Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Als John die Tür öffnete und Nathan mit den anderen Engeln sah, war er überrascht. Aber auch erleichtert. Sie würden Kyrie bestimmt helfen! Seit Tagen schien es ihr Sekunde für Sekunde schlechter zu gehen. Sie bewegte sich so krank und schwach – so … hilflos. Irgendetwas musste sie sich eingefangen haben. Oder etwas war passiert … etwas, was sie ihm und Magdalena nicht mitteilen wollte, was sie in sich hineinfraß … Und sie schien davon überzeugt zu sein, dass der Himmel ihr nicht helfen würde … Aber Nathan würde ihr da bestimmt das Gegenteil beweisen! Er musste einfach … „Guten Tag!“, begrüßte Nathan ihn, „Ist Kyrie zuhause?“ Die Kleidung der Engel war zwar nicht hundertprozentig auf das Wetter ausgerichtet, doch allzu fest fielen sie nicht auf. Aber … das wäre ihm jetzt auch noch egal. Hauptsache, sie halfen seiner Tochter … „Guten Tag!“ Er nickte eifrig. „Sie liegt krank in ihrem Bett. Seid ihr hier, um sie …“ „Krank!?“, rief der Engel namens Liana besorgt aus, womit sie ihm das Wort abschnitt, „Aber … sie kann doch nicht krank sein!“ Und ehe er sich versah, hatte die zierliche Frau sich an ihm vorbeigedrängt und stürmte durchs Haus. Ein flaues Gefühl breitete sich in seiner Magengrube aus … Was sollten ihre Worte bedeuten?! Was … was war schon wieder mit Kyrie …? Er drückte sich gegen den Türrahmen, um ein Zittern zu unterdrücken. Nathan würde ihr helfen. Er musste. „Sie hat noch nicht viel von den Verhaltensregeln gelernt …“, erklärte Nathan. Er grinste. Wie konnte er in so einem Moment nur fröhlich sein? … Er war ein Engel. Er sollte ihn vermutlich aufmuntern – also unterdrückte John seinen Unmut, so weit es ging. „Helft ihr Kyrie?“, fragte er offen nach, wobei er Nathans Kommentar einfach überging. Sie waren Engel. Sie mussten ihr helfen können. Wenn nicht sie … wer dann? „Wir tun unser Bestes!“, meinte Nathan leichtfertig, „Dürfen wir reinkommen?“ Er machte ihnen Platz. „Selbstverständlich.“ Sie schritten an ihm vorbei. … „Und bedient euch dann ruhig in der Küche …“, bot er ihnen noch leise an. Sie würden es verdient haben. Nachdem sie seine Tochter gerettet hatten. „Nathan, das ist ernst …“, erklang die Stimme von Thierry. Scheinbar hatte Nathan jetzt ja wieder Zeit für Kyrie, sodass Thierry sich nicht selbst um Kyrie kümmern musste. „Krank? Ein Engel …?“ „Sie ist ja nur ein halber“, beruhigte er ihn, „Mach dir keine Sorgen. Mein Gesicht wirkt manchmal Wunder!“ Sie traten an ihm vorbei ein. Er schloss die Tür. … Gut, dass sie da waren. … Sie würden ihr helfen. Er glaubte daran. Engel konnten alle Wunden heilen. Es hatte nicht gewirkt. Sie hatte ihn durchs Fenster hindurch gesehen … und die Schmerzen waren nicht verschwunden. Und sie spürte, wie er sich näherte. Wie er alles von ihr erfahren wollen würde … Sie zog ihren Kopf unter die Decke. Auch wenn sie bezweifelte, dass er sie übersehen würde … Die Tür wurde aufgerissen. „Kyrie!“, kreischte eine vertraute Stimme. Liana! Sie war da! … Vor ihr würde Nathan sie doch nicht ausquetschen, oder? Sie stülpte die Decke zurück. „Du lebst!“, erkannte die Frau und lief zu ihr ans Bett, „Hey, alles klar? Du bist krank?“ „Wo ist Nathan?