Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Sie fühlte sich so fertig. Ausgelaugt. Als wären ihre Gliedmaßen einmal einzeln ausgerissen worden und im nächsten Moment wieder zusammengeflickt, nur dass jemand im nächsten Moment noch einmal daran reißen konnte. Aber zumindest schmerzte es nicht. Es zog nur. Sie fühlte sich unwohl. Es war nicht so, wie es sein sollte. Alles war anders … alles … Kyrie lag auf ihrem Bett. Kabel waren überall um sie herum. Sie wusste nicht genau, welcher wofür zuständig war, aber genau genommen, war das nicht von Bedeutung. Sie lag einfach da und starrte ins Leere. Auch ihre beiden Zimmergenossinnen, die beide in dieser Nacht eingeliefert worden waren, blieben still. Sie hatten sich noch nicht einmal vorgestellt. Sie glaubte, mitbekommen zu haben, dass die beiden Opfer eines Autounfalls geworden waren und deshalb hier lagen … Autounfall … Wenn sie auch solch einen banalen Grund hätte angeben können … Sie schloss die Augen erneut. Amnesie hatten sie ihr diagnostiziert. Wie sie sich wünschte, wirklich an einer solchen zu leiden. Einfach zu vergessen … Die Krankenschwestern schauten stündlich nach ihr. Sie brachten ihr zweimal am Tag Essen. Immer wieder kam ein Arzt vorbei, der etwas über den Verlauf wissen wollte, etwas darüber, was geschehen war … Aber sie schwieg. Schwieg eisern. Was sollte sie ihnen auch sagen? Sie wollte nicht lügen. Sie log nämlich nicht. Nicht einmal in diesem Fall wollte sie lügen – und was sie noch weniger wollte, war, dass diese Menschen von Engeln erfuhren. Noch weniger von gewalttätigen Engeln, die anderen Engeln Schmerz zufügten. Das würde ihren Gesamteindruck von Engeln ins Negative treiben – wenn nicht sogar zerstören. … Auch ihren Eltern würde sie davon nichts berichten. Jedenfalls nicht die vollständige Version. Sie konnte es nicht zulassen, dass die Gesamtheit der Engel negativ besetzt wurde … nur wegen … wegen Xenon, Jeff, Drake und … Milli. Diese vier … und andere ihrer Art – sie hoffte inbrünstig, ihnen nie mehr wieder zu begegnen. Sie hoffte, dass sie der Erde für immer fern blieben, wenn sie selbst dort verweilen würde … Sie hatte nämlich eine Entscheidung getroffen, die so schmerzlich war, dass sie deshalb am liebsten in Tränen ausbrechen wollte … aber sie sah keinen anderen Weg. Keinen Weg, der nicht noch mehr Schmerzen nach sich ziehen würde … Ihre Kehle schnürte sich zu, wenn sie daran dachte. An die Gesichter dieser Engel. Ein Schaudern durchfuhr sie, das sie beinahe frieren ließ. Wie konnten Engel nur so etwas tun? … Aber entsprechend gab es nur die eine Möglichkeit – eine Möglichkeit, die sie fast zum Weinen brachte, die aber zumindest diese Angst, die sie mit dem Gedanken an die Engel verband, ein wenig zurückdrängte: Sie würde den Himmel einfach nie mehr wieder betreten. Einfach … gar nicht mehr. Bis sie dann in fünfundzwanzig Jahren genau daran starb … Es wären einfach fünfundzwanzig Jahre, in denen sie ihr Leben auf der Erde lebte, in denen sie ihr Studium beendete, sich dann eine Arbeit verschaffte … und hoffte, dass sich niemand zu sehr an sie gewöhnen würde, da sie sowieso sterben würde … Es war aber das Beste so … Sie würde die nächsten Jahre einfach mit der Rehabilitation dieser Verletzungen verbringen, wie es jeder Mensch tat. Im Himmel