Einsteins Goldfisch oder: Vom Kamel, das durch ein Nadelöhr ging von Ixtli ================================================================================ Progressive Abstraktion oder: Ungewohnt harsche Worte -----------------------------------------------------     Eine Weile saß Max nun schon nahezu bewegungslos an seinem Schreibtisch. Die rotleuchtenden Zahlen seines Weckers behaupteten, es sei kurz vor Drei, aber Max fühlte sich alles andere als müde. Er wollte jetzt nicht schlafen. Er wollte nicht, dass etwas den Nachhall der letzten halben Stunde unterbrach, so lange er diesen Moment noch als lebhafte Endlosschleife abspielen konnte. Die eingeschaltete Schreibtischlampe vor ihm goss einen See aus sanftem Licht auf die Tischplatte, über den die Schatten seiner Finger wie Vögel dahinglitten. Er hatte den Kalender, den er an Weihnachten von Julius geschenkt bekommen hatte, vor sich liegen und drückte einen der vorgestanzten Punkte aus seinem Platz. Das heutige Datum und ein kurzer Satz standen da, den Max bereits vergessen hatte, noch ehe er ihn ganz zu Ende gelesen hatte. Seine Gedanken schweiften ständig ab. Zu Julius. Wohin auch sonst?! Julius, wie er sich auf dem Sofa zu dem davor knienden Max umgedreht und ihn zuerst erschrocken angesehen hatte, weil er nicht gewusst hatte, was da gerade vorgefallen war. Dabei war da noch gar nichts vorgefallen. Das kam erst, als Max' Mund Julius' Lippen berührten und der diese sich vorsichtig nähertastende Berührung ohne nachzudenken und ohne seinen Blick abzuwenden angenommen und erwidert hatte, bis ihm tatsächlich bewusst wurde, was er da tat. Armer Julius, der jetzt gerade ein Stockwerk tiefer saß und Max nun hoffentlich nicht zum Teufel wünschte. Ändern konnte er es jetzt auch nicht mehr.   Max' ziellose Blicke irrten durch das Zimmer und blieben wie von selbst am Aquarium gegenüber des Schreibtischs hängen. Das eingeschaltete Nachtlicht durchzog das Wasser mit grünschimmernden Schleiern, die sich tänzelnd um Einstein schlängelten, der aus seiner Totenkopfhöhle herausgeschwommen kam, um nachzuschauen, was da um diese ungewöhnliche Uhrzeit seltsames außerhalb seines Aquariums vor sich ging. Von seinen beiden Gefährten war keine Spur zu sehen. Der Max- und der Juliusfisch waren wohl lieber unter sich. Nachdenklich kniff Max die Augen etwas zusammen. Irgendetwas, was normalerweise in diesem Blickwinkel lag, war verschwunden. Da war eine kleine, Notizzettelgroße Lücke direkt an der Außenwand des Aquariums, was nur auffiel, wenn man wusste, dass dort zuvor etwas gehangen hatte, das jetzt definitiv verschwunden war. Max grinste wissend. Er senkte seinen Blick auf seine Hände, die noch immer den Kalender hielten. Noch einmal las er den Spruch, der in der runden Aussparung stand, aus der er den schwarzen Kreis herausgedrückt hatte, und dieses Mal behielt er ihn im Gedächtnis: Das Schwierigste ist es, weniger zu nehmen, wenn man mehr bekommen kann. Das konnte Max gerade aus tiefstem Herzen bejahen. Die Chance, Julius klarzumachen, dass es ihm absolut ernst war, hätte er sich nie entgehen lassen. Weder heute, noch an irgendeinem anderen Tag. In dem Moment, als er nur noch einen Hauch von Julius' Lippen entfernt gewesen war, hatte er den ganzen Film sehen wollen, statt nur den Trailer. Max setzte den schwarzen Kreis wieder an seinen Platz und stellte den Kalender schräg vor sich. Er knipste die Schreibtischlampe aus und kroch in sein Bett. Die Arme hinter seinem Kopf verschränkt wartete er darauf, die knarrenden Treppenstufen unter Julius' Schritten zu hören.   