Der Pianist von Illuna ================================================================================ Kapitel 1: Der Pianist ---------------------- Der Pianist „Ma?“ Peter zog die Haustüre hinter sich ins Schloss und rief noch einmal nach seiner Mutter. „Ma, bist du da? Fußball ist wegen dem Wetter ausgefallen.“ Nachdem er sich die Schuhe und die Jacke ausgezogen hatte, lugte er in die Zimmer des Erdgeschosses hinein. Weder im Wohnzimmer noch in der Küche war seine Mutter zu finden. Verwundert machte er sich auf den Weg nach oben, wo sie sich höchstens noch in ihrem „Hobby-Raum verschanzt“ haben könnte, wie sie es spöttelnd bezeichnete. Eigentlich war es der Wäscheraum, in dem sie bügelte. Als er sie auch hier nicht fand, warf er den Rucksack, den er über einer Schulter getragen hatte, in sein Zimmer hinein und ging die Treppen wieder hinunter. In der Küche goss er sich ein Glas Wasser ein und leerte es in einem Zug. Mit trüben Augen starrte er aus dem Fenster, während er an der Theke lehnte und das Glas locker in der Hand hielt. Heute war kein guter Tag gewesen. Wahrlich nicht. Ihm war einmal mehr klar geworden, dass er seine Gefühle zu unterdrücken hatte. Dass er sie nicht haben durfte. Wie sollte das auch gehen? Er hatte sich schließlich in seinem besten Freund verliebt. Das konnte man sich vielleicht als Mädchen leisten – und wenn man Glück hatte, wurden diese Gefühle sogar erwidert, aber als Junge war das ein Ding der Unmöglichkeit. So sehr in Gedanken versunken bemerkte er nicht, dass ihm das Glas mehr und mehr aus den Fingern glitt und letztlich mit einem unschönen Geräusch auf dem Boden in kleine Teile zerbarst. Erschrocken war er zusammengezuckt und betrachtete nun das Chaos, das er angerichtet hatte, ohne sich jedoch weiter zu rühren. Starr ließ er den hässlichen Laut von zerspringendem Glas im Raum verklingen. Draußen schoben sich dunkle Wolkenmassen am Himmel entlang. Es war dämmrig in der Küche und doch war Peter nicht danach, das Licht anzuschalten. Es wäre zu grell. Mit einem großen Schritt ließ er die Scherben hinter sich und ging eigentlich mit dem Entschluss auf den Flur, das Kehrblech und einen kleinen Handbesen zu holen, um das Malheur wegzufegen. Doch sein Vorhaben löste sich ins Nichts auf, als er durch die Tür zum Wohnzimmer das Klavier erblickte, welches sie schon seit Jahren besaßen und im Grunde nur noch Dekoration war. Früher hatte er sich einmal am Tag daran setzen und die Lehrstücke üben müssen, die ihm seine Klavierlehrerin aufgegeben hatte. Jedes Mal unter den Argusaugen seiner Mutter. Ihr hatte sein Spiel damals gefallen, auch wenn sich Peter sicher war, dass er ein grauenvoller Pianist gewesen war. Im herrschenden Dämmerlicht wirkte das Klavier jedoch überhaupt nicht mehr wie das einstige Folterinstrument, welches er in ihm gesehen hatte. Den Besen und das Kehrblech vergessend trat er in das Wohnzimmer ein und strich andächtig über den geschlossenen Klavierdeckel. Er war bestimmt immer noch kein begnadeter Musiker – und würde es auch nie sein. Aber vielleicht war es ja gar nicht schlecht, sich auf das zu besinnen, was er vor so vielen Jahren getan hatte. Als es diese verwirrenden und unpassenden Gefühle noch nicht gegeben hatte. Als die Welt noch in Ordnung gewesen war. Es war kein Staub auf dem Klavierdeckel. Seine Mutter achtete darauf. Meist wischte sie in der ganzen Wohnung Staub, wenn sie einen ihrer Telefonmarathons einlegte. Abwesend schob er sich die Ärmel nach oben und setzte sich auf den Hocker. Wie von selbst hob er den Klavierdeckel an und legte die Finger auf die Tasten. Sie fühlten sich kühl an, aber nicht