wären all diese Verletzungen in kürzester Zeit verschwunden, einfach nicht mehr da … aber … lieber ertrug sie all diesen Schmerz für einige Tage, Wochen, Monate oder Jahre, als noch einmal Gefahr zu laufen, diesen Leuten zu begegnen … Dass sie sie wieder einfangen könnten … dass sie sie verletzten konnten … Und dass sie scheinbar einen Grund dafür hatten … Sie hatte darüber nachgedacht, was Xenons Leute gesagt hatten. Sie hielten sie für einen Dämon … Es lag also nahe, dass sie sie für all das Böse auf der Welt beschuldigten. Dämonen konnten auch auf Halbengel leichter über greifen – und deshalb gab es auch Engel wie Nathan, die in etwa zwanzig Jahre opferten, um sich mit dem Halbengel zu beschäftigen … Ob darin ihr großes Problem lag? Sie war zu dem Schluss gekommen, dass es ein gezielter Angriff auf sie war. Dass es ihnen auch nichts ausgemacht hätte, sie wirklich zu töten. Nur der bloße Anstand der Engel, das Gute, das Engel von Natur aus in sich trugen, hatte sie davon wohl abgehalten. Denn überzeugt waren sie. Und wie sie überzeugt waren. Kyrie hatte bereits ihrem Tod ins Auge gesehen. Durch die Methode, nie mehr in den Himmel zurückzukehren, erhielt sie wertvolle fünfundzwanzig Lebensjahre dazu. Wenn sie den Himmel noch einmal betrat, würde sie schlichtweg hingerichtet werden. Und das wollte sie nicht. Sie war noch zu jung zum Sterben. Und sie hatte noch so viel vor … Eigentlich hatte sie auch im Himmel sehr viel vorgehabt. Dort hatte sie auch ihre Freunde. Diejenigen, denen sie etwas bedeutete. Die ihr etwas bedeuteten. Liana, Deliora, Thierry, Joshua … und vor allem Nathan … Oh, wie schmerzlich die Zeit ohne sie werden würde … Aber sie würde es verkraften müssen … Immerhin würden die langlebigen Engel auch sehr lange Zeit ohne sie auskommen müssen … Wenn sie so schnell wieder verschwand, wie sie gekommen war … würde es ihnen allen doch alles einfacher machen … oder etwa nicht? Allein beim Gedanken daran wurde ihr Herz schwer wie Blei und sie konnte die Tränen nur schwer zurückhalten. Ihr Herz sehnte sich nach dem Himmel. Es sehnte sich danach, die Flügel auszubreiten und sich zu dem zu erheben, was sie wirklich war: ein Engel. Aber … sie konnte doch nicht riskieren … All die Trainingseinheiten, all das Lernen … Es war ohnehin vorbei … Das Gelächter mit ihren Freunden … Sie nahm die weiße Decke und zog sie sich über den Kopf. Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken. Sie … sie hatte doch sowieso zu viel Angst, in den Himmel zurückzukehren. Sie wollte nicht sterben. Wollte – bei Gott! – nicht sterben. Und wenn sie dadurch in Gottes Arme zurückkehren durfte … sie … sie wollte lieber die fünfundzwanzig Jahre lang warten … und dann … Sie hatte doch noch so viel vor … Und dieses Zittern plagte sie weiterhin. Gestern war sie nicht aufgetaucht. Vorgestern war sie nicht aufgetaucht. Vor drei Tagen war sie nicht aufgetaucht … und vor vier Tagen hatte er sie scheinbar verärgert. Ray stand vor der leeren Mauer, auf der sonst immer diese zierliche Gestalt gesessen und mit ihm geplaudert hatte. Er musste wohl sehr verloren wirken, wie er diesen leeren Platz begutachtete, die Schultern hängen ließ und vermutlich eine ziemliche Grimasse zog. Aber er hielt es einfach nicht mehr aus. Sie war wieder nicht da. Er hatte