Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ „Ich … ich bin jetzt eine Assistentin“; eröffnete sie ihm unruhig, „Das heißt, dass wir uns nicht mehr sooft sehen können.“ Er glaubte, aus dem Himmel zu fallen, als er die Worte vernahm. Warum? Wann war sie in Acedia hinein gerannt?! Wie lange schon? Wollte sie es? Was bedeutete „nicht mehr sooft“? All diese Fragen hätte er gerne gestellt – doch sein Mund schien wie ausgetrocknet zu sein. Er glaubte, nie wieder ein Wort über die Lippen zu bringen. Bei der Vorstellung, dass sie ein Assistent würde … Er kannte die Gerüchte über Assistenten. Immer an der Arbeit, immer an der Seite ihres Vorgesetzten. Die Freizeit würde begrenzt sein – und sie würden auf das verzichten müssen, was ihnen am meisten bedeutete. Und in dem Moment begann seine egoistische Seite darauf zu hoffen, dass Acedia irgendetwas über ihn stellte. Er wollte nicht das sein, was sie abwerfen musste! „Welche?“, fragte er stattdessen nur geschockt, „Welche Assistentin?“ „Acedias“; antwortete sie kleinlaut, „Ich werde eine Todsünde.“ Dann nahm sie ihn in ihre Arme. „Es tut mir so leid …“, murmelte sie, „Aber … ich muss einfach irgendetwas tun. Und es war ja keine Absicht und …“ Er drückte sie fester an sich, was sie verstummen ließ. Und doch verkrampfte sich alles in ihm so sehr, dass er glaubte, sein Licht würde aus ihm weichen. Wie sollte er damit umgehen? Er würde sie verlieren. … Nicht sofort – aber mit der Zeit. „Versprich mir einfach, dass du mich nicht vergisst …“, bat er sie leise. „Ich verspreche es dir“, sagte sie mit fester Stimme, „Wir … wir treffen uns einfach regelmäßig!“, schlug sie vor, „Wir gehören zu einander.“ Sie schenkte ihm dieses spezielle Lächeln, das nur ihm gehörte. „Wir werden für immer zu Dritt bleiben!“ Doch sie hatte ihr Versprechen nicht gehalten. Schon nach wenigen Treffen war sie einfach wortlos nicht mehr erschienen. Und die Gerüchte über eine besonders talentierte Assistentin wurden in Umlauf gebracht. Ira wurde vom Gedanken, dass sie nicht kommen würde, beinahe zerstört. Und das war der Moment, in dem seine Dankbarkeit gegenüber Luxuria ins Unermessliche wuchs – sie hatte ihm Trost gespendet, sie hatte ihn im Arm gehalten und ihm gezeigt, dass er nicht alleine war. Dass er auch nicht alleine litt. Luxuria war genauso betroffen von Acedias Entscheidung, sie zu verlassen, wie er. Sie fühlten denselben seelischen Schmerz. Die einzige Art von Schmerz, die der Himmel nicht dämpfen konnte. „Ich kann ihr das nicht verzeihen“, zischte Luxuria, „Wie kann sie uns das nur antun?“ „Sie hat bestimmt … viel zu tun“, beschwichtigte er sie unbeeindruckt. Sie hatte es versprochen. Sie hatte versprochen, dass sie einander immer wieder sehen würden. Dass sie sich nicht trennen mussten. Dass sie zusammenbleiben konnten. Vielleicht war es auch gar nicht das, was ihn störte. Vielleicht war es einfach der grausame Umstand, dass sie vom einen aufs nächste Mal nicht mehr gekommen war. Dass er sie seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte, nichts mehr von ihr gehört hatte … Als hätte sie ihn einfach vergessen. Gegen ihre Karriere eingetauscht. „Das ist keine Begründung“, befand Luxuria, „Ist das der Dank für über dreihundert Jahre der Freundschaft?“ „Dann will ich lieber gar keinen Dank haben …“, murmelte er. „Und wie sie da oben stehen wird“, wisperte Luxuria und schnaubte wütend. „Hochnäsig und stolz, dass sie uns das antut, nur um den höchsten Punkt des Himmels zu erreichen …“ „Glaubst du, sie hat sich freiwillig zum Dienst gemeldet?