“, fragte sie, wobei sie Lianas Frage nicht beantworten wollte. … Sie konnte ihn ja auch nicht anschwärzen, dass er sie gerufen hatte … aber dafür zu lügen … Nein. Das war es nicht mehr wert! „Er kommt gleich hoch“, meinte sie sanft, „Keine Bange. Wir bringen dich in den Himmel. Da wirst du sofort wieder gesund, versprochen!“ Sie schüttelte den Kopf, was ihr unangenehme Nackenschmerzen einbrachte. „Nein … Macht euch nur keine Umstände …“ Durch die offene Tür traten die Gestalten der drei Männer. Sie schaute nicht zu ihnen. … Und der Schmerz blieb! Warum war er noch da? Sollte er nicht verschwinden, sobald sie und Nathan sich im selben Raum befanden!? Was … was hatte er gemacht? Panisch schaute sie zu ihm – und fühlte sich erleichtert. Sie fühlte, wie die Magie ihren Körper verließ und zu Nathan zurückkehrte. Der Schmerz mochte verschwunden sein, doch die Angst war noch immer da. Was würde er jetzt mit ihr machen? Sie hatte seinen Befehl verweigert, in den Himmel zu kommen. Sie verheimlichte etwas vor ihm, was ihm – theoretisch, zumindest laut ihm – helfen könnte … Sie log und betrog … „Dir scheint es ja wieder besser zu gehen“, erklang seine Stimme und er schritt zu ihrem Bett, „Das war bestimmt der Nathanentzug.“ Er grinste sie keck an. Geschah ihr das etwa recht? Führte er da gerade eine Racheaktion aus?! Thierry schaltete das Licht ein. „Draußen ist helllichter Tag!“, meinte er, „Warum ist es hier so dunkel?“ „Ich habe geschlafen“, erklärte sie, „Jetzt geht es mir wirklich wieder super …“ „Dann ist es ja gut, dass wir gekommen sind!“, rief Liana motiviert aus, „Jetzt können wir das Mittwochstreffen mit dir halten!“ Sie besah sich der Leute. Thierry wirkte zufrieden … also war keine Erinnerung zurückgekommen. Joshua schaute sich im Raum um … und Liana wirkte fröhlich. Während Nathan … kalkulierte. Er wollte sie heute bekommen. … Wie sollte sie nur fliehen? „Ja“, meinte sie leise, aber durchaus bestimmt, „Danke, dass ihr hergekommen seid …!“ „Wir hatten einfach im Gefühl, dass etwas nicht stimmt.“ Liana zwinkerte. „Du hast uns sozusagen gerufen!“ „Oder viel mehr …“, mischte sich Thi ein, „… ist dieses Treffen ein Schwur unter uns – eine Zeit, die oberste Priorität hat! Du entkommst uns nicht.“ Er grinste. Sie lächelte. „Danke, wirklich …“ Und hoffentlich blieben sie bei ihr, bis Nathan ebenfalls gehen musste. … „Aber wo ist Deliora? Wenn ich euch nicht entkomme … gleiches Recht für alle?“ Plötzlich sank die Stimmung auf Null. Der Raum schien sofort dunkler zu werden. „Deliora wird in nächster Zeit nicht mehr kommen“, klärte Nathan sie behutsam auf, „Sie ist jetzt ein Engel des Siebten Rangs – bis sie alles unter Kontrolle hat, hat sie keine Freizeit mehr.“ Kyrie schluckte schwer. In nächster Zeit? … Was bedeutete so etwas denn für einen Engel …? … Deliora … Hoffentlich machte sie es gut … „Können wir sie nicht besuchen?“, schlug sie leise vor. „Sie ist immernoch ein Engel“, entgegnete Nathan, „Da werden keine Ausnahmen von der Norm gemacht.“ „Aber bei mir schon?“, begehrte Kyrie auf. Sie wusste, dass das einen bestimmten Grund hatte. Dass er dem nicht zugestimmt hätte, wenn es nicht in seinem eigenen Interesse gewesen wäre. Sie bezweifelte, dass er sich wirklich um sie gesorgt hatte … Sie erhielt keine Antwort mehr. „Mach dich jetzt fertig, wir treffen uns dann unten!