sich extra Zeit gelassen, um vom der Universität hierher zu kommen. Aber Kyrie war noch immer nicht da. Wo steckte sie nur …? Weshalb … weshalb wollte sie ihn nicht mehr sehen? Er starrte den Platz an. Irgendwie deprimierte es ihn, diesen so leeren Ort anzustarren. Trotz all der Menschen um ihn herum fühlte er sich schlichtweg einsam. Verlassen. Alleine gelassen. Dabei … dabei hatte er doch immer nur mit ihr gesprochen. Wie er auch mit Ted sprach. Oder mit Mark – oder mit Ken und wie sie alle heißen mochten! Er schrieb mit Kylie. Sogar Diane hatte sich wieder gemeldet. Vermutlich war er der letzte Mensch, der sich irgendwie einsam zu fühlen brauchte! Und dennoch … wenn er diese Mauer sah … Ray wandte sich ab. Er hielt es einfach nicht aus. Was sollte er tun? Wie sollte er herausfinden, was er ihr getan hatte? Sollte er sich in eine Theologievorlesung setzen und die anderen Leute darüber ausfragen, wo Kyrie sei? Würden sie das überhaupt wissen? Vielleicht hatten sie es mitbekommen, ob sie den Kurs gewechselt hatte? Wo fand Theologie überhaupt statt? Vielleicht sollte er sich gleich beim Sekretariat melden? Die hatten bestimmt Informationen über sie! … Aber … aber war das nicht etwas übertrieben? Würde sie ihn nicht für verrückt erklären? Und dann erst recht nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen …? Vielleicht basierte all das nur auf einem Missverständnis – und durch solch übertriebene Aktionen würde er alles einfach zerstören …! Immerhin … immerhin waren sie nur Mauer-Freunde … Vorname, Nachname, Studium und ein wenig aus dem Leben … Das war alles, was sie voneinander wussten. Sie verstanden sich wirklich gut, ja, er genoss die Zeit mit ihr, ja – aber … aber mehr war da nicht. War das also wirklich ein Grund, gleich so aufzudrehen? Ehe er es bemerkt hatte, hatte er sich in Bewegung gesetzt. Richtung Villastraße. Zu ihm nach Hause. Während er so sinniert hatte, war nämlich in seinem Hinterkopf ein kleines Bild aufgetaucht. Das Bild eines kleinen, schwarzen Buches, welches unter dem Haustelefon bei seinem Vater lag. Kingston Kyrie. Kingston musste doch im Telefonbuch eingetragen sein! Und ehe er sich versah, rannte er. Als er bei sich angekommen war, glaubte er, den Streckenrekord gebrochen zu haben – entsprechend schwer atmete er jedenfalls. Aber es war es wert. Er durchquerte den Garten im Laufschritt, öffnete die Tür – und stieß mit Kim zusammen, welche sich wohl gerade aufbruchsbereit gemacht hatte. „Oh, Ray“, begrüßte sie ihn überrascht, „Bist du heute schon zuhause?“ Sie lächelte. „In letzter Zeit habe ich dich ja gar nie gesehen! Wie geht es …“ Er unterbrach sie: „Spar dir das“, wies er sie sachlich an, drängte sich an ihr vorbei und hoffte, dass seine defensive Haltung ihr verdeutlichte, dass er nichts mit ihr zu tun haben wollte. Er ging durch die Eingangshalle und schnurstracks zum Telefonkasten, auf welchem das neumodische Festnetztelefon in seinem glänzenden Schwarz thronte. Er hatte es noch nie benutzt, da er immer sein Handy zum Telefonieren verwendet hatte. Aber er war auch nicht hier, um zu telefonieren. Er duckte sich, um nach dem schwarzen Buch zu suchen. „Ray?“, sagte Kim unsicher, „Suchst du nach etwas?