“, fragte er unsicher. Er wusste immernoch nicht, was er darüber denken sollte. Er hatte ihr am Anfang wirklich geglaubt, dass sie nur zufällig in die Sache hineingerutscht war – aber sie war allen Fragen diesbezüglich ausgewichen. Mittlerweile ging er davon aus, dass sie ihn vielleicht auch angelogen haben könnte … Er wusste es einfach nicht. Er hatte keine Ahnung mehr, was er für richtig oder für falsch halten sollte. Alles, was er wusste, war, dass sich eine tiefe Enttäuschung in ihm festgesetzt hatte. Das war wohl das Schicksal eines jeden, der sich mit starken Engeln anfreundete. „Aber … zumindest haben wir noch uns …“, meinte er und tastete langsam nach Luxurias Hand. Sie würde er nicht verlieren. … Auf sie würde er aufpassen. Doch dann wurde auch ihre Stärke öffentlich. Als festgelegt wurde, dass auch Luxuria zu einer Todsünde werden würde, wusste Ira, dass er bald darauf folgen würde. Es wurde immer nur über das wahre Alter der unterschiedlichen Ränge spekuliert, doch man konnte sich in etwa ausrechnen, wer sich in welchem Alter befand. Und der nächste, der einen Assistenten brauchen würde, war Ira. Er hatte sich damals nichts sehnlicher gewünscht, als Luxuria und Acedia wieder zu sehen. Luxuria, um ihr zu sagen, wie sehr er ihr dankte, dass sie immer bei ihm geblieben war; wie sehr er ihren Abschiedsworten – „Ich kann leider doch nicht für immer bei dir bleiben … Ich wurde als Assistent gefunden.“ – nachhing und wie sehr er sie vermisste. Acedia hingegen wollte er ausrichten, dass sein Herz ihr zwar ewig nachhängen würde, doch dass es vorbei wäre – sie hatte ihn betrogen, sie hatte ihm unheimlichen Schmerz zugefügt. Das wollte und konnte er ihr nicht verzeihen. Und sie sollte es wissen. Nicht, dass sie sich noch eine zweite Chance erhoffte – sie hatte sich dafür entschieden ein Assistent werden zu wollen. So war es. So sollte sie ihn doch vergessen. Für Luxuria war er nicht das Wichtigste gewesen – ihre Aufgabe war es, ihre äußere Erscheinung zu vernachlässigen. Denn sie war immer sich selbst die Nächste gewesen … umso größer die Ehre, die ihm zuteil wurde, als sie sich so um ihn sorgte. Vielleicht war es auch Luxurias Stärke, dass sie sich so wichtig nahm … denn erst dadurch konnte sie andere wirklich wertschätzen. Nachdem er also weder Luxuria noch Acedia hatte, die ihm wichtig waren, musste er ernsthaft darüber nachdenken, was es denn wäre, falls er zum Assistenten auserwählt werden würde. Doch all das Nachdenken hatte ihm nur eine Erkenntnis gebracht: Er wollte Acedia nicht verzeihen. Alles in ihm sehnte sich nach ihr, doch sein Verstand, sein Urteilsvermögen, schrie danach, dass er sie verlassen musste, um von ihr loszukommen. Dass er ihr dieselbe Einsamkeit schenken sollte, wie er ihr. Und das war das stärkste Gefühl – das, was ihn antrieb. Das, was ihn zum Assistenten machte: Er wollte in ihrer Nähe sein, ohne bei ihr zu sein. Es war vielleicht masochistisch, doch es war genau das, was er tun musste. … Doch mit der Zeit würde er lernen müssen, dieses Gefühl zu ignorieren. Einzusehen, dass es dumm war, solch einen Wunsch zu hegen. Irgendeinen Wunsch zu hegen. Er musste lernen, für die anderen da zu sein. Er war ein Assistent. Er musste überall drüben stehen. Genau aus diesem Grund würde es für ihn eine Bereichung