Schlaf schön - Max' letzter Satz hallte in Julius' Erinnerung nach wie eine mit aller Kraft angeschlagene Glocke, die sich nicht mehr beruhigen wollte. Mit jedem Schwung schlug sie die Erinnerung wieder an, die dann wieder zitternd in seinem Kopf tönte und mit ihrem unzähligen Echo alle anderen Reflexe überlagerte. Julius saß noch immer auf dem Sofa in exakt der gleichen Position, die er, seit Max' Schritte über ihm verstummt waren, nicht geändert hatte. Seine Handflächen bedeckten seine Schläfen, hinter denen sein Puls wie ein außer Kontrolle geratener Schnellzug raste. Er presste sie so fest dagegen, wie nur möglich, als ließen sich so die Gedanken dahinter festhalten. Es brachte nichts. Wie Sandkörner flossen sie ihm zwischen den Fingern hervor. Jetzt hatte er wohl doch eine Leiche im Keller. Die erste und gleichzeitig die schlimmste aller vorstellbaren Leichen, die man so in seinem Keller haben wollte, und es war nicht einmal Max' alleinige Schuld... Reglos starrte Julius aus dem Fenster, vor dem ein Schneegestöber tobte. Weiße Schneeflocken rasten in ihrem chaotischen Tanz vor dem nachtschwarzen Hintergrund. Nichts schien sie aufhalten zu können, genauso wie den Wind, der schneidend scharf um die Hausecken herum heulte, während in Julius' Kopf das Gegenstück dazu tobte. Es lag nicht an Max, dass er ihn ständig in solche Situationen brachte. Es waren auch keine Tests, um zu sehen, was passierte. Das erste Mal war vielleicht so ein Test gewesen, aber über dieses Stadium waren sie beide schon lange hinaus. Es war, wie man sehen konnte, nicht mehr nötig, etwas beweisen zu müssen. Die einzige Schwierigkeit war, wieder genügend Abstand zu bekommen, ohne einen Scherbenhaufen zu hinterlassen. Und Julius musste nur den Weg aus dem Labyrinth aus schwankenden Regalen finden, die bis zum Himmel mit leicht zerbrechlichen Dingen beladen waren, ohne etwas davon umzustoßen.     Völlig übernächtigt betrat Max am nächsten Morgen die Küche. Er nahm den Wasserkocher und füllte ihn, ehe er ihn zurück auf die Station stellte und anschaltete. Von Julius war nichts zu sehen oder zu hören. Er selbst war gestern abend eingeschlafen noch ehe er Julius auf der Treppe hätte hören können. Vielleicht war er auch unten im Wohnzimmer geblieben? Sicher aus Angst, Max oben noch einmal begegnen zu müssen, dachte Max amüsiert und nahm zwei große Tassen aus dem Schrank. Dabei hatte er gar nicht vorgehabt, ihn abzufangen oder sonst irgendwie zu konfrontieren. Wenn das im Wohnzimmer nicht gereicht hatte, dann half sonst auch nichts mehr. Das Wasser im Wasserkocher begann zu brodeln und im gleichen Augenblick sah Max, wie Julius in voller Laufmontur vor dem Küchenfenster vorbeischlenderte und sich dabei seine grüne Mütze zurechtrückte. Das war ja vorherzusehen, dachte Max kopfschüttelnd. Nicht einmal die frisch gefallenen zehn Zentimeter Neuschnee, die letzte Nacht den freigeschaufelten Hof erneut in eine unberührte Schneefläche verwandelt hatten, konnten Julius von seinem morgendlichen Laufritual abhalten – von dem, was gestern abend im Wohnzimmer passiert war, ganz zu schweigen... Nach einem prüfenden Blick auf seine Armbanduhr und ohne sich zum Haus umzudrehen, setzte sich Julius in Bewegung. Max folgte ihm mit den Blicken, bis er um das Haus herum war. Julius konnte das noch so oft Joggen nennen, wie er wollte, er lief eigentlich nur davon. Aber Max hatte da noch eine Frage und die musste er Julius stellen. Wie die Antwort ausfiel, war relativ egal, er wollte noch nicht einmal eine Antwort darauf haben - nicht heute. Er musste die Frage nur in Julius' Kopf hineinbekommen, damit sie sich dort einnistete und Wurzeln schlug. Und dazu musste er Julius unbedingt einholen.   