“, beschloss Nathan und marschierte davon. … Also würde er sich das bis zum Ende aufsparen … Sie schaute ihren Freunden nach, wie sie einer nach dem anderen das Zimmer verließen. … Zumindest würden sie jetzt ihre Eltern beruhigen. Würden ihren Glauben in die Macht der Engel stärken … Nur würde ihnen vorenthalten werden, dass ein Engel dafür verantwortlich war. Langsam baute sie ihnen eine Scheinwelt auf … eine, die zu schön war, um wahr zu sein … was sie zur größten Lüge machte. Das war es, was er an einem Dasein als Todsünde hassen würde: das Richten über jene, die einem etwas bedeuteten. „Danke für den tollen Tag!“ Liana stürmte zu Kyrie und umarmte sie. „Bis nächste Woche!“ „Ich liebe Kuchen einfach“, sagte Thi, der direkt neben Kyrie stand. … Wenn er sich noch erinnern könnte, müsste er mit ihm gleich verfahren. … Wie hatten es die beiden bloß geschafft, soweit ins Verdächtigenfeld vorzurücken? „Also essen wir das nächste Mal wirklich einen mit Orangengeschmack?“ „Du weißt doch nicht einmal, was Orangen sind“, stellte Liana belustigt fest.. „Natürlich essen wir einen!“, versprach Kyrie, „Also treffen wir uns wieder auf der Erde?“ „Wir treffen uns dort, wo wir dem Kuchen am nächsten sind!“, beschloss Thierry, „Also hier!“ Liana lachte. „Gut, gut!“ Sie umarmte Kyrie noch einmal. „Dann mach es gut – und die Prüfungen gehen bestimmt locker vorüber!“ Sie zwinkerte ihr zu. „Ich hoffe es“, murmelte sie, „Nächste Woche das Mittwochstreffen wird noch gehen, aber …“ „Dann wird es eben in drei Wochen sein!“, meinte Thi leichtfertig, „Aber das machen wir einfach spontan.“ „Kyrie, du beeinflusst uns hier negativ!“, tadelte Liana sie unernst, „Wir machen uns Gedanken über das nächste Treffen …“ Sie lachte. „Wir wollen doch flexibel bleiben!“ Thi stimmte in das Lachen mit ein und Kyrie rang sich ein Lachen ab. Sichtlich. Wenn man wusste, wonach man suchen musste. „Na dann, gehen wir, oder?“, fragte Thierry. Liana nickte. „Bye, Kyrie! Bis zum nächsten Mal.“ „Bye!“ Thierry umarmte sie auch noch. „Und dann reden wir nächste Woche auch über mein nächstes Spiel, bei dem ich dich dabei haben will!“ „Natürlich!“, versicherte sie sofort – wirkte aber mehr gezwungen als überzeugt. Sie war nervös. Wegen ihm vermutlich. Sie wusste, was kommen würde. Und er bereitete sich auch darauf vor. Es musste sein. „Nathan, Joshua, kommt“, rief Thierry sie zusammen, „Dann- …“ Nathan unterbrach ihn: „Ich bleibe noch kurz hier“, entschuldigte er sich, „Ich muss mit meiner Schülerin noch ein Wörtchen reden.“ Er winkte sie fort. „Wartet nicht auf mich.“ Thierry zog die Stirn kraus. „Ach ja?“ Er schaute zu Kyrie zurück. Und auch Liana beobachtete deren Reaktion. … Sogar die beiden hatten bemerkt, dass etwas in der Luft lag. … Kyrie sollte sich nicht so dumm anstellen! Sie starrte nur mit weit geöffneten Augen in der Gegend herum, als hoffte sie, dass irgendein Wunder ihr helfen könnte – und nach einer Weile schien sie einzusehen, dass das nicht der Fall war. Dass sie sich irgendwann dem stellen musste, vor dem sie weggelaufen war. „Schaut so aus“, gab sie sich geschlagen. Sie seufzte. „Ihr habt es so schön ohne Lehrmeister.