“ Er antwortete nicht, sondern tastete zielstrebig und schweigend weiter. Es war dunkel. Er konnte nichts sehen und fühlte nur Papier! Sollte da nicht ein Telefonbuch liegen? „Lass dir doch bitte helfen … Und wenn du jetzt gleich in die Küche gehst – das Essen wäre noch warm …“ Sie klang leicht unsicher, irgendwie traurig und dennoch völlig hilfsbereit. Doch er ging nicht darauf ein. „Ich komme klar“, behauptete er und ging mit dem Kopf tiefer in den Kasten hinein – doch es war dunkel. Einfach dunkel! Dunkles Holz, ein dunkler Raum und alles randvoll mit Büchern, Papier und Blättern! Und davon die Hälfte schwarz. Warum musste die Nördliche Hauptstadt auch schwarze Telefonbücher haben!? „Ray …“, sagte sie. Er unterbrach sie barsch: „Ich …“ Eigentlich wollte er sich umdrehen, um ihr einen unbegeisterten Blick zuzuwerfen, der sie ein für alle Male vertrieb – doch er verschätzte sich und krachte mit dem Kopf gegen die obere Schrankkante. „Au!“, entfuhr es ihm; er zog sich sofort ein wenig zurück und rieb sich die Stelle, an der er angestoßen war. Sie brannte. Es war kein Blut zu fühlen, dafür war es natürlich nicht stark genug, doch es schmerzte dennoch … Als hätte ihm einer eines übergebraten … „Ray!“, rief sie alarmiert und bückte sich sofort zu ihm herunter, um ihn an der Schulter zu halten, „Alles in Ordnung? Hast du dich verletzt?“, fragte sie und schaute ihn stirnrunzelnd und besorgt an. Besorgnis war auch aus ihrer Stimme zu hören. Tiefe Besorgnis. „Alles in Ordnung“, murrte er. Das musste auch genau jetzt passieren. „Das ist gut …“, sagte sie daraufhin merklich erleichtert. Dann lächelte sie ihm freundlich zu. „Hast du etwas Bestimmtes gesucht? Vielleicht kann ich dir helfen.“ „Das Telefonbuch“, gab er nach, „Wo ist es?“ Ihre Augen weiteten sich. „Oh, nein! Das habe ich ja noch in der Küche liegen!“ Sie lächelte entschuldigend. Noch ehe Ray hätte reagieren können, sprang Kim auf und verschwand in der Küche. Er nutzte die Zeit, um sich zu erheben und die Arme zu verschränken. Defensive Haltung. Und sein Kopf pochte noch immer herum. Langsam konnte der sich auch wieder beruhigen! Kim kehrte glücklich zurück, das dicke, schwarze Buch, in dem alle Festnetznummern der gesamten Stadt zu finden waren, in ihren Händen. „Ich habe vorhin die Nummer vom Friseur gesucht“, erklärte sie unnötigerweise, „Suchst du jemand Bestimmten?“, fragte sie neugierig, während sie ihm das Buch aushändigte, „Brauchst du einen Arzt? Einen Friseur? Ich kenne einen guten Zahnarzt …“ Er unterbrach sie, als er das Buch fest in den Händen hielt. „Danke sehr“, sagte er vorweg, „Und nein, ich brauche keinen Arzt.“ Sofort schlug er es bei K auf. Da bemerkte er, dass das Buch nach den verschiedenen Stadtteilen und dort erst nach Nachnamen geordnet war. Er starrte die Ks dieses Stadtteils an. Norden. Süden. Westen. Osten. Wo lebte sie nur? Warum wusste er das nicht? Und warum nahm er es sich heraus, so verzweifelt nach jemandem zu suchen, von wem er kaum etwas wusste? Aber es war doch Kyrie … Er musste wissen, was mit ihr los war! „Wen suchst du dann? Vielleicht kann ich dir weiter helfen?“, schlug Kim freundlich vor. Und geduldig. Wie konnte diese Frau nur so viel Geduld aufweisen? Jede andere hätte ihm derweil den Schädel zertrümmert, weil der Kasten nicht sein Übriges getan hatte! „Ich glaube nicht, dass du sie kennst“, lehnte er lässig ab, wobei er die Ks überflog. Kaniston, Kazerton, Kebiston … „Sie?