Blut und Zedern (T) von KaiserTricks (Götterspiele) ================================================================================ Kapitel 1: Blut und Zedern -------------------------- An diesem Tag hatte ich Wache auf der Ganeshabrücke. Und es sah schon am Morgen so aus, als würde sich hier überhaupt nichts tun. Bei mir waren Marcel, Darius und Zacharias, der mit hochkonzentriertem Blick im Schneidersitz mitten auf der Brücke saß, und zur fremden Wache hinüber starrte. Uns schienen sie gar nicht zu beachten, sondern so von ihm eingenommen zu sein, dass er diese Brücke auch ganz alleine hätte bewachen können. Immer wieder sah ich sie unsichere Blicke tauschen, auf den Füßen wippen, unsicher an ihre Waffen fassen. Irgendwann flüsterten sie miteinander, und das war das erste Mal, dass ich versuchte zuzuhören. Allem Anschien nach waren es Skandinaven. Als Darius plötzlich lachte, zuckten sie alle zusammen und sahen nach hinten zu uns. „Du machst ihnen Angst“, sagte er dann grinsend, mit dem Blick auf Zacharias' Rücken. „Vielleicht nicht die beste Taktik, wenn Cuauhtemoc auch hier noch Frieden stiften will.“ Erst folgte keine Antwort und Zacharias streckte sich nur einmal. Dann ließ er sich mit einem lauten Gähnen nach hinten fallen, sodass seine Waffen scheppernd auf dem Boden aufkamen. „Die Affenhitze“, sagte er dann leidend. „Hey, hast du überhaupt zugehört?“ „Die bringt mich echt noch ins Grab.“ „Zacharias!“ Marcel und ich lachten und drückten uns weiter in den Schatten der Balustrade. „Solange Ischtar so angriffslustig ist, wird er wohl kaum Zeit dazu finden, hier irgendwas zu stiften“, bekam Darius endlich eine Antwort. Wir alle sahen dabei zu, wie Zacharias sich einmal mit der Hand übers Gesicht fuhr und schließlich einen Arm über die Augen legte, um sie vor der Sonne zu schützen. Die Skandinaven sahen verwirrt zu. „Und ich glaube, es ist besser ihnen so viel Angst einzujagen, dass sie gar nicht erst angreifen. Das ist besser für uns alle.“ „Oh, ja“, hörte ich mich dann sagen. „So wie du da liegst, siehst du noch furchteinflößender aus als vorher.“ Zacharias sah blinzelnd zu mir auf uns grinste. „Das ist alles Taktik, Mädchen. Diejenigen, die es nicht interessiert, was um sie herum vorgeht, sind meistens die gefährlichsten.“ „Nenn mich nicht Mädchen.“ „Wie, bist du keins?“ Ich öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. Dann lachten wir alle. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie die andere Wache unsere Unterhaltung nervös verfolgte. Vielleicht glaubten sie ja, dass wir einen Angriff planten. Das ging stundenlang so weiter. Irgendwann hatten wir uns sogar zu Zacharias gelegt und aalten uns in der Sonne, während die Ganeshawache immer unsicherer über unser Verhalten wurde. Sie versuchten jedoch kein einziges Mal, uns anzugreifen. Irgendwie konnte ich das verstehen. Wer kämpfte hier schon gerne, wenn es sich vermeiden ließ? Cuauhtemoc würde es einfach haben, mit dieser Insel Freundschaft zu schließen. Gegen Nachmittag schreckten wir jedoch hoch, als die Alarmglocken aus unserem Turm erklangen. Wir mussten nicht einmal auf die warnenden Rufe hören, um zu wissen, um welche Brücke es sich handelte. „Ihr drei“, sagte dann Zacharias so ruhig, als hätte er vielleicht nicht verstanden, worum es ging. „Ihr geht. Falls unsere Lieben hier noch auf die Idee kommen sollten doch noch anzugreifen, werde ich keine Probleme mit ihnen haben. Und bei Ischtar ist es im Moment die Masse, die zählt.