“ Thi grinste – die Sorge war völlig verschwunden. „Übe fleißig weiter, dann brauchst du auch gar keinen mehr!“ Liana nickte. „Du überstehst das.“ Kyrie lächelte ihnen zu. „Dann … bis zum nächsten Mal?“ Und die beiden flogen ab, nachdem sie sich noch einmal verabschiedet hatten – und auch Joshua folgte ihrem Beispiel, nachdem Nathan zustimmend genickt hatte. „Viel Glück“, waren seine letzten Worte an Kyrie gewesen … Hatte er jetzt etwa die andere Partei ergriffen? Kyrie schaute sich verstohlen um. „Meine Eltern werden bald zurück sein“, prophezeite sie. „Dann sollten wir es uns wohl besser schnell hinter uns bringen“, meinte Nathan leichthin, „Es liegt an dir.“ Er zuckte mit den Schultern. „Du weißt ja, worum es geht.“ Sie blickte ihn unsicher an, ihre ganze Gestik sprach von Zögern und Nervosität. … Sie so zu quälen … Aber es war nötig! Vielleicht … vielleicht half es ihm ja wirklich weiter. Und wenn nicht ihm, dann zumindest ihr. Irgendetwas belastete sie doch! „Ich darf es dir nicht sagen“, beharrte sie nach wie vor, „Ich … habe es versprochen …“ „Egal“, meinte er. Er ging einen Schritt auf sie zu. Wie sie verlassen im Eingangsbereich ihres Hauses stand, so als ob man sie völlig alleine zurückgelassen und einem Monster zum Fraß vorgeworfen hätte … Aber das konnte sie doch nicht wirklich so meinen, oder? Sie … konnte ihn doch nicht fürchten. Nicht vor ihm! Hatte er ihr je Anlass dazu gegeben? „Ich befreie dich von deinem Schwur.“ Sie runzelte die Stirn. „So etwas kannst du nicht!“, beharrte sie, „Was würde ein Schwur zählen, wenn du es könntest?“ Er schüttelte langsam den Kopf und blieb in angemessenem Abstand eines Prüfers zur Befragten stehen. „Keinen, da hast du recht“, gab er zu und zuckte mit den Schultern, „Aber manchmal muss man darüber hinwegsehen. Das Allgemeinwohl …“ „… hängt ganz bestimmt nicht von mir ab!“, unterbrach sie ihn leise, „Glaube mir doch …“ „Was verschweigst du mir?“, fragte er sie direkt. Und sie starrte zu Boden. Ohne ihm eine Antwort zu geben. „… Kyrie …“, sprach er leise, „Du musst doch wissen, dass du mir vertrauen kannst. Ich … würde dir doch nie etwas tun!“, versuchte er, sie zu beruhigen. Während er sprach, ging er langsam auf sie zu, vorsichtig, um sie nicht zu verschrecken. Sie bewegte sich keinen Schritt. „Nichts, was du anstellst, könnte schlimm genug sein …“ „Darum geht es gar nicht“, fuhr sie dazwischen, „Du verstehst es nicht – ich … sie … wir haben das Gesetz gebrochen – meinetwegen …“ … Das Gesetz gebrochen. Was konnte sie damit meinen? … Sie hatte keine Rache an Xenon genommen, oder? Einen Feldzug gegen Jeff und seinesgleichen geplant? Das – das konnte nicht sein! Und was hätte das mit Gula zu tun gehabt? Eine vernünftige Todsünde hätte sie abgehalten! „Was habt ihr getan?“, wollte er sanft wissen – und dennoch sprang die Nervosität auf ihn über. … Wie genau sollte er reagieren, wenn sie wirklich etwas Schwerwiegendes angestellt hätte? Er konnte doch nicht einfach … „Ich kann es nicht sagen“, beharrte sie weiterhin fest. Sie spannte sich an. Er musste doch irgendwie zu ihr durchdringen können! „Kyrie“, wiederholte er - diesmal strenger. Gut, wenn die sanfte Tour nichts nützte, dann … Er erschrak förmlich obgleich seiner Gedanken. … Harte Tour? Was für eine harte Tour? Er konnte ihr nichts tun! Er konnte sie doch nicht einfach bedrohen! Sie waren doch Freunde … und sie hatte ohnehin schon Angst … „Freunde vertrauen einander.