“, wiederholte Kim überrascht, „Hast du jemand Bestimmtes getroffen?“ Verplappert. Frauen wurden bei diesem Thema doch immer so unerträglich neugierig! Als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt! „Sie studiert an der Uni, aber sie kommt schon seit einigen Ta … Wochen nicht mehr. Ich wurde beauftragt, ihr den versäumten Stoff nachzubringen, aber ich habe ihre Nummer nicht. Sie ist die Außenseiterin.“ Er würde sich bei Kyrie für diese Lüge entschuldigen müssen. Wieso sagte er nicht die Wahrheit? Es war doch nichts dabei, sie als Mauer-Freundin zu bezeichnen! Na gut – vielleicht … Egal. Geschehen war geschehen. … Seine Verwirrung war bestimmt die Schuld dieses Kastens! Verfluchter Kasten! Kim lächelte wissend. So wissend, dass ihm klar wurde, dass sie die Lüge locker durchschaut hatte. Aber sie sagte nichts. „Wie heißt sie denn?“, fragte Kim freundlich nach. „Kingston“, sagte er mürrisch, „Kyrie Kingston. Ich habe keine Ahnung, wie ihre Eltern heißen.“ „Kingston …“, wiederholte sie lang gezogen, „Kingston … Hast du noch einen Anhaltspunkt? Irgendetwas sagt mir der Name, aber …“ Sie stockte und schien stark nachzudenken. „Kyrie studiert Theologie, ihre Eltern fahren einen schwarzen Wagen, sie sind ziemlich religiös …“ Kim unterbrach ihn plötzlich: „Kingston!“, rief sie kopfschüttelnd aus. „Natürlich! John Kingston! Wie konnte ich das jetzt nur vergessen?“ Dann lächelte sie kurz. „Wie der Pfarrer und Vorleser bei den meisten Messen!“ Ihr Lächeln verschwand. „Am Mittwoch war er gar nicht da … Der Ersatzpfarrer hat gesagt, er wäre aufgrund von interfamiliären Problemen verhindert …“ Ihre Stimme klang mitfühlend. … Interfamiliäre Probleme …? Was … was konnte das bei einem so gläubigen Mann bedeuten!? „Er lebt im Westen. Dein Vater weiß viel mehr über ihn, die beiden pflegen engen Kontakt …“, fügte sie hinzu, „Oh, Ray, ich hoffe, dass alles in Ordnung ist …“ „Ich auch“, sagte er tonlos und blätterte vom Nordteil in den Westteil. Kingston. Dreimal. Kingston Adam. Kingston John. Kingston Theo. John. John Kingston. Wenn Kims Angaben richtig waren …! „John mit Magdalena“, las Kim vor, welche plötzlich über seine Schulter schaute, „Ja, das ist er ganz bestimmt.“ Dann schaute sie ihn kurz verwirrt an. „Aber was hast du denn mit der Tochter eines Pfarrers zu tun? Du glaubst doch nicht …“ „Musst du nicht los?“, fragte Ray ungehalten, auch wenn er tief im Herzen Dankbarkeit für ihre Hilfe verspürte. Und Schock. Interfamiliäre Probleme … Was konnte das bedeuten? „Oh, nein!“, rief Kim schockiert aus, „Bitte sag mir auf alle Fälle Bescheid, was los ist! John ist einfach ein zu guter Mann!“ Dann umarmte sie ihn kurz, was Ray frösteln ließ. „Ich hoffe, es ist alles in Ordnung mit Kyrie …“ Und dann war sie weg. Ray stand noch eine Weile da. Mit dem geöffneten Telefonbuch. Er würde anrufen. Und er würde wissen wollen, was geschehen war … John zog sich seine Jacke über. Auch wenn man diese Zeit noch Sommer nannte, so war es doch kalt. Magdalena saß bereits im Auto. Die Sorge auf ihrem Gesicht war noch immer vorhanden, doch sie wirkte wieder so viel glücklicher. Kyrie musste nur noch bis zum Morgen des übernächsten Tages dort ausharren und dann konnte sie nach Hause, um sich dort