sein, zum Assistenten zu werden. Dass seine Existenz einen neuen Sinn erhielt. Und so ging er an den Platz, an dem sie vor über hundert Jahren ihren Wettstreit ausgeführt hatten und stieg erneut neben dem Turm der Ränge auf. Diesmal allerdings sorgte er dafür, dass er gesehen wurde. Und das ebnete ihm den Weg. Ray saß auf der Mauer und schaute in die Menge, ohne wirklich jemanden zu sehen. Die letzten Tage mit Kyrie waren wie immer voll mit Lernen gefüllt gewesen – immerhin standen sie mitten in der Prüfungszeit. Er hatte seine ersten Prüfungen bereits geschrieben, aber noch keine Ergebnisse erhalten. Aber die würden noch kommen. Und er hatte gar kein ungutes Gefühl. … Und dann würden schon sehr bald die Sommerferien auf sie warten. Auf sie … Kyrie hatte ihm zugestimmt, dass sie sich da eindeutig öfter treffen mussten, auch wenn sie nicht zwangsläufig etwas zu lernen hatten … Es war seltsam mit ihr … Sobald er an sie dachte, wusste er einfach, dass er sie liebte. Alles in ihm sagte es ihm. Und wenn sie weg war, vermisste er sie. Wenn sie da war, wollte er ihre Nähe spüren … Aber sie lehnte ihn ab. Obwohl er sich so sicher war, dass sie zumindest ähnlich über ihn dachte. … Es machte ihn aber froh, stimmte ihn beinahe zufrieden, dass sie sich nach wie vor treffen konnten. Immerhin … war das zumindest besser, als wenn sie ihren Kontakt abgebrochen hätten … Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Weg zu – und da schritt Kyrie auch schon daher. Langsam. Mit hängenden Schultern. Beinahe zögerlich. … War etwas passiert? Sie wirkte so … fertig. In ihm stieg ein mulmiges Gefühl auf, das ihn sofort zum Handeln zwang. Er stieß sich von der Mauer ab und stellte sich ihr entgegen. Als sie den Blick nach wie vor nicht hob, ihn noch immer gesenkt hielt, erfüllte ihn noch mehr Sorge. … Und die Hoffnung, dass sie ihn bloß übersehen hatte. Doch was nur konnte sie so sehr ablenken? Ihre Arme hielt sie verschränkt – und dann rempelte sie ihn tatsächlich an. Geschockt starrte sie daraufhin zu ihm hoch. „Ray!“, rief sie überrascht aus. Er runzelte die Stirn. „Wie immer“, wollte er eigentlich locker sagen, aber der Scherz mochte nicht so recht funktionieren. Sorge machte sich in ihm breit. Tiefe Ringe thronten unter ihren Augen, die leicht gerötete waren. Und sie war blass. Sehr blass. Noch bleicher als sonst. Sie wirkte fertig. Mehr als nur fertig. Zerstört beinahe. Sofort legte er seine Hände auf ihre Schultern. „Alles in Ordnung? Was ist passiert? Soll ich …“ Ihr vehementes Kopfschütteln ließ ihn innehalten. „Es ist alles gut“, beteuerte sie ihm leise, „Setzen wir uns einfach wie gewohnt …“ Sie zog Richtung der Mauer an, doch er ließ sie nicht los. Und sie kam gegen den sanften Griff nicht an. Was war los mit ihr?! „Das glaube ich dir nicht“, stellte er sofort klar. Seine Stimme klang gepresst. Er musste sich zusammenreißen! Einer musste ruhig bleiben. Wie sah sie nur aus? Sie wirkte, als hätte sie Schmerzen. Ihre Augen. Aus denen sprach er eindeutig. „Nein … wirklich …“, beruhigte sie ihn ungeschickt, „Ich habe bloß die ganze Nacht lang kein Auge zugetan. Aber die Prüfung heute war zu wichtig, um zu fehlen …“ „Du brauchst ganz dringend Schlaf“, stimmte er ihr zu, „Aber das ist bestimmt nicht alles.