“ Wir antworteten nicht, klaubten unsere Waffen auf, die wir irgendwann abgeschnallt hatten und liefen im Eiltempo los. Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich, dass es für Zacharias scheinbar mit der Entspannung vorbei war. Er baute sich in seiner vollen Größe auf, damit die Skandinaven auf keine dummen Gedanken kamen. Es dauerte keine zwei Minuten, bis wir am Fuße der Ischtarbrücke ankamen. Und was ich in der Ferne erkannte, ließ mich geschockt innehalten: Es kämpften so viele Leute gleichzeitig, dass man in der Masse keine einzelnen Personen ausmachen konnte. „Merde alors!“, polterte es auf einmal neben uns. Omar und Flynn waren so wie wir zur Unterstützung gekommen und konnten ebenfalls nicht ihren Augen trauen. „Fuck this shit!“ Flynn griff nach Darius, der als einziger stehen blieb, als wir uns wieder in Bewegung gesetzt hatten. „Nicht bleiben, Kleiner!“, fügte er noch auf holprigen Deutsch hinzu und schob ihn vor sich her. Es wäre eine Eins A Taktik gewesen, wenn Darius und ich bereits die Bögen gespannt und ein paar Pfeile abgeschossen hätten. Aber in diesem heillosen Durcheinander hätten wir wohl eher unsere Mitstreiter als unsere Gegner getroffen. Aus nächster Nähe konnte ich endlich einzelne Leute erkennen – und es behagte mir überhaupt nicht, dass unsere Insel eins zu zwei unterlegen war. Die Ischtarkämpfer bemerkten uns, schienen aber keine Angst zu bekommen. Selbst dann nicht, als wir mit gezogenen Waffen in die Menge hineinstürzten. Und erst da fiel mir auf, wie viele Gegner wir wirklich hatten – es befanden sich nahezu alle Inselbewohner auf dieser Brücke. Das war das erste Mal, dass ich tatsächlich daran zweifelte, lebendig aus der Sache herauszukommen. Hastig duckte ich mich unter einer Axt weg, die ungebremst auf mich zusteuerte und konnte mich gerade noch davon abhalten die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen. Stattdessen zerrte ich ein kleines Messer vom Gürtel und stieß es meinem Gegner direkt in den Fuß. Ein schmerzerfüllter Schrei erklang, und blaue Funken stoben neben mir auf, als das Blatt der fremden Waffe haarscharf an meinem Gesicht vorbei auf den Brückenmarmor fiel. Von Adrenalin durchpumpt stellte ich mich wieder gerade auf und schlug dem Jungen meine zitternde Faust ins Gesicht. Ich konnte bei aller Liebe nicht sagen, ob der Schlag tatsächlich fest war, aber abgelenkt von der Fußverletzung taumelte er zurück und geriet in das Schwert von Flynn. Ich sah starrend dabei zu, wie er den nun Toten von seiner Waffe schüttelte und sich einem anderen widmete. Dass ich ihm dabei sowohl entsetzt als auch fasziniert zugesehen hatte, wurde mir erneut zum Verhängnis. Gerade als ich mich, mein Schwert fest umklammert, auf dem Absatz umdrehte, flog erneut eine fremde Waffe auf mich zu. Die Kugel des Morgensterns kam immer näher, und ich verdankte es wohl allein meinen Instinkten, dass ich mein Schwert abwehrend hob. Es schepperte laut, dann klirrte es. Mit einem Stöhnen kniff ich die Augen zusammen und senkte den Kopf, um mich vor den umherfliegenden Schwertsplittern zu schützen. Sie bohrten sich in meine Arme und ins Dekolleté, und ohne es eigentlich zu wollen ließ ich meine zerbrochene Waffe fallen. Als ich meine Augen wieder öffnete, holte der Andere erneut zum Schlag aus. Jetzt hätte ich mich nicht einmal mit den Fäusten wehren können – der Aufprall war mir so in die Arme gefahren, dass ich sie kaum bewegen konnte. Von hinten griff eine Hand an meine Schulter und zerrte an mir. Erschrocken wollte ich herumfahren, doch ehe ich dazu