“ Sie schaute auf. Schaute ihm direkt in die Augen. Und in ihren Augen erkannte er einen Schmerz, der ihm verriet, dass ihr das von Anfang an klar gewesen war. Dass … sie ihn ins Vertrauen ziehen wollte, beichten wollte – es aber nicht konnte. „Manchmal …“, murmelte sie, „ist es besser, etwas zurückzuhalten, um die Menschen, die einem wichtig sind, zu beschützen …“ „Ich kann nicht nachgeben“, legte er die Tatsachen aus. Sie wollte ihn davor bewahren, damit belastet zu werden? Erkannte sie denn nicht, dass das in seiner Position nicht möglich war? „Ich werde immer wieder kommen …“ „Wenn du wieder einfach so reinplatzt, wirst du irgendwann auf Ray treffen“, warnte sie ihn, „Du … solltest einfach Ruhe geben … und es vergessen …“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist ohnehin nicht wichtig …“ „Woher willst du wissen, was für mich wichtig ist?“, fragte er sie. Ray – das war bestimmt der Mann, der bei ihr gewesen war. … Konnte er da ansetzen? Einen Zwang daraus schnüren? „Ich bin mir sicher“, beschied sie erneut und zog sich weiter zusammen, umklammerte ihren Körper, „Was sollte mein Geheimnis dir schon nützen?“ „Manchmal ist es die kleine Brise, die den Baum umreißt“, entgegnete Nathan metaphorisch, „Und manchmal muss man Opfer bringen, um zum Ziel zu gelangen.“ Sie sah ihn mit großen Augen an. Verständnislos. Ungläubig. Er atmete tief durch, etwas in ihm zog sich zusammen. Er schloss die Augen. Und jedes Wort, das er danach ausstieß, brannte auf seinen Lippen: „Wenn ich Ray begegnen sollte, lösche ich seine Erinnerungen, wenn ich sonst jemandem begegne, lösche ich dessen Erlebnisse – und wenn ich das bei allen Menschen auf der Welt tun muss, so soll es geschehen.“ Langsam öffnete er sie wieder und blickte in Kyries erbleichtes Gesicht, die ungläubig aufgerissenen Augen und den Mund, der etwas sagen wollte, aber kein Wort herausbrachte – und stattdessen unermüdlich zitterte … Sie tat ihm leid. War er zu brutal vorgegangen? Natürlich war er das. Er hatte eine offene Drohung ausgesprochen … sie … sie würde das doch verstehen, oder? Dass er das tun musste … Dass das seine Pflicht war … dass er nicht umhin konnte … Doch hoffentlich nahm sie es ernst genug, um zu beichten. … Natürlich könnte er niemals alleine alle Erinnerungen löschen – das wäre doch zu gefährlich … aber er könnte das andererseits umsetzen lassen. „Erinnerungen zu löschen“, flüsterte Kyrie, „… kann nicht alles ungeschehen machen …“ Sie wandte sich um und rannte los – zu der Treppe. Wollte sie auf ihr Zimmer fliehen? Er setzte ihr nach. Nathans Worte hallten in ihren Ohren wider. Rays Erinnerungen beeinflussen … Rays Erlebnisse löschen … Wie konnten Engel nur glauben, dass das Löschen von Erinnerungen alles wieder gut machen würde? Dass es helfen würde? Sie zerstörten damit persönliche Eindrücke! Was Ray in diesem Moment empfunden hätte … Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Sie stürmte schnellstmöglich in ihr Zimmer, versuchte, die Tür zuzudrücken. Wie konnte Nathan ihr das nur antun wollen? … Sie … sie konnte es doch nicht sagen! Warum verstand er das nicht? Warum glaubt er ihr nicht? Eigentlich wollte sie sich wieder unter ihrer Decke verstecken, aber sie kam nicht weit. Nathan war direkt hinter ihr und stieß die Tür auf. Kyrie ließ sich widerstandslos auf den Boden sinken. … Wie sollte sie ihn abschütteln? „Aber es ist echt erstaunlich, dass du dem Ruf so lange standgehalten hast“, meinte Nathan entspannt. … Versuchte er jetzt, das Thema zu wechseln? Alles aufzulockern …? Sie zog die Knie an sich heran und legte den Kopf darauf, um in Dunkelheit zu versinken. Sie wollte nichts hören, nichts sagen und nichts sehen. … Wenn man sich verschloss, konnte man alles über sich ergehen lassen. … Das war es, was sie zwanzig Jahre lang gelernt hatte … durch ihn … Sie hörte, dass er auf sie zu kam, spürte, dass er eine Hand beruhigend auf ihre Schulter legte. „… Es tut mir leid, was ich gesagt habe“, entschuldigte er sich plötzlich. Die nette Tour? Sie wollte weiterhin wütend sein. Enttäuscht … Aber seine Stimme ließ sie aufhorchen … Er klang aufrichtig … Von seiner Todsündenpersönlichkeit war nichts mehr übrig. Sie schaute auf. Sah in seine blauen Augen, bemerkte, wie sein Mund verspannt war … Er hätte sich vorher überlegen müssen, wie weit er gehen wollte … Aber wie weit würde sie selbst gehen? Wenn er seine Drohung doch wahr machen würde …? Sie konnte das doch nicht verantworten! Sie … sie musste ihm nachgeben – aber andererseits … hatte sie es versprochen … „Ich habe es nicht genau so gemeint“, ergänzte er, „Ich … war nur so … enttäuscht …“ Er wählte seine Worte offensichtlich mit Bedacht. „Dass du mir nicht vertraust …“ Sofort legte sie ihren Kopf wieder nieder. „Es geht nicht“, wiederholte sie. Und es würde ihm nicht helfen … Er vertraute doch ihr nicht. Sonst brächte er sie nicht in diese Zwickmühle. Hätte ihr nicht gedroht. „Ich bin mir sicher, dass es nicht so schlimm sein kann, wie du glaubst“, meinte er, „Du … siehst das zu eng oder …“ „Nein“, entgegnete sie und versuchte, gefasst zu klingen, „Ich weiß, was ich getan habe …“ „… Okay“, stimmte Nathan ihr plötzlich zu, „Dann stelle dich deiner Strafe.“ Seine Worte trafen sie wie ein Blitz, ließen sie innerhalb eines Moments hochfahren. „Aber …“ Sie starrte auf Nathan herab, ungläubig. „Ein guter Engel gesteht sich ein, dass er etwas falsch gemacht hat“, erläuterte er seine bereits ausgesprochenen Gedanken, „… und stellt sich dem Richter.“ Sie starrte auf ihn herab. Wollte erwägen, ob er das wirklich ernst meinte … fühlte sich, als würde das Haus über ihr zusammenbrechen. … All die Zeit hatte sie sich immer damit beruhigt, gut zu sein. Nichts Böses zu tun … und plötzlich saß sie auf der Anklagebank? Müsste ein Verbrechen gestehen? Müsste sich selbst als kriminell sehen … Der Schock schien sie von innen zu zerfressen, jede Faser ihres Körpers fühlte sich, als würde sie zerbrechen. Als würde das, was sie ausmachte, aufhören zu existieren. Tränen stiegen in ihre Augen. Sie wollte doch nicht mehr weinen … Sie wollte doch ein