“ Er ließ sie los. Sie schaute ihn an und nickte bloß, ehe sie sich abwandte. Etwas in ihm brach dabei. „Du solltest endlich lernen, dass du anderen Leuten vertrauen kannst“, fügte er hinzu. Strenger und kühler, als beabsichtigt. Ein Stich ging ihm durchs Herz, als ihm klar wurde, dass er soeben mit Kyrie auf diese Weise gesprochen hatte. Aber die Art, wie sie sich weggedreht hatte – dass sie ihm nicht einmal jetzt etwas anvertrauen wollte, wo es eindeutig viel schlimmer geworden war … Er erwartete nicht, dass er ihr Problem lösen konnte. Aber er wollte es zumindest verstehen. Und sie blieb auch stehen. Ihre Schultern sackten weiter hinab. „Es ist nicht so einfach, Ray …“, murmelte sie kaum hörbar. „Du machst es dir nur unnötig kompliziert“, schalt er sie, „Lass mich entscheiden, ob es wirklich so schwer ist.“ „Es geht nicht“, beharrte sie ruhig. Dann wandte sie sich ihm kurz zu – und er bemerkte, dass Tränen in ihren Augen glitzerten. Es schnürte ihm die Kehle zu, sein Magen verkrampfte sich unangenehm. Er hatte sie zum Weinen gebracht. Seinetwegen war sie traurig. Er war zu streng mit ihr. Alles, was ihn eben noch große Reden schwingen hatte lassen, brach in dem Moment zusammen. Und er wollte sie nur noch umarmen. Aber er hielt sich davon ab. Sie wischte sich mit dem Ärmel ihrer weißen Jacke über die Augen und setzte sich auf die Mauer. Sie starrte zu Boden. Und wirkte wie ein kleines Häufchen Elend. „Hübsche Mädchen sollten nicht weinen …“, murmelte sie leise, während sie sich erneut über die Augen fuhr. Er horchte auf. Das war … sein Spruch … Woher kannte sie den? … Eine Erinnerung kam in ihm hoch. Am Tag, an dem er sie zum ersten Mal unterbewusst wahrgenommen hatte – da hatte sie genauso geweint. Nur dass er sie damals einfach so aufmuntern wollte. Dass es ihm damals nicht das Herz zerrissen hatte, dass sie weinte. Dass er damals nicht gewusst hatte, wie sehr er dieses kleine, unschuldige Mädchen liebte. „Tut mir leid“, entschuldigte sie sich. „Nein, nicht doch …“ Er befand sich neben ihr, schaute auf sie herab und fühlte sich furchtbar deplatziert. Das war nicht richtig. So verstärkte er dieses Gefühl mit seinen Vorwürfen wohl noch tausendfach. Warum konnte sie es ihm nicht sagen? Was nur war ihr Geheimnis? Er stellte sich neben sie und lehnte an der Mauer. Ray steckte seine Hände in die Hosentaschen seiner Jeans. … Wie sollte er ihr bloß helfen? Er musste irgendetwas sagen. … Bloß was? Er hatte keine Ahnung, worum es ging und … Plötzlich glaubte er zu verstehen, wie sich Leute, die sich um ihn sorgten, fühlen mussten, wenn er sich ihnen gegenüber abweisend benahm. Wenn er ihnen seine Geschichte verschwieg, obwohl er sie mehr als nur andeutete. „Damals … bevor ich dir meine Geschichte erzählt habe …“, hörte er sich selbst sagen. Eine plötzliche Traurigkeit stieg in ihm auf – wie immer, wenn die Szenen, die sich damals ereignet hatten, wieder in seinem Kopf auflebten. „… habe ich geglaubt, ich sei der Einzige, der mich verstehen würde. Dass keiner, der das nicht erlebt hat, nachvollziehen könnte, wie es mir geht, was das alles bedeutet …“ Er bemerkte, dass sie zu ihm aufsah, schaute ihr in die Augen und fing den Blick auf. „… Deshalb habe ich es auch so wohl gehütet. Für mich hat es Sinn gemacht. Und ich habe für andere mitgedacht, habe mir selbst eingeredet, dass es zu kompliziert wäre, mit anderen darüber zu reden …“ „Das ist es nicht“, entgegnete sie plötzlich viel beharrlicher, „Ich …“ Er schüttelte den Kopf. „Du hast mich nie zum Reden gedrängt. Es ist einfach passiert … Aber danach … Ich habe mich einfach nur komplett befreit gefühlt, als ich wusste, dass du diese Geschichte kennst. Ich wusste einfach, dass du mich verstanden hattest.