kam, wurde ich zur Seite gestoßen. Cuauhtemoc spielte einen Moment lang mit dem Gedanken seinen Speer zur Abwehr zu heben, doch er war auf diese kurze Distanz zu sperrig. Ungläubig sah ich dabei zu, wie er seine freie Hand nach der Kette des Morgensterns ausstreckte und zupackte. Die Kugel prallte auf seinen linken Oberarm, er knickte leicht ein, biss aber die Zähne zusammen und schleuderte sie mit aller Kraft zu ihrem Besitzer zurück. Der konnte nur ausweichen, indem er seine Waffe schnellstens in die Höhe reckte und sich unter ihr wegduckte. Als er wieder zum Kämpfen fähig war, stieß Cuauhtemoc bereits nach ihm. Die Speerspitze verfehlte nur knapp den Bauch und rutschte an der Seite in einer blutigen Spur ab. Erst jetzt bemerkte ich, wie es unheimlich still geworden war. Die Kämpfe hatten beinahe alle aufgehört, und mehrere Augenpaare sahen dabei zu, wie Cuauhtemoc und der mit dem Morgenstern sich fixierten. Mein Herz klopfte, und innerlich zählte ich die Sekunden, bis sie aufeinander losgehen würden. Aber es passierte nichts. Absolut nichts. Cuauhtemocs linker Arm hing schlaff hinunter, doch den Speer hatte er in einer strammen Position mit seiner Rechten im Griff, jeden Moment dazu bereit, zuzustoßen. Aber sein Gegner ließ seine Waffe sinken, und mit einem letzten Blick auf unseren Kommandeur ging er auf ihn und zu und schließlich an ihm vorbei. Die Ischtarkämpfer warfen sich gegenseitig Blicke zu, ehe sie Anstalten machten, ihm zu folgen. Der Mann mit dem Morgenstern rief etwas ohne sich umzudrehen, und beinahe sofort bückten sich die Anderen nach ihren Verletzten. Dann geschah etwas, womit keiner von uns gerechnet hatte. Statt ihnen aufzuhelfen, oder sie aus der Gefahrenzone zu schleifen, zerrten sie sie zur Balustrade. Ohne die Mienen zu verziehen hievten sie die Jungen hinüber und ließen sie ins Meer fallen. Manche der Fallenden schrien noch einmal, bevor sie auf dem Wasser auftrafen, andere waren zu sehr verwundet, um ihren Mord überhaupt mitzubekommen. Wir alle sahen dabei zu und bekamen vor Entsetzen keinen Ton heraus. Auch als unsere Gegner allesamt verschwunden waren, starrten wir wortlos hinter ihnen her. Sie hatten es nicht einmal für nötig gehalten, eine Wache aufzustellen. Für sie war der Kampf heute vorbei, und dass sie nicht zu fürchten schienen, dass wir ihnen nachstellten, machte sie umso unheimlicher. Es ertönte ein leises Klicken, als Cuauhtemoc seinen Speer endlich auf dem Boden abstellte. Als ich zu ihm aufblickte, wusste ich nicht, ob er mich einfach nicht bemerkte oder ignorierte. „Cuauhtemoc?“ Das war nicht ich. Vor uns war Elias aufgetaucht, Blut quoll aus seiner Schulter und sein rechtes Auge war zugeschwollen. Unser Kommandeur blinzelte, ehe er ihn ansah. „Ja?“ „Marcel ist tot.“ Wir beerdigten ihn kurz vor Sonnenuntergang unter einer Gruppe von Zedern. Cuauhtemoc hob das Grab trotz seiner Verletzung zusammen mit Julian und Noah aus, und der Rest von uns stand bedrückt und schweigend daneben. Das Meeresrauschen war das einzige Geräusch, das unsere Totengräber bei ihrer Arbeit begleitete. Als ich meinen Blick kurz schweifen ließ, bemerkte ich, wie mehrere mit Tränen in den Augen zu Boden sahen. Ich versuchte nicht hinzusehen, als Zacharias unserem Kommandeur dabei half Marcels Körper mit der Trage in das Loch zu legen. Doch ich tat es letztendlich trotzdem. Obwohl er sich fast den ganzen Tag über sorglos in der Sonne gewälzt hatte, war Zacharias bleich und zitterte. Ich hatte in der Burg aufgeschnappt, dass er sich die Schuld