hübsches Mädchen sein, das nicht mehr weinte … Die Tränen liefen ihre Wange hinab. Aber sie wollte das doch gar nicht … Sie wollte Thi und Gula von ihrer Schuld befreien, wollte ihnen danken für das, was sie für sie auf sich genommen hatten … und jetzt stellte sie sich nicht … Sie war ein Feigling … ein Lügner … der größte Versager. Nathan umarmte sie plötzlich. „Ich wollte dich nicht zum Weinen bringen …“ Zum Weinen … Sie war zwanzig, stand da und ließ sich trösten … weil sie herumheulte wie ein kleines Kind … Sie verkrampfte sich in Nathans Hemd, drückte sich an seine Brust. … Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Warum gab er ihr stattdessen Halt, obwohl er sie bedrängte? Obwohl er sie zu dem machte, was sie hasste? „Ich werde dich nicht dafür belangen“, flüsterte er, „weder dich, noch Thi – noch sonst wen, der damit zu hat …“ „Das ist falsch“, entfuhr es ihr mit erstickter Stimme. … Er musste doch richten – über alle gleich herrschen, sonst verschuldete nur er sich und … dann würde er wie Thi enden. Würde sich Erinnerungen nehmen lassen … würde Kyrie vergessen … „Oder es gibt einfach zwei Versionen vom richtigen Weg“, beruhigte Nathan sie, „Und wir beide nehmen die richtige.“ … Seine Aufgabe war es, Gulas Verschwinden zu klären. Zwar war er ein Richter, doch im Moment agierte er als Ermittler … Und ihre Aussage konnten von beiden verwertet werden … Der Richter, der sie bestrafen würde … und der Ermittler, der ihr danken würde … Aber … war das nicht nur eine Ausrede, die er sich zurecht gelegt hatte, um sein Gewissen rein zu halten? Eine Lüge … Sie hatte doch so genug vom Lügen! Und jetzt ließ sie andere für sich weiter lügen … verheimlichte weiter … „Rede es dir von der Seele“, schlug Nathan ihr vor, „Sieh dich an – und sag mir, dass es schlimmer kommen könnte.“ „Wenn dir etwas passieren würde“, antwortete sie in einem Schluchzen, „… das wäre schlimmer …“ „Aber mir passiert nichts“, beruhigte er sie, „Ich bin mein eigener Herr, was ich weiß, weiß kein anderer – und ich werde mich bestimmt nicht selbst bestrafen.“ Er klang ruhig. Ganz anders als vorhin … Gula und Thi hatten ihre Erinnerungen gelöscht, um sich von der Strafe freizusprechen … Nathan würde soweit nicht gehen – wie ihr plötzlich klar wurde. Er würde es einfach mit sich herum tragen – und es wäre ihm egal. … Er … er wollte einfach … nur die Wahrheit wissen. Was diese nach sich zog, interessierte ihn doch gar nicht … Wie konnte er nur so leichtfertig sein? So unehrlich? Er war doch ein Engel …! Und sie auch … Und sie war mindestens genauso unehrlich. Nur auf eine andere Weise. … Und wenn sie etwas daran ändern wollte, musste sie sich stellen. Sie würde Gulas und Thierrys Schuld auf sich nehmen … und Nathan sollte ihr Richter sein. Und so erzählte sie ihm davon, dass Gula Thierry das Blenden beigebracht hatte – und dass sie es nun auch beherrschte. Und dass die Angst nur größer geworden war. „Doch … ich kann es nicht … Der Gedanke, alleine im Himmel zu sein, lähmt mich. Die Vorstellung, das Schwert gegen jemanden zu benutzen – jemanden zu verletzen … oder wieder verletzt zu werden, ob es mich schmerzt oder nicht …“ Kyrie zitterte, als sie sich gegen Stuhl lehnte