“ Sie sah ihn überrascht an. Ihre Wangen glitzerten noch feucht, aber ihre Augen schienen sich beruhigt zu haben. Er lächelte ihr zu. „In dem Moment ist mir eigentlich klar geworden, wie viel mir dein Vertrauen bedeutet. Und dass ich einfach wollte, dass du das über mich weißt. Du und kein anderer.“ Ihre Augen weiteten sich. „Ray … ich …“, brachte sie hervor, „Ich …“ Sofort wandte sie sich wieder ab. „Ich kann es nicht sagen. Ich will auch, dass du mir vertrauen kannst. Mehr als jeder andere, aber …“ Sie sackte noch tiefer zusammen. „… das würde dich in Gefahr bringen.“ „Hey …“ Erneut stieß er sich von der Mauer ab und stellte sich vor sie. Er nahm ihre Schultern in seine Hände und drückte sie zurück, sodass sie ihn ansehen musste, dass sie gerade sitzen musste und dass sie nicht entkommen konnte. Sie erwiderte seinen Blick kurz, schaute dann aber weg. „… Du machst dir zu viele Sorgen. Ich bin hier, um dich zu beschützen – ich weiß nicht vor wem, ich weiß nicht wovor, aber ich habe es mir vorgenommen.“ Er lächelte breiter. „Manchmal muss man Risiken eingehen, um weiterzukommen.“ „Und das kommt von dir?“, fragte sie plötzlich spitz. Nicht nur spitz, sondern beinahe stechend tief. Und dieser Stich, den sie ihm erneut versetzte, ließ ihn erkennen, was er gerade erzählte: Er gab Tipps, an die er sich selbst nicht halten konnte. … Er konnte seine Vergangenheit nicht vergessen, konnte deshalb gewissen anderen Leuten nicht vertrauen – konnte eigentlich kaum einen so richtig vertrauen … und dann redete er ihr ein, dass er Risiken einging? Er ging keine Risiken ein. Er hatte einen Schutzwall um sich errichtet. … Aber eine Person hatte ihn plötzlich einreißen können. „Ich habe dir mehr über mich erzählt, als ich eigentlich je wieder sagen wollte“, wiederholte er, „Das war doch schon ein ziemliches Risiko.“ Er hielt sein Lächeln aufrecht. Er wollte, dass sie das wusste. Dass es zwar ein Risiko war – aber alles andere als ein Fehler. Sie starrte zurück. Und sofort verzog sie schmerzerfüllt das Gesicht. „Es tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Es ist nur so – ich … ich bin verwirrt …“, stotterte sie herum, „Ich …“ Plötzlich wandte sie den Blick ein wenig ab. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. Und sämtliche verbliebene Farbe wich ihr aus dem Gesicht. Kyrie sah an Ray vorbei direkt zum Vonronwonsonyonxonton, einem der höchsten Gebäude der Stadt. Kyrie war noch nie bei diesem gewesen – es war im nördlichsten Norden der Stadt, von der kompletten Stadt aus sehr gut zu sehen und in diesem befanden sich einige Unternehmenssitze. Doch was Kyries Atem stocken ließ, war das Licht, das von der abgeflachten Dachterrasse aus zu sehen war. Und ihr Körper, der sie sofort in diese Richtung ziehen, der ihr zuschrie, dass sie zu Acedia gehen müsse. Sofort. „Kyrie?“, fragte Ray verwirrt. Die Schmerzen, die sie relativ gut zurückgedrängt hatten, pochten durch die Nähe zur Ruferin wieder in vollen Zügen auf. Sie fühlte sich geschlagen und getreten. Aber zumindest schienen ihre Flügel nicht mehr auf den Ruf zu reagieren. Glück im Unglück. „Alles in Ordnung?“, wiederholte er, „Bist du noch da?“ „Ja …“, hauchte sie beinahe tonlos, „Ja, bin ich.