er Max amüsiert an. "Sag bloß, du denkst immer noch, ich komme nicht wieder zurück?" Max wollte das im ersten Reflex abstreiten, auch wenn es wahr war, entschied sich dann aber dagegen. Heute oder morgen. Osterferien oder Sommerferien. Julius bleibt oder er geht. Julius hörte auf zu grinsen. Max' reglose Miene hatte etwas an sich, das seinen Scherz plötzlich ernst wirken ließ. "Ich kenne mehr Gründe, am Sonntag wieder zurückzukommen, als solche, die mich davon abhalten könnten", bemühte sich Julius, Max davon zu überzeugen, dass seine Angst unbegründet war. "Und was, wenn deine wenigen Gründe trotzdem mehr Gewicht haben?" Max' Stimme schwankte. "Außerdem kenne ich nur Gründe, weswegen ich hier so schnell wie möglich weg möchte, statt zu bleiben." Mit einem mal fühlte sich Julius schlecht. Max war bleich und auch wenn das Licht im Flur warm von den gelbgestrichenen Wänden reflektiert wurde, schien es nicht in seine Haut durchdringen zu können, um sie mit Lebendigkeit zu füllen. "Wahrscheinlich kommt dir das so vor, weil du momentan noch keine Wahl hast." Max hob resigniert die Schultern. "Wie lange noch?" "April", antwortete Max promptund klang dabei ein wenig verstimmt, so ausgedörrt war seine Kehle. Julius hatte nicht erst erklären müssen, was er mit der Frage gemeint hatte. Bereits nach zwei Silben - dem Wie und dem la - hatte er gewusst, was Julius hatte fragen wollen. Und er hatte antworten wollen. So schnell wie möglich. Julius musste schließlich Bescheid wissen. Für alle Fälle... Ein Lächeln, das Max wahrscheinlich aufmuntern sollte, breitete sich auf Julius' Gesicht aus. Es funktionierte wohl, denn zeitgleich ließ auch Max' angestrengte Mimik nach. Hinter Max' Schläfen pochte es zwar immer noch, als säße dort etwas, was unbedingt hinaus wollte, aber wenigstens klebte ihm seine Zunge nicht mehr so trocken am Gaumen. Und als Max den ersten Schritt nach vorne tat, auf den gleich der zweite folgen sollte, hatte Julius noch immer keine Ahnung, wovon er genau noch zwei Sekunden entfernt war. "April also – wie stehen die Wetten?", zog Julius Max auf – oder hatte es jedenfalls so geplant, denn nach April brachte er kein Wort mehr hervor, weil Max einen Schritt auf ihn zumachte und ihn kurzerhand küsste. Julius' Rucksack rutschte ihm von der Schulter und fiel hinab. Seine Armbeuge fing das herabfallende Gepäckstück auf, was Julius kurz aus dem Gleichgewicht brachte und ihre Lippen voneinander trennte. "Ich wusste nicht, dass auch ein Abschiedskuss zu deinem Repertoire gehört", stammelte Julius irritiert. "Der war exklusiv." Max spürte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg. Na, wenn das mal keine Überraschung war, lachte der Teil des Inneren Max, der für solche Kurzschlusshandlungen wie diese zuständig war. Der andere Teil, der gerne von sich behauptete, der Vernünftigere von ihnen zu sein, raufte sich die Haare. Du Idiot, was, wenn du jetzt das Gegenteil erreicht hast?! Kurzschluss-Max winkte lässig ab. Stell dich mal nicht so an, erstens ist es schließlich Julius und zum Zweiten ist es jetzt sowieso schon zu spät. Julius zog sich den Schultergurt des herabgerutschten Rucksacks wieder über seine Schulter. Wie kam er jetzt aus dieser Situation raus? Für einen lockeren Witz war dieser Augenblick nicht geeignet, aber sich umzudrehen, Tschüs zu sagen und einfach aus der Tür zu spazieren, war auch keine Option. Max beobachtete jede Bewegung, die Julius tat. Jedes Blinzeln, jede noch so winzige Regung in seinem Gesicht konnte von Bedeutung sein. Was hatte er gleich nochmal damit bezweckt? Ach ja, er hatte Julius einfach noch einen Grund für seine Rückkehr geben wollen. Das war alles. Und wenn er Pech hatte, dann hatte er ihn damit verjagt. Dann hatte er ihm damit erst den Grund geliefert, zu Hause zu bleiben und noch exakt ein einziges Mal hierher zurückzukommen – und zwar um seine restlichen Sachen mitzunehmen. Max atmete tief aus. Julius' Mimik ließ auf nichts schließen. Dann verließ allmählich der Schreck seine geweiteten Augen, die Max direkt ansahen, statt seinen unsicher forschenden Blicken auszuweichen, und seine Mundwinkel bogen sich – ganz ganz leicht nur, aber sie bogen sich tatsächlich nach oben. "Also bis Sonntag dann." So vorsichtig, als wäre dieser Satz aus zerbrechlichem Glas, das durch eine allzu heftige Bewegung in tausend Splitter zerbrach, nickte Max. "Bis Sonntag." Er glaubte ihm kein Wort. Kein einziges. Jetzt erst recht nicht mehr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)