Es war ein eisiger Morgen. Der Himmel war wolkenlos blau und die Luft kristallklar. Schneidend kalt brannte sie auf Julius' Gesicht, so dass er nach einigen hundert Metern kaum noch etwas spürte. Zum Glück war die Mimik nicht wichtig beim Laufen. Julius ausgestoßener Atem wirbelte vor seinem Mund in dichten weißen Wolken auf. Die Kälte, die er mit jedem Luftzug einatmete, schien in Teile seiner Lunge zu geraten und zu durchfluten, von deren Existenz er bis heute nichts geahnt hatte. Wenn er doch nur einfach so weiter laufen konnte. Ohne Ziel. Ohne das Wissen, dass er sich nach dem Stehenbleiben mit seiner Leiche im Keller auseinandersetzen musste. So lautete sein Plan. Bis er die Schritte im Schnee hörte, die sich ihm knirschend näherten. Seine Kellerleiche war nämlich ein besonders lebendiges Exemplar. Julius hatte gerade den höchsten Punkt eines Hügels erreicht, der in einem weit auslaufenden Tal endete, als Max ihn eingeholt hatte. "Kann ich mitlaufen?" "Klar." Schweigend näherten sie sich dem Waldrand, der sich an das Tal schmiegte. Es war der gleiche Wald, in dem sie gestern spazieren waren, erinnerte sich Max. Er hatte den Schneeball tatsächlich mit der Absicht, Julius zu treffen, geworfen. Nicht, weil er wütend war. Max war enttäuscht gewesen, wie Julius auf den ersten Kuss reagiert hatte. Im ersten Moment hatte er gedacht, dass Julius den Schneeball verdient hatte. Oder zumindest einen Anstoß brauchte, um endlich mal zu reagieren. Die Reaktion war dann ja auch gekommen; um zwei Uhr nachts im Wohnzimmer. Immerhin.   "Eigentlich rennst du doch nur davon", begann Max unerwartet ein Gespräch, von dem Julius gleich ahnte, wo es hinführen würde. "Du kannst das noch so oft joggen nennen, wie du willst, ich kauf' dir das nicht mehr ab." Unwillkürlich kam Julius aus dem Takt. Als ob er es geahnt hätte... Er blieb stehen. Eine Todsünde des Laufsports, aber er musste etwas loswerden. Das Ziehen in seinen Muskeln ignorierend, wartete Julius, bis er relativ normal atmen und dabei sprechen konnte. "Das ist Sport", widersprach er Max. "Einfach nur Sport, kein Davonlaufen. Nur meine Art, den Kopf wieder freizubekommen." Max öffnete den Mund, doch Julius war noch nicht fertig. "Du kannst mich gerne begleiten, wann immer du willst", fuhr Julius fort, "wenn du aber nur mitkommst, um mir zu sagen, dass ich Konfrontationen aus dem Weg gehe, dann tust du mir Unrecht. Das hier ist einfach nur der falsche Zeitpunkt. Okay?" Erstaunt schwieg Max einen Moment. Das waren ungewohnt harsche Worte von Julius, musste er sich eingestehen. "Und wann ist der richtige Zeitpunkt?", hakte Max prompt nach, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. Julius wich seinen Blicken aus und Max wusste, dass Julius sich gerade bewusst geworden war, dass er sich, statt aus diesem Dilemma hinaus, nur noch weiter hinein befördert hatte. "Warum kannst du mir nicht ein einziges Mal zeigen, dass ich mich hier nicht zum Deppen mache?" "Kann ich eben nicht", erklärte Julius reserviert. Dummer Fehler, dachte er noch, als er das verhaltene Grinsen sah, das über Max' Gesicht huschte. "Warum kannst du nicht?" Max stand vor Julius, die Hände in die Seiten gestemmt, blickte er ihn herausfordernd an. "Hältst du dich denn für einen Deppen?" Max verzog den Mund und rollte mit den Augen. "Das ist wieder typisch erwachsen, was? Fragen mit Fragen beantworten..." Julius seufzte kurz. So einfach kam er hier wohl nicht mehr weg. "Denkst du – jetzt mal hypothetisch betrachtet-", Julius