“ Was sollte sie tun? Ihr Herz schien noch höher zu schlagen als sonst. Acedia. Ein Schauer ging ihr über den Rücken. Sie war hier, um Kyrie zu holen. Um sie zu verbannen, zu bestrafen. Dafür, dass sie nicht auf den Ruf gehört hatte. Angst machte sich in ihr breit. Und das goldene Licht, das die Flügel des Engels ausstrahlten, schien bereits Strafe genug zu sein. Es war so hell, dass es nicht mehr auffiel, dass der Himmel seinen Glanz verloren hatte. Es war vielen Leuten aufgefallen. Die meisten hielten es für ein Wetterphänomen – unter anderem auch Ray. … Und Kyrie wollte es auch glauben. … Aber dass das genau am Tag der Versammlung passiert war – dass Acedia alles so hell erleuchtete … Vermutlich war die Versammlung deshalb einberufen worden. Vermutlich wären alle Engel gebraucht worden. Und sie hatte sie im Stich gelassen. Ihre Kehle schnürte sich zu, sie begann zu zittern. Sie wollte nicht bestraft werden. Sie hatte Angst vor einer Bestrafung, so ungeheure Angst. Ihr Magen protestierte beim Gedanken daran, Acedia in die Arme zu laufen und die Gerechtigkeit entgegen zu nehmen. Und sie hasste ihre Feigheit dafür. Zwanzig Jahre der Prinzipien waren einfach so zerstört! Ray legte ihr die Hände auf die Schultern. Er stand vor ihr, sein Gesicht war so nah bei ihr … Und er lächelte. Wie er lächelte. Wie er keine Ahnung hatte, dass dort oben ihr Richter stand und … und … „Bitte, rede mit mir …“ Sein Lächeln verschwand plötzlich, „Hey …“ „Ich …“, brachte sie erstickt hervor. Was sollte sie sagen? Was sollte sie tun? „Ich glaube, ich … ich habe etwas Schlimmes getan“, erzählte sie ihm mit erstickter Stimme. Ihr Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb. „Und es tut mir schrecklich leid“, fügte sie hinzu, „So schrecklich leid!“, versicherte sie ihm, „Aber … ich konnte nicht anders – und … und eine Bestrafung würde es wieder gut machen – aber ich habe Angst davor, bestraft zu werden und …“ „Ehrlichkeit währt am längsten“, meinte er zuversichtlich, „Jeder Richter wird Nachsicht haben, wenn du deine Gründe offen legst, wenn es gute Gründe sind – und wenn du Reue zeigst.“ „… Nachsicht …“, wiederholte sie. Konnte sie bei einem Engel wirklich auf Nachsicht hoffen? … Hatte sie das gerade wirklich in Frage gestellt. Vor einem halben Jahr noch waren Engel für sie die Nachsicht in Person. … Und jetzt … jetzt ließen sie sie erzittern … „Stehe zu deinen Fehlern“, riet er ihr, „Aber lass dich von ihnen nicht unterkriegen. Du musst weitermachen. Deine Ziele weiterverfolgen – du möchtest doch irgendwann genauso gut predigen können wie dein Vater, oder?“ Er lächelte leicht. „Wenn du das wirklich willst, dann musst du dich zuerst an deine eigenen Vorsätze halten.“ „… Also … soll ich mich stellen?“, fragte sie leise. Ungläubig. Ray sagte das so einfach, aber … aber … diese Angst … Die Enttäuschung. … Doch er hatte Recht. Was, wenn es wirklich der erste Schritt zur Besserung war …? Wenn Engel wirklich gnädig sein konnten? „Denkst du, dass der Richter deine Beweggründe verstehen würde?