und scheinbar versuchte, vor ihren Erinnerungen zu fliehen. Nathan hatte sich vor sie auf den Boden gesetzt, sah ihr erwartungsvoll in die Augen und ließ sie durch ständiges Nicken fortfahren. … Und das Wissen, das er bisher erlangt hatte, löste beständig Schauer in ihm aus. … Gula hatte für sie das Gesetz gebrochen. … Für Halbengel allgemein? Wofür hatte er selbst das Blenden gebraucht? An wem hatte er es getestet – oder viel mehr: Wer hatte es an ihm getestet? Gab es weitere Tests? Weitere Übungen, die Verbote übertraten? Und inwiefern waren die anderen Todsünden darüber informiert? Er musterte Kyrie, als sie nichts mehr sagte. Sie hatte geendet und wirkte erleichtert. Als hätte … sie sich alles von der Seele geredet. Wie er es gesagt hatte … „Danke für deine Aufrichtigkeit“, meinte er ehrlich. Sie schaute ihn überrascht an, nickte dann leicht. Sie schien nicht viel mehr sagen zu wollen. … Und er musste nachdenken. … Aber er konnte diese Geschichte doch nicht an Acedia weiterleiten. Thi hatte gegen das Gesetz verstoßen – Gula hin oder her. Nur erinnerte er sich nicht. Und da war der Haken: Warum hatte keine der Todsünden darauf reagiert? Es sei denn, Gula hatte dafür gesorgt, dass sie nichts darüber wissen würden. Das mit Thierrys Namen – ja. Das musste der Grund sein, weshalb er seinen Zettel eingesteckt hatte. Dass er sich um den Fall Thierry kümmern konnte. Und alles vertuschen konnte. … Für wen also hatte er das Blenden gelernt? Für sich selbst? Für Halbengel in Nöten? „Bist du enttäuscht?“, fragte Kyrie leise. Er sah überrascht zu ihr auf. „Enttäuscht?“, wiederholte er verblüfft, „Warum sollte ich das sein?“ „Dass ich es zugelassen habe, dass Thierry diesen Schritt für mich geht“, erklärte sie leise, „Dass … sie gegen die Regeln verstoßen, um …“ Er schnitt ihr das Wort ab: „Gib dir nicht immer am Lauf der Dinge die Schuld. Jeder trifft seine eigenen Entscheidungen.“ Er lächelte sie an. „Und du hast auch gut darin getan, es mir zu berichten.“ Sie nickte. „Also … wenn du nach wie vor Angst davor hast, in den Himmel zu gehen …“, holte er den Faden auf, „… hole ich dich einfach wieder nach wie vor ab!“ Jetzt starrte sie ihn überrascht an. „Aber du hast doch so wenig Zeit – und der Aufwand und …“ Er erhob sich und beugte sich dann grinsend zu ihr herunter. „Für eine Freundin wie dich würde ich mir alle Zeit der Welt nehmen.“ Sie lächelte ihn dankbar an. Und er war froh, dass er sie beruhigen konnte. Und er meinte es ernst: Sollte sie ihn rufen, wenn sie ihn brauchte – er würde da sein. „Ich hole dich einfach immer ab, wenn du willst“, bot er an, „Ruf mich einfach, ich komme – und wir verbringen einen tollen Tag im Himmel!“ „Hauptsächlich mittwochs“, meinte sie, „An anderen Tage habe ich vermutlich auch keine Zeit mehr …“ „Die Prüfungen …“ Er nickte. „Viel Glück dabei.“ Sie stieß erleichtert den Atem aus. „Ich kann meine Freunde also wieder sehen …“, murmelte sie kaum verständlich, „… Nathan wird mir beistehen!“ Er grinste. Ob ihr klar war, dass sie das eben laut gesagt hatte? Aber egal! Sie wusste jetzt ja, dass auf ihn Verlass war. Und er wollte ihr da nicht das Gegenteil beweisen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)