gab sich Mühe, Max' kurzes Auflachen bei hypothetisch zu überhören. "Denkst du wirklich, dass du das, was du dir erhoffst, hypo- abgesehen davon, ob von meiner Seite aus das gleiche für dich existiert, auch haben könntest? Hier?" Das war selbst für Max überraschend. So langsam schien Julius' Fassade zu bröckeln wie hundert Jahre alter Mörtel. Aber es wirkte schon wieder so erzwungen. Genau das, was er nicht hatte haben wollen. Julius war noch immer nicht böse, auch wenn Max sich eingestehen musste, dass er es wirklich darauf angelegt hatte. Wie mit dem Schneeball gestern. Julius wirkte verzweifelt, wie es vielleicht Galilei gewesen sein musste, als er damals versucht hatte, die Leute davon zu überzeugen, dass die Erde eben keine Scheibe ist. Natürlich war Max klar, dass ihre Erde hier eine Kugel war und sie sich nicht treffen konnten. Er hatte nur aus Julius' Mund hören wollen, dass er wusste, was Max meinte. Und dass er es vielleicht nicht vergaß. Dass er ihn hier nicht einfach vergaß, wie seine Mutter, deren Briefe mit der Zeit immer weniger geworden waren. "War das alles?" Julius hatte den Kopf leicht schiefgelegt und wartete tatsächlich auf eine Antwort seines Gegenübers. Max nickte stumm. "Laufen wir weiter, bevor wir ganz ausgekühlt sind." Julius lächelte Max aufmunternd an und sie setzten ihren Weg fort. Es tat ihm selbst leid, dass er nicht exakt die Worte dafür hatte, die Max vielleicht gerne hören wollte. Er nahm es ihm auch nicht krumm, wie Max versuchte, Antworten zu bekommen. Er war nur froh, dass Simon in diesen Momenten nicht anwesend war. Simon mit seiner großen Klappe... "Schneeballschlacht?", riss Max Julius aus seinen Gedanken. "Vergiss es", lehnte Julius ab. Sie liefen weiter, bis der einsetzende Schneeschauer ihnen langsam die Sicht zu nehmen drohte. Eine Stunde später standen sie wieder vor dem Haus. Max war beeindruckt. Er fühlte sich gut, wenn auch völlig durchgefroren, weil er, anders als Julius, keine wettertechnisch abgestimmte Laufklamotten trug, sondern einfach das, was er eben so an normaler Sportkleidung besaß. Aber Julius hatte recht gehabt. Sein Kopf war frei. Wahrscheinlich, weil der Rest seines Körpers damit beschäftigt war, nicht zu erfrieren oder genügend Sauerstoff zu bekommen, aber ihren Zweck hatte diese Rennerei tatsächlich erfüllt. "Frühstück?", fragte Julius mit winterroten Wangen und klaren Augen. Er wirkte keine bisschen aus der Puste und Max beneidete ihn kurz um seine Kondition. Er selbst brachte nicht mehr als ein stummes Nicken zustande.     Max' erste Befürchtung, seine Zehen könnten ihm das Laufen im Schnee übel nehmen, hatte sich nach zehn Minuten unter der heißen Dusche in Wohlgefallen aufgelöst. Mit glänzenden Augen saß er nun Julius gegenüber am Küchentisch und hielt die heiße Tasse Tee unter seine Nase. Julius hatte sich offensichtlich ganz gut von ihrem Gespräch erholt. Seelenruhig schnitt er ein Brötchen in zwei Hälften und bestrich eine davon mit Butter. "Hast du eine Ahnung, wo der Zettel von meinem Aquarium hin ist?", unterbrach Max scheinbar unschuldig die Idylle. Julius, der in dem Moment ein Häufchen Marmelade auf seinem Messer zu seinem Brötchen hin balancierte, zuckte kurz zusammen, so dass der glibberige Berg auf der glänzenden Klinge mit ihm zuckte. "Welcher Zettel?", erkundigte sich Julius vorsichtig. Der Marmeladenberg wackelte bedrohlich. "Einer der Zettel, die sonst an der Seite meines Aquariums hängen, ist weg." Max musste sich dazu zwingen, die Blicke weiter in seiner Tasse zu versenken, anstatt Julius anzuschauen. Er hätte sonst unwillkürlich