auszukurieren. Und dann würden sie über die Weiterbehandlung mit ihr sprechen … und … und darüber, was geschehen war … Er hoffte, dass die Polizei sich heraushalten würde, bis Kyrie mit der Geschichte fertig geworden war … Engelsfedern waren gefunden worden … Aber – es konnte doch nicht wirklich etwas mit dem Himmel zu tun haben, oder? Zumindest er wusste, dass es Engelsfedern waren. Die Polizei beschrieb Schwanenfedern. Er holte den Auto- und den Haustürschlüssel und ging zur Tür. Plötzlich klingelte das Telefon. Im ersten Moment schockierte es ihn völlig. Ein totaler Schock – Ärzte? Krankenhaus? Polizei? Wer? Wer konnte es sein? Nachdem er sich vom kurzen Schock erholt hatte, machte er sofort kehrt, um zum Telefon, welches in der Küche platziert war, zu hasten. Doch – wie sooft – war er zu langsam. „Ha- Hallo?“, sprach die Freisprechanlage, welche nach dem Anrufbeantworter freigeschalten wurde. Wem gehörte diese Stimme? Er kannte die Person nicht. „Oh … Sie sind also nicht da …“, stellte die Stimme fest, „Nun – ich – ich hoffe, dass alles in Ordnung? Bin ich hier bei Kingston John? John, Magdalena – und Kyrie?“ Einer von Kyries Freunden? John wollte gerade rangehen, als der unsicher klingende, junge Mann weiter sprach. „Ich bin Ray. Es wäre sehr nett von Ihnen, wenn Sie zurückrufen würden … Ich – nun … Ich hoffe, dass Kyrie bald wieder kommt. … Und … bitte – sagen Sie ihr, dass es mir leid tut, was ich getan habe – ich … ich wollte sie nicht …“ Er zögerte. „ … verletzen … Dankeschön. Bis bald … hoffe ich …“ Dann legte er auf. Und John starrte den Apparat an. … Ver … verletzen?! Hatte er sie etwa …? Ray. Ray war doch dieser Junge von der Mauer! Dieser … dieser Ray hatte sie also …? Wieso sagte sie dann aber nichts? Litt sie wirklich unter Amnesie? Hatte dieser Ray auch etwas mit Engeln zu tun …? John war verwirrt. Sehr verwirrt. Hoffentlich würde Kyrie darüber reden wollen. Nur für den Fall, dass dieser Ray noch einmal versuchen würde, auf diese Weise wieder an seine Tochter heranzukommen, steckte er den Stecker des Telefons aus, um damit jeglichen Kontakt zu vermeiden. Dann eilte er zum Auto und fuhr los, um seine Tochter zu besuchen. Von diesem Anruf würde sie aber nichts erfahren … Sie sollte von sich aus sprechen wollen – ohne Einfluss. Ray saß auf seinem Bett. Sein Handy hatte er noch immer in der Hand. Er schaute auf das Display. Die Nummer hatte er sich vorsichtshalber eingespeichert. Kingston hatte er sie genannt. Hoffentlich würden sie zurückrufen … Was, wenn Kyrie etwas passiert war? Was, wenn er sie lange Zeit nicht mehr sehen würde? Wenn sie schwer krank war? Einen Unfall hatte? … Und er hatte an ihre Boshaftigkeit geglaubt! Wie konnte er nur …? Weshalb er sich dennoch entschuldigt hatte … keine Ahnung … Vermutlich genau deswegen. Weil er ihr die Schuld an der Sache gegeben hatte. Hätte er den Satz lieber weglassen sollen? Es ihr persönlich sagen sollen? Aber … was, wenn es kein „persönlich“ mehr gab? Wenn … wenn ihr etwas sehr, sehr Schreckliches zugestoßen wäre? Etwas, woran er um jeden Preis nicht denken wollte? Nein. Nein – das konnte nicht sein. Er würde einfach weiter warten. Auf der Mauer. Mit dem Handy. Sie würde zu ihm zurückkehren. Er war sich sicher. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)