unangenehm. Wann hatten sie das letzte Mal einen Ton von sich gegeben? Auch das musste Jahre her sein, denn weder seine Mutter noch sein Vater waren großartige Musiker geschweige denn Klavierspieler. Es lagen andere Talente in ihrer Familie. Peter atmete einmal tief ein. Das eine Lehrstück müsste er doch noch hinbekommen. Es war nicht schwer – es war sein liebstes gewesen. Denn gerade wegen seiner Einfachheit klang es wundervoll. Irgendwie hoffte Peter, dass es immer noch so war wie in seinen Erinnerungen. Der erste Ton erklang, als er auf die Taste drückte. Und ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. Das erste an diesem Tag. Während Peter langsam die nächsten Töne aneinanderreihte, wurde es draußen dunkler. Die Wolken warteten regentrunken nur noch darauf, sich von ihrer Last befreien zu können. Ein erstes Mal hatte er das Lied zu Ende gespielt. Es war noch etwas holprig gewesen, er hatte sich erst wieder an die zu spielenden Töne erinnern müssen. Doch je mehr ihm wieder ins Gedächtnis kam, desto schneller glitten seine Fingerkuppen über das Weiß der Tasten. Beim dritten Durchgang konnte es Peter sogar blind spielen. Auch wenn er das nie von sich erwartet hätte: Die Musik, dieses einzelne Stück, nahm ihn gefangen. Seine Hände spielten von allein, er konnte einfach dasitzen und zuhören. Und für wenige Momente vergessen. Vergessen, dass ihn seine Gefühle für Bob immer wieder aus der Bahn warfen, so dass er kaum mehr wusste, wo oben und unten war. Dass noch nicht einmal mehr Sport ihm half, sich zu ordnen und wieder mit sich ins Reine zu kommen. Bob war einfach überall. In seinem Unterricht, in seiner Freizeit, in seinen Gedanken. Nichts konnte er tun, ohne dass es ihn in irgendeiner Art und Weise an Bob erinnerte. Es machte ihn wahnsinnig und er fühlte sich schlecht dabei. Noch schlechter, wenn er sich in seinen schwachen Momenten erlaubte, sich mit diesen Gefühlen gut zu fühlen. Da gab es nichts Gutes. Ein schräger Ton ließ Peter hochschrecken, die Finger stoppten abrupt in ihrem Spiel. Sein Kopf schnellte in Richtung Tür, sein Blick kam jedoch nicht soweit, denn jemand versperrte die Sicht darauf. Bob stand am anderen Ende des Klaviers und hob den rechten Finger von der Klaviertaste. Sein Lächeln war verschmitzt. „Ich wusste gar nicht, dass du Klavier spielen kannst.“, meinte er. Am liebsten hätte Peter ihm ein „Du weißt vieles von mir nicht“ erwidert, doch das hätte ihn am Ende vielleicht sogar noch verraten. Stattdessen zog er es vor zu schweigen. Bob seufzte und zog sich den Stuhl neben dem Klavier heran, um sich darauf niederzulassen. Früher hatte Peters Mutter ihn immer genommen, um ihm bei seinen Übungen Gesellschaft zu leisten. „Was ist los mit dir? Du bist heute den ganzen Tag schon komisch.“ Manchmal wünschte sich Peter wirklich, er wäre besser darin, seine Gefühle zu verbergen. Aber seine Launen zeichneten sich meist nur allzu genau in seinem Gesicht ab. Bob sah ihn offen an. „Just und ich machen uns Sorgen.“ Peter sah weg. Es waren immer Justus und Bob. Oder Justus und Peter. Sogar mal Peter und Bob. Aber nie Peter und Bob. Zumindest nie so, wie Peter sich das erhoffte. Aber es war eine irrationale Hoffnung. Peter versäumte den Moment, in dem er hätte antworten sollen und Bob fasste es so auf, wie man es eben aufnahm, wenn man beharrlich schwieg. „Du willst echt nicht reden? Wir haben wirklich Geduld mit dir, aber wenn wir dir helfen können, musst du uns Bescheid sagen.