lachen müssen. "Keine Ahnung", log Julius tonlos. Er atmete innerlich auf, als der Klecks Marmelade endlich sicher auf seinem Brötchen landete, bevor ihn Max weiter so löcherte. "Ausgerechnet der Zettel von Max & Julius fehlt. Schon komisch, oder?" Max hob seine Tasse vor sein breites Grinsen. "Ja, echt komisch." Julius' Löffel klapperte hörbar in seiner Tasse, während er den schwarzen, ungesüßten Kaffee darin unnötigerweise umrührte. "Hast du mal auf dem Boden nachgesehen?" "Guter Tipp, danke", witzelte Max mit Tränen in den Augen. "Werde ich gleich tun..." "Gern geschehen", antwortete Julius großzügig, obwohl er und Max sehr wohl wussten, dass das mehr als unnötig war.   "Ich rufe noch schnell Frau Wagner an und sage ihr ab", beendete Julius eine halbe Stunde später ihr gemeinsames Frühstück. "Muss ja nicht sein, dass sie bei dem Wetter hier rauf kommt." "Okay." Max stellte die Butter, die ihm Julius hinhielt, in den Kühlschrank. "Heißt das, wir müssen selbst putzen?" "Schlimm?" Julius packte die restlichen Brötchen in den Brotkasten. "Nur wenn ich das Obergeschoss übernehmen muss." Dort waren die ganzen Toiletten und Duschen. Aber auch Julius' Zimmer. Max' Gesicht erhellte sich. "Ach was, ich nehme das Obergeschoss", entschied Max gönnerhaft und räumte die Brotaufstriche in den Vorratsschrank. Julius schien den Braten nicht zu riechen. "Wenn du mich suchst, ich bin in Ninas Büro." "Lass dir Zeit", rief ihm Max nach.   Als Max die Treppe ins Erdgeschoss hinunterkam, konnte er aus der angelehnten Bürotür das eifrige Tippen der Tastatur hören. Vorsichtig schob er die Tür weiter auf und streckte den Kopf ins Zimmer. Julius blickte konzentriert auf den Bildschirm und schrieb. Als er Max in der Tür bemerkte, schloss er schnell das Schreibprogramm, ganz so, als wollte er nicht, dass Max lesen konnte, was er geschrieben hatte. "Schon fertig?" Julius verschränkte die Arme im Nacken und lächelte. "So weit schon", antwortete Max matt. Das Obergeschoss war echt nicht sein Lieblingsgeschoss, wenn es ums Putzen ging, hatte er heute spontan entschieden. "Ist sonst noch was zu erledigen?" "Nicht, dass ich wüsste." "Gut." Max beobachtete Julius, der etwas nervös zum Bildschirm hinsah und dann wieder zu Max. "Den Zettel habe ich leider nicht gefunden", informierte er Julius, der zuerst ertappt dreinsah, um dann gleich darauf wieder sein Pokerface aufzusetzen. "Der taucht sicher irgendwann wieder auf, wenn du nicht mehr daran denkst." "Na klar." Max grinste schief. Er zog die Bürotür hinter sich bei und schlenderte Richtung Wohnbereich. Er hatte das Wohnzimmer gerade betreten, da hörte er schon den Drucker in Ninas Büro.     Julius war heilfroh, als Nina, Kerstin und die Kinder wieder nach Hause kamen. Max ließ er das natürlich nicht merken, aber als die kleine Meute zuhause mit all ihren Erzählungen über ihre Erlebnisse im Urlaub begannen, spürte Julius, wie die Anspannung abfiel, die ihn sich wie einen Seiltänzer ohne Sicherheitsnetz über dem Gran Canyon hatte fühlen lassen. Das plötzliche Wegfallen dieses Gefühls, über Glasscherben zu laufen, hinterließ bei Julius eine angenehme Schwerelosigkeit. Er schaffte es endlich wieder, sich in Max' Gegenwart so neutral zu fühlen, wie zu Anfang seiner Zeit hier. Julius zuckte noch nicht einmal mehr zusammen, wenn Max, wie jetzt gerade, am offenstehenden Büro vorbeiging, in dem Julius mit Nina saß, und den beiden schnell zunickte. Julius konnte den Gruß wieder so locker wie früher erwidern, ohne etwas dahinter zu vermuten, was Max eventuell sonst meinen konnte. "Ist das dein Ernst?" Nina sah Julius gebannt an. Ihre Hand spielte nervös mit einem Stift, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Der Stift drehte sich im Kreis, bis er unter der Tastatur stecken blieb. "Ich meine, bleibt es dabei?" Julius atmete einmal tief ein und aus und lauschte dabei seinem Atem. Ein letztes Mal ging er in Gedanken durch, was selbst Nina nicht glauben konnte. "Ja, es bleibt dabei", antwortete Julius mit Nachdruck. Der allerletzte verkrampfte Muskel löste sich. Nina seufzte leise. "Schade", kommentierte sie Julius' Entscheidung.   