“, wollte er von ihr wissen. … Ob Acedia es verstehen würde? Für sie war sie nur ein kleiner, unbedeutender Halbengel, der es nicht einmal wert war, dass man ihm Hilfe gewährte, wenn er sie brauchte. Natürlich hatten die Todsünden dafür auch ihre Gründe gehabt. So wie sie sie gehabt hatte. Jeder hatte für alles seine Gründe, hielt sie für die besten überhaupt – auch Xenon tat das … Xenon … Wenn sie jetzt da hoch ging … dann würde sie aus dem Himmel verbannt werden. Sie hatte noch eindeutiger als beim Blenden gegen das Gesetz verstoßen. Wegen Xenon. Schon wieder. Sie hatte nicht mehr die psychische Kraft, alleine in den Himmel zu gehen. Nathan war nicht gekommen … Acedia … wenn sie es ihr erklärte – würde sie es nachvollziehen können? Würde einer der mächtigsten und wichtigsten Engel wirklich einfühlsam genug sein, um panische Furcht vor dem Himmel akzeptieren zu können? … Vielleicht war sie auch gar nicht da, um sie zu bestrafen. Vielleicht erhielt sie jetzt schon ihre zweite Chance – als Wiedergutmachung. Lief die Versammlung überhaupt noch? Warum war Nathan sonst noch nicht gekommen? Acedia … war sie vielleicht hier … um sie auf den richtigen Weg zu bringen? Und falls nicht … konnte sie laufen. Der Ruf würde zurück geschickt werden. Und nichts konnte mehr so schmerzhaft sein wie der Magnet. Sie wäre frei vom Ruf. Sie erhob sich. „Ich … hoffe es …“ Ihre komplette Magie zog an ihr. Sie musste laufen. Und rennen. Zu Acedia. Sie wartete dort oben auf sie. … Sie würde sie befreien können … „Sei überzeugend“, half Ray ihr weiter, „und bereue.“ Plötzlich runzelte er die Stirn. „Kyrie? Alles klar? Du … wirkst plötzlich so …“ Er stockte. „… entschlossen?“, mutmaßte sie und starrte weiterhin zum Dach hoch. „Ich habe eben eine Entscheidung getroffen.“ Sie lächelte ihn unsicher an. „Ich glaube, das ist seit langem die erste gute Entscheidung.“ Auch wenn sie selbst es noch immer bezweifelte. „Welche?“, wollte er wissen. „Sag meinen Eltern, dass sie nicht auf mich warten brauchen.“ Sie erhob sich von der Mauer und umarmte Ray. „Bis morgen. Und danke für deine Hilfe.“ „Welche Hilfe?“, wollte er verwirrt wissen. Sie schaute zu ihm hoch. „Du hast mir doch eben Tipps …“ „War das nicht rhetorisch?!“, schnitt er ihr das Wort ab, „Läufst du jetzt zur Polizei? Ich-…“ Sie wich einige Schritte zurück. Sie wusste, was er jetzt sagen wollte, der besorgt bestimmte Ausdruck auf seinem Gesicht sprach Bände. „Nein, da … da kannst du nicht mit“, meinte sie mit Entschlossenheit in der Stimme, „Es … es werden schon andere da sein, die mir helfen, ich-…“ Sie unterbrach sich. Es wäre schon toll, wenn Nathan bei ihr wäre. Wenn er sie unterstützen könnte. … Aber … Nathan war auch Acedias Assistent. Und wieso sollte … Ein Geistesblitz traf sie – deshalb war Acedia hier! Nathan musste ihr gesagt haben, dass Kyrie nicht alleine in den Himmel konnte! Und er hatte bestimmt irgendetwas Wichtiges zu tun, hatte derweil Acedia geschickt, um sie zu holen. Um sie zu begleiten! Das war keine Bestrafung – sie gaben ihr vielleicht wirklich eine Chance! Sie musste los. „Bis morgen!“, rief sie, drehte sich um und rannte los. Morgen würde sie sich bei Ray für ihren Auftritt entschuldigen müssen. Aber … vielleicht war wirklich nicht alles zu spät. Vielleicht hatte Nathan für sie alles ins rechte Lot gerückt – und sie wollte sich eine zweite Chance nicht durch ihre Angst nehmen lassen. … Während sie rannte, schaute sie zurück zu Ray, der noch immer an der Mauer stand und ihr verdutzt nachschaute. … Er würde es ihren Eltern ausrichten, sodass sie sich keine Sorgen machen mussten. Und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit fühlte sie wieder Hoffnung, als sie dem Himmel entgegen lief. Nathan hatte sie also doch nicht vergessen. … Damit hatte er also bewiesen, dass sie sich wirklich auf ihn verlassen konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)