“ Da war es schon wieder. Dieses ‚wir‘. Peter biss sich auf die Zunge. Er sollte aufhören, so garstig zu sein. Sie waren Freunde, da war es normal, dass sich die Freunde um einen sorgten. Natürlich gab es da dieses ‚wir‘. Bob seufzte erneut. Es schien ihm schwer zu fallen, dieses Gespräch aufrechtzuerhalten. Und damit hatte er sogar recht. Denn es momentan gab kein Gespräch – es gab lediglich einen Monolog. „Peter…“, es klang beinahe schon ungeduldig, aber Peter wusste, dass Bob nicht wirklich ungeduldig war. Er wollte diese Unterhaltung beenden, weil er ihr überdrüssig wurde. „Meine Mutter hatte mich zu Lehrstunden bei Mrs Jackson geschickt. Noch als ich in der Grundschule war.“, murmelte Peter schließlich. Draußen begann es zu regnen. Der Himmel wurde seine Last endlich los. „Ich war nicht sonderlich gut und habe es nur meiner Mutter zuliebe getan.“ So gut es ihm gelang, ignorierte Peter das Herzklopfen, das er nun erst registrierte. Bob musterte ihn, blieb still. „Aber dieses Stück mochte ich gern. Es war eines der wenigen, die mir leicht von der Hand gingen.“ Beinahe andächtig strich Peter über einzelne glatte Tasten. „Es ist auch das einzige, das ich behalten habe. Die anderen Stücke sind wie aus dem Gedächtnis verschwunden, obwohl ich weiß, dass ich sie damals ebenfalls fast auswendig konnte, weil ich sie so oft spielen musste. Mein Taktgefühl ist nicht so gut ausgeprägt, deswegen entließ mich meine Mutter irgendwann aus der Pflicht, weiter den Musikunterricht besuchen zu müssen.“ Während er erzählte, vergaß er fast, dass es Bob war, der neben ihm saß und ihm lauschte. „Früher habe ich mir keine Gedanken darum gemacht, dass dieses Stück in seiner langen Form von einer unerwiderten Liebe handelt. Und jetzt scheint es so passend.“ Er spielte die ersten Töne, ließ es danach jedoch bleiben. Peter räusperte sich unbehaglich, wurde sich erst jetzt wieder bewusst, dass es Bob war, dem er hier gerade seine Gefühlswelt offenbarte. So etwas sollte er nicht tun. Er klappte den Klavierdeckel zu und stand auf. Er war bereits auf dem Weg in die Küche, als er bemerkte, dass Bob starr auf dem Stuhl saß und keine Anstalten machte, ihm zu folgen. „Bob?“ Peter sah zurück in das Wohnzimmer, das noch dunkler schien, als bei seinem Eintreten. Nirgendwo war elektrisches Licht an. Bob wirkte seltsam verloren, wie er da auf dem Stuhl saß und ihm den Rücken zugekehrt hatte. Auf seine Frage hin ließ Bob den Kopf sinken. „Du sprichst von mir, oder?“ Peters Herz stolperte. Seine Gesichtszüge entgleisten ihm und er war froh, dass Bob ihn nicht ansah. Aber was hatte er auch erwartet? Bob war Detektiv und bei Weitem nicht dumm. Er war durchaus in der Lage eins und eins zusammenzuzählen. In dieser merkwürdigen Atmosphäre aber erschien es ihm gar nicht unpassend, seine Gefühle ein einziges Mal laut zu äußern. Vielleicht würden sie dann verschwinden. So wie ein schrecklicher Traum, den man jemandem erzählte, um ihn loszuwerden. In diesem dämmrigen Licht und dem leisen Geräusch des rauschenden Regen von draußen erschien es möglich, dass auch seine Gefühle danach schwinden würden. „Ja. Aber es ist in Ordnung. Ich gewöhne mich daran.“ Für wenige Augenblicke war es ruhig bis auf das Prasseln des Regens. Dann drehte sich Bob zu ihm und lehnte einen Arm über die Rückenlehne des Stuhls. Er hatte dieses verschmitzte Lächeln auf den Lippen, das Peter so gerne an ihm sah. „Gewöhn dich lieber nicht daran. Und du solltest das mit dem Klavierspielen wirklich lassen, dein Taktgefühl ist echt nicht das Beste.“ Mit aufgerissenen Augen und einem vor Freude springenden Herzen, das viel schneller als sein Kopf verstanden hatte, was ihm gerade widerfuhr, starrte Peter den anderen an. Und ein Ding der Unmöglichkeit wurde möglich. *** Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)