an Marcels Tod gab, weil er es war, der ihn nach Ischtar geschickt hatte. Cuauhtemoc und Zacharias traten zurück, sahen hinab auf unseren Gefährten und zogen etwas aus ihren Hosentaschen. Ich konnte nicht erkennen, was es war, vielleicht kleine Figuren. Cuauhtemoc hatte einmal eingeführt, dass wir unseren Toten Geschenke machen sollten, die wir ihnen ins Grab gaben. Genügend Möglichkeiten gab es – bei jedem Monatsspiel erhielten die erfolgreichen Inseln Belohnungen in allen möglichen Varianten. Es klimperte, als sie gleichzeitig ihre Beigaben ins Grab fallen ließen. Dann drehten sie um und entfernten sich. Die nächsten beiden waren dran. In Zweierreihen stand unsere gesamte Insel und wartete darauf, dass man dran war. Hinter mir hörte ich Katrina leise weinen, und vor mir fluchte Omar flüsternd auf Französisch vor sich hin. Ich fühlte mich elend. Als Flynn und ich vor dem Grab standen und hineinschauten, überkam mich eine Flut von Trauer, die ich zuvor noch irgendwie hatte zurückhalten können. Das hier war die erste Beerdigung, die ich je in meinem Leben erleben musste. Zwar hatte ich Marcel kaum gekannt und wenig mit ihm zu tun gehabt, aber ich musste daran denken, wie wir noch am Morgen zusammen auf der Brücke gestanden und gelacht hatten. Diese Erinnerung traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich griff quälend langsam in meine Hosentasche und zog ein kleines Teelicht in einem Glasnapf hervor, das ich beim letzten Monatsspiel ergattert hatte. Meine Hand umschloss es fest und schwebte über dem Loch, während ich mir die Dinge besah, die andere vor mir hineingeworfen hatten. Stifte, Büchsen, Sonnenbrillen und anderes. Ich machte die Hand auf und ließ das Teelicht hineinfallen, sah dabei zu, wie es Marcel am Oberarm traf und dann in seine Armbeuge kullerte. „Rest in peace, bro“, sagte Flynn leise und ließ auch sein Geschenk los – ein Schlüsselanhänger. Als ich wieder aufblickte, traute ich mich nicht, nach links oder rechts zu sehen, zu anderen Gräbern, älteren, deren Bewohner ich gar nicht gekannt hatte. Ich wollte nicht sehen, dass Sterben hier Gang und Gebe war. Ich wollte nicht wissen müssen, dass ich hier eines Tages auch liegen könnte. Stocksteif wandte ich mich ab und wir machten den Nächsten Platz. Als alle fertig waren und das Grab zu geschaufelt worden war, schlugen Cuauhtemoc und Zacharias ein Schild in die trockene Erde, mit Marcels Namen und seinem Alter. Jetzt kam ich nicht umhin, die Schatten der anderen Kennzeichnungen aus den Augenwinkeln zu bemerken, die sich wie lange, dünne Arme über den Boden streckten, als wollten sie Hilfe von uns. „Das hier“, erhob dann unser Kommandeur die Stimme, als er sich zu uns umgedreht hatte, „werden wir immer tun. Bis zum letzten Mann und zur letzten Frau werden wir unsere Toten gebührend behandeln. Wir sind es ihnen schuldig. Sie sterben für uns. Viele von uns haben heute etwas beobachtet, was wir gar nicht hatten glauben können. Viele Inseln verbrennen ihre Toten, hört man, andere schicken sie in kleinen Booten auf das Meer hinaus. Aber was die Insel Ischtar tut, übertrifft sämtliche Vorstellungen. Es sind Barbaren. Niemals werden wir so barbarisch werden wie sie. Wir bleiben Menschen. Hört ihr? Wir dürfen nicht vergessen, dass wir Menschen sind, keine Dinge.“ Nellet schluchzte leise und verbarg ihr Gesicht in den Händen, ehe ich sie in meine Arme zog. Cuauhtemoc hatte recht. Wir waren Menschen. Aber das interessierte die Götter nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)