Max versuchte unkonzentriert, Lars' sicher unheimlich spannender Geschichte über irgendeinen Ausrutscher auf der Skipiste zu folgen, doch seine eigentlichen Gedanken waren mit etwas anderem beschäftigt. Er merkte noch nicht einmal, dass Lars irgendwann von der Treppe, auf der sie saßen, aufstand und wegging, nachdem er auch beim siebten Mal keine Antwort von Max erhalten hatte. In Max' Kopf sprangen die Fragen darüber, was Julius wohl bei Nina gewollt hatte, wie Ping-Pong-Bälle hin und her. Das erste Mal hatte er richtig Angst, dass er Julius so genervt hatte, dass er beschlossen haben könnte, Nina davon zu erzählen. Das würde seinen ertappten Gesichtsausdruck von eben erklären. Und wenn er richtig lag, dann konnte sich Max gleich auf 'ne Menge Ärger gefasst machen. Ihm wurde eiskalt. Wenn es noch schlimmer kam, musste er wohl in eine andere Gruppe. Da wäre er zwar nicht der Erste, aber ausgerechnet jetzt, so kurz vor seinem offiziellen Auszug hier, war das schon suboptimal. Und dann noch die Folgen für Julius, den er ja praktisch ins kalte Wasser gestoßen hatte. Das hatte er eigentlich nicht beabsichtigt... "Du hast mir gar nicht von deiner theoretischen Prüfung erzählt." Max fuhr auf, als die Stimme neben ihm erklang. Irritiert sah er Julius an, der vor ihm stand und ihn anlächelte. "Stimmt- ja- fand ich nicht so wichtig...", stammelte Max tonlos und betete, dass er jetzt nicht rot wurde. Julius hob eine Augenbraue. "Nicht wichtig finde ich jetzt ein bisschen untertrieben." Da Julius grinste, lockerte sich auch Max' Anspannung. Er zuckte mit den Schultern. "War ja nicht so wild." Was wollte Julius noch hier? Und wo zur Hölle war Lars? Max warf einen hastigen Blick die Treppe hinter sich hinauf. "Hast du Lust, morgen ins Kino zu gehen?" Eine riesige unsichtbare Faust traf Max in den Magen. Sein Kopf fuhr herum zu Julius, der die Frage so locker in den Raum geworfen hatte. Stand der unter Beruhigungsmitteln? Und wenn ja, unter welchen? "Was soll ich denn alleine im Kino", übernahm Kurzschluss-Max die Aufgabe, des gerade zu verblüfften Halters aller gedanklichen Ping-Pong-Bälle, die wie auf Kommando zu Boden fielen. "Mit mir", erklärte Julius immer noch grinsend. Mann, das musste gutes Zeug sein, das er genommen hatte. Kurzschluss-Max nickte anerkennend. "Wir beide oder wir beide mit dem Rest der Gruppe?" "Ersteres", fuhr Julius fort. Das konnte nicht sein. Kein einziges Stammeln. Kein nervöses Blinzeln mit den Augen. "Wir- wir beide?" Max musste sich bei Julius mit dem Stammeln angesteckt haben. Julius nickte lächelnd. "Ist das ein Date?", fragte Kurzschluss-Max, nachdem selbst er einige Momente gebraucht hatte, um wieder in seine gewohnte Form zu finden. Julius lachte auf. "Das war ich dir ja noch schuldig." "Ok, klar", presste Max mühsam hervor. "Gut, dann treffen wir uns dort", fügte Julius hinzu, als ob es das Normalste auf der Welt wäre. Max rückte etwas zur Seite und ließ Julius an sich vorbei die Treppe hinaufsteigen. Wo war nur der Haken? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)